Zehntes Kapitel

Seit den frühen Morgenstunden goss es in Strömen. Abby war dankbar für den Regen, der ihr über das Gesicht rann. So würde Andrew ihr nicht schon auf den ersten Blick ansehen, dass sie auf dem Weg zu ihm hemmungslos geweint hatte. Und dabei hatte sie gedacht, in den vergangenen drei Tagen und Nächten längst alle Tränen der Welt geweint und auch gar nicht mehr die Kraft zu haben, um noch weitere Tränen zu vergießen.

Wie sehr sie sich doch geirrt hatte.

Der heftige Regen war auch deshalb ein Segen, weil er mit seinen dichten, dunklen Wassermassen die Schiffe vor ihren Augen verbarg, die unten in der Bucht vor Anker lagen. Insbesondere die Phoenix, die morgen mit mehreren Dutzend Sträflingen auslief und Kurs auf Norfolk Island nahm.

Es war noch keine anderthalb Jahre her, dass sie sich an Bord ebendieser Bark befunden hatte, um auf die Hölleninsel gebracht zu werden. Es erschien ihr jetzt noch wie ein Wunder, dass sie diesem fürchterlichen Schicksal noch im letzten Moment entkommen war. Ein Wunder, das sich nicht wiederholen würde. Und nun würde Andrew morgen die Reise zu diesem grauenhaften Ort antreten, der auch »Insel ohne Wiederkehr« genannt wurde!

Abby erreichte das Gefängnis. Bevor sie den schweren Klopfer an der Hoftür betätigte, biss sie sich hart auf die Unterlippe und ermahnte sich in Gedanken scharf, sich jetzt gleich zusammenzureißen. Sie durfte es Andrew nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon war, indem sie sich anmerken ließ, wie verzweifelt sie war und wie rettungslos verloren sie sich fühlte.

Sie wischte sich über das triefnasse Gesicht und zwang sich, die Schultern zu straffen und den Rücken gerade zu machen. Jetzt musste sie stark sein, für sie beide. Dann griff sie nach dem rostigen Klopfer und hämmerte ihn gegen das nicht weniger rostige Eisenblech der Torbohlen.

Sie musste nicht lange im Regen darauf warten, dass jemand kam und sie hereinließ. Caleb Preston, der neue oberste Gefängniswärter, war sofort zur Stelle und nahm sie persönlich in Empfang. Ebenso den kleinen Lederbeutel mit dem Geld, das sie ihm gestern in der Taverne versprochen hatte, wenn er ihr eine Stunde mit Andrew gewährte.

Caleb Preston war ein muskulöser Mann mittleren Alters mit einem zerzausten rotbraunen Vollbart und einem plattnasigen Gesicht, das von unzähligen Pockennarben entstellt war. Sein rechtes Auge war blind, wie der milchige Schleier über der Linse unschwer verriet.

Er vergewisserte sich, dass der Beutel die ausgehandelte Summe enthielt, und grinste zufrieden. »Eine Stunde, mehr ist nicht drin! Dann muss er mit den anderen runter zum Hafen und aufs Schiff.«

Abby schluckte und nickte. »Eine Stunde, nicht mehr und nicht weniger, so war es abgemacht.«

»Gut, dass wir uns verstehen. Und jetzt komm!«

Der Goaler führte sie in einen kahlen, feuchtkalten und zellenartigen Raum, der etwa fünf Schritte im Quadrat maß. Ein Gitter aus daumendicken Eisenstangen, das vom Boden bis unter die schimmelfleckige Decke reichte, schnitt mitten durch den Raum. Es trennte die beiden schmalen Tische voneinander, die sich in der Mitte am Gitter gegenüberstanden. Von beiden Seiten führte eine Tür in den Raum. Eine dritte Tür war auf derselben Höhe in das Gitter eingelassen.

Durch ein schmales vergittertes Oberlicht, durch das sich selbst ein Zwerg kaum zu zwängen vermocht hätte, fiel zusammen mit dem Rauschen des Regens graues Tageslicht in die Besucherzelle. Es reichte nicht, um die feuchte Dunkelheit zu vertreiben. Deshalb brannte neben der Tür, durch die der Goaler Abby führte, eine Lampe auf einem Wandbrett. Ihrer gelblichen Flamme und ihrem Geruch nach zu urteilen, brannte sie mit minderwertigem Walöl. Auf dem Wandbord fanden sich auch eine kleine Sanduhr, ein Würfelbecher und ein Stoß abgegriffener Spielkarten. In der Ecke neben der Tür stand ein alter, ramponierter Armstuhl mit gepolstertem Rückteil und Sitz.

»Setz dich und warte hier!« Caleb Preston wies auf den Hocker vor dem schmalen Tisch auf ihrer Seite. »Ich hole jetzt deinen Mann.«

Abby tat wie geheißen.

Wenige Minuten später kehrte der Goaler mit seinem Gefangenen durch die hintere Tür in die Besucherzelle zurück. Andrew hatte Mühe, mit Caleb Preston Schritt zu halten. Mit klirrender Kette zwischen den Fußeisen trippelte er hinter ihm her.

Bei seinem Anblick sprang Abby auf. Dabei entglitt ihr der Leinenbeutel, den sie sich im Schutz ihres gewachsten Regenumhangs unter den Arm geklemmt hatte.

»Andrew!«

Sein graues, eingefallenes Gesicht leuchtete auf. »Abby, mein Liebling!«

»Auf die Hocker!«, donnerte Caleb Preston. »Beide! Und das ein bisschen flott, sonst ist Schluss mit der privaten Audienz und es geht zurück in die Zelle, kapiert?«

Andrew und Abby beeilten sich, seinem Befehl nachzukommen, und setzten sich gegenüber an die Tische. Sie nahmen den Blick nicht voneinander. Sie lächelten sich so innig an, als hätten sie kurzzeitig vergessen, dass ein Gitter sie trennte und dies der Abschied voneinander war.

Der Goaler schloss die rückwärtige Tür ab, kam durch die Tür im Gitter auf Abbys Seite herüber, verriegelte auch diese gewissenhaft hinter sich und sah dann den Leinenbeutel.

»Was ist das?«, fragte er scharf und riss ihn an sich.

»Nur ein wenig Proviant und ein paar Sachen für meinen Mann, die ihm auf der Überfahrt und später auf der Insel bestimmt von großem Nutzen sein werden«, sagte Abby. »Sie erinnern sich doch, dass Sie mir gestern erlaubt haben, diese Sachen heute mitzubringen.«

»Das Einzige, was einem auf Norfolk Island wirklich von Nutzen sein könnte, ist die dicke Haut eines Elefanten!«, knurrte Caleb Preston und spielte damit auf die brutalen Auspeitschungen an, die dort schon für das kleinste Vergehen oder auch nur aus reiner sadistischer Willkür verhängt wurden. »Aber gut, wollen wir doch mal sehen, an welchen Kram du deine kümmerliche Hoffnung hängst.«

Wie Abby nicht anders erwartet hatte, zog der Goaler als Erstes den schweren, gut unterarmlangen Brotlaib heraus – und lachte bei seinem Anblick sofort spöttisch auf.

»Sag mal, für wie einfältig hältst du mich? Sehe ich vielleicht wie ein hirnloser Trottel aus, den man mit so einem billigen Trick übertölpeln kann?«

Abby sah ihn scheinbar verständnislos an. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Goaler. Sie wissen doch selbst, wie schlecht das Essen an Bord sein wird. Und da dachte ich, dass ein großer, frischer Brotlaib …«

»… sich bestens dazu eignet, um darin ein Messer, Ausbruchsschlüssel, eine hübsche Feile oder am besten sogar alles drei für deinen Liebsten hier einzuschmuggeln!«, fiel ihr Caleb Preston ins Wort. »Mein Gott, der Trick ist so alt wie Methusalems Bart! Aber gut, das haben wir gleich!«

Er brach den Brotlaib in der Mitte durch, fand zu seiner Verblüffung jedoch nichts im Teig versteckt. Um ganz sicher zu gehen, griff er zu seinem Messer und zerteilte die beiden Hälften in mehrere kleine Stücke. Erst dann war er überzeugt, dass sich im Brot weder eine Klinge noch eine Feile oder kleine Eisenhaken zum Öffnen von Schlössern verbargen.

»Nun gut, du hast offenbar die Wahrheit gesagt!«, brummte er fast enttäuscht und nahm sich als Nächstes die dicke Speckseite vor. Er zerschnitt sie, ohne auch dort etwas zu finden, und ließ es sich nicht nehmen, sich einen dicken Streifen vom mageren Teil abzuschneiden und sich in den Mund zu stecken. Auch von den Trockenfrüchten bediente er sich.

»Das Zeug wird ihm ja eine Menge helfen«, spottete er mit vollem Mund, als er dann einen Blechteller, einen Blechbecher und einen klobigen Holzlöffel aus dem Beutel hervorholte. »Wie fürsorglich, ihn so auszustatten! Mit dem Kram kann er sich auf der Insel bestimmt richtig gemütlich einrichten.«

Abby machte ein verlegenes Gesicht, zuckte die Achseln und schwieg. Sie hatte ihre guten Gründe, warum sie diese gewöhnlichen Utensilien mitgebracht hatte. Einer davon war ihre Erfahrung, dass es auf einem Sträflingstransport eigentlich an allem fehlte. Sie hatte sich oft genug mit anderen einen Teller, einen Becher oder einen Löffel teilen müssen, weil Aufseher und Captain einen Großteil der zugewiesenen Regierungsgelder für Verpflegung, Bekleidung und Unterbringung der Sträflinge in die eigene Tasche steckten – oder weil die Wärter bei der Essensausteilung meist zu faul waren, das nötige Geschirr zur Verfügung zu stellen.

Es gab jedoch auch noch einen anderen, noch viel wichtigeren Grund.

Caleb Preston lachte auf, als sich der letzte Gegenstand im Beutel als eine Bibel herausstellte. Es handelte sich um ein billiges Massenexemplar, wie sie die englischen Missionsvereine unter das einfache Volk zu bringen versuchten.

Der vordere Deckel fehlte zur Hälfte, der hintere fast gänzlich, der Rücken mit der Bindung war mehrfach und sichtlich unfachmännisch geflickt, damit das Buch nicht auseinanderfiel, und die Blätter waren eingerissen, umgeknickt sowie voller Stockflecken und Abdrücke schmutziger und fettiger Finger.

»Na, wenn man damit nicht heilig wird, hilft einem wohl gar nichts mehr!«, höhnte der Goaler und warf die zerfledderte Bibel abfällig vor Abby auf den Tisch. An Andrew gewandt sagte er spöttisch: »Dann lass dich mal schön erleuchten! Zeit genug hast du auf dem hübschen Fleckchen Erde da mitten im Pazifik ja zur Genüge.« Dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn, als wäre ihm plötzlich etwas siedend heiß eingefallen. »Nein, stimmt ja gar nicht! Da musst du ja schuften bis zum Umfallen. Aber wüste Plackerei soll einen ja auch läutern und auf den himmlischen Weg führen. Und bestimmt helfen die Aufseher mit der Neunschwänzigen kräftig nach, wenn es jemandem am nötigen Eifer fehlt.« Er lachte lauthals und meckernd wie eine Ziege.

Abby schluckte ihren Ärger hinunter und presste die Lippen hart aufeinander. Nur keine Widerrede und keinen Ärger jetzt. Sie war darauf angewiesen, dass der Gefängniswärter zu seinem Teil des Handels stand. Ihn durch wütende Bemerkungen gegen sich aufzubringen, wäre ausgesprochen dumm.

Caleb Preston stopfte alles wieder in den Beutel. Nur die Bibel ließ er auf Abbys Wunsch vor ihr auf dem Tisch liegen. »Also gut, das kann er alles mitnehmen. So, und ab jetzt läuft die Stunde. Und die Hände bleiben vom Gitter weg, verstanden?«

Abby nickte.

Er drehte die Sanduhr um, die mit der Öllampe auf dem Wandbord stand, und griff nach dem Würfelbecher. Dann setzte er sich in den gepolsterten Armstuhl neben der Tür, stopfte sich eine Pfeife, setzte den verschnittenen Tabak in Brand, der die Zelle augenblicklich mit seinem Gestank erfüllte, und ließ die Würfel im Becher rappeln.