Dreizehntes Kapitel

Die Siedlung lag noch keine zwei Meilen hinter den fünf Reitern, und die Sonne stand gerade erst eine gute Handbreite über dem Buschland und übergoss sie mit ihrer Flut rotgoldenen Lichts, als Melvin stutzte.

Er war mit seinem Apfelschimmel Flake mittlerweile so gut vertraut, dass ihm die leichte Veränderung im Gang seines Pferdes und auch der veränderte Hufschlag sofort auffielen. Er beugte sich im Sattel vor und warf einen prüfenden Blick auf den rechten Vorderhuf seines Pferdes.

»Ist irgendetwas?«, fragte Nicholas Isherwood, der Farmerssohn aus Windsor, der rechts neben ihm ritt.

»Ich glaube, Flake verliert gleich das Hufeisen«, sagte Melvin ahnungsvoll, zügelte sein Pferd und schwang sich aus dem Sattel.

Die ganze Gruppe kam zum Stehen.

Mike Isherwood schob sich den Hut in den Nacken. »Hoffentlich irrst du dich. Denn das wäre natürlich zu blöd, wenn wir nach Camden zurückmüssten!«

»Da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte Melvin grimmig, nachdem er festgestellt hatte, dass auch das Eisen am rechten Hinterhuf gefährlich locker saß. Wie das hatte geschehen können, war ihm ein Rätsel. Noch am gestrigen Nachmittag hatte er sich nach dem langen Ritt überzeugt, dass alle Hufeisen fest und sicher saßen. Aber das half ihm jetzt auch nichts. »Ich muss wohl oder übel zurück zum Schmied, Freunde!«

Die beiden Farmer, die sie am Abend in der Schenke kennengelernt und die sich ihnen angeschlossen hatten, machten bedauernsvolle Gesichter. Dass sich ihre Wege hier trennen würden, stand für sie fest. Und das musste auch nicht erst ausgesprochen werden, damit die anderen es wussten.

Dagegen bestanden Melvins Freunde darauf, mit ihm nach Camden zurückzukehren. Aber Melvin wollte davon nichts wissen. Sie würden mehrere Stunden verlieren, und er wusste, wie sehr es sie nach den Wochen drängte, zu ihren Familien nach Windsor zurückzukehren. Er versicherte, dass sie sich um ihn nun wahrlich keine Sorgen zu machen brauchten.

»Wir sind hier nicht tief im Busch, wo man Gefahr läuft, auf eine Bande entlaufener Sträflinge zu stoßen«, beruhigte er sie. »Ich kann schon gut allein auf mich aufpassen. Und mit ein bisschen Glück finde ich nachher neue Reisegenossen, die auch nach Sydney wollen. Wie auch immer, ihr braucht euch um mich nun wahrlich keine Sorgen zu machen! Also seht zu, dass ihr weiterkommt!«

Nicolas und Michael Isherwood ließen sich letztlich nur zu bereitwillig von ihm überreden, den Weg ohne ihn fortzusetzen und ihn allein zurück nach Camden reiten zu lassen. Und so trennte man sich nach einem kurzen, aber herzlichen Abschied.

Der Schmied in Camden konnte sich gleich der Sache annehmen, sodass er nicht erst lange zu warten brauchte. Aber als Melvin die Siedlung wieder verließ, gab es weit und breit keinen anderen Reisenden, der hinaus auf die staubige Landstraße zu Pferd oder mit einem Fuhrwerk zog und dem er sich hätte anschließen können.

Es war ihm ganz recht so. Irgendwie war er an diesem Morgen nicht zum Reden aufgelegt. Ihm ging vieles durch den Kopf, aber nichts davon hätte er mit anderen teilen wollen, schon gar nicht mit Fremden.

Seine Gedanken gingen zurück nach Bungaree zu seinem Bruder und seiner Schwägerin, während Flake in bravem Trab dem rotbraunen Band der Landstraße folgte.

Wie stolz sie und die anderen Siedler doch auf ihre Heimstätten und die bescheidenen Felder und Äcker waren! Dagegen hatte er diesen schäbigen und primitiven Hütten und Blockhäusern mit ihren lehmbeschmierten Wänden und Dächern aus Borkenrinde nichts abgewinnen können. Und das bisschen Weizen und Mais, das sie bald ernten würden, reichte doch gerade mal, um den kommenden Winter nicht Hunger leiden zu müssen!

Allmächtiger, wie konnte man nur freiwillig so fern von jeglicher halbwegs annehmbaren Zivilisation, die Sydney mittlerweile immerhin bot, siedeln und mit solch einem harten, mühevollen Leben dann auch noch glücklich sein?

Nichts gegen ein prächtiges englisches Landgut wie das, das ihre Familie einmal besessen hatte und wo eine Schar von Bediensteten die harte Knochenarbeit erledigte! Aber solch ein klägliches Landleben und dann auch noch in dieser elenden australischen Wildnis war nichts für ihn. Der reinste Albtraum war das!

Und dennoch beneidete er seinen Bruder. Aber nicht um Bungaree, sondern einzig und allein um das Glück, das er mit Abby gefunden hatte. In den Tagen im Frangipani Valley war er mehr als einmal daran erinnert worden, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, als er geglaubt … ja insgeheim sogar inständig gehofft hatte, er könne Abby für sich gewinnen. Aber das war ihm nicht beschieden gewesen. Andrew hatte ihn bei ihr ausgestochen.

Nun ja, vielleicht war es auch besser so. Sich die Tochter eines Freien zu suchen und zur Frau zu nehmen, würde ihm in der Kolonie einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bringen. Andrew würde dagegen nie zum Kreis der Exklusiven gehören, weil er mit einer Emanzipistin verheiratet war. Den Makel würde er nie verlieren.

Während er gemächlich durch eine steinige Senke ritt, die sich zwischen zwei Hügelgruppen eine gute Meile weit erstreckte, beschäftigten sich seine Gedanken wieder einmal mit der Petition und der Landkarte, die er für die Siedler angefertigt hatte. Und wie in den Tagen zuvor, die seit seinem Aufbruch von Bungaree vergangen waren, regten sich in ihm Gewissensbisse. Fast schämte er sich, dass er in seiner Eitelkeit ein wenig über das rechte Maß hinausgegangen war.

Vielleicht hätte ich nicht ganz so dick auftragen sollen!

Nicht, dass er sich vorwerfen musste, ihnen Lügen aufgetischt zu haben. Aber wenn er aufrichtig vor sich selbst war, dann konnte er guten Gewissens nicht behaupten …

Der beschämende Gedanke hinter seiner Stirn brach jäh ab, als er um eine der Windungen kam, mit denen sich die Landstraße durch die dicht mit fast mannshohem Gestrüpp bewachsene und mit Felsbrocken durchsetzte Senke schlängelte.

Vor ihm auf der Straße, fast am Fuß der Hügelgruppe, lag eine Gestalt!

Genau genommen lag sie am linken Straßenrand, mit dem Gesicht zur Erde, der Körper gekrümmt und die Glieder bis auf den rechten Arm, den sie unter ihrer Brust begraben hatte, von sich gestreckt.

Augenblicke später stellte er fest, dass es sich um eine Frau handelte. Neben ihr im Dreck lagen ein Kleiderbündel und eine verbeulte blecherne Wasserflasche aus Armeebeständen.

Aus der Entfernung, die gute zehn, zwölf Pferdelängen betrug, war jedoch nicht zu erkennen, ob die Frau vor körperlicher Erschöpfung dort zusammengebrochen oder Opfer eines Überfalls geworden war.

Melvin ließ seinen Blick schnell forschend über das umliegende Gelände schweifen, suchte nach einem Anzeichen von Gefahr und legte vorsorglich schon die Hand auf sein Gewehr. Er konnte jedoch weit und breit keine andere Menschenseele entdecken, und so gab er dann Flake die Sporen, um so schnell wie möglich zu der reglos am Boden liegenden Frau zu kommen. Vielleicht lebte sie ja noch und hatte in der Hitze nur einen Schwächeanfall erlitten.

Aber wenn ich sie nach Camden transportieren muss, kann ich den Tag gleich ganz abschreiben!, fuhr es ihm unwillkürlich durch den Kopf, als er Augenblicke später neben ihr vom Pferd sprang und sich zu ihr hinunterbeugte.

Und wenn sie tot war, galt dasselbe. Denn natürlich konnte er sie nicht einfach hier im Busch liegen lassen und den wilden Tieren zum Fraß übereignen.

So oder so, der Tag ist gelaufen!

Er seufzte geplagt, rüttelte die Frau sanft an der Schulter und sprach sie an.

Ein leises Stöhnen antwortete ihm, und so etwas wie ein Ruck ging durch den Körper, als wäre die Frau aus der Bewusstlosigkeit erwacht.

»Dem Himmel sei Dank, du lebst, Frau!«, stieß Melvin hervor und wollte sie vorsichtig auf den Rücken drehen.

Auf diesen Moment hatte Cleo gewartet.

Während sie sich herumwarf, auf dem Gesicht eine Grimasse aus blanker Mordlust, schoss ihre verborgene Rechte mit dem Messer unter ihr hervor.

Fassungslos vor Entsetzen sah Melvin, wie der kalt blitzende Stahl einer Messerklinge unter dem Körper der Frau hervorkam. Im selben Augenblick erkannte er die Frau. Geistesgegenwärtig riss er seinen Arm hoch, um den Stich abzuwehren.

Die Klinge fuhr tief in seinen Oberarm.

Er schrie auf und taumelte zurück, fasste nach seinem verwundeten Arm und geriet ins Stolpern.

Sofort setzte Cleo ihm nach. »Krepier, du Hund!«, gellte sie und stach ein zweites Mal zu. Sie rammte ihm das Messer in den Leib, begleitet von einem kratzigen Lachen und einem weiteren lästerlichen Zuruf, der ihn jedoch nicht mehr erreichte.

Melvin stürzte rücklings zu Boden. Mit dem Hinterkopf schlug er auf einen der Felsbrocken und von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich die gleißende Helligkeit in undurchdringliche Schwärze. Gleichzeitig explodierte in ihm ein fürchterlicher Schmerz, der sich mit blitzartiger Schnelligkeit bis in die letzte Faser seines Körpers ausbreitete und jegliche bewusste Wahrnehmung in ihm auslöschte.