31. KAPITEL

Die Ostküste der Vereinigten Staaten war den ganzen Tag in Sicht gewesen, weiße Strände und von der Salzluft verkrüppelte Bäume, Marschen und niedrige grüne Hügel, dazu einige Inseln vor Carolina. Auf den letzten tausend Meilen hatte es keine Verzögerungen mehr gegeben, und die Leviathan näherte sich ihrem Ziel. Deryn hörte, wie die Mannschaft auf den Gängen unterwegs war. Die Geräusche machten ihr das Herz schwer.

Spät in der Nacht würde Eddie Malone in den Büros der New York World eintreffen und seine Story über Deryn Sharp abliefern, über das tapfere Fliegermädchen, das den britischen Air Service zum Narren gehalten hatte. Morgen würde ihr Geheimnis in der World verkündet, und am Tag darauf würden es alle Zeitungen Amerikas nachdrucken.

Deryn übte mit ihrem Knie und beachtete das Summen der Bienen nicht. Sie bereitete sich darauf vor, mit dem Stock zu gehen, den der liebenswerte alte Klopp für sie gemacht hatte. Er war aus einer Holzschöpfung gedrechselt, hatte jedoch oben einen mechanistischen Messinggriff. Sie hatte keine Ahnung, ob der Kapitän sie wie einen blinden Passagier über Bord werfen oder sie ins Schiffsgefängnis werfen würde, aber was auch immer geschah, sie wollte nicht hilflos sein.

Es klopfte an der Tür.

Die öffnete sich, ehe Deryn hereinbitten konnte, und herein stolzierte Miss Eierkopf, ihren Loris auf der Schulter und Tazza im Schlepptau. Der Beutelwolf sprang auf Deryn zu und bohrte seine Schnauze in ihre Handfläche.

»Ich wünsche einen angenehmen Nachmittag, Mr. Sharp.«

»Guten Tag, Ma’am.« Deryn hielt den Stock in die Höhe. »Sie müssen mir vergeben, wenn ich nicht aufstehe.«

»Keine Sorge. Es scheint, Tazza vermisst Sie.«

»Vermissen Sie mich nicht, Ma’am?«

Dr. Barlow schnaubte. »Was ich vermisse ist, dass jemand regelmäßig mit Tazza Gassi geht. Mr. Newkirk hat sich als recht unzuverlässig erwiesen.«

»Tut mir leid, das zu hören, Ma’am. Aber er musste meine Pflichten zusätzlich zu seinen eigenen übernehmen«, sagte Deryn und runzelte dann die Stirn. Es machte nicht mehr viel Sinn zu katzbuckeln, da doch ihre Laufbahn sowieso vorüber war. »Haben Sie nie daran gedacht, selbst mit Tazza Gassi zu gehen?«

Dr. Barlows Augen wurden ein wenig größer. »Was für ein eigenartiger Vorschlag.«

»Äußerst unappetitlich«, sagte ihr Loris.

»Armes Tierchen.« Deryn streichelte dem Beutelwolf den Kopf. »Nun, schicken Sie Mr. Newkirk vorbei, und ich sage ihm, dass er ein Oberpenner ist.«

»Oberpenner«, gluckste Bovril.

»Was für eine Ausdrucksweise, Mr. Sharp!«, rief Dr. Barlow. »Fühlen Sie sich auch wirklich wieder besser?«

Deryn starrte auf ihr Bein. Die Uniform passte zwar über die Kompresse, aber ein Klumpen war dennoch sichtbar. »Die Wunde am Arm verheilt gut, aber beim Knie ist Dr. Busk nicht so sicher.«

»Das hat er mir auch gesagt.« Miss Eierkopf setzte sich an Deryns Schreibtisch und schnippte mit den Fingern, damit Tazza zu ihr zurückkam. »Wenn Sie sich die Bänder hinter der Kniescheibe gerissen haben, könnte es sein, dass Sie nie wieder an den Webeleinen hinaufklettern.«

Deryn blickte zur Seite, denn plötzlich begannen ihre Augen zu brennen. Nun ja, man würde sie sowieso nie wieder in die Nähe der Webeleinen lassen, wenn die Offiziere erfuhren, dass sie ein Mädchen war. Trotzdem tat es weh, falls Ma und die Tanten am Ende recht behalten würden. Wenn sie nun überhaupt kein Flieger mehr sein könnte?

»Dr. Busk ist sich dessen noch nicht sicher, Ma’am.«

»Nein, ist er nicht. Aber mit dem Pech könnte sich auch eine Gelegenheit auftun.«

»Pardon, Ma’am?«

Dr. Barlow stand wieder auf und begann, die Kabine zu inspizieren, wobei sie mit dem weißen Handschuh über das Holz strich. »Während der letzten zwei Monate haben Sie sich als nützlich erwiesen, Mr. Sharp. Sie sind wirklich gut zu gebrauchen, wenn die Lage schwierig ist, und sie können ausgesprochen pfiffig improvisieren. Sie verfügen sogar, wenn Sie nicht in Ihrem Krankenbett vor sich hin brüten, über ein gewisses Geschick für Diplomatie.«

»Aye, ich glaube schon.«

»Darf ich Sie fragen, warum Sie nie daran gedacht haben, dem britischen Empire auf eine glanzvollere Weise zu dienen, als auf einem Flugtier herumzukrabbeln und Knoten zu binden?«

Deryn verdrehte die Augen. »Es ist ein bisschen mehr dran, als nur Knoten zu machen, Ma’am.«

»Da ich Ihre Talente aus erster Hand kennengelernt habe, kann ich dem nicht widersprechen.« Miss Eierkopf wandte sich Deryn zu und lächelte. »Aber wenn Sie mein Angebot annehmen, lernen Sie, dass Knoten zu lösen – bildlich gesprochen – noch lohnender sein kann.«

»Ihr Angebot, Ma’am?«

»Habe ich mich so unklar ausgedrückt?«, fragte Miss Eierkopf. »Ich biete Ihnen eine Stellung an, Mr. Sharp. Eine Stellung außerhalb des Air Service. Obwohl ich Ihnen versichern kann, dass die Arbeit mit einer gewissen Anzahl von Luftreisen verbunden sein wird.«

»Eine Stellung, Mr. Sharp«, sagte ihr Loris, und Bovril gab ein leises Pfeifen von sich.

Deryn lehnte sich in die Kissen zurück. Plötzlich war das Summen hinter ihrer Kniescheibe doppelt so laut geworfen. »Aber was für eine Stellung? Sie sind die … Hauptwärterin des Londoner Zoos, nicht wahr?«

»Zoowärterin, pah!«, sagte Dr. Barlows Tierchen.

»So lautet mein Titel, Mr. Sharp. Aber haben Sie den Eindruck gewonnen, dass unsere Mission nach Istanbul zoologischer Natur gewesen wäre?«

»Äh, ich denke nicht, Ma’am, nein.« Eigentlich hatte Deryn, wie ihr jetzt dämmerte, nicht die geringste Ahnung, welche Arbeit Dr. Barlow eigentlich machte, nur gehörte es auf jeden Fall dazu, Leute herumzukommandieren und sich piekfein zu benehmen. Natürlich war sie die Enkelin des großen Tierschöpfers und konnte sogar inmitten eines brüllenden Krieges die Leviathan für ihre Zwecke beschlagnahmen.

»Arbeiten Sie für jemand Bestimmtes, Ma’am? Zum Beispiel für die Admiralität?«

»Für diese Schwachköpfe? Wie kommen Sie denn darauf? Die Zoologische Gesellschaft von London ist keine Behörde der Regierung, Mr. Sharp. Sie ist vielmehr eine wissenschaftliche Wohltätigkeitsstiftung.« Dr. Barlow setzte sich wieder und streichelte Tazza den Kopf. »Aber Zoologie ist das Rückgrat unseres Empires, und deshalb hat die Gesellschaft viele Mitglieder von hohem Rang. Gemeinsam sind wir eine Macht, die man nicht unterschätzen sollte.«

»Aye, das ist mir schon aufgefallen.« Miss Eierkopf hatte auf dem Schiff praktisch das Kommando gehabt, bis Mr. Tesla an Bord gekommen war und von Superwaffen zu reden angefangen hatte. »Aber was für eine Stellung könnte mir die Gesellschaft denn anbieten? Ich bin kein Eierkopf.«

»Gewiss nicht, aber Sie haben eine rasche Auffassungsgabe. Und manchmal bringt mich meine wissenschaftliche Arbeit in Situationen, die, wie es Mr. Rigby ausdrücken würde, recht aufregend sind.« Dr. Barlow lächelte. »Bei solchen Gelegenheiten wäre ein talentierter persönlicher Assistent von großem Nutzen.«

»Oh?« Deryn kniff die Augen zusammen. »Und wie persönlich wäre dieser Assistent, Ma’am?«

»Sie wären mein Kammerdiener, Mr. Sharp.« Sie ließ den Blick durch die Kabine schweifen. »Obwohl Sie, wie ich sehe, selbst einen gebrauchen könnten.«

Deryn verdrehte die Augen. Es war brüllend schwierig zu putzen, wenn es der Arzt verbot, aufzustehen. Aber diese Stellung erschien ihr wie eine Chance, dem Gefängnis zu entgehen – oder der schlimmeren Variante, nach Glasgow zurückgeschickt und in ein Kleid gesteckt zu werden.

»Das klingt hervorragend, Ma’am. Aber …«

Dr. Barlow zog eine Augenbraue hoch. »Sie haben Bedenken?«

»Nein, Ma’am. Aber Sie vielleicht, wenn … Verstehen Sie, da gibt es etwas, das ich Ihnen nicht über mich erzählt habe.«

»Dann heraus damit, Mr. Sharp.«

»Heraus damit«, sagte ihr Loris. »Mr. Sharp.«

Deryn schloss die Augen und entschied, es jetzt einfach drauf ankommen zu lassen.

»Ich bin ein Mädchen.«

Als Deryn die Augen wieder öffnete, starrte Miss Eierkopf sie mit unveränderter Miene an.

»Freilich«, sagte sie.

Deryn fiel die Kinnlade herunter. »Sie meinen, Sie … Haben Sie das gewusst

»Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Aber ich habe es mir zum Prinzip gemacht, mir meine Überraschung niemals anmerken zu lassen.« Dr. Barlow seufzte und starrte aus dem Fenster. »Allerdings ist es in diesem Fall deutlich schwieriger als sonst. Ein Mädchen, sagen Sie? Und da sind Sie ganz sicher?«

»Aye.« Deryn zuckte mit den Schultern. »Von Kopf bis Fuß.«

»Nun, ich muss sagen, das ist außergewöhnlich. Und es trifft mich ein wenig unvorbereitet.«

»Mr. Sharp«, sagte der Loris auf ihrer Schulter wieder und klang überaus selbstzufrieden.

Deryn musste angesichts des Unbehagens von Miss Eierkopf lächeln. Es war wunderbar, einer solch oberschlauen Person ein Geheimnis verraten zu können. Vermutlich wäre es später nicht mehr so wunderbar, die Überraschung auf den Gesichtern der Mannschaft zu sehen. Aber was konnten die Offiziere ihr schon noch anhaben, wenn sie unter dem Schutz von Miss Eierkopf stand?

»Und warum haben Sie dieses Verkleidungsspiel getrieben?«

»Weil ich fliegen wollte, Ma’am. Wegen der Knoten.«

Miss Eierkopf brummte. »Nun, das verändert die Situation natürlich, Mr. Sharp – oder Miss Sharp, denke ich –, ist aber vielleicht durchaus nützlich. Das Vorgehen der Gesellschaft erfordert manchmal eine gewisse Fertigkeit in der Kunst der Verkleidung. Doch es ist schon erstaunlich, dass niemand Sie durchschaut hat.«

»Nun, ja, ich fürchte, so stimmt das nicht.« Deryn räusperte sich. »Graf Volger hat mich als Erster entlarvt, dann ein Mädchen namens Lilit in Istanbul. Kürzlich erst ist Alek hinter mein Geheimnis gekommen. Ach, und Pancho Villa und sein Arzt. Schließlich noch dieser Oberpenner von Reporter Eddie Malone.«

Miss Eierkopf machte große Augen. »Sind Sie sicher, dass das alle sind, junge Lady? Oder bin ich die letzte Person auf dem Schiff, die es erfährt?«

»Nun, ja, das ist ja gerade das Problem, Ma’am. Ziemlich bald wird die World – das ist die Zeitung von Mr. Malone – es auch erfahren. Er will es veröffentlichen, wenn wir New York heute Abend erreichen.«

»Nun, das wirft ein ganz anderes Licht auf die Sache.« Dr. Barlow schüttelte langsam den Kopf. »Ich fürchte, da muss ich mein Angebot zurückziehen.«

Deryn fuhr hoch. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, Miss Sharp, Sie haben in bestimmten Kreisen eine gewisse Berühmtheit erlangt. Sie haben geholfen, die Revolution im Osmanischen Reich in Gang zu bringen. Eine hervorragende Leistung, selbst nach Maßstäben der Londoner Zoologischen Gesellschaft!« Miss Eierkopf seufzte. »Aber wenn diese Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt, wird der Skandal aufgrund Ihrer Bekanntheit nur noch größere Wellen schlagen.«

»Nun, aye«, sagte Deryn. »Eine Woche lang vielleicht.«

»Eine ganze Weile, fürchte ich. Junge Lady, Sie haben dieses Schiff mitsamt seinen Offizieren lächerlich gemacht. Und Sie haben sich dazu einen Augenblick ausgesucht, in dem die ganze Welt den Blick auf uns richtet. Was glauben Sie, werden die Leute über Kapitän Hobbes sagen, der nicht bemerkt hat, dass sich in seiner Mannschaft ein Mädchen befindet!«

»Oh.« Deryn blinzelte. »Das stimmt natürlich.«

»Und damit noch nicht genug, Miss Sharp. Der Air Service ist ein recht neuer Zweig der Streitkräfte, und die Admiralität … Also, die hat Ihnen sogar einen Orden verliehen!«

»Aber Sie haben selbst gesagt, die seien Schwachköpfe!«

»Sehr mächtige Schwachköpfe, Miss Sharp, und die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, sie sich zum Feind zu machen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt allerdings jemanden, der sich über diese Enthüllung freuen wird.«

»Meinen Sie die Suffragetten, Ma’am?«

»Nein, ich meine die Deutschen. Das ist ein Knüller für ihre Propaganda!« Sie erhob sich. »Es tut mir leid, Miss Sharp, aber ich fürchte, so kann das nichts werden.«

Deryn schluckte und versuchte, irgendeinen Einwand zu erheben, doch die niederschmetternde Wahrheit war die: Dr. Barlow hatte recht. Während der letzten zwei Tage im Krankenbett hatte Deryn nur noch darüber nachgedacht, was Malones Enthüllung für sie selbst bedeuten würde. An ihren Kapitän und ihre Kameraden hatte sie dabei nicht gedacht, und schon gar nicht an den Air Service und das britische Empire.

Und schlimmer, auch Alek hatte nicht daran gedacht. Würde er ihr nicht die Freundschaft aufkündigen, wenn sie Berühmtheit damit erlangte, den Service und ihr Schiff gedemütigt zu haben?

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Miss Sharp, was Sie getan haben, ist sehr tapfer. Sie haben unserem Geschlecht einen großen Dienst erwiesen, und ich bewundere Sie dafür außerordentlich.«

»Ehrlich?«

»Tatsächlich.« Miss Eierkopf winkte Tazza zu sich und öffnete die Tür. »Und wenn Sie sich nicht hätten erwischen lassen, wäre es mir ein Vergnügen gewesen, mit Ihnen zu arbeiten. Vielleicht können wir nach dem Krieg noch einmal über diese Stellung reden.«

»Vielleicht«, sagte der Loris auf ihrer Schulter. »Miss Sharp.«

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