Kapitel 34 – Ü-ber-zeu-gung, die |

1 Glaube daran, dass eine gewisse Einstellung oder Entscheidung richtig oder gut ist

2 Jemanden davon überzeugen, dass etwas richtig ist

 

 

Mias Blick war stundenlang durch den weißen Raum gewandert. Ihre Augen waren von all den Bewegungen müde geworden. Doch in so einer reizarmen Umgebung musste sie sich irgendetwas suchen, irgendeine Ablenkung.

Ihre Angst konnte sie im Zaum halten, solange diese grinsenden Mistkerle ihr fern blieben. Diese Augen, voller roter Äderchen, die aus ihren Höhlen herauszuquellen drohten, gepaart mit diesem unaufhörlichen und grimassenartigen Lächeln. Immer wieder kamen Erinnerungen in ihr hoch, wenn sie diese Wesen sah, die einst Menschen gewesen waren. Erinnerungen an eine unschöne Zeit (Du musst dich dem Ganzen hingeben, Schatz! Ich bin’s doch! Dein Daddy!) kamen dabei ab und zu hoch, was ihre Situation nicht wirklich verbesserte. Sie war stark und genau das musste sie jetzt bleiben. Wenn sie diesem Haufen grünen Text auf diesen Bildschirmen trauen konnte, würde man sie freilassen, sobald Hud und Archie zurückkämen.

Doch sie traute dem großen Viotrux nicht. Um Menschen zu trauen, musste man ihnen ins Gesicht sehen, sie nach Lügen scannen können. Aber eine Wand von Text war so durchschaubar wie diese verdammten weißen Wände.

Sie war nun bereits einen ganzen Tag hier. Sobald sie Hud und Archie Säcke über den Schädel gestülpt, ihnen etwas in den Hals gespritzt und sie verschleppt hatten, war sie hier gelandet. Mia hatte stundenlang vergebens versucht, die Tür zu öffnen. Sie hatte keinen Griff, kein Schloss, nichts. Das Ding schob sich lediglich hoch und öffnete sich, wie ein Tor.

In der Ecke des Zimmers standen bereits drei Teller mit Essen. In vorbestimmten Intervallen schienen die Finger des ach so großen Viotrux ihr Nahrung zu bringen. Mias Bauch rumorte, was das Zeug hielt, jedoch fasste sie nichts an. Sie wusste nicht, wie Viotrux die Menschen, die hierherfanden, veränderte,

(Augenblick noch, junge Dame! Wir beide sind nicht fertig! Und wenn du nicht hören willst …)

aber es könnte auch an dem Essen liegen. Da hungerte sie lieber.

All ihr Vertrauen lag nun in Hud und Archie. Was auch immer dieses Kerngehäuse sein mochte, sie mussten es finden und hierherbringen. Sie wollte hier weg, komme was wolle. All diese Gestalten, diese

(Leg dich hin, oder ich halte dich fest, Mia! Es wird nur ganz kurz weh tun, dann ist es vorbei!)

Dinger sollten ihr fern bleiben. Sie wünschte sich, dass sie nie danach geforscht hätte, was ihren Vater zerstört hatte, dass sie nie nach Antworten gesucht hätte auf das, was passiert war.

Plötzlich erklang ein Geräusch. In der Mitte des Raums fuhr ein Monitor herunter, der sich einschaltete und einen schwarzen Bildschirm offenbarte. Ein grünes Zeichen blinkte ununterbrochen in der linken oberen Ecke des Bildschirms.

Viotrux war da, um ein Pläuschchen zu halten.

»DU MUSST ESSEN, MIA. ICH VERSPRECHE DIR, DASS DAS ESSEN NORMAL IST. ICH WEISS, DASS DU ANGST HAST. ABER VERTRAU MIR! :-)«

»Verzieh dich, ich vertraue dir kein Stück!«, fauchte Mia. »Du verdammter Freak! Lass mich in Ruhe!«

»DAS HÖRE ICH UNGERN. ABER DU BIST VOLLER ÜBERZEUGUNG. SO SOLL ES SEIN. INDIVIDUALITÄT WIRD BEI EUCH GROSS GESCHRIEBEN. DAS IST ÜBERBEWERTET, NUR SO NEBENBEI. MAN KANN DURCH ZUSAMMENARBEIT UND AUFLÖSUNG DES EGOS VIEL MEHR ERREICHEN, IN VIEL KÜRZERER ZEIT. :-)«

Mia lief es eiskalt den Rücken herunter. Doch diesmal ließ sie sich nicht unterkriegen. Ihre Gefühlsausbrüche waren Geschichte. Er würde sie nicht brechen. »Oh großer und herrlicher Viotrux«, begann sie und hob ihre Hände. »Du in all deiner Weisheit und deinem Glanz! Küss doch meinen fabelhaften Arsch, wenn es dir beliebt. Ach, kannst du nicht. Du hast ja keine Lippen.«

»DAS IST UNANGEBRACHT, MIA. SEI BITTE NICHT SO KINDISCH. :-(«

»Wie soll ich sonst mit dir reden, hm? Du sperrst mich ein, versklavst Hunderte von Menschen, verschandelst meine Freunde? Ich hab genug von dir!«

»SOLL ICH SIE WIEDER HERBRINGEN? MEINE FINGER? ICH KENNE DEINE GEFÜHLE. ICH WEISS, WIE VIEL ANGST SIE DIR EINJAGEN. SIE ERINNERN DICH AN DEINEN VATER. DEIN VATER WAR EIN GROSSER MANN. EIN PIONIER. :-)«

(Lächeln, Mia. Man braucht sowieso nur ein Auge. Das verheilt wieder. Aber wenn du jetzt nicht mitkommst, wirst du dich an meinen Arm klammern müssen, um dort anzukommen.)

Mias Gedanken wurden mit Erinnerungen geflutet. Das groteske Lächeln ihres Vaters, wie er war, wie er aussah und so redete, es aber nicht war. Er war von hier zurückgekehrt. Es war seine Schuld. Die Schuld von Viotrux.

»Du weißt NICHTS über meinen Vater!«, brüllte Mia. »Wie kannst du es wagen, über ihn zu reden?«

»ICH KENNE DEINEN VATER BESSER ALS DU, MIA. WAS ER DIR ANGETAN HAT, WAR NOTWENDIG. DU SOLLTEST HIERHERKOMMEN. IMMERHIN HAT ES AUCH FUNKTIONIERT. :-)«

Mia stutzte einen Moment. Sie sollte hierherkommen? »Hast du mich also herbestellt, hm?«

»JA. ANDERE MÄCHTE JEDOCH AUCH. DINGE, ÜBER DIE ICH UNGERN REDE. :-(«

»Andere Mächte, hm? Die Seherin?« Mia grub in ihren Erinnerungen, nach dem Moment, in dem die Seherin mit ihnen geredet hatte. Wer war diese Stimme, von der sie geredet hatte? Sie hieß … »Lex. Lex hat uns geschickt. Er hat uns kontaktiert, uns in diese Richtung geleitet.«

In diesem Moment ging eine spürbare Druckwelle durch Sherman’s End. Der Raum selbst, nein, alle Räume schienen sich zu biegen. Das Ächzen von Stahl war zu hören, wie der liebliche Gesang von Walen.

»LEX?« Viotrux verzichtete auf seine merkwürdigen Zeichen.

»Ja, ganz richtig, du zu groß geratener Taschenrechner. Lex hat mit uns geredet.«

»ICH WEISS, DASS DU IN DER HINSICHT BLUFFST, DASS DU LEX NICHT KENNST. DU HAST DIESEN NAMEN NUR AUFGESCHNAPPT. ABER DIE BLOSSE ERWÄHNUNG IST SCHON GENUG FÜR MICH. DU BIST DIR NICHT BEWUSST, IN WAS DU GERADE GERATEN BIST, MIA.«

Mia schluckte. Das klang nicht gut.

»UND ICH HABE DAS GEFÜHL, DASS ICH DIE SPIELREGELN JETZT LEICHT ÄNDERN WERDEN MUSS. ICH MUSS VIELLEICHT DOCH ETWAS ÜBERZEUGUNG ANWENDEN. MÖCHTEST DU SEHEN, WAS WIRKLICH MIT DEINEM VATER PASSIERT IST? :-)«

(Wie wagst du es, du verdammtes Balg? Ich bin dein Vater! Dein VATER! WIDERSETZ DICH NICHT!)

»Lieber nicht«, flüsterte Mia. Tränen formten sich wieder in ihren Augenwinkeln.

»LEIDER ZU SPÄT, MEINE TEUERSTE. LEIDER ZU SPÄT. :-)«

Die Tür flog auf und entblößte eine Reihe von bewaffneten Wachen, die Mia widerlich angrinsten. »Du sollst mit uns kommen«, sagte einer von ihnen unnatürlich freundlich.