Kapitel 20 – Er-näh-rung, die |
1 Zusammenstellung und Häufigkeit der Nahrungsaufnahme eines Lebewesens
2 Der Lebensunterhalt einer Person oder Familie
Während Hud sein Lenkrad in beiden Händen hielt, glitt sein Blick über nur eine Sache: Mais. Zunächst waren die Felder relativ spärlich bewachsen gewesen, jedoch wurden die Felder dichter und höher, je tiefer sie in Cornland eindrangen. Während das Wunderding einen atemberaubenden Soundtrack für das abgab, was rasch durch die dreckigen Fensterscheiben des Wagens an ihnen vorbeiraste, staunten Archie und Hud immer mehr über die schieren Ausmaße dieses Maisfeldes.
Die Straße war ziemlich breit, was jedoch einzelne baumhohe Maispflanzen nicht daran hinderte, ihnen beiden einen guten Teil des warmen Sonnenlichts zu nehmen. Die Pflanzen wuchsen allerdings nicht auf den Straßen. Dieser alte Highway, der durch Cornland führte, schien mit einem Asphalt bedeckt zu sein, der noch Jahrtausende überstehen würde. Alle großen Highways waren von dieser Qualität, was nur ein weiterer Beweis für den Einfallsreichtum und das Können des alten Volkes war.
»Mann«, seufzte Archie und ließ noch immer nicht seinen Blick von dem Maisfeld, »das ist wirklich … majestätisch.«
»Majestätisch?«, fragte Hud. »Du hast Worte drauf, Alter. Werde ich nie hinter kommen. Was zur Hölle soll das bedeuten?«
Hud warf einen kurzen Blick auf das Display des Wunderdings. Momentan lief irgendein hektisches Stück namens »smells_like_teen_spirit.mp3«, das ständig lauter und wieder leise wurde. Es war dennoch sehr einprägsam und gefiel ihm irgendwie.
»Majestätisch ist etwas … wirklich Großes, etwas Einmaliges. Guck dir das Maisfeld an, du wirst es schon verstehen.«
Cornland war wirklich schön anzusehen, da stimmte er zu. Dieser Mais musste seit hunderten von Jahren wild gewachsen sein. Bis zum Ende der Straße breitete sich seit Stunden ein dicker Streifen aus Grün mit gelegentlichen gelben Einschüben aus. Es war wirklich … nun, majestätisch.
Hud griff zu seiner Pfeife und füllte sie mit etwas Junk. Das beherrschte er mittlerweile auch während der Fahrt gut.
»Hey Hud, haben wir noch was zu essen?«, fragte Archie.
»Auf der Rückbank ist noch eine Konserve, glaube ich. Greif ruhig zu. Ich hab das Ding bisher nicht aufgemacht, weil das Etikett fehlt. Ich weiß nicht, was drin ist.«
Archie verschwand kurz hinten und kam mit einer Dose zurück. »Das wird für längere Zeit unsere einzige Mahlzeit sein, die nicht aus Mais besteht. Das sollten wir genießen, ich gebe dir auch was ab.«
Hud zündete sich währenddessen ein Streichholz an und zog kräftig an der Pfeife. Den Rest erledigte der Tempomat des Wagens. Während sich seine Lungen wieder mit dem aromatischen Rauch füllten, warf er dennoch einen Blick auf die Straße. Er wollte keine unangenehmen Überraschungen erleben.
»Na toll«, sagte Archie.
»Was denn?«, fragte Hud, seine Augen weiterhin nach vorn gerichtet.
»Sieh doch selbst«, fügte Archie hinzu.
Hud sah kurz in die nun geöffnete Konserve. Sie war mit Maiskörnern gefüllt.
Er atmete den wohlduftenden Rauch aus und konnte nicht anders als zu lachen. »Das fängt ja gut an«, sagte er. »Lass es dir schmecken, ich brauche gerade nichts.«
»Sehr lustig«, sagte Archie, während er sich etwas Mais in den Mund stopfte. »Wenn ich nicht solchen Hunger hätte, würde ich dir dieses Ding an den Schädel schmeißen.«
Hud lachte nur noch mehr. »Immerhin werden wir hier nicht verhungern«, sagte er. »Doch ich sollte weniger Junk rauchen. Davon werde ich nur hungrig. Mich mit Mais vollzustopfen, wäre da nicht das Beste. Lässt sich schlecht verdauen.«
»Das war jetzt zu viel Information«, nuschelte Archie mit vollem Mund. »Zu einer abwechslungsreichen Ernährung gehört aber mehr al… PASS AUF!«
Hud hatte es schon gesehen, doch es war bereits zu spät. Auf der Straße stand ein Freak, der scheinbar nur aus einem gigantischen Bauch bestand. Sein massiver Bauch, der mit Dehnungsstreifen überwuchert war, hing bereits auf den Boden. Er hatte den Wagen soeben erspäht. Und er sah so aus, als wenn er Hunger auf etwas mehr als nur Mais hätte.
Sein gigantisches Maul öffnete sich und er ließ einen markerschütternden, dreckigen Schrei los. Dann bewegte er sich auf sie zu.
»Nicht langsamer werden!«, schrie Archie.
»Das hatte ich nicht vor«, sagte Hud und versuchte am Freak vorbeizufahren. Er nahm zwar einen großen Teil der Straße ein, aber er würde schon an ihm vorbeikommen.
»Der Dicke wird uns zwar nicht verfolgen können, aber jetzt wissen alle Freaks in der Umgebung, dass wir hier sind. Hast du dafür zufällig einen Spruch?«, fragte Hud.
»Keinesfalls. Ich könnte etwas schreien, aber damit würde ich dich auch riskieren. Und ich habe keine Lust, hier zu stranden. Fahr einfach weiter, los!«
Hud schlenkerte den Wagen um den Freak herum, der mit seinen kurzen Armen nach ihm griff. Er schien überraschend stark, da man deutlich den Druck spüren konnte, der auf das Auto ausgeübt wurde.
Doch einige Sekunden später war der noch immer schreiende Freak nur ein fetter Fleck in Huds Rückspiegel. »Halt die Augen offen«, sagte Archie. »Ich bin mir sicher, dass wir demnächst Besuch bekommen.«
»Auf dem Rücksitz liegt ein Revolver«, murmelte Hud. »Ist noch einiges an Munition da. Er sollte geladen sein. Schnapp ihn dir schon mal.«
Hud ließ seinen Blick umherstreifen. Archie hatte schnell den Revolver in seiner Hand.
»Weißt du wie man damit umgeht?«, fragte Hud.
»Ja, bin nur nicht sonderlich gut damit.«
»Wird schon reichen. Hilf mir bitte beim Umsehen.«
Es dauerte nicht lange, bis andere Freaks aus dem Maisfeld gestürmt kamen. Hud trat etwas auf das Gas, aber musste dennoch aufpassen. Einen Freak bei dieser Geschwindigkeit zu rammen, könnte dafür sorgen, dass er die Kontrolle über den Wagen verlor.
Einige der Freaks waren ihnen bereits auf den Fersen. Diejenigen, die besonders lange Beine hatten, konnten schon fast mit ihnen mithalten. Es würde schnell ungemütlich werden, falls diese Burschen aufholen sollten.
Ein Freak sprang direkt neben ihnen aus dem Maisfeld und schlug mit seiner großen Faust die rechte hintere Scheibe ein. Daraufhin krallte er sich im Wagen fest. Hud musste gar nichts sagen. Archie drehte sich sofort um und schoss auf den Freak. Ein ohrenzerberstender Schuss erfüllte das Wageninnere und erzeugte ein starkes Dröhnen in Huds Ohren. Archie hielt sich ebenfalls die Ohren. Der Freak ließ augenblicklich los und sorgte dafür, dass andere, die den Wagen verfolgten, über ihn stolperten.
»Wir haben verloren!«, brüllte Archie lauter als er müsste. »Das schaffen wir niemals!«
»Doch«, schrie Hud ebenfalls. Er konnte noch immer kaum etwas verstehen. Doch was er sah, bereitete ihm unsagbare Freude.
Etwa einen Kilometer vor ihnen waren die großen Tore einer Siedlung zu erkennen, die sich gerade für sie öffneten.
Archie sah es auch. »Eine Siedlung? Hier in Cornland?«
»Ist mir egal, was das hier ist! Ich fahre rein!« Hud beschleunigte noch mehr, um die Freaks hinter sich zu lassen. Die Siedlung kam näher und Hud konnte erkennen, dass oben auf einer Plattform über den Toren bereits mit Gewehren behangene Menschen standen, die ihre Waffen auf sie gerichtet hatten.
»Zielen die nun auf die Freaks oder auf uns?«, fragte Hud panisch.
»Offensichtlich auf die Freaks. Die hätten sonst nicht die Tore geöffnet. Und jetzt gib Gas! Komm schon!«
Hud hatte schon auf über 120 Kilometer die Stunde beschleunigt. So schnell war er noch nie gefahren, soweit er sich erinnern konnte. Gepaart mit dem Gefühl einer frischen Dosis Junk war das Gefühl atemberaubend. Er konnte sich vorstellen, dass Geschwindigkeit auch eine Droge sein konnte.
Der Wagen war nicht weit von den Toren entfernt, als diese sich zu schließen begannen.
»Sie wollen, dass wir durchschlüpfen und die Freaks hinter verschlossenen Türen bleiben! Drossel die Geschwindigkeit, Hud!«
»Was heißt drosseln?«
»LANGSAMER!«
Hud nahm sofort den Fuß vom Gas und betätigte langsam die Bremse. Die Freaks waren zwar größtenteils weit hinter ihnen, aber diejenigen mit langen, mutierten Beinen würden sie tatsächlich bald einholen. Und schon fielen die ersten Schüsse, die über dem Tor abgefeuert wurden, und die einzelne der schnelleren Freaks zu Fall brachten.
Hud wurde stetig langsamer und passierte mit dreißig Kilometer die Stunde die Tore, die sich daraufhin hinter ihnen schlossen. Einige Sekunden darauf hörte man dumpfe Schlaggeräusche gegen die Tore, die offensichtlich dick und stabil waren. Die Freaks krachten wie Wellen von wildem Wasser dagegen. Ein Klangteppich von Grunzen und Kreischen war von außen zu hören, der von ein paar Schusssalven sofort unterbunden wurde.
Hud kam inmitten eines offenen Platzes zum Stehen. Der Wagen wurde augenblicklich von schaulustigen Bewohnern der Siedlung umzingelt.
Archie machte sich bereit zum Aussteigen. »Sei lieber freundlich, diese Menschen haben unsere Ärsche gerettet.« Kurz darauf war er schon draußen.
Hud zog den Schlüssel und folgte ihm.
Als er sich umsah, bemerkte er sofort, dass die Siedlung wirklich schön aussah. Jedes Haus war von außen bemalt und mit Ornamenten verziert. Alles schien stabil, nicht alt und klapprig wie in den meisten Orten. Die Siedlung war zudem nicht wirklich klein, da Hud Platz für sicherlich einhundert Menschen vermutete, wenn nicht mehr. Die Mauer, die sie passiert hatten, schien das komplette Gebiet zu umschließen und sie war sicherlich um die fünf Meter hoch.
Es war eine regelrechte Festung.
»Willkommen in Corn County«, sprach eine laute und einladende Männerstimme. Hud und Archie sahen sich um und erkannten einen dicken Mann mit einem bauschigen braunen Bart, der auf einem Podest stand und zu ihnen herunterrief. »Ich bin der Bürgermeister, Larry Parkinson! Ich heiße euch hiermit herzlich willkommen! Und die Freude ist ganz meinerseits, wir haben nicht oft Besucher hier.« Es folgte ein tiefes, herzhaftes Lachen.
»Bewohner von Corn County«, rief Archie und sah dabei die Dutzenden Menschen an, die den Wagen umzingelten. »Mein Name ist Archie, und mein guter Freund hier hört auf den Namen Hud. Wir bedanken uns herzlich für eure Rettung vor den Freaks dort draußen. Wir haben Hunger und unsere Vorräte sind knapp. Würdet ihr einen Handel für Essen akzeptieren?«
»Wenn ihr auf Mais und Maisprodukte aus seid, gern«, rief Larry und lachte noch lauter.
»Lass mich raten«, flüsterte Hud Archie zu, »die haben sicherlich zweihundert verschiedene Arten, Mais zuzubereiten.«
Archie fuhr fort. »Larry, Bürgermeister von Corn County, wir nehmen alles an, was essbar ist, falls ihr uns eure Gastfreundschaft anbieten wollt. Wir sind euch mehr als nur dankbar.«
»Ethel wird euch bewirten. Sie ist unsere beste Köchin und hat zudem noch eine Schenke. Ihr müsst uns nichts zahlen! Wir hören gern Geschichten von außen zu! Ihr müsst verstehen … Corn County ist etwas abgeschieden vom Rest der Welt. Falls ihr Neuigkeiten habt, lasst sie uns ruhig wissen!«
»Ich mag es hier jetzt schon«, sagte Hud.
Ethel war eine nette alte Dame. Ihre grauen Haare hatte sie sich zu einem Dutt zusammengebunden und sie trug sogar eine alte Brille über der Nase, die jedoch einen Sprung in einem der Brillengläser aufwies. Klein und in Tracht und Schürze gehüllt stand sie vor dem Herd, als Hud und Archie ihre kleine Schenke betraten. Sie hatten soeben ihren Wagen draußen geparkt.
»Sie müssen Ethel sein, oder?«, fragte Archie.
»Sehr richtig«, krächzte die alte Dame auf eine liebevolle Art. »Ich habe schon von Neuankömmlingen gehört. Es sind Schüsse gefallen. Das ist meist entweder ein Zeichen für Raider, Freaks oder Dingos. Ihr seht nicht aus wie die ersteren beiden.«
Ein lieblicher Duft erfüllte die Luft. »Was ist das? Das riecht super«, sagte Hud. Sein Magen knurrte bereits von der Pfeife voll Junk, die er sich noch vor dem Angriff der Freaks gegönnt hatte.
»Oh, ich habe einen leckeren Mais-Eintopf gemacht. Dazu backt gerade ein Maisbrot im Ofen. Alles aus Mais und den Erträgen von etwas Vieh, das hinter diesen Mauern gezüchtet wird. Wir kriegen nicht viel außer Mais zu essen, daher müssen wir manchmal kreativ werden. Und ich bin kreativ!« Ethel kicherte leicht und trug ein paar Töpfe umher.
»Nun, ich möchte mich erst mal vorstellen: Mein Name ist Archie, und das hier ist mein guter Freund Hud. Wir reisen umher. Was …«
»Quatscht doch nicht so viel! Ihr müsst schon ganz hungrig sein von der langen Reise! Setzt euch und nehmt euch etwas zu essen!« Ethel stellte zwei gefüllte Teller mit Mais-Eintopf auf den Tisch und warf zwei Löffel dazu. »Das Brot ist bald fertig. Ihr könnt doch schon anfangen, wenn ihr wollt.«
Archie und Hud steckten sich sofort den ersten Löffel voll Eintopf in den Mund. Archie war generell hager und ständig hungrig und Hud konnte wegen des Junks nicht anders, als seinen Magen zu füllen. Zudem war gekochtes Essen eine wahre Seltenheit für Dingos.
»Mensch, ihr seid ein paar hungrige Dingos«, sagte Ethel.
»Bampe«, fügte Hud mit vollem Mund hinzu. »Fmept wuper.«
»Ich weiß es zu schätzen«, sagte Ethel lächelnd.
Hud schluckte hörbar. »Das ist wohl das Beste, das ich seit zwei Jahren gegessen habe. Ist da wirklich nur Mais drin?«
»Fast«, sagte Ethel.
Archie hörte nun langsam auf zu essen.
»Was denn noch?« Hud schob noch einen Löffel hinterher.
»Nun, Maismehl für eine gehörige Mehlschwitze, ein paar Gewürze, die ich vorrätig habe …«
Archie ließ den Löffel fallen.
»… und etwas Schlafmittel, das wir einmal ein paar Dingos abgenommen haben.«
Schon lag Archies Gesicht in seinem Teller. Kein Wunder – dieser hagere Typ hielt wirklich nichts aus.
Hud wurde auch schummrig. Dann wurde die Welt um ihn herum schnell schwarz.