Einer der Männer rief etwas, und Murdo drückte die Reliquie an die Brust und wich wieder langsam zurück. Unablässig beobachtete er den Eingang; dann sah er ein Flackern vor dem Zelt: Fackeln.
Ihm blieb keine Zeit mehr. Die Lanze fest umklammert rollte er sich an die Zeltwand. Der dicke Stoff war an den Ecken mit in den Boden gerammten Stangen gesichert, doch dank des sandigen Untergrunds gelang es Murdo ohne Mühe, eine der Stangen zu lockern und unter der Plane hindurch ins Freie zu kriechen.
Er fand sich zwischen dem Zelt und dem Fuß der Düne wieder. Ein rascher Blick zum Talausgang bestätigte ihm, was er bereits vermutet hatte: Ein Dutzend oder mehr Türken zu Pferd standen dort Wache; sechs weitere beluden die Packpferde vor dem Zelt, und einer von ihnen hielt eine Fackel in der Hand.
Murdo atmete tief durch und drückte sich in die Schatten am Fuß der Düne. Es kostete ihn all seinen Mut, regungslos liegenzubleiben, während der Türke mit der Fackel das Zelt durchsuchte - nur die dicke Zeltbahn bewahrte ihn vor der Entdeckung.
Nach einer raschen Inspektion verließ der Mann das Zelt wieder, warf die Fackel in den Sand und rief nach seinen Gefährten. Erneut machten sich die sechs daran, Schätze nach draußen zu tragen. Als der letzte Mann sich ins Zelt duckte, wandte sich Murdo zur Flucht.
Sorgfältig darauf bedacht, immer im Schatten zu bleiben und das
Zelt zwischen sich und den Türken zu haben, huschte Murdo am Fuß der Düne entlang. Er rannte leichtfüßig und leise, und als er schließlich das Ende des kleinen Tals erreichte, kauerte er sich nieder, um zu warten. Er beobachtete, wie die Krieger sechs weitere Truhen hinaustrugen. Schließlich banden sie drei der Pferde wieder los und führten sie zu den anderen.
Als sie sich erneut dem Zelt zuwandten, befand sich Murdo bereits wieder auf dem Weg. Er hatte die Gelegenheit genutzt, war ins Licht hinausgetreten und eilte auf die gegenüberliegende Seite des kleinen Tals zu. Er hatte jedoch kaum zehn Schritte getan, als einer der Türken hinter ihm einen Schrei ausstieß.
Murdo machte mitten im Schritt kehrt und rannte in die Schatten zurück. Als er diesmal den Fuß der Düne erreichte, zögerte er keinen Augenblick, sondern kletterte den dunklen Hang hinauf. Weitere Rufe erschollen aus dem Zelt, und zwei Türken zu Pferd nahmen die Verfolgung auf. Murdo hatte gerade die Dünenkuppe erreicht, als der erste Reiter begann, den Hang hinaufzugaloppieren. Murdo sah das Funkeln von Stahl im Mondlicht, sprang über die Kuppe und rutschte auf der anderen Seite hinunter.
Auf halbem Wege den Hang hinab änderte er seine Richtung und rannte zu einer Falte im Sand, wo sich zwei benachbarte Dünen trafen. Dort legte er sich in ein hohes Büschel Seegras, verbarg die Lanze unter seinem Körper und beobachtete, wie sein Verfolger über die Kuppe stürmte und nur wenige Schritt von ihm entfernt vorüberritt.
Als der Mann den Fuß des Hangs erreichte, gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte in Richtung Talausgang. Murdo blickte ihm hinterher, und in diesem Augenblick verließ ihn die Furcht. Das ist nur ein weiteres Spiel, dachte er. Hase und Jäger: das Spiel, das er so oft mit seinen Brüdern auf Orkneyjar gespielt hatte.
Murdo wartete, bis auch noch der zweite Verfolger an ihm vorbeigeeilt war; dann huschte er flink wie ein Hase zur Dünenkuppe hinauf und versteckte sich dort abermals in einem Büschel hohen Seegrases. Vorsichtig löste er einen langen Faden aus dem Saum seines Umhangs, bis er schließlich die gewünschte Länge besaß, dann riß er ihn ab. Anschließend wickelte er das eine Ende des Fadens um seinen Finger und das andere um einen der kräftigen Grashalme. Nachdem dies getan war, kroch er so leise wie möglich zum Talausgang und legte gleichzeitig den Faden aus. Nach ein paar Schritten hielt er kurz an, band den Faden an einen weiteren Halm und schlich wieder weiter.
Als schließlich das Ende des Fadens erreicht war, legte sich Mur-do flach auf den Boden und wartete. Kurz darauf erschien einer der Wachen zu Fuß am Talausgang. Murdo wartete, bis der Mann an ihm vorübergegangen war, dann riß er an dem Faden.
Das Gras raschelte. Der Türke wirbelte herum. Im Mondlicht sah Murdo das Gesicht des Mannes, als dieser den Mund öffnete und laut nach seinen Gefährten rief; dann eilte er zu der Stelle, wo das Gras geraschelt hatte.
Murdo ließ ihn die halbe Strecke zurücklegen, dann zog er abermals an dem Faden. Erneut stieß der Türke einen Schrei aus. Mehrere andere beantworteten seinen Ruf und eilten herbei. Sicherheitshalber riß Murdo noch ein letztes Mal an dem Faden, und nachdem zwei Männer zu Fuß an ihm vorbeigelaufen waren, ließ er sich auf der anderen Seite der Düne hinunterrollen.
Der Mann zu Pferd galoppierte bereits davon, als Murdo hinter ihm am Fuß der Düne anlangte. Der Reiter war kaum verschwunden, da kletterte Murdo bereits die nächste Düne empor und war entkommen. Er arbeitete sich nach Osten vor, weg von der Küste, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er nicht mehr verfolgt wurde, machte er kehrt und folgte den Dünenkämmen nach Norden.
Als er die letzte Düne erreichte, hielt er an. Von hier aus konnte er die gesamte Ebene vor der Stadt überblicken, wo die erste Schlacht stattgefunden hatte. Die noch immer unbestatteten Leichen der gefallenen Ritter und die geschlachteten Kadaver ihrer Pferde waren im hellen Mondlicht als kleine schwarze Flecken zu erkennen. Unglücklicherweise bot die Ebene keinerlei Deckungsmöglichkeiten.
Jeder Verfolger wäre in der Lage, Murdo zu entdecken, lange bevor dieser sich zwischen den Toten hätte verstecken können.
Die bis zum Meer reichende Südmauer der Stadt lag Murdo wesentlich näher als das Schlachtfeld. Auch sie strahlte hell im Mondlicht - abgesehen von einem schmalen Streifen, der im Schatten eines der Türme lag. Zwar gab es auch zwischen Dünen und Mauer keine Deckung, doch der Weg war nur kurz. Falls es Murdo gelingen sollte, die Mauer zu erreichen, könnte er sich dort zumindest im Schatten des Turms verbergen, bis der Mond untergegangen war.
Murdo warf einen letzten Blick zurück, dann machte er sich auf den Weg den langen flachen Hang hinunter und eilte über die offene Ebene Richtung Mauer. Er rannte mit gesenktem Kopf und kämpfte gegen das Verlangen an zurückzublicken. Es ist besser, wenn ich nicht weiß, daß sie mir auf den Fersen sind, dachte er; er hätte sowieso nichts dagegen unternehmen können.
Die Mauer war weiter entfernt, als es den Anschein gehabt hatte. Murdo erreichte den Turm mit brennenden Lungen. Erschöpft taumelte er in den Schatten, ließ sich mit dem Rücken gegen die Mauer fallen, sank in der schützenden Dunkelheit zu Boden und blickte zu den Dünen zurück, die er soeben verlassen hatte. Er sah jedoch niemanden, und während er am Fuß der Mauer hockte und seine Kräfte wieder sammelte, glaubte er allmählich, seine Verfolger abgeschüttelt zu haben.
Er blickte auf das lange, dünne, mit Tüchern umwickelte Stück Eisen in seiner Hand und beschloß, einen Blick auf den Preis zu werfen, für den er sein Leben riskiert hatte. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf, legte die Lanze auf die Knie und löste die goldene Kordel, welche die Seide zusammenhielt. Dann schlug er ein Stück des Stoffes zurück.
Soweit er im Dunkeln erkennen konnte, handelte es sich bei der heiligen Lanze um ein einfaches Stück Eisen, von Rost befleckt und ein wenig krumm. Trotz ihres hohen Alters wirkte die einfache Waffe noch immer einsatzbereit. Sicher, sie hatte ihren hölzernen Schaft und die Bindungen verloren - alles, was übriggeblieben war, waren der eigentliche Speer mitsamt Spitze -, dennoch schien es nicht unmöglich, sie zu reparieren. Es handelte sich einfach nur um einen alten eisernen Wurfspeer, und noch dazu um einen ausgesprochen gewöhnlichen.
Vorsichtig legte Murdo das Seidentuch wieder zurück und sicherte es mit der goldenen Kordel. Anschließend lehnte er sich wieder gegen die Mauer. Er war müde und hungrig, und er wünschte sich, weit, weit weg von diesem trostlosen Wüstenland zu sein. Gott, dachte er, ich will nach Hause.
Er schloß die Augen, um sich kurz auszuruhen, doch als er wieder erwachte, stellte er fest, daß die Nacht schon weit fortgeschritten war. Rasch schaute er sich um. Alles war ruhig. Der Mond war untergegangen, und dem Aussehen des Himmels im Osten nach zu urteilen, war der Morgen nicht mehr fern.
Langsam erhob sich Murdo und wanderte steif an der Mauer entlang, wobei er die Lanze als Wanderstab benutzte. Seine übermüdeten Muskeln schmerzten ebenso wie sein Rücken, und er hatte Hunger und Durst. Er fragte sich, wie es wohl Emlyn in der Zwischenzeit ergangen war und ob der Mönch, wie vereinbart, im Hafen auf ihn wartete.
Murdo ließ den Turm hinter sich und machte sich an der Westmauer entlang auf den Weg zum Haupttor. Die Ebene, wo gestern die Schlacht stattgefunden hatte, lag noch immer in Dunkelheit, doch Murdo glaubte, Gestalten erkennen zu können, die sich über das Schlachtfeld bewegten. Die Leichenfledderer gehen ja früh an die Arbeit, dachte er.
Während er sich an der Mauer entlangschleppte, wich die Nacht allmählich dem Morgen. Am Tor angekommen huschte er rasch um den Turm herum - doch nur um die riesigen Torflügel geschlossen zu finden. Sie waren schwarz vom Feuer des Vortages, und die Torleute hatten sie noch nicht geöffnet.
Murdo drehte sich um, blickte erneut auf das Schlachtfeld hinaus und sah, daß er sich geirrt hatte: Die Gestalten, die er in der Dunkelheit für Leichenfledderer gehalten hatte, waren in Wahrheit
Ritter mitsamt ihren Pferden, die sich langsam zwischen den Toten hindurchbewegten. Sie schienen nach irgend etwas zu suchen.
Sie suchen die heilige Lanze, erinnerte sich Murdo.
Rasch wich er zu einem der großen Torpfosten zurück, preßte sich gegen die mächtigen Steinblöcke und hoffte, daß man ihn noch nicht bemerkt hatte. Wäre er erst einmal in der Stadt, würde ihn niemand mehr einfangen können. Wenn er nur vermeiden konnte, bis zur Öffnung der Tore entdeckt zu werden.
Murdo hockte sich in eine Ecke neben dem Torpfosten, machte sich so klein wie möglich und wartete. Die Lanze legte er neben sich, und nicht einen Augenblick lang wandte er den Blick von den Rittern auf der Ebene. Während er sie beobachtete, hörte er auf einmal das Klirren von Zaumzeug; das Geräusch schien von der Mauer her zu kommen. Verstohlen beugte er sich vor und blickte die Stadtmauer hinunter. Drei Reiter näherten sich ihm in schnellem Trab. Sie hielten aufs Tor zu.
Es war bereits zu spät, sich noch woanders zu verstecken, und Mur-do konnte ihnen unmöglich davonrennen. Er würde sich der Situation stellen müssen. Rasch schob er etwas Staub über die Lanze und hoffte, die Reiter würden sie übersehen.
Kurz darauf erschienen die Reiter vor dem Tor und fanden einen jungen Mann, der dösend am Torpfosten lehnte.
»Du da!« rief einer der Reiter.
Murdo hob den Kopf und betrachtete die Männer mit verschlafenem Blick. Alle drei waren Ritter, und der Qualität ihrer Umhänge und Rüstungen nach zu urteilen, handelte es sich zumindest bei einem von ihnen um einen Edelmann. »Seid gegrüßt, Ihr Herren«, erwiderte Murdo. »Pax vobiscum.«
»Was tust du hier?« verlangte der zweite Ritter zu wissen, der den Befehl über die anderen zu haben schien.
»Ich bin zu spät nach Hause gekommen«, erklärte Murdo. »Das Tor war bereits geschlossen.«
»Du hast die ganze Nacht allein vor den Stadtmauern verbracht?« hakte der Ritter mißtrauisch nach.
»O ja, das habe ich«, antwortete Murdo und setzte sein ehrlichstes Gesicht auf. »Jetzt warte ich, bis das Tor wieder geöffnet wird.«
Die Augen des Reiters wurden zu schmalen Schlitzen. »Warum bist du zu spät nach Hause gekommen?«
Murdo zögerte. »Ich habe mir die Schlacht angeschaut«, antwortete er schließlich und beschloß, soviel von der Wahrheit preiszugeben, wie er wagen durfte.
»Welche Schlacht?« verlangte der vorderste der Reiter zu wissen. Er funkelte Murdo an, und alle drei legten die Stirn in Falten.
»Die da draußen«, antwortete Murdo und deutete Richtung Süden. »Bohemunds Männer haben die Seldschuken gestellt, die Gottfrieds Abteilung niedergemetzelt haben.«
»Bohemund ist hier?« fragte der dritte Ritter. »Woher weißt du das?«
»Ich habe ihn gesehen«, antwortete Murdo. »Ich dachte, Ihr würdet auch zu seinem Heerbann gehören. Wie ich sehe, habe ich mich geirrt.«
»Wir kommen aus dem Lager von Graf Balduin«, erklärte der Edelmann.
»Was will Bohemund hier?« verlangte einer der anderen Ritter zu wissen.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Murdo und versuchte, hilfsbereit und unwissend zugleich zu klingen. Der vorwurfsvolle Unterton in der Stimme des Ritters kümmerte ihn nicht.
In just diesem Augenblick ertönte ein Kratzen und Scharren hinter dem Tor, dem ein lautes Klirren und Rasseln folgte. Murdo vermutete, daß die Torleute gerade die Riegel zurückschoben. Jetzt mußte er die Ritter nur noch so lange beschäftigen, bis das Tor weit genug geöffnet war, daß er hindurchschlüpfen konnte.
»Die erste Schlacht habe ich auch gesehen«, berichtete Murdo und deutete auf die Ebene hinaus. »Die Türken haben den Rittern einen Hinterhalt gelegt und alle getötet. Es war ein schrecklicher Kampf. Die Kreuzfahrer haben tapfer gefochten, doch die Türken waren in der Überzahl, und sie.«
Während Murdo auf den Ritter zur Linken des Edelmannes einredete, beugte sich dieser zu seinem Gefährten hinüber und flüsterte: »Schau! Er hat sie, bei Gott!«
Murdo sah, wie der Blick des Edelmannes zu der Lanze hinter ihm wanderte.
»Was hast du da, Dieb?« schrie der Ritter.
Ein lautes Klirren erscholl hinter dem Tor, und irgend jemand rief etwas. Murdo wich langsam einen Schritt zurück.
»Bleib, wo du bist!«
Ein Knarren ertönte vom Tor her. Murdo warf einen raschen Blick zur Seite und entdeckte eine kleine Tür in dem großen Tor. Er trat einen halben Schritt darauf zu, weg von der Lanze.
»Bleib stehen!« brüllte der Ritter, reichte dem Mann neben sich die Zügel und schickte sich an abzusteigen.
Murdo wartete, bis der Ritter sein Bein über den Sattel geschwungen hatte, dann sprang er vor, wedelte mit den Armen unmittelbar vor den Augen des Pferdes und schrie: »He! Heja!«
Das erschreckte Tier warf den Kopf zurück und bäumte sich auf, so daß der Ritter aus dem Sattel geworfen wurde, einen Fuß noch immer im Steigbügel. Die anderen beiden Pferde scheuten ebenfalls. Murdo sprang zurück, schnappte sich die Lanze und rannte zu der kleinen Tür, die inzwischen halb geöffnet war. Hinter sich hörte er ein Zischen, als die Ritter die Schwerter zogen, dann warf er sich mit der Schulter gegen die Tür. Der Tormann auf der anderen Seite wurde zu Boden gestoßen, und Murdo war in der Stadt.
Er rannte, so schnell er konnte und hielt auf die nächste Straße zu.
Nur einen Augenblick später erschien der erste Ritter in der Tür. »Bleib stehen, du Dieb!« schrie er in den stillen Morgen hinein. »Dieb! Dieb! Haltet den Dieb!«
ie Sonne im Rücken, rannte Murdo durch die engen, gewundenen Straßen von Jaffa Richtung Hafen. Dann und wann blieb er kurz stehen und hielt nach Verfolgern Ausschau; doch weder sah noch hörte er etwas von ihnen, und nach und nach hatte er das Gefühl, sie abgehängt zu haben.
Während er rannte, bemerkte er, daß immer mehr Menschen die Straßen bevölkerten und ihren Morgengeschäften nachgingen. Um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen, verlangsamte er sein Tempo zu einem entschlossenen Schritt und überquerte einen Marktplatz, wo die ersten Händler gerade ihre Stände aufbauten. Nachdem er den Markt hinter sich gelassen hatte, bog er in eine schmale Straße ein, wo sich ein Laden an den anderen reihte; aus den offenen Fenstern und Türen war das Hämmern von Kupferschmieden zu hören. Einige der Handwerker riefen ihm etwas auf griechisch zu, als er an ihnen vorübereilte, doch Murdo ignorierte sie und ging weiter.
Der plötzliche Anblick der Bucht ließ ihn innehalten. Rasch wich er in den Schatten einer Säule zurück, um sich erst einmal umzusehen. Zwischen den Dutzenden von Schiffen, die im Hafenbecken ankerten - zum größten Teil Genuesen und Venetianer, aber auch ein paar Griechen - lagen kleine Fischerboote im ruhigen Wasser. Hier und dort lungerten Kreuzfahrer auf der Mole herum, die ohne Zweifel auf Schiffe warteten, die sie nach Hause bringen würden.
Am anderen Ende der Mole sah Murdo die beeindruckende kaiserliche Galeere, deren hohe gelbe Masten mit den eingerollten roten Segeln die Schiffe in der Nachbarschaft bei weitem überragten: König Magnus' Wikingerflotte. Murdo hielt unter den geschwungenen Drachenköpfen nach jenem Ausschau, den er am besten kannte, und er fand ihn auch rasch: Die Skidbladnir war das zweite Schiff neben der kaiserlichen Galeere.
Murdo verließ sein Versteck und machte sich auf den Weg zur Mole, wo er so rasch und unauffällig wie möglich auf König Magnus' Langschiffe zuhielt. Er zwang sich dazu, so ruhig wie möglich zu erscheinen - wie ein weiterer heimwehkranker Pilger. Als er sich der Flotte der Nordmänner näherte, erblickte er mehrere Gestalten, die er sofort erkannte: Männer, die zurückgelassen worden waren, um die Schiffe zu bewachen. Er hatte das erste freundliche Schiff beinahe erreicht, als hinter ihm der gefürchtete Schrei ertönte: »Da ist er! Schnappt ihn euch! Haltet den Dieb! Du da! Halte ihn fest!«
Zwei Männer, die sich auf einer Planke zur Ruhe gelegt hatten, sprangen sofort auf, als Murdo an ihnen vorüberrannte. Sie versuchten, ihn zu packen, und tatsächlich bekam einer von ihnen Murdos Ärmel zu fassen und riß ihn herum. Doch Murdo war darauf vorbereitet. Noch während er herumgewirbelt wurde, hieb er mit der heiligen Lanze auf den Unterarm des Mannes. Der Mann schrie, ließ los und wich mit einem Fluch auf den Lippen zurück, während Murdo davoneilte.
Der junge Mann senkte den Kopf und rannte auf Jon Reißzahns Schiff zu, und bevor irgend jemand ihn einholen konnte, war er bereits über die Reling gesprungen und auf Deck. Sofort stürzte er zum Bug und suchte nach dem, was er dort versteckt hatte. Als er es nicht fand, übermannte ihn Panik. Hatte es jemand gefunden? Hatte jemand sein Werk gestohlen?
Die Schreie auf der Mole wurden immer lauter. Seine Verfolger würden schon bald über ihm sein. Murdo schluckte seine Furcht hinunter und suchte erneut.
Seine Hand berührte kaltes Eisen. Er packte das Metall und zog den Speer, den er in Arles geschmiedet hatte, aus seinem Versteck. Aufgrund der salzigen Seeluft und der langen Lagerung war die Waffe inzwischen von einer dünnen Rostschicht überzogen. Sie wirkt weit älter, als sie ist, dachte Murdo, und das ist gut so.
Als er hinter sich auf dem Deck Schritte vernahm, drehte er sich um und blickte in das vertraute Gesicht von Jons Steuermann. »Gorm!« rief er. »Halte sie vom Schiff fern!«
Ohne ein Wort wirbelte der Steuermann herum, riß einen Speer aus der Halterung und richtete ihn gegen den ersten der heraneilenden Verfolger. Da die Männer unwillig waren, sich schon so früh am Morgen einer solchen Herausforderung zu stellen, zögerten sie zunächst und ließen sich schließlich sogar ein Stück zurückfallen.
Schnell, schnell flogen Murdos Hände über die goldene Kordel und das Seidentuch und entfernten sie von der heiligen Lanze - und ebenso schnell wickelten sie den Speer aus Arles darin ein. Murdo hörte deutlich die Stimmen, die von der Mole zum Schiff herüberriefen. Sie riefen ihm zu, herauszukommen und sich zu zeigen. Auch hörte Murdo das Klappern von Hufen, und er wußte, daß er seine Verfolger nicht mehr länger würde hinhalten können. Also verknotete er die letzte Kordel, legte die entblößte heilige Lanze vorsichtig aufs Deck, atmete tief durch und stand auf, um sich seinem Schicksal zu stellen.
Auf der Mole hatte sich inzwischen eine beachtliche Menschenmenge versammelt. Die Ritter, welche die Verfolgung begonnen hatten, standen ebenfalls dort. Sie hatten die Schwerter gezogen und starrten Murdo feindselig an. Bei seinem Erscheinen waren die Rufe zunächst verstummt; nun jedoch begann der Lärm von neuem.
Ruhig und gelassen hob Murdo die Hände - um Ruhe zu gebieten, und um zu zeigen, daß er unbewaffnet war. »Bitte!« rief er. »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, ich bitte euch, laßt mich sprechen!«
»Ruhe!« brüllte der vorderste der Ritter. Als sich daraufhin Schweigen über die Menge senkte, fragte er: »Was hast du zu sagen, Dieb?«
»Wer ist Euer Herr?« fragte Murdo. Er wußte es, doch er wollte, daß auch die Umstehenden es erfuhren.
»Wir sind Graf Balduins Männer«, antwortete der Edelmann. »Wir verlangen, daß du zurückgibst, was rechtmäßig ihm gehört.«
»Was ist es, das ich von Graf Balduin gestohlen haben soll?«
Der Edelmann ließ seinen Blick über die Menge schweifen, bevor er antwortete. Offenbar gefiel ihm ganz und gar nicht, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte. Plötzlich riß er die Hand hoch, deutete auf Murdo und schrie: »Er hat die heilige Lanze gestohlen!«
Ein erstauntes Raunen ging durch die am Ufer versammelte Menge. Die Lanze Christi! Hier? Wie konnte das sein?
»Ich habe gar nichts von Euch gestohlen«, erwiderte Murdo unverblümt. »Was ich habe, habe ich mir nicht von Euch, sondern von den Seldschuken geholt.«
»Lügner!« schrie der Ritter. »Ergreift ihn!«
Angestachelt von den leidenschaftlichen Anklagen des Ritters und begierig darauf, selbst ein Teil dieses so interessanten Streits zu werden, drängte die Menge vorwärts in Richtung Schiff. Murdo bückte sich rasch, griff nach dem Speer und hob ihn über den Kopf. »Halt!« rief er.
Verwirrt ob des plötzlichen Auftauchens der vermeintlichen Reliquie blieb die Menge stehen.
»Bleibt, wo ihr seid«, warnte Murdo. »Wenn auch nur einer von euch einen Schritt weitergeht, werde ich die Lanze ins Meer werfen.«
»Tu's doch!« forderte ihn der Ritter heraus. »Wir werden sie schon wiederfinden.«
»Vielleicht«, gestand ihm Murdo zu. »Aber vielleicht auch nicht. Sollen wir Euren Glauben auf die Probe stellen?«
Der Ritter funkelte ihn wütend an. »Ich werde dich aufschlitzen wie ein Schwein und dich den Hunden zum Fraß vorwerfen, wenn du die Lanze fallenläßt.«
Erneut ging ein Raunen durch die Menge, und einige nahmen all ihren Mut zusammen und traten einen Schritt vor. Murdo nahm eine Hand vom Speer, so daß er sich auf einer Seite abrupt Richtung Meer senkte. Entsetzt wich die Menge zurück.
Murdo legte die Stirn in Falten. Die Sache lief nicht, wie er geplant hatte. Mehr noch: Der Speer war schwer, und sein Arm wurde allmählich müde. Er wußte nicht, wie lange er die Waffe noch am ausgestreckten Arm würde halten können. Schon bald würde er sie wieder herunternehmen müssen, und was dann?
»Hör zu«, sagte der Edelmann. »Wenn du mir die Lanze sofort übergibst, werde ich dich von dem Diebstahl freisprechen.«
»Ich habe nichts gestohlen; ich.«, begann Murdo, doch kam er nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Er hörte ein lautes Platschen, und als er sich umdrehte, sah er zwei Männer, die aus dem Hafenbecken über die Reling kletterten. »Gorm! Hilfe!« schrie er, als die beiden Männer sich auf ihn stürzten.
Murdo stieß mit dem stumpfen Ende des Speers nach dem Gesicht des ersten Mannes, der sich jedoch geschickt unter den Stoß duckte. Dann stach er nach dem zweiten, dem es irgendwie gelang, das mit Seide umwickelte Eisen zu packen, woraufhin er versuchte, es Murdo aus der Hand zu reißen. Murdo ließ jedoch nicht los, und mit vereinten Kräften zogen die beiden Männer ihn zu sich heran. Sie hoben ihn über die Reling, doch noch immer hielt er die falsche Lanze fest.
Die Menge rief den beiden Männern zu, Murdo über Bord zu werfen, und jene, die dem Langschiff am nächsten standen, versuchten, ihn zu fassen zu bekommen und herunterzureißen.
»Gebt Frieden!«
Trotz des Lärms der Menge war der Ruf nicht zu überhören. Der Rufer mußte ihn jedoch noch zweimal wiederholen, bevor er Wirkung zeigte, und bis dahin wußte jedermann auf der Mole - einschließlich Murdo -, daß jemand von unangefochtener Autorität eingetroffen sein mußte.
»Im Namen Gottes befehle ich euch: Beendet dieses unwürdige Schauspiel auf der Stelle!« Die Stimme klang tief, und sie war laut genug, um von einem Ende der Mole zum anderen gehört zu werden.
Der strenge Tadel des Fremden beruhigte die Menge. Als Murdo den Kopf drehte, sah er, wie die Menge für einen großen Mann auf einem Schlachtroß eine Gasse freimachte. Ein halbes Dutzend oder mehr Ritter begleiteten den Mann, und alle hatten sie die Schwerter gezogen und die Schilde angelegt.
»Ihr da auf dem Boot!« rief der Mann. »Laßt ihn los, und haltet euch zurück, oder ihr werdet euch für euren Ungehorsam vor mir verantworten müssen.«
Die Männer reagierten sofort auf den Befehl des Fremden. Sehr zu Murdos Erleichterung wurde er wieder aufs Deck hinuntergelassen.
»Tretet weg von ihm«, befahl der große Mann, und auch diesmal gehorchten die beiden widerwillig.
Murdo richtete sich auf und blickte in die klugen Augen von Fürst Bohemund.
Der Fürst saß gelassen in seinem Sattel und musterte Murdo. »Gott schütze dich, mein Freund«, sagte er. »Ich glaube, wir kennen einander, habe ich nicht recht?«
»Ja, mein Herr«, antwortete Murdo. »Wir haben uns gestern vor den Mauern getroffen.«
»Es scheint, als hättest du den Zorn der guten Leute von Jaffa erregt - und das, obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen ist. Ich würde gerne erfahren, wie du diese schier unglaubliche Leistung zustande gebracht hast.«
»Das ist rasch erzählt«, erwiderte Murdo. »Ich habe die heilige Lanze, und sie«, er deutete auf Balduins Ritter, »wollen sie mir mit Gewalt abnehmen.«
»Tatsächlich!« rief Bohemund. »Ich muß gestehen, deine Geschichte beeindruckt mich. Ich würde sie gerne ganz hören. Bitte, fahr fort.«
»Das werde ich, Herr, und zwar mit Freuden«, entgegnete Mur-do. »Gebt mir nur genügend Raum und Zeit, und ich werde Euch alles erzählen, was Ihr zu hören wünscht, und wenn ich fertig bin, werdet Ihr mich keinen Dieb mehr nennen.«
»Du sprichst gut für dich selbst«, erwiderte der Graf von Antio-chia. »Du erinnerst mich an einen gewissen Edelmann, der sich in den vergangenen Wochen meinen höchsten Respekt verdient hat. Kann es sein, daß ihr beide verwandt seid?«
»Das halte ich nicht für sehr wahrscheinlich, Herr«, antwortete
Murdo. »Es gibt nur wenige Pilger von den Inseln des Nordens und noch weniger von Orkneyjar.«
»Aber er ist der König der Inseln des Nordens«, erklärte Bohemund. »Ich spreche von meinem Vasallen, König Magnus. Kennst du ihn?«
»Ich kenne ihn - das heißt: Ich bin mit einigen seiner Männer auf Pilgerfahrt gegangen«, antwortete Murdo.
Eine Bewegung ging durch die Ritter hinter Bohemund, und die vertraute Gestalt von König Magnus erschien zwischen den Männern. Hinter ihm entdeckte Murdo die rundliche Gestalt von Bruder Emlyn, der verzweifelt versuchte, sich durch die dichtgedrängte Menge zu quetschen.
»Heia!« rief Magnus zum Gruß. »Was haben wir denn hier?«
»Dieser Mann sagt, er sei auf einem Eurer Schiffe ins Heilige Land gekommen. Kennt Ihr ihn?«
Magnus legte den Kopf zur Seite und musterte Murdo einen Augenblick lang. »Er kommt mir bekannt vor. Wenn er sagt, er sei mit mir gesegelt, dann nehme ich ihn beim Wort und zähle ihn zu den meinen.«
»Ich bin mit Jon Reißzahn gesegelt, Herr«, erklärte Murdo dem König. »Es war sein Schiff, das Eure Priester gebracht hat. Einer von ihnen hat mich nach Jaffa begleitet.« Murdo deutete in die Menge. »Er ist auch jetzt hier. Ihr könnt ihn fragen, wenn Ihr mir nicht glaubt.«
In diesem Augenblick mischte sich der vorderste von Balduins Rittern lautstark in die Unterhaltung ein. »Genug damit! Es gilt hier, ernste Dinge zu erledigen, und Ihr plappert wie alte Jungfern über einem Stück Kuchen!« Er deutete auf Murdo und fuhr fort: »Dieser Mann ist ein Lügner und ein Dieb. Er hat die heilige Lanze gestohlen, und ich werde dafür sorgen, daß sie wieder an ihren rechtmäßigen Platz gebracht wird.«
Bohemund betrachtete den Mann mit freundlichem Gesichtsausdruck. »Warum nennt Ihr ihn einen Lügner? Er hat aus freien Stücken gestanden, daß sich die heilige Reliquie in seinem Besitz befindet. Wo ist die Lüge?«
Der Edelmann funkelte Bohemund an. »Die Lanze gehört Herrn Gottfried, und das wißt Ihr.«
»Die heilige Lanze gehört der heiligen Mutter Kirche und ihrem Volk. Aber abgesehen davon: Leugnet Ihr etwa, daß man sie Euren Kameraden in der Schlacht entrissen hat?«
»Das wißt Ihr doch ganz genau«, knurrte der Ritter. »Gottfrieds Männer sind in Sichtweite der Mauern überfallen worden, und man hat ihnen die Lanze gestohlen.«
»Wollt Ihr damit etwa sagen, dieser unbewaffnete Jüngling habe eine ganze Abteilung von Gottfrieds Männern niedergemetzelt und ihnen die Reliquie entwendet?« erkundigte sich Bohemund in unschuldigem Tonfall.
»Ihr verdreht mir die Worte im Mund«, fauchte der Ritter. »Ihr wißt genau, daß es die Türken waren.«
»Das ist das erste wahre Wort, das Ihr gesprochen habt«, erwiderte der Fürst von Tarent. »Ja, es waren die Türken. Wir haben in dieser Nacht lange gegen sie gekämpft und sind gerade erst vom Schlachtfeld zurückgekehrt.« Er deutete auf Murdo und fuhr fort. »Wenn dieser Mann sein Leben riskiert hat, um die heilige Lanze zurückzuholen, die Eure Gefährten verloren haben, dann scheint es mir, als solltet Ihr nicht versuchen, ihm die Haut abzuziehen, sondern ihn mit Gold und Lob überhäufen.«
Der Ritter murmelte wütend vor sich hin, unternahm jedoch keinerlei Anstalten, dem Fürsten offen zu widersprechen. Ihm und seinen Gefährten war ihr Zorn deutlich anzumerken; aber sie schwiegen. Der Fürst von Tarent wandte sich abermals an Murdo und sagte: »Es wäre mir eine Freude, mich mit dir und König Magnus zusammenzusetzen und diese Angelegenheit mit dem Anstand zu besprechen, den sie verdient. Wenn du uns gestattest, an Bord zu kommen, gebe ich dir mein Wort, daß dir nichts geschehen wird.«
»Also gut«, stimmte Murdo zu, »nur erlaubt auch dem Priester, sich zu uns zu gesellen, und ich werde Euch alles erzählen, was Ihr wissen wollt.«
Der Fürst stieg vom Pferd und ließ seine Männer an der Mole Aufstellung nehmen, um das Schiff zu bewachen. In der Zwischenzeit legte Gorm rasch die Laufplanke aus, um es den hohen Herrn zu ermöglichen, an Deck zu kommen. Kurz darauf stand Murdo mit dem Speer seinem unerwarteten Verteidiger und einem guten Dutzend weiterer Edelleute von Angesicht zu Angesicht gegenüber - einschließlich Orin Breitfuß und dem stets mißtrauischen Bayard. Zu guter Letzt lief Bruder Emlyn die Planke hinauf, trat schnaufend neben Murdo und zog ihn erst einmal beiseite.
»Ich habe die ganze Nacht gewartet, und als du nicht zurückgekommen bist, dachte ich, ich sollte vielleicht einmal zum Tor gehen und nachsehen...«
»Ist schon gut«, unterbrach ihn Murdo. »Wo ist der Schatz?«
»Du hast die Lanze zurückgeholt. Gelobt sei Gott!« Er schluckte. Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern und sagte: »Für meinen Geschmack sind hier viel zu viele Edelleute. Was sollen wir mit ihnen machen?«
»Vertrau mir«, antwortete Murdo. »Und jetzt sag mir - der Schatz meines Vaters: Wo ist er?«
Der Priester beugte sich noch näher zu ihm hinüber. »Er ist hier, an Bord eben dieses Schiffes. Wo hätte er auch sonst sein sollen?« Er blickte sich um und fügte hinzu: »Vielleicht solltest du mir die Lanze geben. Ich könnte.«
»Hör mir zu, Emlyn«, unterbrach ihn Murdo. »Sag nichts. Was auch immer geschehen mag, halte deine Zunge im Zaum.«
»Sei vorsichtig, Murdo. Diese Männer werden vor nichts haltmachen, um ihren Willen durchzusetzen. Du darfst ihnen nicht nachgeben.«
»Ich meine, was ich sage!« knurrte Murdo tadelnd. Er packte das Handgelenk des Priesters und drückte zu. »Was auch immer ich sagen oder tun werde: Halt den Mund, und misch dich nicht ein! Hast du das verstanden?«
Verblüfft nickte Emlyn und trat einen Schritt zurück. Als Mur-do ihn wieder losließ, rieb er sich das Handgelenk.
Murdo wandte sich von dem Mönch ab und trat zu Bohemund.
»Ich danke Euch, daß Ihr mich gerettet habt«, sagte er und verneigte sich respektvoll. »Ich fürchte, wärt Ihr nicht gewesen, läge ich jetzt am Grund des Hafens.«
»Und das wäre wirklich eine Schande gewesen«, erwiderte Bohe-mund. »Die heilige Lanze und ihren leidenschaftlichsten Verteidiger zu verlieren. Allein der Gedanke ist unerträglich. Laß uns lieber über andere Dinge reden.« Er streckte Magnus und Murdo die Hände entgegen. »Setzt euch zu mir, meine Freunde, und laßt uns bereden, was wir nun am besten tun sollten.« Sie setzten sich auf die Ruderbänke. Der Fürst von Tarent und Graf von Antiochia deutete auf das Seidenbündel auf Murdos Schoß und sagte: »Nun denn, ich würde gerne erfahren, wie die heilige Lanze in deinen Besitz gekommen ist.«
Murdo nickte und begann seine Geschichte: Er beschrieb, wie er Bohemund und seinen Männern gefolgt war, die wiederum den Türken hinterhergeritten waren, und wie er am Strand den Kampflärm gehört hatte. Dann erzählte er, wie er auf eine Sanddüne geklettert war, um bessere Sicht zu haben, und wie er dabei das Zelt des Seld-schukenführers entdeckt hatte. »Der Schatz des Ungläubigen befand sich tatsächlich in dem Zelt«, schloß er seine Erzählung ab. »Dort habe ich dann die heilige Lanze gefunden, und es ist mir gelungen, mit ihr zu entkommen. Bevor ich noch mehr mitnehmen konnte, kehrten die Türken wieder zurück.«
»Bemerkenswert«, sagte Bohemund und schüttelte langsam den Kopf. »Du hast die heilige Reliquie vor ihren Feinden gerettet - sowohl vor den türkischen als auch vor den christlichen. Ich preise dich...« Er zögerte. »Bitte, ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.«
»Ich bin Murdo, Sohn von Herrn Ranulf von Dyrness«, antwortete Murdo und blickte zu Magnus, der ihn nachdenklich betrachtete, aber keinerlei Reaktion auf die Nennung des Namens zeigte.
Bohemund nickte huldvoll und fuhr fort: »Ich preise dich, Mur-do, Sohn von Ranulf von Dyrness. Deine Tapferkeit soll belohnt werden. Ich gebe dir tausend Silberstücke für die Rückgabe der Lanze.« Mit diesen Worten griff er nach der Reliquie.
»Murdo, nein!« schrie Emlyn, der sich nicht länger zurückhalten konnte. »Bitte, um der Liebe Gottes willen, du darfst nicht.«
Murdo brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen; dann wandte er sich wieder Bohemund zu. »Ich muß Euch erneut danken, Herr«, erwiderte er, doch ohne die Lanze loszulassen. »Verzeiht mir, aber für die Rückgabe der Reliquie kann ich nichts von Euch annehmen. Ich habe meine eigenen Gründe für das, was ich getan habe, und es ist nicht recht, daß jemand Gewinn aus dem Tod von Christen zieht. Es genügt mir, wenn ich weiß, daß die Lanze wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurückgebracht wird.«
Listig verzog Bohemund das Gesicht. »Das ist noch um so bewundernswerter«, murmelte er.
König Magnus, der bis jetzt schweigend zugehört hatte, beugte sich nun vor und sprach Murdo auf Nordisch direkt an: »Sohn, denk gut darüber nach, was du da sagst. Jarl Bohemund hier ist ein mächtiger Mann, und er ist bereit, dir alles zu geben, wonach du verlangst. Gib uns den Speer, und ich werde dafür sorgen, daß du noch lange genug leben wirst, um die Belohnung zu genießen.«
Murdo war die unverhohlene Drohung in den Worten des Königs nicht entgangen, doch er hatte bereits beschlossen, seinen Plan auszuführen - komme, was da wolle. »Ich danke Euch für Eure Sorge, Herr«, erwiderte er in höflichem Latein. »Bitte haltet mich nicht für unehrbietig, weil ich Eure Belohnung ablehne. Aber was ist schon Silber wert, wenn man einem Mann sein Land gestohlen und seine Familie aus dem Heim vertrieben hat?«
König Magnus verstand sofort, worauf Murdo hinauswollte. »Wenn es das ist, was dir Sorgen bereitet, mein Freund, dann hat deine Not ein Ende. Als König von Norwegen und Orkneyjar werde ich Gerechtigkeit walten lassen.«
»Also schön«, erwiderte Murdo und nickte knapp. »Mehr kann ich nicht verlangen.«
»Hervorragend!« rief Bohemund und schlug Murdo herzlich auf den Rücken. »Dann ist es also abgemacht.«
»Nun gut«, sagte der König, »sag mir, wer das Unrecht begangen hat, und wenn wir auf die Dunklen Inseln zurückkehren, werde ich den Mann vor mich rufen, damit er sich für seine Verbrechen verantwortet.«
»Wir müssen nicht warten, bis wir wieder auf Orkneyjar sind«, erwiderte Murdo. »Der Mann, von dem ich spreche, weilt in eben diesem Augenblick unter uns.«
»Hier?« fragte Magnus verwundert und wich zurück, als befürchte er eine Falle. Er warf einen raschen, besorgten Blick zu seinen Lehnsmännern; dann sagte er: »Du irrst dich sicherlich.«
»Nein, ich irre mich nicht«, versicherte ihm Murdo. Er deutete auf die umstehenden Edelleute und erklärte: »Dieser Mann ist Orin Breitfuß.«
Entsetzt starrte der König Murdo an. Dann drehte er sich zu seinem Lehnsmann um, der von dem Vorwurf ebensosehr verblüfft war wie sein Herr. Bohemund wirkte amüsiert; er musterte Murdo neugierig, während sich der König der Nordmänner erhob und vor seinen Edelmann trat. Die beiden sprachen einen Augenblick lang miteinander, während die anderen Herren unruhig von einem Fuß auf den anderen traten und erwartungsvoll miteinander tuschelten.
»Hierbei handelt es sich um eine außerordentlich schwierige Angelegenheit«, verkündete Magnus, nachdem er die Beratungen mit Herrn Orin beendet hatte. »Es scheint, mein Sohn, als sei Prinz Sigurd für die Wegnahme deiner Ländereien verantwortlich. Selbstverständlich wußte Herr Orin nichts von der Not deiner Familie. Ihn trifft keine Schuld.«
»Gott weiß, daß dies die Wahrheit ist«, schwor Orin. »Hätte ich gewußt, daß der Bu deinem Vater gehört, hätte ich ihn niemals genommen. Aber ich habe dem Bischof geglaubt, als dieser mir versichert hat, dieses Land sei mit der Absetzung von Jarl Erlend frei geworden.«
Magnus nickte. Er war mit der Unschuldsbeteuerung seines Vasallen zufrieden. »Aus diesem Grunde«, erklärte der König, »glaube ich nicht, daß der Gerechtigkeit genüge getan werden kann, in-dem ich einen guten Mann für ein Verbrechen bestrafe, von dem er nichts gewußt, und das er auch nicht wissentlich begangen hat.« Murdo öffnete den Mund, um zu protestieren; doch der König hob die Hand und gebot ihm Schweigen. »Dennoch ist es nicht recht, daß dir und den deinen solches Unrecht widerfahren ist. Ich wäre in der Tat ein armseliger König, wenn ich dir keinen Ausgleich für den Schaden anbieten würde, den mein Sohn aus Unerfahrenheit verursacht hat.«
Bohemund nickte anerkennend, und die anderen Edelleute bekundeten ihr Einverständnis mit dem Urteil ihres Königs durch lautes Grunzen. »Daher«, fuhr Magnus fort, »werde ich dich, deine Familie und eure Vasallen entschädigen, indem ich euch andere Ländereien gebe, auf denen ihr euch niederlassen könnt.« Er hielt kurz inne, und als er Murdos verbitterten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er hinzu: »Wie groß auch immer euer Land auf Orkneyjar gewesen sein mag, ich werde dir das Zehnfache geben.«
»Es gibt auf ganz Orkneyjar kein Gut, das so groß wäre«, bemerkte Murdo mißtrauisch.
»Das mag ja sein«, erwiderte der König. »Also werde ich dir Land in Caithness geben - einen Teil von jenem Königreich, das mir König Malcolm, der Herrscher der Skoten, überantwortet hat. Ich gebe es dir aus freien Stücken und bitte dich, es anzunehmen.« Er bot Murdo die Hand an - so beschlossen die Nordmänner einen Handel.
Als er erkannte, daß er eine Gunst empfangen hatte, weit größer als alles, worauf er zu hoffen gewagt hatte, stand Murdo langsam auf. »Mein Vater, Herr Ranulf, ist in Jerusalem gefallen«, sagte er. »Doch wenn er jetzt hier vor Euch stehen würde, dann weiß ich, daß er Euer großzügiges Angebot annehmen und Herrn Orin und Prinz Sigurd alles Leid vergeben würde, das sie über unsere Familie gebracht haben. Daher werde auch ich akzeptieren - um meinen Vater zu ehren.« Er ergriff die angebotene Hand und besiegelte den Handel. »Und Ihr müßt auch wissen, daß mein Vater darauf bestanden hätte, die heilige Lanze in starken, vertrauenswürdigen Händen zu sehen - zum Wohle aller.«
Mit diesen Worten reichte Murdo den Speer Fürst Bohemund, der ihn freudig entgegennahm und zur Reling schritt, wo er die >Re-liquie< zur Freude der Menge in die Höhe hielt, welche noch immer auf der Mole ausharrte, um den Ausgang des Streits zu erfahren. »Die heilige Lanze ist gerettet!« rief Bohemund. »Ehre und Dank sei Gott für ihre rasche Rückkehr.«
Murdo hörte ein lautes Seufzen hinter sich, und er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Emlyn zusammenbrach. Daß sein Freund, auf den er so sehr vertraut hatte, die Lanze ausgerechnet diesem Mann übergeben hatte, war zuviel für den Priester gewesen, und er war in Ohnmacht gefallen.
ohemund verschwendete nicht einen Augenblick, sondern rief sofort den kaiserlichen Gesandten zu sich, um ihm seine Beute zu übergeben. Wie Gottfried, so wußte auch Bohemund, daß ihr Überleben entscheidend vom kaiserlichen Wohlwollen abhing. Anders als Gottfried jedoch fürchtete sich der Fürst von Tarent nicht im mindesten, das Opfer zu leisten, welches ihnen eben diese Unterstützung sichern würde. Nach seinem kurzen und aufsehenerregenden Erscheinen vor dem Rat in Jerusalem hatte Dalassenos wenig Zweifel hinterlassen, daß die weitere Bereitwilligkeit des Kaisers, mit den Kreuzfahrern zusammenzuarbeiten, entscheidend von der Rückgabe der Lanze abhing.
Der listige Fürst und Graf von Antiochia hatte beschlossen, diesen Preis mit Freuden zu zahlen, solange die Lanze ihnen nur Ale-xios' Hilfe sicherte, und um den größtmöglichen Nutzen aus diesem Geschenk zu ziehen, mußte sie Bohemund persönlich zurückgeben. Bereits als Magnus und er den Rat in der Grabeskirche verlassen hatten, hatte er begonnen, Intrigen zu schmieden, wie er Gottfried die Reliquie entreißen könnte.
In dem Augenblick, da Fürst Bohemund erfahren hatte, Gottfrieds Männer hätten Jerusalem verlassen, hatte er seine Spione losgeschickt; und nachdem diese herausgefunden hatten, daß Gottfried die Lanze dem Papst zur Aufbewahrung übergeben wollte, hatte er sich sofort mit seinen besten Rittern an die Verfolgung gemacht. Aber natürlich hatte er nicht damit gerechnet, eine ganze Nacht lang gegen die Türken kämpfen zu müssen, und noch viel weniger mit Murdos Einmischung. Und hätten die Torleute nicht alle von dem Jüngling erzählt, der die heilige Lanze gestohlen hatte, hätte er sie vermutlich nie gefunden. Das Leben in den Reichen des Ostens war wahrlich voller Überraschungen, und Bohemund hatte inzwischen gelernt, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich ihm bot.
Er nahm die heilige Lanze in die Hand und wunderte sich über sein eigenes, geradezu unglaubliches Glück. »Gebt dem Drungarios tön poimön Bescheid«, sagte er zu Bayard. »Sagt dem Abgesandten, daß Graf Bohemund mit der Lanze Christi kommt und daß wir uns freuen würden, uns so rasch wie möglich mit ihm zu treffen, um ihm die heilige Reliquie zu übergeben.«
Bayard und zwei andere von Bohemunds Edelleuten machten sich daraufhin auf den Weg zum kaiserlichen Schiff.
In der Zwischenzeit hatte sich Murdo neben den ohnmächtigen Priester gekniet und begonnen, ihn sanft zu schütteln. Einen Augenblick später erwachte der Priester mit einem lauten Stöhnen und setzte sich auf. Als er Murdo erblickte, krallte er sich in dessen Ärmel. »Du hast Bohemund die Lanze gegeben!« keuchte er. »Wir müssen versuchen, sie wieder zurückzuholen. Es ist noch nicht zu spät. Wir müssen.«
Er versuchte aufzustehen. »Schschsch«, warnte ihn Murdo und
drückte ihn wieder herunter. »Beruhige dich.«
»Die Lanze!« zischte Emlyn. »Er will sie weggeben!«
»Alles wird wieder gut«, flüsterte Murdo und beugte sich vor. Er ergriff den Mönch am Arm und half ihm aufzustehen. »Hör mir jetzt zu. Wir haben nicht viel Zeit. Magnus ist hier, was bedeutet, daß auch Ronan und Fionn in der Nähe sein müssen. Je weniger sie darüber wissen, desto besser, glaube ich.«
Emlyn suchte in Murdos Gesicht nach einem Grund für die seltsamen Worte; doch als er keinen fand, schüttelte er traurig den Kopf. »Ich verstehe dich nicht. Vergangene Nacht hast du gesagt, du wolltest dem Wahren Weg folgen und die Lanze retten, und heute hast du sie einfach so weggegeben. Was hat dich nur so verändert, Mur-do?«
»Ich habe mich nicht verändert«, antwortete der junge Mann. »Wir müssen das einfach nur durchstehen.«
In diesem Augenblick hob Bohemund, der mit König Magnus an der Reling stand, die heilige Lanze über den Kopf und rief mit lauter Stimme den Menschen auf der Mole zu: »Macht Platz! Macht Platz, meine Freunde, für den Abgesandten des Kaisers. Er kommt, diese heilige Reliquie in seinen Schutz zu übernehmen.« Die Seeleute und Kreuzfahrer in der Nähe blickten zu dem im Sonnenlicht schimmernden weißen Seidenstoff empor; dann sahen sie den kaiserlichen Abgesandten, der sich ihnen festen Schrittes näherte, und wichen zurück, denn sie wußten nicht, was als nächstes geschehen würde.
Bohemund streckte versöhnlich die Hand aus. »Gesellt Euch zu mir, Drungarios!« rief er. »Laßt uns zusammenstehen und vor den Anwesenden hier unsere Freundschaft bekunden.«
Während der Drungarios tön poimön durch die Menge hindurch zum Drachenboot schritt, hielt Bohemund eine Rede für die Zuschauer: Er sprach von den Leiden der Kreuzfahrer und ihrem großen Erfolg, die Heilige Stadt für alle Zeit für die Christenheit erobert zu haben. Er sprach von Gottes großem Plan für sein Volk und von der Oberhoheit des Kaisers als alleinigem Stellvertreter des
Allmächtigen auf Erden. Dann mahnte er die Anwesenden, es sei gut, wenn sie sich der Leiden all jener erinnern würden, die auf der Pilgerfahrt gefallen seien, und wie der Herr selbst ihr Unterfangen gesegnet habe, indem er ihnen die heilige Lanze als Zeichen seines Wohlgefallens gegeben hatte.
Von seinem Platz neben Murdo aus blickte Emlyn sehnsüchtig auf die Lanze in Bohemunds Händen. »Er gibt sie weg!« Der Mönch setzte sich in Bewegung.
»Frieden, Bruder«, knurrte Murdo, packte ihn abermals am Arm und hielt ihn fest. »Sei ruhig.«
Der Mönch wurde zunehmend verzweifelter und versuchte, sich aus Murdos Griff zu befreien. »Wir können doch nicht einfach danebenstehen und zusehen, wie er sie weggibt!«
»Doch, genau das werden wir tun.« Murdo riß den Mönch am Arm. »Und jetzt steh still, und sei ruhig.«
Mit vier Warägern auf jeder Seite stieg Dalassenos die Laufplanke empor und trat vor Bohemund. Der Fürst umarmte den kaiserlichen Gesandten wie einen lange verloren geglaubten Verwandten. Dann trat er einen Schritt zurück, bot die heilige Lanze Dalasse-nos an und sagte: »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus gebe ich Euch den Auftrag, diese heiligste Reliquie dem Schutz und der liebenden Fürsorge des Herrschers der gesamten Christenheit, Kaiser Alexios, zu übergeben. Laßt ihn wissen, daß die Herren des Westens ihm so ihren Respekt und ihre Verehrung erweisen und daß wir vor seiner Autorität die Knie beugen. Hiermit schließen wir uns ihm beim Aufbau von Christi eigenem Königreich an.«
Mit diesen Worten übergab er die eiserne Lanze an Dalassenos. Der griechische Offizier verneigte sich königlich und nahm die Reliquie mit dem angemessenen Respekt entgegen. »Im Namen von Kaiser Alexios, Nachfolger der Apostel, Gottes Stellvertreter auf Erden und Herrn der Kirche, nehme ich die Aufgabe mit Freuden an, die Ihr mir auferlegt habt, und ich schwöre vor den hier Anwesenden, daß diese heilige Reliquie mit der Ehrfurcht und der Verehrung behandelt und beschützt werden wird, die ihrem hohen Rang ent-spricht.«
Die Zuschauer - sowohl jene an Bord als auch jene auf der Mole -reagierten auf die Schenkung gedämpft und leicht erstaunt. Während einige zu wissen verlangten, was hier vor sich gehe, jubelten andere halbherzig; die meisten gingen jedoch einfach wieder ihren Geschäften nach.
Schließlich dankte der Drungarios tön poimön dem Grafen von Antiochia für die Rückgabe der Lanze, und erklärte, daß er den Eid erfüllt habe, den er vor dem Thron in Konstantinopel geschworen hatte. »Seid versichert, daß Kaiser Alexios wünschen wird, Euch auch noch persönlich zu danken. Wenn es Eure Pflichten erlauben, könntet Ihr vielleicht einmal nach Konstantinopel kommen, damit der Kaiser Euch belohnen kann.«
Bohemund, mit einem angemessen verdienstvollen Ausdruck auf dem Gesicht, lächelte wohlwollend bei der Vorstellung, den Kaiser wiederzusehen; dann winkte er seinen Edelleuten, sich zu ihm zu gesellen und an seinem Ruhm teilzuhaben. König Magnus trat neben ihn, und die beiden Fürsten umarmten sich. Schließlich traten auch weitere Edelleute hinzu und sonnten sich im Triumph ihres Herrn.
Zu guter Letzt winkte der großzügige Graf auch Murdo zu sich heran, doch dieser weigerte sich.
Höflich erklärte er: »Ich danke Euch, Herr, aber ich habe meine Belohnung bereits erhalten. Ich bin zufrieden.«
Die Edelleute schworen einander ewige Freundschaft und Treue und nahmen freudig Dalassenos' Einladung an, mit ihm einen Dankgottesdienst auf der kaiserlichen Galeere zu feiern und anschließend Festmahl zu halten. Murdo und ein vollkommen niedergeschlagener Emlyn zogen sich zum Bug zurück und beobachteten, wie Bo-hemund und Magnus, deren Gesichter vor Stolz über ihren überwältigenden Erfolg förmlich glühten, an der Seite des Drungarios von einer Ehrengarde Waräger zum kaiserlichen Schiff geleitet wurden, wo sie Wein und allerlei Delikatessen erwarteten.
»Es ist nicht recht, daß sie sich so im Ruhm sonnen«, knurrte Em-lyn verbittert. »Das ist eine Beleidigung des Himmels.«
»Der Himmel kann ganz gut auf sich selbst aufpassen«, erwiderte Murdo. »Wir jedoch sind immer noch auf den guten Willen der Könige angewiesen.« Er ließ seinen Blick über die Mole schweifen und fand, wonach er gesucht hatte. »Schau! Da ist Jon Reißzahn. Ronan ist bei ihm.«
Murdo rief ihnen zu und sah, daß der Seemann und der Priester eine kleine Prozession anführten, die sich durch den Hafen schlängelte und deren Ende Fionn und die Mannschaft der Skidbladnir bildeten. Viele der Seeleute schienen sich zu plagen - sie trugen oder zogen irgend etwas hinter sich her.
Ronan und Jon erreichten den Rand der Mole und stiegen die Planke hinauf. »Sei gegrüßt, Murdo! Emlyn! Gott schütze euch«, rief der alte Mönch. »Wir hatten gehofft, euch noch zu treffen, bevor ihr absegelt.«
»Seht her!« rief Jon Reißzahn und deutete auf die, die hinter ihm kamen. »Heute dürft ihr zusehen, wie ein König gemacht wird!«
Murdo folgte dem Finger des Nordmannes und sah den ersten der Seeleute die Planke hinaufwanken. Er trug einen großen offenen Korb mit Gold und Silber. Insgesamt wurden sechs dieser Körbe an Bord gebracht und sorgfältig im Zelt hinter dem Mast verstaut. Einer der Seeleute, die den Schatz verstauten, trat aus dem Zelt und rief: »Jon, hier drin sind ein paar Tote! Was sollen wir mit ihnen tun?«
»Laßt sie in Frieden«, antwortete Jon. Dann drehte er sich zu Mur-do um und sagte: »Ronan hat mir von deinem Vater erzählt. Es hat mir leid getan, das zu hören. Du wolltest, daß er dich nach Ork-neyjar zurückbegleitet. Mach dir keine Sorgen. Solange er nicht zu stinken beginnt, werde ich ihn nicht über Bord werfen.«
Murdo dankte dem Seemann für seine Rücksichtnahme und fragte: »Wie bist du zu einem solch großen Schatz gekommen?«
»Bohemund hat die Türken verjagt, die Gottfrieds Männern aufgelauert haben«, antwortete Jon Reißzahn. »Magnus und wir trafen gerade noch rechtzeitig ein, um ihm dabei zu helfen. Den Schatz
des Türkenhäuptlings haben wir als Beute genommen.«
»Sie haben den Schatz mit sich geführt«, warf Fionn ein und gesellte sich zu der kleinen Gruppe, während der letzte Korb an Bord und ins Zelt gebracht wurde. »König Magnus' Männer haben geholfen, den Schatz zu gewinnen, und daher hat man ihnen einen beträchtlichen Anteil gewährt.«
»Ich wünschte, ihr wärt etwas früher zu uns gestoßen«, sagte Em-lyn, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Dann hättet ihr vielleicht auch noch die heilige Lanze retten können.«
Dem folgte ein langer und häufig unterbrochener Bericht dessen, was Murdo und Emlyn widerfahren war, seit sie Jerusalem verlassen hatten: ihr knappes Entkommen vor den Seldschuken, die Schlacht vor den Stadtmauern, Murdos Rettung der heiligen Lanze und seine Abmachung mit König Magnus über die Rückgabe der Reliquie. Die anderen stimmten ihm zu, daß es sich in der Tat um eine außergewöhnliche Wiedergutmachung handelte.
»Der König ist bekannt für seine Gerechtigkeit und Großzügigkeit«, erklärte Jon Reißzahn. »Ich vermute, er hat sich große Mühe gegeben, das zu beweisen - schließlich schauten ihm ja Bohemund und seine Edlen zu.« An Murdo gewandt sagte er: »Du hast ihn richtiggehend in die Enge getrieben.«
»Wäre Bohemund nicht gewesen«, erwiderte Murdo, »bezweifele ich nicht, daß die Angelegenheit anders ausgegangen wäre. Balduins Männer waren fest entschlossen, mir die Kehle durchzuschneiden. Ich weiß immer noch nicht, warum der Graf das getan hat.«
»Ohne Zweifel hat das etwas mit dem Rat in der Grabeskirche zu tun«, bemerkte Jon und berichtete Murdo, wie der kaiserliche Gesandte vor den lateinischen Fürsten erschienen war und die Rückgabe der heiligen Lanze verlangt hatte, als Zeichen, daß die Kreuzfahrer die Oberhoheit des Kaisers anerkannten. »Nachdem Bohe-mund erfahren hatte, daß die Lanze aus der Stadt gebracht worden war, ist er sofort mit einer Abteilung aufgebrochen, um bei ihrem Schutz zu helfen. Wärst du nur einen halben Tag länger in Jerusalem geblieben, hättest du das alles gewußt. Mehr noch: Du hättest mit uns nach Jaffa reisen können.«
»Ach«, seufzte Emlyn. »Wir waren so nahe dran.« Er drückte Daumen und Zeigefinger aufeinander. »Wir hatten sie in Händen.« Vorwurfsvoll blickte er zu Murdo und schüttelte den Kopf.
Die drei Priester fielen in Schweigen und dachten darüber nach, wie nah sie der Erfüllung des göttlichen Auftrags gekommen waren, den sie in der Vision erhalten hatten. Murdo bereitete sich auf ihren milden Tadel vor und hielt den Mund.
»Vielleicht ist es gar nicht so schlimm«, versuchte Jon Reißzahn die Mönche zu trösten. »Solch ein Geheimnis ist nur schwer zu wahren. Es hätte euch nichts als Ärger eingebracht. Ich glaube, so ist es besser.«
Jon Reißzahn ging davon, und die entmutigten Mönche trotteten zum Heck, um zu beten und Gottes Führung zu erflehen, nachdem sie bei der Rettung der heiligen Reliquie versagt hatten. Mur-do verspürte das Verlangen, sie zu trösten, doch er hielt sich zurück.
Nach einer Weile kehrte einer von König Magnus' Edelleuten zurück und rief Jon zu sich. Murdo beobachtete, wie die beiden miteinander sprachen, woraufhin Jon nach Gorm rief und die beiden Seeleute die Köpfe zusammensteckten.
»Der kaiserliche Gesandte will so schnell wie möglich nach Konstantinopel zurückkehren«, berichtete Jon Murdo, als er den jungen Mann allein an der Reling stehen sah. »Es scheint, als hätte ihm unser großzügiger Fürst Bohemund König Magnus' Flotte als Eskorte für die Reliquie bis Konstantinopel versprochen. Magnus hat Befehl gegeben, daß wir bei Sonnenaufgang in See stechen.«
»Und was dann?« fragte Murdo. »Was geschieht, wenn wir Konstantinopel erreichen?«
»Ich weiß nicht, was die anderen tun werden«, antwortete der Seemann, »aber was mich und mein Schiff betrifft, werde ich wieder nach Hause fahren.«
Bei diesen Worten überkam Murdo eine so große Erleichterung, daß es ihm den Atem verschlug und seine Knie drohten nachzu-geben. Er hatte beabsichtigt, ein Schiff zu finden, doch daß er mit seinen Freunden segeln konnte, hatte er nicht zu hoffen gewagt. Das, zusammen mit den Anstrengungen der letzten Tage, machte ihn leicht benommen; er schwankte, und hätte Jon ihn nicht gestützt, wäre Murdo sicherlich gestürzt.
»Komm, Murdo«, sagte der große Nordmann und klopfte ihm auf den Rücken. »Etwas zu trinken wird dir neue Kraft verleihen. Gorm! Bring uns einen Krug!« Der Steuermann eilte sofort herbei. Jon drückte Murdo den Krug in die Hand und sagte: »Es ist eine Schande, daß wir kein Bier haben, aber Wein ist eigentlich gar nicht so schlecht.«
Der Wein weckte in der Tat Murdos Lebensgeister. Er trank in tiefen, kräftigen Schlucken, und schließlich reichte er den Krug Jon, der seinem Freund zuprostete und sagte: »Du bist ein guter Mann, Murdo. Du kannst jederzeit mit mir segeln.«
»Wenn ich erst einmal zu Hause bin, werde ich nie wieder segeln«, schwor Murdo und trank einen weiteren Schluck Wein. »Aber wenn ich es doch tun würde, dann mit niemandem außer mit dir.«
»Es ist ein langer Weg bis Orkneyjar«, bemerkte Jon. »Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch.«
Den Rest des Tages verbrachten die Nordmänner damit, die Schiffe vorzubereiten und Vorräte zu besorgen. Als Krüge, Säcke und Kisten an Bord gebracht wurden, half Murdo, sie zu verstauen, und vergewisserte sich anschließend, daß alles ausreichend gesichert war. Obwohl Jon Reißzahn ihm gesagt hatte, er solle sich ausruhen und den Seeleuten die Arbeit überlassen, hatte Murdo dankend abgelehnt; die Arbeit lenkte ihn von seiner Aufregung über die bevorstehende Reise ab. Aber wenn er doch einmal daran dachte, machte sein Herz einen Freudensprung, und er spürte ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch.
Als sich schließlich die Nacht herabsenkte, starrte Murdo gen Westen zur untergehenden Sonne, und er stellte sich vor, es sei das Meer des Nordens, auf das er blickte und nicht das warme Mittelmeer; er sah keine Wolken am Horizont, sondern die schattenhaften Um-risse der Dunklen Inseln, die aus dem stillen Wasser emporragten. Sein Heimweh wurde immer größer und drohte schließlich, ihn zu verschlingen. »Ragna...«, hauchte er auf die See hinaus. »Ragna, ich komme nach Hause.«
In dieser Nacht rollte sich Murdo auf seinem üblichen Platz am Bug zusammen, und mit dem Namen seiner Geliebten auf den Lippen schlief er bald ein.
Bei Sonnenaufgang war er jedoch bereits wieder auf den Beinen und wartete auf den Befehl, vom Ufer abzustoßen. Schließlich kam der Ruf auch, und Murdo setzte sich auf die Ruderbank und nahm den Riemen auf, während die kaiserliche Galeere langsam aus dem Hafen glitt, gefolgt von den kleineren, schnelleren Schiffen der Nordmänner. Eins nach dem anderen stießen sie von der Mole ab und folgten Alexios' Abgesandtem aufs offene Meer. Nachdem sie das Hafenbecken verlassen hatten, befahl Jon Reißzahn, das Segel zu setzen, und die Heimreise nahm ihren Anfang.
Das gelbbraune Segel entfaltete sich, als erwache es nach langem Schlaf. Behäbig flatterte es und schüttelte die Falten aus, bis der Wind es blähte und das Schiff langsam vorwärtsglitt.
Während Jaffa allmählich im Hitzedunst verschwand, richtete Mur-do den Blick auf die trockenen Hügel im Osten der Stadt. Das war das Letzte, was er vom Heiligen Land sah. Er verspürte auch Trauer, weil er seinen Vater und seine Brüder hatte zurücklassen müssen. Im Herzen wünschte er ihnen ein letztes Lebewohl; dann drehte er sich wieder Richtung Westen um und dachte nur noch an die Heimreise.
I iVl rauer Nebel lag wie ein Laken auf dem Meer, wurde vom Wind hin und her gewirbelt und behinderte die Sicht der Reisenden. Über den Köpfen war der Himmel klar und blau; der Schleier über dem Wasser schien ihn nicht zu berühren. Nach so langer Zeit auf See stand Murdo am Bug des Schiffes und blickte gegen die dichte graue Wand; er weigerte sich, vor etwas nicht Greifbarem wie Nebel seine Niederlage eingestehen zu müssen. Irgendwo in dem Meer vor ihm lagen die Orkney-Inseln, und er hatte die feste Absicht, sie bald wiederzusehen.
Die Reise von Konstantinopel hierher war lang gewesen, doch ereignislos. Den größten Teil des Weges hatten sie nicht nur die Gesellschaft von König Magnus' Flotte genossen, sondern auch die ve-netianischer und genuesischer Schiffe. Nun, da das Heilige Land erobert war, waren die Händlerfürsten eifrig bemüht, Kontakte zu den neuen lateinischen Königreichen zu knüpfen. Ihre mit Waren beladenen Schiffe pflügten bereits in großer Zahl durch das Meer von Mittelerde.
Um möglichst viele Männer dafür zu gewinnen, ihm dabei zu helfen, die Schätze des Ostens wegzutragen, hatte Magnus Graf Bo-hemund in Konstantinopel um Urlaub gebeten und geschworen, sofort zurückzukehren, sobald er seine Angelegenheiten erledigt und weitere Schiffe aufgetrieben hätte. Dann segelte er auf direktestem Kurs nach Westen und Norden, stets hart am Wind - wofür ihm Murdo sehr dankbar war und was Gorm davor bewahrte, ständig von seinem ungeduldigen Gefährten aufgefordert zu werden, mehr Fahrt zu machen.
Als sie die Küste von Caithness erreichten, ging der kühne König nahe der wichtigsten schottischen Residenz, in Thorsa, an Land. Diese >Residenz< war wenig mehr als eine armselige Fischersiedlung; dennoch gab es hier eine große königliche Halle und eine neue steinerne Kirche. Innerhalb weniger Augenblicke nach seiner Ankunft gab der König Befehl, zur Feier seiner sicheren Heimkehr ein Festmahl auszurichten. Während die Bierfässer vor der Halle gestapelt wurden, rief er Murdo zu sich und bat den jungen Mann zu bleiben.
»Ich werde dich zu einem meiner Gefolgsleute machen«, bot ihm Magnus an. »Gemeinsam könnten wir im Heiligen Land noch viel Beute machen.«
»Mein Platz ist hier, und hier werde ich auch bleiben. Aber falls ich jemals nach Jerusalem zurückkehren sollte, dann werde ich die Reise mit niemand anderem unternehmen als mit Euch«, erklärte Murdo. »Trotz unseres Streits hat mich nie ein Herr auch nur halb so gut behandelt wie Ihr, König Magnus. Dafür bin ich Euch dankbar, und Euch zu Ehren werde ich einen Schrein errichten, sobald ich mich auf meinem neuen Land eingerichtet habe.«
»Was das betrifft«, erwiderte der König, »komm zu mir, wenn du bereit bist, und wir werden die Grenzen deines Reiches festlegen.«
»Das werde ich, Herr«, entgegnete Murdo.
Eine Nacht verbrachte er auf festem Land, und am nächsten Morgen setzte er seinen Weg zu den Dunklen Inseln fort, nachdem es ihm gelungen war, Jon Reißzahn zu überreden, ihn dorthin zu bringen - allerdings hatte er dem großen Nordmann eine entsprechende Belohnung versprechen müssen, wenn sie Hrolfsey so rasch wie möglich erreichten.
Der Sonnenaufgang war noch weit entfernt, als Ronan, Fionn und Emlyn zum Strand kamen, um Murdo zu verabschieden. »Der König wird bis zum Mittsommer hierbleiben, um Männer anzuheuern und Vorräte zu besorgen«, berichtete ihm der älteste der Priester. »Dann plant er, nach Norwegen zu gehen und das gleiche zu tun. Er hofft, noch vor dem Winter wieder nach Jerusalem aufbrechen zu können, und wenn Gott es nicht anders will, werden wir ihn begleiten.«
»Ich komme zurück, sobald ich kann«, versprach ihnen Murdo.
»Tu das«, erwiderte der Mönch. »Ich würde dich noch gerne auf deinem neuen Land sehen, bevor wir aufbrechen.«
»Je schneller wir uns auf den Weg machen«, sagte Jon Reißzahn und ging zum Boot, »desto schneller können wir auch wieder zu-rückkehren.« Dann rief er seinem Steuermann zu: »Gorm! Bereite das Segel vor!«
»Jetzt müssen wir uns also voneinander verabschieden, Murdo. Wir beten, daß du rasch und sicher wieder zurückkehren wirst.« Ronan hob die Hand zum Segen. »Möge dich der Herr des Lebens beschützen, bis wir uns wiedersehen.«
Murdo dankte den Priestern und fügte hinzu: »Laßt mir etwas Bier übrig. Wenn ich zurückkehre, werden wir einen Krug miteinander trinken.«
In diesem Augenblick rief Jon Reißzahn nach ihm, und Murdo wünschte den Priestern Lebewohl und drehte sich zum Schiff um -doch nur, um plötzlich wieder Emlyn an seiner Seite zu finden.
»Warum Lebewohl?« fragte der Mönch. »Soll ich dich etwa nicht begleiten? Wie willst du denn den Rückweg finden, wenn ich ihn dir nicht zeige?«
Murdo lächelte und nahm das Angebot des Priesters an. Jon Reißzahn klatschte laut in die Hände. »Alle Mann an Bord, oder bleibt, wo ihr seid!« brüllte er und beugte sich über die Reling zu dem Mann, der am Ufer stand. »Du da! Stoß uns ab!«
Das Schiff schwankte seltsam, und Murdo hörte, wie der Kiel sich an einem Stein verkeilte. »Schieeebt!« rief Jon Reißzahn den Männern am Ufer zu. »Schiebt doch!«
Die Männer stöhnten, und plötzlich löste sich der Stein, und das Schiff glitt in tieferes Wasser. »An die Riemen!« befahl Gorm vom Ruder. Murdo, Emlyn und die drei Seemänner hoben die langen Ruder aus den Halterungen an der Reling und begannen zu rudern. Innerhalb weniger Augenblicke schnitt der Drachenbug durch die dunklen Wasser der Bucht.
Nachdem sie die schützende Landzunge umrundet hatten, wendete das Schiff nach Norden, hinaus aufs offene Meer. Auf Gorms Befehl hin wurde das Segel gesetzt; die Ruderer zogen die Riemen ein, und die Skidbladnir begann ihre Reise zu den Dunklen Inseln.
Der Tag begann trübe: Ein dichter Nebelschleier lag auf dem Wasser, und schwere graue Wolken zogen über den Himmel. Den ganzen Morgen über stand Murdo am Bug und suchte in den wabernden Nebelschwaden nach ersten Zeichen seines Heimatlandes. Seine Wachsamkeit wurde belohnt, als kurz nach Mittag die Sonne den Nebel durchbrach. Die plötzliche Wärme vertrieb die grauen Schwaden, und unvermittelt blickte Murdo auf die flachen, gerundeten Hügel der Orkneys.
Murdo glaubte die sanfte Erhebung der Landspitze von Dyrness erkennen zu können und dahinter, blaßblau in der Ferne, die steileren Hügel von Hrolfsey. Murdos Herz schlug immer schneller, und schließlich gestattete er sich, darüber nachzudenken, welche Begrüßung ihn wohl bei seiner Heimkehr erwartete. Ihn überkam eine Sehnsucht, die er in all den Monaten auf See immer und immer wieder unterdrückt hatte. Nun jedoch, da seine Heimat in Sichtweite war und die Reise sich rasch ihrem Ende näherte, konnte er die Flut der Bilder nicht länger zurückhalten, die in seinen Geist drängte: Ragna mit ihrem langen Haar, das golden in der Sonne schimmerte, die Arme zum Willkommen ausgebreitet; seine Mutter, die trotz ihrer Tränen freudig lächelte und ihm entgegeneilte, um ihn zu umarmen; Frau Ragnhild, die den zukünftigen Gatten ihrer Tochter voller Zuneigung empfing.
Oh, aber es standen ihm auch weniger glückliche Momente bevor. Es war seine traurige Pflicht, den Frauen zu berichten, daß ihre Männer und Söhne nie wieder nach Hause zurückkehren würden.
Auf Murdos Anweisung hin steuerte Gorm die Skidbladnir auf einem direkten Kurs nach Hrolfsey, wozu er die Landspitze von Dyr-ness umrunden und rasch an der zerklüfteten Ostküste entlangsegeln mußte. Murdo stand neben dem Steuermann und führte ihn anhand alter, vertrauter Landmarken durch die enge Straße zwischen der Hauptinsel und den anderen, weit kleineren Eilanden. Aus der Ferne konnte er Kirkjuvagr erkennen, das ihm nach den schillernden Städten des Ostens klein und farblos erschien. Das schlanke Schiff trug sie jedoch rasch weiter, und bald kam Hrolfsey in Sicht.
Die Sonne stand bereits tief im Westen, als sie schließlich in die tiefen Wasser der Bucht unterhalb von Cnoc Carrach einfuhren. Mur-do deutete auf das Haus und bemerkte, daß auf der Insel alles ruhig und geordnet zu sein schien. Er wäre schon jetzt und hier vom Schiff gesprungen, doch Jon Reißzahn mahnte ihn zur Vorsicht.
»Inzwischen sind zwei Jahre vergangen«, sagte der große Nordmann. »Vielleicht haben sich die Dinge ein wenig verändert. Es wäre klug, sie wissen zu lassen, daß du kommst, anstatt einfach so hereinzuplatzen.«
»Verändert?« fragte Murdo verblüfft, als hätte er das Wort noch nie gehört. »Sie warten auf mich.«
»Vielleicht tun sie das«, gestand ihm Jon weise zu, »aber vielleicht sind sie auch mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Mit was für anderen Dingen?« Murdo starrte den Nordmann an, als hätte er den Verstand verloren.
»Zwei Jahre sind eine lange Zeit«, klärte ihn Jon auf und zuckte mit den Schultern.
»Er hat recht«, mischte sich Emlyn ein. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich vorausgehen würde.«
»Dann müßtest du mich aber erst einholen«, erwiderte Murdo, sprang über die Reling, watete so rasch er konnte ans Ufer und eilte den Pfad zum Haus hinauf, als seien sämtliche Seldschuken des Heiligen Landes hinter ihm her. Jon Reißzahn blickte ihm nach und schüttelte den Kopf. »Er ist verdammt stur.«
»Er ist jung«, korrigierte ihn Emlyn. »Komm. Laß uns gehen, und uns dem Willkommen anschließen. Wir sollten beten, daß alles so ist, wie er es erwartet.«
»Du betest«, schlug der Seemann vor und zog einen Speer aus seinem Bündel. »Ich nehme den hier - nur für den Fall, daß das Willkommen anders ausfallen sollte.«
Murdo hörte Jon Reißzahn rufen, als er den Hof betrat, doch er weigerte sich zu warten, bis der Nordmann ihn eingeholt hatte. Er schritt auf das Haus zu und rief mit lauter Stimme: »Ragna! Niamh! Ich bin zurückgekehrt!« Er blieb stehen, und als sein Rufen keinerlei
Wirkung zeigte, rief er erneut, diesmal sogar noch lauter: »Ragna! Niamh! Ich bin es! Murdo! Ich bin zurückgekehrt!«
Er erhielt keine Antwort, also ging er zum Haus.
»Warte!« rief Jon Reißzahn und holte ihn keuchend ein. Er blickte zum Haus und über den leeren Hof. »Ist niemand hier?«
»Vermutlich haben sie alle drinnen zu tun«, versuchte sich Mur-do einzureden.
Sie gingen zur Tür. Sie war verriegelt. Murdo stand auf der Schwelle und rief erneut. Dann hämmerte er mit der flachen Hand aufs Holz - keine Antwort.
»Für so ein großes Gut ist es hier sehr ruhig«, bemerkte Jon.
»Vielleicht sind sie auf den Markt gegangen«, erklärte Murdo zuversichtlich, doch er runzelte die Stirn. »Oder vielleicht sind sie auf den Feldern.«
»Alle?« Der Nordmann schüttelte den Kopf. »Die Sonne ist schon lange aufgegangen, und um diese Zeit müßte auf einem Hof dieser Größe reges Treiben herrschen.«
Rasch eilten sie über den Hof zur Scheune und zum Getreidespeicher, vorbei an leeren Pferchen; selbst der Schweinepferch war leer. Die Felder jedoch waren allesamt bepflanzt und gut gepflegt, und die ersten Sprößlinge steckten ihre Köpfe aus der schwarzen Erde. Aber noch immer sahen sie niemanden bei der Arbeit. Mur-do kämpfte gegen seine wachsende Verzweiflung an und machte sich auf den Weg zurück zum Haus. Sie überquerten gerade wieder den Hof, als sie jemanden niesen hörten. »Hörst du das?« Murdo blickte hierhin und dorthin. »Das kam aus der Küche.«
Murdo rannte los. Jon Reißzahn folgte wenige Schritte hinter ihm und hielt den Speer bereit. Als er das viereckige Gebäude hinter dem Haus erreichte, trat Murdo zur Tür. Jons Ruf ließ ihn stehenbleiben. »Warte!«
Murdo zögerte.
»Kommt raus!« rief Jon Reißzahn in scharfem Tonfall. »Es wird euch nichts geschehen, wenn ihr euch jetzt zeigt.«
Schweigen. Nichts rührte sich.
Murdo wollte weiter zur Tür gehen, doch Jon schüttelte den Kopf und rief: »Wir sind weder Räuber noch Plünderer! Wir wollen nur mit euch sprechen. Kommt heraus, und beantwortet uns unsere Fragen, dann machen wir uns wieder auf den Weg.« Er hielt kurz inne. »Aber wenn ich euch erst rausholen muß, dann mit dem Speer in der Hand.«
Nur einen Augenblick später öffnete sich knarrend die Tür, und ein kleines, faltiges Gesicht erschien in der kleinen Öffnung. »Bitte, wir wollen keinen Ärger«, sagte eine zitternde Stimme. »Wir haben Angst. Geht weg. Ich habe einen Hund bei mir, also versucht ja nicht, uns auszurauben.«
»Kommt raus, damit wir euch sehen können«, befahl Jon Reißzahn mit seiner kräftigen Seemannsstimme. »Wenn ihr tut, was wir euch sagen, und wenn ihr es schnell tut, dann wird es auch keinen Ärger geben. Wir wollen niemanden ausrauben.«
Der Tür schwang ein Stück weiter auf, und eine kleine, weißhaarige, alte Frau trat ins Freie; sie war ein wenig krumm und runzelig, und Murdo war sicher, sie noch nie in seinem Leben gesehen zu haben. Ein großer grauer Hund drängte sich neben die Frau und beäugte mißtrauisch die Eindringlinge.
»Jötun!« riefMurdo. »Komm her, Jötun.«
Der Hund legte den Kopf auf die Seite, blieb aber neben der alten Frau stehen. Murdo mußte sich eingestehen, daß der Hund ihn nicht mehr erkannte. Alles hat sich verändert, dachte er, und ich selbst auch.
»So ist es besser«, sagte Jon Reißzahn zu der Frau und nahm den Speer herunter. »Nun, Mütterchen, wer ist sonst noch bei dir?«
»Niemand«, antwortete die Frau, »nur mein Jarn - und der Hund hier.«
»Wer ist Jarn?« fragte der Seemann. »Wir haben ihn nicht gesehen. Wo ist er?«
Die Frau deutete auf die Felder und antwortete: »Ich nehme an, er ist bei den Kühen. Um diese Zeit ist er immer bei den Kühen.«
»Wir haben aber keine Kühe gesehen«, erklärte Jon in sanftem Tonfall.
»Wo sind die anderen alle?« verlangte Murdo zu wissen und trat mit geballten Fäusten vor. »Die Menschen, die hier gelebt haben -wo sind sie hingegangen? Wo ist Ragna?« Die alte Frau riß die Augen auf, wirbelte auf dem Absatz herum, huschte in die Küche zurück und warf die Tür ins Schloß.
»Vielleicht wäre es besser, wenn nur einer von uns die Fragen stellt«, schlug Jon vor.
»Du hast sie nach Kühen gefragt!« platzte es aus Murdo wütend heraus. »Was haben wir mit Kühen zu tun? Frag sie, was hier geschehen ist. Wo sind sie alle?«
»Langsam«, versuchte ihn Jon zu beruhigen. »Wir werden nicht eher verschwinden, bis wir nicht alles gehört haben, was es zu sagen gibt.« In diesem Augenblick rief eine Stimme über den Hof. »Sieh an. Bruder Emlyn ist endlich eingetroffen. Geh ihn holen, während ich versuche, der Frau etwas zu essen abzuschwatzen.« Mur-do starrte auf die Tür. »Jetzt geh, und hol den Priester, Murdo.«
Widerwillig setzte sich Murdo in Bewegung, und Jon wandte seine Aufmerksamkeit der schwierigen Aufgabe zu, die Frau dazu zu überreden, ein weiteres Mal herauszukommen. Als Murdo schließlich wieder zurückkehrte, saß der Nordmann auf einem Hackblock neben der Küchentür mit einem Laib gebutterten Schwarzbrots in der Hand. »Sie macht verdammt gutes Brot«, erklärte er und kaute zufrieden. Er reichte Murdo das Brot, der ein Stück herausriß und den Rest an Emlyn weiterreichte.
»Gibt es hier auch Bier?« fragte der Mönch.
Die alte Frau erschien in eben diesem Augenblick mit einem vollen Krug in der Tür. »Seid gesegnet, gute Frau!« rief Emlyn und eilte herbei, um sie von ihrer Last zu befreien. Er hob den Krug an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck, bevor er das Gefäß an Murdo weiterreichte und das Bier für göttlich und seine Brauer zu Engeln erklärte. Dies gefiel der alten Frau, die leise kicherte. »Es ist das beste Bier, das ich seit Monaten getrunken habe«, erklärte Emlyn. »Euer Gemahl muß ein sehr glücklicher Mann sein, wenn
Ihr für ihn kocht. Oder müßt Ihr nur Euch selbst ernähren?«
»Ich wollte ihm hier gerade erzählen, daß mein Jarn und ich die einzigen sind, die übriggeblieben sind. Alle anderen sind weg: der Herr und die Frau und auch die Pächter - alle gegangen.«
»Wohin sind sie gegangen?« fragte Murdo ungeduldig.
Die alte Frau musterte ihn mißtrauisch. »Weiß ich das?« fauchte sie. »Nein, ich weiß es nicht! Man hat es mir nie gesagt. Wir sind hierhergebracht worden, um die Kühe für den Bischof...«
»Der Bischof!«
»O ja, Bischof Adalbert«, antwortete die Frau. »Gibt es hier in der Gegend noch einen anderen?«
»Aber warum.?« begann Murdo. Die alte Frau wich zurück.
Jon Reißzahn drückte Murdo den Krug in die Hand. »Füll den Krug auf, Murdo, und hör auf, die alte Frau zu behelligen.« Mur-do nahm den Krug und verschwand in der Küche. »Mein junger Freund ist ein wenig besorgt wegen seiner Mutter«, erklärte Jon. »Wir waren mit König Magnus auf Kreuzzug, wißt Ihr?«
»Und seine Mutter war hier die Herrin«, schloß die alte Frau fälschlicherweise. »Dann muß sein Vater der Herr sein. Aber ich weiß wirklich nicht, was mit ihnen geschehen ist. Man hat uns nur gesagt, dieser Besitz stehe unter der Obhut der Kirche und der Bischof wolle es vermeiden, daß die Felder brachliegen. Auch wolle er nicht, daß das Haus vernachlässigt wird.«
»Ach, tatsächlich«, bemerkte Emlyn. »Und ich bin sicher, daß das Haus bei Euch und Jarn in guten Händen ist. Aber die Felder sind doch sicherlich zu groß für Euch beide allein. Ihr müßt doch Hilfe haben.«
»Oh, o ja«, antwortete die Frau rasch. »Die Pächter kümmern sich noch immer um die Ernte.«
»Und wo sind die Pächter?« erkundigte sich Murdo und trat mit dem Krug in der Hand aus der Tür. »Sie müssen doch wissen, was hier geschehen ist; aber wir haben niemanden auf den Feldern gesehen.«
»Sie arbeiten heute auf einer anderen Insel«, antwortete die alte
Frau selbstgefällig. »Der Bischof hat jetzt viele Güter, um die er sich kümmern muß. So viele Männer sind auf den Kreuzzug gegangen und haben ihm all diese Arbeit aufgehalst, wißt Ihr? Felder müssen gepflügt werden; Vieh muß gehütet und die Ernte muß eingebracht werden - und was weiß ich noch alles.«
»Das ist wirklich eine Schande«, bemerkte der Mönch und griff erneut nach dem Krug und trank einen kräftigen Schluck. »Aaah, dieses Bier ist wirklich ein Segen und verleiht einem Mann neue Kraft!«
»Dann seid Ihr also sehr weit gereist«, sagte die alte Frau.
»Den ganzen Weg vom Heiligen Land hierher«, antwortete der Mönch.
»So weit.« Die alte Frau schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Nun, dann nehme ich an, daß Ihr diese Nacht ruhig hierbleiben könnt. Der Bischof würde Euch seine Gastfreundschaft sicherlich nicht verweigern und ich natürlich auch nicht.«
»Wir danken Euch, gute Frau«, sagte Jon Reißzahn sehr zu Murdos Verärgerung. »Es wäre gut, wieder eine Nacht auf festem Land verbringen zu können. Wir nehmen Euer freundliches Angebot gerne an.«
»Mit Freuden«, warf Emlyn ein. »Aber macht Euch bitte unseret-wegen keine Mühe. Einfache Kost für einfache Wanderer. Schinken und Schwarzbrot - mehr erwarten wir nicht.«
»Papperlapapp!« rief die alte Frau und ein Schimmer der Erregung legte sich auf ihr runzeliges Gesicht. »Wir haben Besseres als das! Dies ist das Haus des Bischofs, wißt Ihr?«
Murdo starrte finster auf die Soßenpfütze in seiner Schüssel. Trotz des Lobes, mit dem Emlyn und die hungrigen Seeleute das Essen und seinen Koch überhäuft hatten, hatte er nicht einen einzigen Bissen gegessen. Während der ganzen Zeit, da er fort gewesen war, hatte er nicht ein einziges Mal an die Möglichkeit gedacht, daß er bei seiner Rückkehr jemand anderen vorfinden würde als die Lieben, die er zurückgelassen hatte.
In den vergangenen zwei Jahren war kaum ein Tag vergangen, da er sich nicht vorgestellt hatte, vor eben diesem Herd zu sitzen. Und nun, nach so langer Zeit, war er endlich hier; doch in gewisser Hinsicht war er seinem Ziel keinen Schritt näher gekommen. Er war wütend auf sich selbst, weil er seinen Hoffnungen freien Lauf gelassen hatte; und er war wütend auf seine Gefährten, weil sie sich weigerten, sofort nach Kirkjuvagr zu fahren, den Bischof aus dem Bett zu zerren, ihm das Schwert an die Kehle zu halten und eine Erklärung von ihm zu verlangen. Doch ganz besonders war er wütend auf den verräterischen, habgierigen Bischof, der sein heiliges Amt mißbrauchte, um die Schwachen auszuplündern, und der seinen heiligen Eid gebrochen hatte, seine Herde zu beschützen. Was von beiden das schlimmere Verbrechen war, vermochte Murdo nicht zu sagen, aber er beabsichtigte, den Kirchenmann für seine Untaten zur Verantwortung zu ziehen.
Unglücklicherweise konnte die alte Frau kein Licht in die Angelegenheit bringen, ebensowenig wie Jarn, ihr Gatte. Jarn, ein ruhiger Mann, war inzwischen vom abendlichen Melken der Kühe wieder zurückgekehrt, doch obwohl er recht zuvorkommend war, wußte er nichts über Cnoc Carrach zu berichten, was seine Frau nicht schon gesagt hätte. Emlyn fand auf seine vorsichtige, unaufdringliche Art heraus, daß die beiden Pächter von Jarl Paul gewesen waren und daß sie ihr Land verloren hatten, nachdem Magnus die Oberhoheit über die Inseln seinem Sohn übertragen hatte. Als Folge davon waren Jarn und seine Frau Hanna auf die Mildtätigkeit der Kirche angewiesen gewesen, und die Männer des Bischofs hatten sie hierhergebracht, um die Kühe zu hüten und das Haus in Ordnung zu halten - mehr wußten die beiden nicht.
Während die anderen über dem Bier saßen, von ihren Reisen erzählten und soviel Informationen wie möglich aus den beiden alten Leuten herausholten, wurde Murdo zunehmend nervöser, und schließlich ging er hinaus, um nachzudenken. Im Zwielicht der Abenddämmerung wanderte er über die Klippen und blickte hinaus auf die Meerenge, die Hrolfsey von der Hauptinsel trennte. Dort -so stellte sich Murdo vor - saß in eben diesem Augenblick der verschlagene Bischof beim Abendmahl, genoß seinen gestohlenen Wohlstand und ahnte nicht im mindesten, welch fürchterlicher Sturm der Rache sich über ihm zusammenbraute.
Um Mitternacht saß Murdo auf den Felsen über der Bucht und beobachtete, wie sich das Funkeln der Sterne im ruhigen Wasser spiegelte. Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er die Männer der Skid-bladnir hören, die sich an den Strand zu einem kleinen Lagerfeuer aus Treibgut zurückgezogen hatten. Auch konnte er den Rauch riechen, der die Klippen emporstieg, doch er verspürte nicht die geringste Lust, sich zu ihnen zu gesellen. Die Einsamkeit hier oben gefiel ihm weit besser.
Er schlief wenig. Sein Herz sehnte sich nach der Morgendämmerung, wenn sie wieder Segel setzen und nach Kirkjuvagr fahren würden. Als die Sonne schließlich am Horizont erschien, stand Mur-do bereits wieder an Bord und verfluchte die Faulheit von Emlyn und Jon Reißzahn, welche die Nacht im Haus verbracht hatten, während er auf Steinen gelegen hatte.
Die beiden Männer erschienen erst auf den Klippen, als das Licht der aufgehenden Sonne bereits die ganze Bucht erfüllte. Mit steifen Gliedern stapften sie den steilen Pfad hinunter und begrüßten die Mannschaft im freundlichen Tonfall der Zufriedenen und gut Ausgeruhten. Murdo beschwerte sich über ihr spätes Erscheinen, doch Jon Reißzahn erklärte: »Wenn du kämpfen willst, dann spar dir das für den Bischof auf. Du wirst schon bald vor ihm stehen. Wie wäre es, wenn du ihn deine scharfe Zunge spüren läßt?«
Mit diesen Worten schlenderte der Seemann zur Reling, um mit Gorm zu sprechen. Nur einen Augenblick später kam der Ruf abzustoßen, und die Männer nahmen die Riemen auf. »Hab keine Angst, Murdo«, sagte Emlyn und beugte sich über das Ruder. »Wir werden schon herausfinden, was hier geschehen ist, und dann bringen wir es wieder in Ordnung. Wir haben die Unterstützung von König Magnus, vergiß das nicht. Ich bezweifele, daß dieser Bischof es sich leisten kann, den König zu verärgern.«
»Dieser Bischof ist ein elender Straßendieb«, erwiderte Murdo und zog mit aller Macht an seinem Ruder. »Er schert sich um nichts und niemanden außer um die Größe seiner Börse.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, bemerkte Emlyn. »Statt mit dem Schlimmsten zu rechnen, sollten wir lieber für das Beste beten.«
»Wenn Ragna oder meiner Mutter irgend etwas zugestoßen ist«, erklärte Murdo, »dann, schwöre ich, wird das Schlimmste für den Bischof erst der Anfang sein.«
Das Langschiff verließ die ruhige Bucht und eilte über die Meerenge zur Hauptinsel. Als sie die Mitte der Meerenge erreichten, wendete Gorm das Schiff nach Süden, um der gewundenen Küste zur weiten Bucht von Sankt Ola unterhalb Kirkjuvagrs zu folgen. Im Hafen lagen ein Dutzend oder mehr Boote verschiedener Größen, doch Gorm steuerte das Schiff mühelos durch sie hindurch zur Mole. Murdo war bereits über die Reling gesprungen und befand sich auf halbem Weg zur Kathedrale, bevor das Haltetau festgemacht war.
»Murdo! Warte!« rief Emlyn und eilte ihm hinterher. »Warte, mein Sohn! Laß uns dir helfen!«
Murdo hatte nicht die Absicht, auf irgend jemanden zu warten. Ohne sich auch nur einmal umzuschauen, rannte er den Hang hinauf zur Kathedrale, stürmte durch die kleine Pforte ins dunkle Kirchenschiff und eilte zu der Tür, die zum Kreuzgang und Kapitelhaus führte.
»Ich will den Bischof sehen«, verlangte Murdo von dem ersten Gesicht, das in dem Schlitz in der Tür erschien.
»Seine Eminenz frühstückt gerade«, antwortete der Mönch. »Vor der Prim wird er niemanden empfangen. Kommt dann wieder zurück.«
»Das ist mir egal, und wenn er am Fenster steht und seinen Winden freien Lauf läßt«, knurrte Murdo. »Ich will ihn jetzt sehen!«
»Er empfängt niemanden, bevor.«, war alles, was der Mönch noch sagen konnte, bevor Murdo ihm die Tür ins Gesicht trat. Der unglückliche Kirchenmann stieß einen Schrei aus und stürzte zu Boden.
»Ich glaube doch, daß er mich empfangen wird«, sagte der junge Mann und trat rasch durch die Lücke. Der Mönch wälzte sich am Boden, hielt sich den Kopf und stöhnte.
Murdo riß den Priester grob in die Höhe und stieß ihn in den Raum hinein. Es war noch früh, und die meisten Brüder saßen beim Frühstück; der Vorraum des Kreuzgangs war leer.
»Da wir uns nun besser verstehen«, sagte Murdo, »sag Bischof Adalbert, daß Murdo Ranulfson aus dem Heiligen Land zurückgekehrt ist. Sag dem alten Dieb, daß der Tag der Abrechnung gekommen ist.«
Der Mönch starrte seinen Angreifer schweigend und erschrocken an.
»Besser noch«, korrigierte sich Murdo und packte den Mönch am Arm. »Ich werde es ihm selbst sagen. Führe er mich in die Gemächer Seiner bischöflichen Gnaden.«
Murdo schob den widerspenstigen Mönch durch den Raum zu einer anderen Tür. »Hier durch?« fragte er.
Der Mönch nickte, weigerte sich jedoch zu sprechen. Murdo legte die Hand auf den Riegel, zog ihn zurück und stieß die Tür auf.
Der Raum, den er betrat, enthielt einen großen Tisch umgeben von sechs prächtigen Stühlen, die jeder für sich an den Thron eines Königs erinnerten; der Tisch war mit einer goldenen Decke bedeckt, und auf den Stühlen lagen Kissen aus dem gleichen Stoff. Silberne Kerzenleuchter glitzerten in den dunklen Ecken des Raums, und hier und da funkelten Edelsteine und wertvolle Metalle in der Dunkelheit. Bischof Adalbert jedoch war nirgends zu sehen.
Murdo verstärkte seinen Griff um den Arm des Mönchs. »Wo ist er?«
Der Mönch zuckte unwillkürlich zusammen und deutete auf eine hölzerne Treppe am anderen Ende des Raums. »Zeig es mir«, befahl ihm Murdo und stieß den Priester vor sich her. Sie stiegen die hölzernen Stufen empor in einen kleinen Raum mit zwei schmalen Fenstern, die mit rot und gelb gefärbtem Glas verschlossen waren, wodurch der Raum in ein rosafarbenes Licht getaucht wurde. Auf einem mit Pergamenten bedeckten Tisch standen in der Mitte Feder und Tinte, und an der den Fenstern gegenüber liegenden Wand stand ein großes, mit Vorhängen verhängtes Bett.
Murdo hatte den Raum mit zwei Schritten durchquert und zog die Vorhänge beiseite. Adalbert riß die Augen auf und stieß einen leisen, erstaunten Schrei aus, als Murdo ihn am Arm packte und aus dem Bett zerrte. Mit einem Grunzen landete der Bischof auf allen vieren.
»Steh auf!« befahl ihm Murdo und packte erneut den Arm des Bischofs, um ihn in die Höhe zu reißen.
»Laß mich los!« verlangte der Bischof. Es gelang ihm, einen Teil seines üblichen, würdevollen Dekorums zu bewahren, und langsam richtete er sich in seinem Nachtgewand auf. »Wer bist du?« verlangte er zu wissen. »Wie kannst du es wagen, einen Kirchenfürsten auf heiligem Boden anzugreifen?«
»Ich glaube, Ihr kennt mich, mein Herr Bischof.« Murdo trat einen Schritt vor und starrte dem Kirchenmann in die Augen.
»Ich habe dich noch nie im Leben gesehen«, erklärte Adalbert steif.
Murdo versetzte dem Mann eine schallende Ohrfeige. »Ich habe keine Zeit für Eure Lügen«, zischte er.
»Was willst du von mir?« fragte der Bischof und preßte die Hand auf die Wange.
»Frau Ragnhild und ihre Tochter Ragna - wo sind sie?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Erneut schoß Murdos Hand vor und traf den Kirchenmann mitten ins Gesicht. »Denkt gut nach, bevor Ihr das nächste Mal antwortet«, warnte er.
Adalbert streckte die Hand nach dem verängstigten Mönch aus, der an der Treppe kauerte, und flehte: »Bruder, hol Hilfe! Rasch! Ich will, daß man diesen Verbrecher augenblicklich ergreift.«
»Bleib, wo du bist«, knurrte Murdo. Der Mönch blieb, wo er war. An den Bischof gewandt wiederholte Murdo: »Frau Ragnhild und ihre Tochter - wo?«
»Auch wenn ich mich wiederhole, ich weiß nicht, wovon du sprichst«, erwiderte der Bischof trotzig. »Man hat dich getäuscht, wenn du glaubst.«
Erneut traf Murdos Hand ihn an der Wange, diesmal jedoch härter.
Der kräftige Schlag erzeugte ein ängstliches Funkeln in den Augen des Kirchenmannes. »Warum tust du das?«
Der verängstigte Mönch nutzte die Gelegenheit, um zu fliehen und Hilfe zu holen. Eilig rannte er die Treppe hinab. Murdo packte erneut den Arm des Bischofs und hob warnend den Finger. »Ich frage Euch jetzt zum letztenmal: Was habt Ihr mit Frau Ragnhild und ihrer Tochter gemacht?«
»Alle Schäflein dieser Inseln unterstehen meinem Schutz. Es ist schwer zu sagen, was.«
Murdo hob die Hand weit höher als zuvor, um seinem Opfer Gelegenheit zu geben, den Schlag kommen zu sehen.
»Nein! Warte!« rief Adalbert rasch. »Frau Ragnhild und ihre Tochter! Natürlich! Jetzt erinnere ich mich!«
»Wo sind sie?«
»Frau Ragnhild ist tot«, erklärte ihm der Bischof unverblümt. »Fieber, glaube ich. Über die anderen weiß ich nichts.«
Murdo starrte den schmierigen Kirchenmann mit hartem Blick an und beschloß, daß der Mann die Wahrheit gesagt hatte. »Ihre Tochter und die anderen - Frau Niamh, die bei ihr gelebt hat -, was ist mit ihnen geschehen?« fragte er, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete.
»Soll ich etwa die Verantwortung für jedes zügellose Weib auf diesen Inseln übernehmen?« schnaufte der Bischof. »Du bist wahnsinnig.«
Der Schlag traf den Bischof mitten auf den Mund und warf ihn zurück. Blut floß aus Adalberts geplatzter Lippe das Kinn hinunter. Beim Anblick seines eigenen Blutes begann der Kirchenmann zu wimmern.
»Die Frau, von der du sprichst, ist meine Mutter, Schwein.« Mur-do hob erneut den Arm. »Muß ich dich etwa noch einmal fragen?«
»Nein! Nein!« Der erschrockene Kirchenmann hob schützend die Hände vors Gesicht. »Der Konvent. Alle Frauen, die man aufgegriffen hat, hat man in den Konvent gebracht. Ich kann dir sagen, wo er ist.«
»Ich habe eine bessere Idee«, erwiderte Murdo. Er ging zur Treppe und schleifte den Bischof hinter sich her. »Du wirst mir zeigen, wo er ist, Ratte.«
Aus dem Raum am Fuß der Treppe hallte plötzlich Lärm herauf, und Schritte waren auf der Treppe zu hören.
»Die Erlösung ist nahe«, bemerkte Adalbert mit selbstgefälligem Lächeln. »Ich werde nirgendwo mit dir hingehen. Du wirst dir im Gegenteil schon bald wünschen, niemals ein solches Verbrechen gegen die Kirche begangen zu haben.«
Murdo drehte sich um, um sich dem ersten Handlanger des Bischofs zu stellen. Es waren jedoch Jon Reißzahns Kopf und Schultern, die in der Öffnung erschienen. »Sie kommen, Murdo.« Er deutete auf den Bischof und fragte: »Hat er dir irgendwas gesagt?«
»Ein wenig, aber nicht alles.«
»Dann bring ihn runter. Wir werden sie aufhalten.«
Der Nordmann verschwand sofort wieder, und Murdo verstärkte seinen Griff um den Arm des halsstarrigen Kirchenmannes. »Beweg dich!«
»Es gibt keinen Grund.«
»Beweg dich!« schrie Murdo und riß seinen Gefangenen zur Treppe.
»So kann ich doch nicht gehen. Ich bin unbekleidet. Ich muß zumindest meinen Umhang anziehen - und Schuhe.« Er drehte sich um und versuchte, wieder zurückzuschleichen. »So kann ich mich doch nicht sehen lassen; das ist würdelos.«
»Wir werden uns schon um deine Würde kümmern«, erwiderte Murdo, drückte Adalbert die Hand in den Rücken und zwang ihn die Treppe hinunter. »Dasselbe Maß an >Würde<, das du anderen gewährt hast, soll auch dir gewährt werden.«
Als er den Raum am Fuß der Treppe erreichte, stieß Murdo den widerspenstigen Kirchenmann zur Tür des Vorraums, wo Jon Reißzahn mit dem Speer in der Hand auf ihn wartete. »Beeil dich! Da kommt jemand.«
Sie rannten zur Außentür und zerrten den Bischof hinter sich her. Gerade als sie den Kreuzgang erreichten, öffnete sich die Tür gegenüber den Gemächern des Bischofs, und eine Stimme schrie: »Ihr da! Bleibt sofort stehen!«
Murdo warf einen Blick zurück und sah Abt Gerardus auf sie zueilen. Kurz betrachtete er den widerwärtigen Priester, dann sagte er zu Jon Reißzahn: »Nimm ihn auch mit.«
Der Nordmann wirbelte herum und hob gleichzeitig den Speer. Gerardus, die Stimme noch immer laut erhoben, sah den Speer und schloß den Mund.
Murdo steckte den Kopf zur Tür hinaus und spähte in den Kreuzgang. Emlyn stand dort bei einer Gruppe Mönche; dem gebannten Gesichtsausdruck der Männer nach zu urteilen, erklärte er ihnen gerade etwas. »Kommt mit, und haltet den Mund«, sagte Mur-do und zerrte den Bischof ins Freie; Jon Reißzahn folgte mit dem Abt, und die vier machten sich auf den Weg durch den Kreuzgang zum Sanktuarium.
Dort angekommen, eilten sie durchs Kirchenschiff zu den großen Flügeltüren, welche die Brüder gerade für den Tag öffneten. Mur-do dankte den verwirrten Mönchen und schob die Tür noch ein Stück weiter auf. Jon Reißzahn stieß die beiden Priester durch die Lücke hindurch, und gemeinsam liefen sie zum Hafen hinunter.
Nachdem sie die Kirche verlassen hatten, blieb der Bischof plötzlich stehen. »Tötet mich, wenn ihr wollt. Ich tue keinen Schritt mehr.«
Mit zwei Schritten stand Jon Reißzahn unmittelbar vor Adalbert. Er reichte Murdo den Speer und sagte: »Nimm das, und geh voraus. Wir sind direkt hinter dir.«
Murdo stieß den Abt mit dem stumpfen Ende des Speers in die Rippen, und nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, drehte Jon Reißzahn sich zu dem Kirchenmann um und sagte: »Wenn Ihr gestattet, mein Herr Bischof.« Er bückte sich, packte Adalbert an den Knien und warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack Mehl.
Auf diese Art eilten die vier Männer durch die Stadt - übrigens sehr zur Belustigung der braven Bürger, die ihren morgendlichen Geschäften nachgingen. Der Bischof wehrte sich zaghaft, rief nach Hilfe und flehte den Nordmann an, ihn herunterzulassen. Als sie den Hafen erreichten, warf Murdo einen Blick zurück, denn er erwartete, eine Heerschar von Mönchen aus der Kathedrale strömen zu sehen. Zu seiner Überraschung sah er jedoch nur Emlyn, der auf seinen kurzen Beinen zum Hafen hinunterrannte.
»Schaff ihn an Bord«, forderte Murdo den Nordmann auf, der daraufhin mit dem nahezu hysterischen Bischof auf der Schulter auf die Mole stieg.
»Du wirst nichts dadurch gewinnen«, schnaufte der Abt neben Mur-do. »Du machst nur noch alles schlimmer für dich. Laß uns gehen, und wir werden darüber nachdenken, dir deine Sünden zu vergeben.«
»Meine Sünden sind bereits so groß, daß ich ruhig noch ein paar mehr für eine gute Sache auf mich laden kann.« Murdo stieß den Abt erneut zwischen die Rippen. »Beweg dich. Wir haben guten Wind, und es wäre eine Schande, wenn wir ihn nicht nutzen würden.«
So schob Murdo auch den Abt an Bord und drehte sich schließlich wieder um, um auf Emlyn zu warten. Kurz darauf hatte auch der Mönch das Schiff erreicht; er keuchte und schwitzte aus allen Poren. »Ich halte es für das Beste, wenn wir so rasch wie möglich ablegen.«
»Was hast du ihnen gesagt?« fragte Murdo und half Emlyn über die Reling.
»Die Wahrheit«, schnaufte der Mönch. »Ich habe gesagt, wir kämen von König Magnus und hätten eine dringende Angelegenheit mit dem Bischof zu erledigen. Das hat sie zumindest für den Augenblick zufriedengestellt; aber wenn wir noch länger hierbleiben, dann fürchte ich, werden sie neugierig und sehen nach, was geschehen ist.«
Schließlich gesellten sie sich zu den anderen auf Deck. Abt und Bischof standen beieinander und funkelten ihre Entführer zornig an. Beim Anblick von Emlyn spie der Abt aus. »Ich hätte mir denken können, daß die Cele De hinter all dem stecken.« Er sprach den Namen aus, als sei es die schlimmste Beleidigung, die er kannte. »Häretiker und Gotteslästerer bis zum letzten Mann.«
Das stumpfe Ende des Speers traf den Abt am Kinn und warf in aufs Deck, wo er sich vor Schmerzen wand. »Verzeiht mir, Herr Abt«, sagte Murdo und wedelte mit dem Speer. »Es scheint, als sei das Schlagen von Kirchenmännern für mich inzwischen zu einer bedauernswerten Gewohnheit geworden.«
Gerardus funkelte ihn an. »Du wagst es, deine Hand gegen mich zu erheben?« keuchte er und zitterte vor Zorn.
»Vielleicht habe ich mittlerweile nur die unbedarfte Toleranz der Jugend verloren«, erwiderte Murdo in gelassenem Tonfall, »aber ich werde meine Hand gegen jeden erheben, der einen guten Mann beleidigt. Die Cele De haben mir stets Freundlichkeit und Respekt erwiesen, und ich werde nicht tatenlos zuhören, wenn ihre Güte von Leuten wie dir in Frage gestellt wird.«
Der Abt saß auf dem Deck und rieb sich das Kinn; klugerweise hüllte er sich in Schweigen. An Jon Reißzahn gewandt, sagte Mur-do: »Unsere Gäste haben es sich bequem gemacht; wir können losfahren.«
Auf Murdos Wort hin gab Jon Reißzahn den Befehl abzulegen. Gorm und drei weitere Männer lösten die Haltetaue, und nur einen Augenblick später glitt die Skidbladnir an der Mole entlang in die Bucht hinaus.
»Wohin bringt ihr uns?« verlangte der Bischof zu wissen.
»Das müßt ihr uns sagen«, antwortete Murdo. »Wo ist der Konvent?«
Adalbert wurde aggressiv. Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust und knurrte: »König Magnus wird davon erfahren!«
»He, he!« rief Jon Reißzahn fröhlich. »Und ob er davon hören wird, denn ich werde es ihm selbst sagen. Und ich werde ihm auch von all den Höfen und Gütern berichten, die du den Familien der Kreuzfahrer gestohlen hast, während die Männer auf Pilgerfahrt waren.«
»Ich habe nichts Falsches getan«, erklärte der Bischof entrüstet. »Diese Güter sind freiwillig meiner Obhut übergeben worden.«
»Herrn Brusis Länder standen unter der Obhut seiner Frau und Tochter«, widersprach ihm Murdo. »Meine Mutter war bei ihnen.«
»Ich weiß nichts von deiner Mutter«, beharrte der Bischof.
»Oh, du wirst dich noch an Herrn Ranulfs Gemahlin erinnern, oder?« erwiderte Murdo.
Der Bischof starrte ihn einen Augenblick lang an, dann verschwand der trotzige Ausdruck von seinem Gesicht. »Der junge Ranulfson«, seufzte er, als erinnere er sich plötzlich an ein altes, schmerzvolles Ärgernis. »Ich habe gehört, daß du deinem Vater auf den Kreuzzug gefolgt bist.«
»Das bin ich«, bestätigte Murdo, »und ich will dir die Wahrheit sagen: Es macht mich krank zu sehen, was du getan hast. Während andere in Christi Namen gestorben sind, konntest du es noch nicht einmal abwarten, bis ihre Leichen kalt geworden waren, bevor du über ihren Besitz hergefallen bist.« Der junge Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blickte dem diebischen Bischof in die Augen. »Deine Tage des Raubens und des Verrats sind vorüber, Priester. Murdo Ranulfson ist zurückgekehrt, und jetzt führe uns zu diesem Konvent.«
»Das werde ich nicht«, erklärte Adalbert widerspenstig.
»Das wirst du doch«, erwiderte Murdo. »Und, mein Herr Bischof«, warnte er im Flüsterton, »ich schlage vor, Ihr sprecht ein stilles Gebet, daß wir die beiden Frauen gesund und glücklich vorfinden.«
»Ich werde einwilligen, euch zu dem Konvent zu führen«, erklärte der intrigante Kirchenmann, »aber für alles Übel, das die Unvorsichtigen befällt, kann ich wohl kaum verantwortlich gemacht werden. Das ist die Sache des Allmächtigen, nicht meine.«
»Diese Güter unterstanden deiner Obhut«, entgegnete Murdo. »Deshalb ist es deine Sache. Auf jeden Fall werde ich dich zur Verantwortung ziehen.«
»Du übernimmst dich; Gott ist mein Richter, nicht du.«
»Dann werden wir dich zu deinem Richter schicken«, sagte Mur-do in sanftem, festen Tonfall und brachte sein Gesicht unmittelbar vor das des habgierigen Kirchenmannes, »und wir werden ihn entscheiden lassen, ob ich einen unschuldigen Mann getötet habe.«
urdo und Emlyn blieben vor dem Tor stehen. Der Mönch leg-Kte dem jungen Mann die Hand auf den Arm. »Erlaube mir, dir in dieser Sache zu helfen«, bat er sanft. »Ich werde hineingehen, mit der Äbtissin sprechen und dir dann Bescheid geben.«
Murdo blickte auf das große Holztor. »Ich bin nicht so weit gekommen, nur um mich jetzt abzuwenden. Ich muß das durchstehen.«
»Wie du willst.« Emlyn trat zu der kleinen Pforte im Tor, hob den Klopfring und schlug ihn mit dumpfem Knall gegen das Holz. Nur einen Augenblick später öffnete sich ein schmaler Sehschlitz zwischen den Balken, und ein fülliges, freundliches Gesicht erschien. »Guten Tag, Schwester. Ich bin Bruder Emlyn aus der Abtei Sankt Aidan, und dies hier ist Herr Murdo Ranulfson.«
»Auch Euch einen guten Tag, Bruder, und Euch beiden Gottes Segen«, antwortete die alte Frau. »Wie kann ich Euch dienen?«
»Wir wollen.«, platzte Murdo heraus.
Emlyn fiel ihm rasch ins Wort. »Wir sind gekommen, um uns nach der Äbtissin zu erkundigen. Ich hoffe, es geht ihr gut.«
»Es geht ihr in der Tat gut«, antwortete die Nonne. »Wenn Ihr bitte einen Augenblick warten würdet.« Der Sehschlitz schloß sich wieder, und sie hörten ein Kratzen hinter der Tür, als der Riegel wieder vorgeschoben wurde.
»Warum hast du das getan?« verlangte Murdo zu wissen. »Wir sind hier, um meine Mutter und Ragna zu finden, oder etwa nicht?«
»Geduld«, tadelte ihn der Mönch. »Alles zu seiner Zeit. Es ist besser, mit Anstand und Umsicht vorzugehen, wenn wir erwarten, hier Hilfe zu bekommen. Auch glaube ich, daß wir uns zunächst auf deine Mutter beschränken sollten. Frau Ragna sollten wir vorerst nicht erwähnen.«
»Warum?« Die Worte des Mönchs ergaben keinen Sinn für Mur-do.
»Wir wissen nicht, was der Bischof der Äbtissin gesagt hat, als die Frauen hierhergebracht worden sind; aber ich gehe davon aus, daß es zumindest nicht die Wahrheit war. Daher rate ich zur Vorsicht, bis wir wissen, wie die Dinge stehen.«
Murdo nickte und trat mit dem Stiefel in die Erde vor dem Tor. Kurz darauf knarrte die kleine Tür und schwang auf.
»Ich bin überrascht, daß die Türen des Konvents geschlossen sind. Sind sie den ganzen Tag über verriegelt?« fragte Murdo.
»Leider ja, Bruder«, antwortete die Nonne. »Wir sind Gefangene in unserem eigenen Kloster, denn es hat in diesem Jahr bereits viele Überfälle gegeben. Vergangenen Sommer hat man uns dreimal sogar direkt angegriffen. Das liegt daran, daß sich die meisten der Herren und Ritter auf Pilgerfahrt befinden, wißt Ihr? Die Seewöl-fe wissen, daß sie uns ohne Schutz leicht ausplündern können.« Sie lächelte, und Lachfalten umrahmten ihren alten, freundlichen Mund. »Danke, daß Ihr gefragt habt. Bitte, tretet ein, und ich werde Euch zur Äbtissin bringen.«
Der Mönch verneigte sich knapp und trat über die Schwelle. Mur-do drehte sich noch einmal um und blickte zu dem Schiff in der Bucht unter ihm. Nicht weit entfernt konnte er die Ausfahrt des Fjords erkennen, den die Nordmänner Dalfjord nannten, und ein Stück weiter südlich zeigte Rauch die Lage von Inbhir Ness an. Schließlich drehte er sich zur Tür, atmete tief ein, straffte die Schultern und trat hindurch.
Der Konvent glich einer kleinen Siedlung, umgeben von hohen Steinmauern mit Gebäuden verschiedener Größe: eine Kirche, Obstund Gemüsegärten, Stallungen, Lager und Arbeitsräume für die Handwerker. Innerhalb der Mauern gab es fast so viele Gebäude wie außerhalb, und der Ort wirkte ungewöhnlich geschäftig. Murdo war überrascht, hier viele Männer zu sehen - einige waren Mönche, doch es gab auch Handwerker und Arbeiter; er hatte immer geglaubt, ein Konvent stünde ausschließlich Frauen offen.
»Der Konvent ist nur ein Teil der Aufgabe, die uns Gott aufgetragen hat«, erklärte Äbtissin Angharad, nachdem sie die Besucher in dem kleinen Haus neben dem Kapitel empfangen hatte. Emlyns Rat folgend bemühte sich Murdo, höfliche Konversation zu betreiben, doch alles, woran er denken konnte, waren Ragna und seine Mutter. »Ein wildes Land zu zähmen ist ein ausgesprochen anstrengendes Unterfangen. Wir schicken niemanden weg, der bereit ist, sich seinen Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts zu verdienen.«
»Und allem Anschein nach habt Ihr große Erfolge mit Eurer Arbeit«, bemerkte Emlyn. »Die Siedlung blüht, wie ich sehe. Sie wächst und gedeiht.«
»Es ist Gott, der uns gedeihen läßt, lieber Bruder«, erwiderte die Äbtissin in scharfem Ton. Mit ihrem schmalen Gesicht und der faltigen, von Sonne und Wind gegerbten Haut wirkte sie trotz ihrer Jahre ausgesprochen kraftvoll - und sie war weit hartleibiger, als Mur-do erwartet hatte. »Wenn wir gedeihen«, fuhr sie fort, als erteile sie unartigen Kindern eine Lektion, »dann nur aufgrund unseres Gehorsams. Wir streben nur danach, als Leuchtfeuer in einem dunklen, bösen Land zu scheinen.«
»Und doch«, entgegnete Emlyn in freundlichem Tonfall, »liegt auch Freude in dem Weg zu diesem Ziel, habe ich nicht recht? Gehorsam ist gut. Achtung ist besser, und Liebe ist das Beste von allem. Der Herr unser Gott ist groß in seiner Güte.«
Die dürre, alte Äbtissin betrachtete ihn mit steinerner Miene, und ihre grauen Augenbrauen zuckten. »Wie ich sehe, seid Ihr und Eure Brüder noch immer Sklaven dieser alten Täuschung. Wir werden fortfahren, für Eure Erleuchtung zu beten«, erklärte sie streng.
»So wie wir für die Eure«, erwiderte Emlyn. Sein plötzliches Lachen ließ die ernste Frau tadelnd die Augenbrauen hochziehen und die Lippen schürzen. »Verzeiht mir«, sagte Emlyn rasch, »aber mir ist gerade der Gedanke gekommen, wenn der Herr unser Gott unser beider Flehen gleichzeitig erhören würde, dann würde dies Schottland sicherlich zum meist erleuchteten Reich der Welt machen.«
Der Frohsinn des sanften Mönches ließ die Äbtissin unbeeindruckt. Sie faltete die Hände vor der Brust und sagte: »Nun denn, ich glaube nicht, daß Ihr nur hierhergekommen seid, um Euch nach dem Wohlbefinden meiner Seele zu erkundigen. Gibt es vielleicht noch einen anderen Grund für Euren Besuch?«
»Wir sind gekommen, um.«, begann Emlyn.
»Wir sind gekommen, um Frau Niamh von Dyrness zu finden«, fiel ihm Murdo ins Wort, denn seine Geduld war am Ende. »Ist sie hier? Geht es ihr gut?«
Äbtissin Angharad betrachtete ihn, als hätte er Gott gelästert. »Und wer seid Ihr, daß Ihr Euch um ihr Wohlbefinden sorgt?«
»Ich bin ihr Sohn«, antwortete Murdo und erklärte, daß er seinem Vater auf den Kreuzzug gefolgt und soeben erst zurückgekehrt sei. »Man hat uns gesagt, meine Mutter sei zusammen mit einigen anderen hierhergebracht worden. Ich bin gekommen, um sie wieder nach Hause zu holen.«
»Ich kann euch sagen, daß sie hier ist und daß es ihr gutgeht«, erwiderte die Äbtissin. »Allerdings kann es gut sein, daß sie nicht wünscht, mit Euch zurückzugehen, und ich werde sie auch nicht dazu zwingen.«
Murdo starrte die Frau an. Der Widerstand, der ihm hier entgegengebracht wurde, war so hart wie eine Wand aus Granit, und er begann allmählich zu verstehen, warum ihn Emlyn zur Vorsicht und Freundlichkeit ermahnt hatte.
»Aber sie wird mich doch sehen wollen«, erklärte Murdo. »Sicherlich hat sie die ganze Zeit auf meine Rückkehr gewartet.«
»Vielleicht«, gestand ihm die Äbtissin zu. »Vielleicht aber auch nicht. Das wird festzustellen sein.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Murdo und wurde von Augenblick zu Augenblick verwirrter und verzweifelter.
»Das ist nicht schwer zu verstehen«, erwiderte die Äbtissin und schenkte ihm ein kurzes, überlegenes Lächeln. »Frauen kommen aus vielerlei Gründen hierher. Häufig stellt eine Frau fest, daß ihr das Schicksal oder manchmal sogar ihr Körper zur Last geworden ist. Aber was auch immer der Grund sein mag, wir nehmen sie auf, bieten ihnen eine Zuflucht und beschützen sie, so gut wir können.« Sie hielt kurz inne und preßte die Lippen aufeinander. »Erwartet Ihr etwa, daß ich Euch eine meiner Schutzbefohlenen übergebe, ohne Euch zu kennen? Soweit ich weiß, könntet Ihr genau derjenige sein, vor dem sie hierhergeflohen ist.«
»Aber ich bin ihr Sohn«, entgegnete Murdo zaghaft und blickte hilfesuchend zu Emlyn.
»Es gibt auch mörderische Söhne, ebenso wie lüsterne, habgierige Ehemänner«, erwiderte die Äbtissin. »Und die Tatsache, daß Ihr in Begleitung eines Mönchs eines verrufenen Ordens hierhergekommen seid, dient Eurer Sache nicht im mindesten.«
»Schwester Äbtissin«, mischte sich Emlyn in sanftem Tonfall ein. »Eure Wachsamkeit gleicht der des heiligen Petrus; aber ich bezeuge vor Gott, daß dieser junge Mann ins Heilige Land und wieder zurückgereist ist, nur um ein schreckliches Unrecht zu bereinigen, das seiner Familie widerfahren ist. Sein Vater, Frau Niamhs Gatte, ist bei der Eroberung Jerusalems gefallen, und.«
»Jerusalem ist gewonnen?« Die Äbtissin riß erstaunt den Mund auf. »Seid Ihr sicher?«
»So sicher, wie ich weiß, daß Sonne und Sterne am Himmel stehen«, antwortete Emlyn geschickt. »Wir waren dort, und wir haben den Sieg mit unseren eigenen Augen gesehen.«
»Lob und Ehre sei dem allmächtigen Gott«, erklärte die Nonne. »Wir haben noch nichts davon gehört.«
»Verzeiht mir«, sagte Emlyn. »Ich dachte, auch hier sei die Nachricht bereits eingetroffen; ansonsten hätte ich Euch selbstverständlich sofort davon erzählt.«
»Jerusalem ist den Händen der Heiden entrissen«, seufzte die alte Äbtissin. »Christus hat am Ende doch gesiegt.«
»Um Frau Niamh eben dies zu sagen, sind wir hierhergekommen«, fuhr der Mönch fort. »Daß Jerusalem gewonnen wurde; doch der Preis war hoch. Auch ihren Gatten kostete es das Leben - traurige Neuigkeiten für die Frau, soviel steht fest. Doch wir hoffen, daß wir ihre Trauer mindern können, indem wir sie mit ihrem überlebenden Sohn wiedervereinigen.« Er legte eine Hand auf Murdos Schulter. »Wir bitten Euch nur um eine Möglichkeit, kurz mit ihr zu sprechen, und ob sie dann bleiben oder mit uns gehen will, ist ihre Entscheidung und nur ihre allein, ganz so, wie Ihr gesagt habt.«
Der beschwichtigende Tonfall des Mönchs zeitigte die beabsichtigte Wirkung. Tatsächlich wirkte seine Rede sogar so gut, daß Mur-do glaubte, die Äbtissin habe die ganze Zeit über auf eben diese Worte gewartet.
»Also gut«, erklärte Äbtissin Angharad. »Ich werde veranlassen, daß Ihr Frau Niamh sehen könnt. Bitte, wartet hier.«
Die pflichtbewußte Äbtissin eilte von dannen und überließ die beiden Besucher sich selbst. Nervös und auch ein wenig wütend, weil er wieder einmal warten mußte, ging Murdo im Zimmer auf und ab. Um ihn abzulenken, erzählte Emlyn von dem Konvent und erklärte, wie nützlich er an diesem Ort sei und daß die Schwestern
unablässig zum Wohl der Menschen arbeiteten.
Murdo winkte ihm zu schweigen, als die Äbtissin plötzlich wieder die Tür öffnete. Mit gefalteten Händen betrat sie den Raum, schürzte die Lippen und betrachtete den dicken Bruder mit offener Mißbilligung. Dann wandte sie sich an Murdo. »Frau Niamh will Euch jetzt sehen. Folgt mir, und ich werde Euch zu einem Ort führen, wo Ihr ungestört sprechen könnt.«
Die Nonne führte sie über den Hof zu einer hölzernen Tür in der Mauer. Hier blieb sie stehen und bedeutete Murdo hindurchzugehen. »Ihr habt nur ein paar Augenblicke.«
Murdo dankte der Äbtissin und trat durch die Tür. »Geh du nur«, sagte Emlyn. »Ich werde am Tor bei Jon auf dich warten.«
Murdo fand sich in einem kleinen Obstgarten wieder, der auf allen Seiten ummauert war, um die Bäume vor dem eisigen Nordwind zu schützen. Doch am heutigen Tag, mitten im Frühling, war die Luft warm und erfüllt vom Summen der Bienen, die von einer Apfelblüte zur nächsten flogen. Die Sonne schien hell, und es dauerte einen Augenblick, bis Murdo die gebückte Gestalt im Schatten der Äste bemerkte.
Die Gestalt war in eine graues, formloses Gewand gehüllt und trug den Umhang der Nonnen. Sie kniete über etwas am Boden und hatte Murdo den Rücken zugekehrt. Unsicher trat Murdo zwei Schritte auf die Gestalt zu, dann blieb er stehen. »Mutter?« fragte er mit leiser Stimme, um sie nicht zu erschrecken.
Sofort erstarrte die Gestalt.
»Mutter«, wiederholte Murdo. »Ich bin es. Murdo. Ich bin zurückgekehrt.«
Die Frau drehte den Kopf, und Murdos Herz zog sich zusammen. »Ragna?«
Die schlanke, junge Frau stand langsam auf und trat zögernd einen Schritt auf ihn zu; eine Unzahl von Gefühlen spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Dann stieß sie einen Schrei aus und stürzte in Murdos Arme. »Murdo!«
»Ragna.«, sagte er, und sein Mund fand den ihren, und seine Arme schlossen sich um sie und drückten sie so fest an sich, als wolle er sich mit dieser einen Umarmung für all die Male entschädigen, in denen er sich danach gesehnt hatte. Ragna küßte ihn wieder und wieder; Küsse regneten auf sein Gesicht herab, auf seinen Hals. Ihre Hände krallten sich in seine Arme, auf daß er nie wieder entkommen konnte, und Tränen der Freude rannen ihr die Wangen herab.
»Ragna . mein Herz . oh, wie ich dich vermißt habe«, sagte Mur-do und drückte sein Gesicht an ihren Hals. »Ich bin hier. Ich bin zu Hause.«
»Meine Liebe«, flüsterte sie. »Man hat mir nicht gesagt, daß du.«
»Sie haben mir gesagt, ich solle hier meine Mutter treffen. Ich wußte ja nicht.«
»Sie ist hier und.«
»Ich bin wegen dir gekommen. Wir werden diesen Ort sofort verlassen. Wir werden von hier fortgehen, und.«
»Schschsch!« flüsterte sie und legte ihm die Finger auf die Lippen. »Sprich nicht. Halt mich einfach fest.«
Die Augen geschlossen und die Körper aneinander gepreßt, standen sie eine Weile einfach nur da, und Murdo spürte Ragnas Wärme, und sein Herz schlug immer schneller. Er hatte das Gefühl, als hätte er die ganze Zeit über einen Eissplitter im Herzen gehabt, der nun in der Wärme von Ragnas liebevoller Umarmung schmolz. Mur-do wäre zufrieden gewesen, für immer so zu verharren, doch langsam wurde er sich einer weiteren Gestalt im Obstgarten bewußt. Er öffnete die Augen und blickte über Ragnas Schulter hinweg zu der Stelle, wo sie gekniet hatte.
Dort, im langen, grünen Gras saß ein kleines, pausbäckiges Kind und starrte ihn aus großen braunen Augen an. Als es Murdos Blick bemerkte, stieß das Kind einen beherzten Schrei aus und erregte damit Ragnas Aufmerksamkeit. Sie nahm Murdo bei der Hand, führte ihn zu dem Kind, bückte sich und hob das Kind hoch.
»Eirik«, sagte sie mit sanfter Stimme und küßte das Kind auf die runden Wangen. »Dein Vater ist nach Hause gekommen. Siehst du?
Das ist Murdo. Er ist dein Da.«
»Da!« rief das Kind und streckte eine fleischige, kleine Hand aus.
Ehrfurchtsvoll nahm Murdo die winzige Hand in die seine, und die Kraft der kleinen Finger erfüllte ihn mit Erstaunen. »Meiner?« keuchte er. »Ich habe ein Kind?«
»Unseres«, berichtigte ihn Ragna. »Ja, mein Geliebter, du hast einen Sohn. Sein Name ist Eirik.«
Murdo hob die Hand, um die hellgelben Locken des Kindes zu berühren und flüsterte ihm ins Ohr: »Mein Sohn.« Das war alles, was er herausbrachte, bevor ihm die Stimme versagte.
Er zog Ragna und das Kind zu sich heran und küßte sie beide, und so standen sie noch immer da, als er leise Schritte im Gras vernahm. Er drehte sich um und sah seine Mutter herbeieilen. »Oh, Murdo. Murdo«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Als die Äbtissin mir gesagt hat, du seist hier. Ich . ich habe gewußt, daß du zurückkehren würdest.«
Er ergriff ihre Hände und zog sie zu sich heran. »Mutter.«, sagte er und küßte sie auf die Wange.
»Willkommen daheim, Murdo, mein Herz. Ich wußte, daß du uns holen würdest.« Sie blickte zu Ragna. »Wir beide haben jeden Tag für eure sichere Rückkehr gebetet.«
»Mutter«, sagte er mit sanfter Stimme, »ich bin der einzige, der zurückgekehrt ist.« Dann berichtete er ihr von Herrn Ranulfs Tod.
Niamh verschränkte die Hände, senkte den Kopf und begann zu weinen. Murdo legte ihr den Arm um die Schulter. Nachdem die erste Welle der Trauer vorüber war, erzählte ihr Murdo: »Ich habe ihn noch gesehen, bevor er gestorben ist. Wir haben lange miteinander geredet, und er hat mir alles erzählt. Ich werde dir berichten, was er gesagt hat, aber jetzt ist nicht die Zeit dafür.«
»Ich hatte befürchtet, daß er nicht nach Hause zurückkehren würde«, sagte Frau Niamh mit zitternder Stimme. »Ich dachte, ich wäre auf das Schlimmste vorbereitet, aber.« Sie brach ab, atmete tief durch und sagte dann: »Und jetzt sag mir - ich muß es wissen -, was ist mir Torf und Skuli? Sind sie auch gefallen?«
»Nein, sie leben und sind gesund«, antwortete Murdo froh, eine bessere Nachricht übermitteln zu können. »Sie sind in die Dienste von Graf Balduin getreten - dem Bruder des neuen Herrschers von Jerusalem -, und sie haben beschlossen, im Heiligen Land zu bleiben und dort ihr Glück zu machen.«
»Und mein Vater?« fragte Ragna. Ihre Augen suchten nach einer anderen Antwort als die, die sie befürchtete. »Ist er auch tot?«