Fünfzehntes Kapitel
Das sehe ich mir nicht länger tatenlos an!«, schimpfte Rosanna und stampfte mit wütender Entschlossenheit durch die dunkle Kammer zum Giebelerker. Die Luft in dem kleinen Raum war abgestanden und hinterließ im Mund den üblen Geschmack von Körperausdünstungen, ungewaschener Kleidung und dem Elend der Selbstaufgabe. »Das reicht jetzt!«
Im nächsten Moment zog sie den schiefergrauen Wollvorhang vor dem Giebelfester mit einem scharfen Geräusch zurück und helles Tageslicht flutete in die Dachkammer. Es scheuchte die niederdrückende Dunkelheit aus dem Raum, die sich seit über einer Woche dort festgesetzt hatte.
Die Helligkeit traf Abby wie ein schmerzhafter Schlag. »Hast du sie noch alle? Zieh den Vorhang sofort wieder zu!«, stieß sie mit heiserer Stimme hervor und drehte sich schnell mit dem Gesicht zur Wand.
»Das kommt ja gar nicht infrage!«, erwiderte die Köchin grimmig und riss auch noch das Fenster weit auf, damit endlich wieder frische Luft in die Kammer drang und den sauren Mief der letzten Tage vertrieb. »So geht das nicht weiter mit dir! Wir haben Verständnis für deinen Kummer und dir auch viel Zeit gelassen. Aber jetzt muss Schluss sein mit dem Selbstmitleid! Jedenfalls werde ich nicht zulassen, dass du dich noch weiter hier in der Kammer verkriechst! Du musst endlich … nun ja, ins Leben zurückkommen, dich deiner Verantwortung stellen und neuen Lebensmut finden!«
»Lass mich in Ruhe!«
»In Ruhe für was? Um zu sterben?«, fragte Rosanna bissig.
»Ja, am besten!« Abby zog die Decke bis zu den Ohren hoch. Denn die Luft, die durch das Fenster strömte und den salzigen Duft des Meeres mit sich trug, war so kalt und klar wie der stahlblaue Winterhimmel über der Kolonie.
»Red nicht so einen Unsinn! Es ist bitter, dass du das Baby verloren hast und Andrew nach Norfolk Island verbannt worden ist. Aber das ist weder das Ende der Welt noch ein Grund zum Sterben!«
»Was weißt du denn schon!«, kam es abweisend und voller Hoffnungslosigkeit aus der Ecke, wo das Bett stand.
Rosanna stieß einen schweren Stoßseufzer aus. So ging es nun schon seit fast drei Wochen. In der ersten Woche nach Andrews Verschiffung hatte Abby sich noch einige Stunden täglich unten im Warenlager aufgehalten und sich halbwegs nützlich gemacht, so wie sie es mit Frederick Burke als Gegenleistung für Kost und Logis vereinbart hatten. Aber schon da hatte der Kummer sie fast verstummen lassen. Bei den Mahlzeiten hatte sie wortlos und abwesend vor sich hin geblickt und nur wenige Bissen vom Teller gepickt.
Alle Versuche, sie abzulenken, aufzumuntern und aus dem seelischen Tief zu reißen, waren vergeblich gewesen. Nicht einmal Jonathan hatte ihre Aufmerksamkeit länger als einen flüchtigen Moment halten können, geschweige denn ein Lächeln auf ihr Gesicht zu bringen vermocht.
Abby hatte sich für immer längere Zeitspannen in ihre Dachkammer verkrochen, so wie sich ein waidwundes Tier zum Sterben in sein Versteck vor der feindlichen Welt flüchtet. Seit gut einer Woche hatte sie die Kammer nicht mehr verlassen. Und die Kleidung hatte sie seitdem auch nicht mehr gewechselt.
Längst schlief der kleine Jonathan nicht nur bei Rosanna in der Nachbarkammer, sondern war zu ihrer alleinigen Verantwortung rund um die Uhr geworden, weil seine Mutter, gefangen im tiefen Dunkel ihrer Schwermut, ihn scheinbar völlig vergessen hatte.
Rosanna ging nun zu ihr hinüber und setzte sich auf die Bettkante. »Abby, ich flehe dich an: Hör endlich auf, dir ständig einzureden, dass Andrew nicht zu dir zurückkommen wird!«
»Warum? Er wird ja auch nicht zurückkehren«, murmelte Abby. »Ich weiß es.«
»Gar nichts weißt du!«, widersprach Rosanna energisch. »Sein Urteil lautete nicht auf lebenslängliche Verbannung nach Norfolk Island, wie das gewöhnlich der Fall ist, sondern nur auf dreißig Monate. Diesen Zeitraum kann er sehr wohl durchstehen. Und du solltest dich schämen, dass du so wenig Vertrauen in deinen Mann hast!«
»Ich weiß, was ich weiß. Da kannst du noch so viel reden. Ich werde ihn nie wiedersehen. Andrew ist verloren und ohne ihn bin ich es auch. «
Die absolute Hoffnungslosigkeit, die Rosanna aus Abbys kraftloser Stimme heraushörte, trieb ihr die Tränen in die Augen.
Sanft legte sie ihr eine Hand auf die Schulter. »Selbst wenn es so wäre, woran ich aber nicht glaube, musst du dich zusammenreißen, dein Schicksal annehmen und nach Kräften versuchen, das Beste aus deinem Leben zu machen. So wie du es doch bisher stets getan hast! Du hast doch schon mehr als nur eine dunkle Zeit erlebt und erfolgreich gemeistert! Du wirst es auch jetzt wieder schaffen!«
»Nein, diesmal ist alles anders. Ich kann einfach nicht mehr, und ich will es auch nicht … Nicht ohne Andrew.«
Verzweifelt rang Rosanna die Hände. »Mein Gott, was ist aus der Abby Lynn geworden, die nie ihren Glauben und ihre Hoffnung verloren gegeben hat?«, sagte sie eindringlich und appellierte damit an Abbys Stolz, ihre Willenskraft und ihre Courage. »Wo ist die Abby, die sich von keinem noch so schweren Schicksalsschlag hat unterkriegen lassen? Die sich von nichts und niemandem ihre unerschütterliche Zuversicht auf eine bessere Zukunft hat nehmen lassen? Die immer wieder aufgestanden ist und unerschrocken und voller Mut jede neue Herausforderung angenommen und mutig bei den Hörnern gepackt hat? Was ist aus dieser Abby geworden, die ich so bewundert habe?«
»Die gibt es nicht mehr«, flüsterte Abby unberührt vom beschwörenden Appell der Köchin. »Die ist so tot, wie ich es am liebsten auch wäre.«
Ärgerlich rüttelte Rosanna sie nun an der Schulter. »Schluss mit diesem morbiden Gerede, vor allem mit diesem jammervollen Selbstmitleid! Wenn Andrew dich sehen und hören könnte, würde er entsetzt und erschüttert sein! Weil du dich in dein Leiden versinken lässt und damit alles verrätst, was dir angeblich doch so teuer und unersetzlich ist, nämlich seine Liebe! Und Jonathan ist ein Teil von Andrew, oder hast du das vergessen? Herr im Himmel, du hast ein kleines Kind, das seine Mutter braucht! Du musst für deinen Sohn da sein! Allein schon dafür lohnt es sich, zu leben, Abby!«
»Warum?«, kam es unbeteiligt von Abby zurück. »Bei dir ist er doch viel besser aufgehoben. Mich hat er bestimmt schnell vergessen.«
Die verzweifelte und scheinbar herzlose Äußerung bestürzte Rosanna zutiefst. Sie bestärkte sie in ihrem Entschluss, nicht länger auf Besserung zu warten, sondern Abby aus diesem selbstzerstörerischen Zustand herauszuholen, notfalls auch mit weniger sanften Mitteln als der verbalen Überredungskunst. »Das kann unmöglich dein Ernst sein!«
»Ist es aber.«
»Abby, du versündigst dich!«
»Was sollte mich das noch bekümmern?«
»Herrgott, wir reden von deinem eigenen Fleisch und Blut, Abby! Von deinem Sohn! Willst du Jonathan auch noch die Mutter nehmen und ihn quasi zum Waisen machen?«, empörte sich Rosanna. »Wie eigensüchtig und herzlos muss man sein, um seinem eigenen Kind diese Grausamkeit anzutun?«
Nicht einmal dieser aufrüttelnde Appell zeigte Wirkung bei Abby. »Denk doch von mir, was du willst. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!« Sie stieß Rosannas Hand von ihrer Schulter, kroch ganz in die hintere Ecke des Bettkastens und rollte sich wie zu einem Ball zusammen, indem sie die Knie bis zur Brust anzog und die Arme so eng wie möglich anlegte.
Abrupt und mit entrüsteter Miene erhob sich Rosanna von der Bettkante. »Jetzt reicht es, Abby! Ich habe ja eine Menge Verständnis gehabt, aber das ist mehr als erschöpft! Und das der Burkes bestimmt auch. Du solltest dich schämen, ihre Gastfreundschaft und Hilfe so zu missbrauchen! Aber wenn du glaubst, ich lasse dir diese Art von verantwortungsloser Selbstaufgabe durchgehen, dann hast du dich geschnitten! Und zwar ordentlich! Ich muss jetzt erst mal hinunter in die Waschküche und dort nach dem Rechten sehen. Aber wenn ich zurückkomme …«
»Gut, dass du mich endlich in Ruhe lässt!«, unterbrach Abby sie.
»Von wegen! Wenn ich zurückkomme, wirst du aus dem Bett aufstehen, dich von Kopf bis Fuß waschen und frische Sachen anziehen! Ich werde dafür sorgen, ob es dir nun passt oder nicht! Und du wirst auch deine Arbeit im Warenlager wieder aufnehmen, bei den Mahlzeiten wieder bei Tisch sitzen und dich auch um deinen Sohn kümmern. Dafür werde ich sorgen, darauf kannst du Gift nehmen!«, teilte sie ihr in einem schroffen, harten Ton mit, der ihre unbeugsame Entschlossenheit verriet. »Ab heute ist Schluss mit dem jämmerlichen Theater, das du hier seit Wochen aufführst!«