»Ich hoffe, Ihr werdet Uns die Ehre erweisen und während Eures Aufenthalts in der Stadt Unser Gast sein«, sagte Alexios.

»Ich bin Euer untertänigster Diener, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Hugo, der sein Glück noch nicht so recht fassen konnte. Nach dem katastrophalen Anfang schien die Pilgerfahrt sich doch noch zum Guten zu wenden. »Mir genügt jedoch ein bescheidenes Bett in einer nahe gelegenen Abtei, mein Herr. Meine Bedürfnisse sind schlicht.«

»Ich bitte Euch«, lockte der Kaiser freundlich. »Ihr seid ein geachteter Gast. Wir können nicht zulassen, daß Ihr alleine durch die Straßen wandert. Selbstverständlich werdet Ihr hier im Palast wohnen.«

Hugo nahm das Angebot dankbar an. »Nichts würde mir mehr gefallen, mein Herr und Kaiser.«

»Dann soll es so sein«, sagte Alexios. »Magister, führt Unseren Freund in die Gemächer, die Wir für ihn haben vorbereiten lassen. Wir erwarten ihn heute abend an Unserer Tafel, wo wir einen Becher Wein zusammen trinken werden und er Uns von seinen Abenteuern berichten kann.«

Noch immer überwältigt von der glücklichen Wendung, welche die Ereignisse genommen hatten, verneigte sich Hugo und zog sich rückwärts vom Thron zurück. Als er den verzierten Marmorschirm vor der Tür erreichte, drehte er sich um und folgte dem Magister Officiorum aus dem Thronsaal.

Nachdem er gegangen und die Tür wieder geschlossen war, trat der Drungarios tön poimön Dalassenos neben den Thron. »Kann man ihm vertrauen, Basileus?«

Alexios preßte die Fingerspitzen aufeinander und lehnte sich zurück. »Ich glaube schon, aber das wird die Zeit zeigen«, antwortete er und klopfte sich nachdenklich mit den Fingern auf die Lippen. »Auf jeden Fall wird es leichter sein, mit den anderen, die da kommen, zu verhandeln, wenn ich einen Verbündeten unter den Herren des Westens habe. Dieser hier ist harmlos, glaube ich. Er ist der Bruder des fränkischen Königs; er hat all seinen Besitz bei einem Schiffbruch verloren, und deshalb ist er in Not. Wir werden ihn uns verpflichten und sehen, ob er seine Schulden bezahlt.« Der Kaiser drehte sich zu seinem Drungarios um und fragte: »Wie viele Soldaten sind ihm geblieben?«

»Nur ein paar tausend«, antwortete Dalassenos. Der Kaiser blickte ihn streng an, und so korrigierte sich der Offizier. »Viertausend Berittene und vielleicht noch einmal halb soviel an Fußvolk. Sie dürften Konstantinopel in den nächsten drei, vier Wochen erreichen.«

»Die anderen werden bis dahin schon längst eingetroffen sein«, bemerkte Alexios bedrückt.

»Ja, Basileus«, bestätigte Dalassenos. »Unsere Petschenegen-Kundschafter haben berichtet, daß sie nur noch zehn Tagesmärsche von der Stadt entfernt sind.«

»Zehn Tage.« Alexios runzelte die Stirn. Das war nicht viel Zeit. »Nun, wir können sowieso nichts dagegen unternehmen. Wir müssen sie nehmen, wie sie kommen, und mit Gottes Hilfe werden wir schon mit ihnen fertig werden.«

Zwei Tage später, nachdem man ihm ein edles Roß aus den kaiserlichen Ställen geschenkt, ihn durchgefüttert und ihm die Reich-tümer Konstantinopels gezeigt hatte, wurde ein noch immer staunender Graf Hugo erneut vor den Thron geführt. Als er den Saal betrat, sah er den Kaiser in ein prächtiges purpurnes Gewand gehüllt und umgeben von seiner warägischen Leibwache, die Helme mit Pferdeschwänzen trug und Lanzen mit breiter Klinge.

»In Christi Namen grüßen Wir Euch, Graf Hugo«, sagte der Kaiser. »Kommt näher, mein Freund, und Wir wollen Euch sagen, was Unsere Gedanken die letzten Tage beschäftigt hat.«

»Wie es Euch gefällt, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Hugo, der von dem freundlichen und zuvorkommenden Alexios geradezu betört war. Er trat vor den Thron und wartete darauf, daß ihn sein Wohltäter mit seiner Weisheit beglücken würde, und blickte von Zeit zu Zeit auf die furchteinflößenden, riesigen Waräger, die schweigend ein paar Schritte hinter dem Thron standen.

»Wir haben über diese Pilgerfahrt nachgedacht, diesen Heiligen Kreuzzug, den der Papst verkündet hat«, begann der Kaiser. »Es scheint Uns eine schwierige Aufgabe zu sein, Männer aus so vielen verschiedenen Ländern nach Jerusalem zu bringen.«

»Das ist uns Pflicht und Freude zugleich«, erwiderte Hugo vertrauensvoll. »Als gute Christenmenschen sind wir glücklich, Gottes Befehl folgen zu dürfen.«

»Natürlich«, stimmte ihm Alexios zu, »und es ist ausgesprochen lobenswert, daß so viele dem Ruf gefolgt sind - wirklich lobenswert, ja, aber trotzdem schwierig.«

»Die Entbehrungen, die wir ertragen müssen, sind unbedeutend im Vergleich zu dem Ruhm, der uns erwartet«, bemerkte Hugo. »Was sind schon irdische Leiden verglichen mit den Schätzen des Himmels?«

»Das ist wohl wahr«, antwortete der Kaiser. »Doch Wir haben die Macht, Euch einige dieser Leiden erträglicher zu machen. Die Frage des Nachschubs, besonders an Proviant, beschäftigt alle fähigen Feldherren. Soldaten und Tiere müssen schließlich ernährt und Waffen und Gerät in gutem Zustand gehalten werden. Unsere Lager sind voll mit Getreide und Öl, Wein und Fleisch und mit noch vielem anderem mehr. Das könnten Wir den Armeen zukommen lassen, die das Reichsgebiet durchqueren.«

»Das wäre ein Segen, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Hugo, der erneut zutiefst beeindruckt von der schier unerschöpflichen Großzügigkeit des Kaisers war.

»Gut!« rief Alexios glücklich. »Wir werden Befehl geben, Versor-gungsstationen entlang der Marschroute der Armee aufzubauen. Des weiteren müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit Männer aus so vielen verschiedenen Ländern in Frieden miteinander leben und das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verlieren. So wie Wir die Last übernehmen, diese Armeen zu versorgen, werden Wir auch die Verantwortung nicht scheuen, unter ihnen für Einheit zu sorgen.« Der Kaiser blickte seinem Gast gelassen in die Augen. »Ist das nicht angemessen?«

»Vollkommen angemessen, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Hugo, ohne zu zögern. »Ihr seid ein ausgesprochen weiser Mann.«

»Welch besseren Weg gibt es, all die verschiedenen Teile dieses uneinigen Ganzen zu vereinen«, fuhr Alexios fort, »und sie an ihr gemeinsames Ziel zu erinnern, als sie unter der Führung des einen zusammenzubinden, der die Last und die Verantwortung trägt?«

Hugo hatte nicht im geringsten etwas dagegen einzuwenden und nickte zustimmend.

»Deshalb werden Wir den Kreuzfahrern vorschlagen, einen Treueid abzulegen, durch den sie die Vorherrschaft des kaiserlichen Throns anerkennen«, schloß Alexios. Er richtete seine purpurne Robe mit seinen in der Schlacht gestählten Händen und blickte gnädig auf seinen Gast herab.

»Weiß der Kaiser schon, welche Form dieser Eid annehmen soll?«

Alexios preßte die Lippen aufeinander und neigte den Kopf zur Seite, als würde er in diesem Augenblick zum erstenmal darüber nachdenken. »Ein einfacher Treueid dürfte wohl genügen«, antwortete er in sachlichem Tonfall und fügte dann zufrieden hinzu: »Ja, das reicht.«

Bevor Hugo etwas darauf erwidern konnte, fuhr der Kaiser fort: »Natürlich werden es die Edlen sein, welche die Pilgerfahrt anführen und die vom Schutz und der Hilfe des Reiches am meisten profitieren, welche diesen Eid ablegen müssen, durch den sie sich der Befehlsgewalt des kaiserlichen Throns unterwerfen.«

Graf Hugo wußte, was man nun von ihm erwartete, und er kam der Aufforderung mit Freuden nach. »Darf ich Euch um eine Gunst bitten, mein Herr und Kaiser? Ich würde es als große Ehre betrachten, wenn Ihr mir gestatten würdet, den Eid als erster abzulegen.«

»Wie Ihr wünscht, Graf Hugo«, erwiderte der Kaiser. »Dann sollt Ihr diesen Eid leisten.«

Murdo kannte inzwischen jede Windung des schlammigen Pfads, der vom Hafen zur Kathedrale hinaufführte. Er folgte seinen eigenen Spuren nun schon zum sechstenmal innerhalb von sechs Wochen, und jede einzelne Pfütze besaß das gleiche vertraute, langweilige Aussehen. Ein kalter Regen prasselte hernieder, während er an der Seite seiner Mutter den Pfad entlangtrottete, und der graue, wolkenverhangene Himmel entsprach genau seiner Stimmung. Fünfmal hatten sie nun schon versucht, eine Audienz beim Bischof zu erhalten; aber selbst der Abt war so sehr mit unaufschiebbaren Pflichten beschäftigt, daß er keine Minute erübrigen konnte, um sich ihr Anliegen anzuhören.

Trotzdem war Frau Niamh noch immer fest entschlossen, die Hilfe der Kirche in Anspruch zu nehmen, um ihr rechtmäßiges Hab und Gut wiederzuerlangen. Man sagte, König Magnus und sein Sohn Prinz Sigurd seien gottesfürchtige Männer, tief im Glauben verwurzelt und großzügige Förderer der Kirche. Tatsächlich hatte der Bischof sie bei zwei ihrer Besuche nicht empfangen können, weil er mit dem jungen Prinzen in Klausur gegangen war, denn dieser bestand darauf, den Katechismus mit dem Oberhirten von Orkneyjar persönlich zu studieren.

»Wir werden erst wieder gehen«, schwor Niamh zum viertenmal, seit sie losmarschiert waren, »wenn wir mit Bischof Adalbert höchstpersönlich gesprochen haben und er sich unser Anliegen angehört hat.«

Murdo antwortete nicht darauf. Er hielt den Eid für ein leeres und sinnloses Versprechen. Fünfmal waren sie schon hierhergekommen, und fünfmal waren sie gescheitert. Er wußte nicht, warum dieser Besuch anders verlaufen sollte. Seiner Meinung nach ließ sich der Bischof verleugnen. Das überraschte ihn weder, noch ärgerte es ihn sonderlich. Seit langem schon glaubte er, daß die Kirche und deren Führer der Verdammnis anheimgefallen waren. Sie bestand nur aus gierigen und kriecherischen Klerikern, die den Glauben der Menschen ausnutzten, um sie auszuplündern. Seine Mutter - das wußte er - war jedoch weder sonderlich fromm noch leichtgläubig, und deshalb weigerten sich die Kirchenmänner, sie zu empfangen. Was Murdo nicht verstand, war die Tatsache, daß Frau Niamh mit solcher Vehemenz darauf beharrte, den Bischof in den Streit mit einzubeziehen.

Der Pfad stieg noch ein letztes Mal steil an, bevor er einen anderen Weg kreuzte, der zum Kloster und zur Kathedrale führte. Die großen Tore waren geschlossen, doch die kleinere Seitentür stand offen. Murdo und seine Mutter betraten das dämmrige Vestibül und blieben kurz stehen, bis sich ihre Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten. Die großen Säulen reichten bis in die Dunkelheit unter der Decke hinauf; ihre breiten Basen wurden von flackernden Kerzen erhellt. Ein paar Mönche sangen in der Nähe des Altars, und ihre Stimmen hallten von der hohen, gewölbten Decke wider, was den Eindruck erweckte, als jammerten Engel hoch über den Köpfen der Gläubigen.

Bei ihren vorherigen Besuchen war Frau Niamh bei dem ersten Mönch vorstellig geworden, der ihnen über den Weg gelaufen war, und hatte ihn um eine Audienz beim Bischof gebeten. Jedesmal hatte man die Bitte den Regeln gemäß weitergeleitet, und die Bittsteller waren in den Kreuzgang vor dem Kapitelhaus geführt worden, wo der Bischof sich die weltlichen und geistigen Anliegen seiner Schäf-lein anzuhören pflegte. Dann hatte man sie angewiesen, dort zu warten, bis der Bischof bereit sei, sie zu empfangen.

Fünfmal hatten sie im Kreuzgang gesessen und gewartet, und fünfmal waren sie gegangen, ohne den schwer zu fassenden Kirchenmann auch nur von weitem gesehen zu haben. Die ersten drei Male war nach längerem Warten ein Mönch erschienen und hatte sie informiert, die anderen Besprechungen des Bischofs hätten unerwartet lange gedauert, und nun sei er nicht mehr in der Lage, sie noch zu empfangen, was man doch bitte entschuldigen möge. Dann hatte man sie in aller Freundlichkeit eingeladen, nächste Woche wiederzukommen; der Bischof hätte dann sicherlich Zeit für sie. Beim viertenmal hatte man sie nach erneutem langen Warten davon in Kenntnis gesetzt, daß Bischof Adalbert plötzlich in einer dringenden Angelegenheit weggerufen worden sei und daß er für mehrere Tage nicht zurückkehren würde. Dann, vergangene Woche, nachdem sie fast einen ganzen Tag lang gewartet hatten, waren sie gezwungen gewesen zu gehen, als die Glocken zur Vesper geläutet hatten und die Tore der Kathedrale für Besucher geschlossen worden waren. Diesmal hatte ihnen niemand eine Begründung dafür geliefert, warum der Bischof sie erneut nicht hatte empfangen können.

Nach jeder dieser Enttäuschungen bemerkte Murdo, wie seine Mutter ein wenig mehr von ihrer Kraft verlor. Es schmerzte ihn zu sehen, wie ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet, und er beschloß, nicht zuzulassen, daß man sie auch noch ihrer Würde beraubte. Das Warten, schloß er, diente dazu, sie zu zermürben, bis sie schließlich weich genug sein würden, um alles zu akzeptieren, was der Bischof geruhen würde, ihnen aufzutischen.

Nun, hier waren sie, zum sechstenmal, und Murdo beschloß, daß es das letzte Mal sein würde.

Wie zuvor, so wurden sie auch diesmal von einem Mönch empfangen, der sie zum Kreuzgang führte und sie bat zu warten. Der Mönch forderte sie auf, sich zu setzten und deutete auf eine Holzbank; dann drehte er sich um, öffnete eine Tür und wollte hindurchgehen. Murdo jedoch sprang eilig herbei und hielt die Tür auf. »Ich glaube, wir haben lange genug gewartet«, sagte er zu dem Mönch.

»Bitte! Bitte! Dies ist ein heiliger Ort. Ihr könnt nicht erzwingen.«

Murdo schob die Tür noch ein Stück weiter auf. »Kommst du, Mutter?«

Nachdem sie ihren Widerwillen gegen dieses Vorgehen überwunden hatte, gesellte sich Niamh zu ihrem Sohn. »Ja, ich glaube, wir haben wirklich lange genug gewartet«, sagte sie dem Mönch. An ihren Sohn gewandt flüsterte sie: »Sei vorsichtig, Murdo«, und warf ihm einen warnenden Blick zu, als sie an ihm vorüberging.

Sie betraten eine lange, dunkle Zelle. Ein einzelnes schmales Fenster hoch in der Wand ließ nur wenig Licht herein; ansonsten erhellten nur einige wenige, in unregelmäßigen Abständen verstreute Kerzen den Raum. An einem großen Tisch unter dem Fenster arbeiteten fünf oder sechs Kleriker; kurz blickten sie auf, als die Besucher den Raum betraten, doch sofort wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie waren damit beschäftigt, Federkiele zu spitzen, und für Murdo hörte es sich an wie das Kratzen von Ratten in den dunklen Ecken einer Scheune. In seinen Augen besaßen die braunge-wandeten Kleriker mit ihren stoppeligen, halbgeschorenen Köpfen und den kleinen zusammengekniffenen Augen ohnehin eine gewisse Ähnlichkeit mit Ungeziefer.

»Wo ist der Bischof?« fragte Murdo, und seine Stimme hallte laut durch den Raum. »Wir wollen ihn sprechen. Jetzt!«

Der Mönch antwortete nicht, doch sein Blick schweifte zu einer von zwei Türen am anderen Ende des Raums. »Ist er dort drin?« fragte Murdo auf halbem Weg zur Tür. Er hob den Riegel und stieß sie auf, noch bevor der Mönch ihn davon abhalten konnte. Als er den dahinterliegenden Raum betrat, sah er einen Kirchenmann hinter einem mit Schriftrollen beladenen Tisch. Der Mann war über seine Arbeit gebeugt und blickte auf, als Murdo vor ihn trat.

»Ah, der junge Ranulfson, nicht wahr?« sagte Abt Gerardus mit ruhiger Stimme. Er wirkte weder überrascht noch besorgt.

Murdo runzelte die Stirn. Der kriecherische Abt war der Letzte, mit dem er sich im Augenblick unterhalten wollte. »Wir sind gekommen, um mit dem Bischof zu sprechen«, erklärte er dem Abt kalt. »Wo ist er?«

»Wir?« fragte der Abt und lächelte selbstgefällig.

»Meine Mutter und ich.«, begann Murdo und deutete hinter sich. Den aufgebrachten Mönch auf den Fersen betrat Frau Niamh den Raum.

»Es tut mir wirklich leid, Ehrwürden. Sie wollten nicht warten, und ich.«, begann der Mönch, doch der Abt brachte ihn mit einer knappen Geste zum Schweigen.

»Macht Euch keine Sorgen, Bruder Gerald«, sagte der Abt und stand auf. »Sie sind nun einmal hier; also werde ich mich um sie kümmern.«

»Es ist der Bischof, den wir sehen wollen«, wiederholte Murdo.

»Das kommt im Augenblick etwas ungelegen«, antwortete der Abt und blickte Murdo streng an. »Wenn Ihr vielleicht eine entsprechende Anfrage stellen würdet.«

»Wir kommen nun schon seit fünf Wochen hierher!« unterbrach ihn Murdo. »Jedesmal haben wir eine entsprechende Anfrage< gestellt, und jedesmal haben wir gewartet und gewartet und mußten schließlich gehen, ohne auch nur eine Menschenseele gesehen zu haben! Diesmal jedoch werden wir den Bischof sehen. Es ist mir egal, wie >ungelegen< es im Augenblick auch sein mag!«

Dem Abt sträubten sich die Nackenhaare. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und er funkelte den jungen Mann vor ihm mit unverhohlener Verachtung an.

»Abt Gerardus«, meldete sich Frau Niamh zu Wort und trat rasch einen Schritt vor, »ich bitte Euch, das schlechte Benehmen meines Sohnes zu entschuldigen. Vor lauter Ungeduld hat er sich wohl vergessen.«

»Selbstverständlich, Frau Niamh«, sagte der Abt und verbeugte sich knapp. Sofort verwandelte er sich wieder in einen gewöhnlichen, zurückhaltenden Kirchenmann. »Ich bin Euer Diener. Wie kann ich Euch behilflich sein?«

»Es ist, wie mein Sohn gesagt hat: Wir sind gekommen, um mit dem Bischof zu sprechen, und angesichts unserer früheren vergeblichen Versuche muß ich darauf bestehen, noch heute zu ihm geführt zu werden.«

»Dann fürchte ich, werde ich Euch erneut enttäuschen müssen«, antwortete der Abt und zuckte hilflos mit den Schultern, als wolle er damit sagen, die Angelegenheit läge in den Händen eines Höheren. »Ihr müßt wissen, daß der Bischof Anweisung gegeben hat, daß man ihn heute auf keinen Fall stören darf. Vielleicht kann ich Euch statt dessen helfen.«

»Zeigt uns, wo er ist«, verlangte Murdo. »Das wird uns am meisten helfen.«

Niamh legte ihrem Sohn die Hand auf den Arm und sagte: »Ruhig, Murdo. Halte Frieden. Vielleicht wird der Herr Abt sich für uns einsetzen, wenn wir ihm erklären, worum es geht.« Sie wandte sich an den Abt und wartete auf eine Bestätigung, doch der Mann lächelte nur schwach.

Murdo wünschte sich nichts sehnlicher, als dem Abt mit der Faust die grinsende Visage einzuschlagen; aber aus Rücksicht auf seine Mutter und zum Wohle von Hrafnbu hielt er sich zurück.

»Wie Ihr sicherlich wißt«, begann Frau Niamh und trat näher an den Tisch heran, »ist die Herrschaft über die Inseln von Jarl Erlend auf Prinz Sigurd, König Magnus von Norwegens Sohn, übergegangen.«

»Natürlich«, erwiderte Abt Gerardus. »Wir sind uns des Aufruhrs nur allzu gut bewußt, den das verursacht hat. Das ist genau der Grund, warum Ihr in den vergangenen Wochen solche Schwierigkeiten hattet, eine Audienz beim Bischof zu bekommen.«

»Als Folge davon«, fuhr Niamh fort, »hat man uns unser Land abgenommen. Zwei meiner Diener sind getötet worden, und wir selbst sind nur knapp mit dem Leben davongekommen.«

Der Abt preßte die Lippen aufeinander. Nach einer Weile sagte er: »Das ist sicherlich ausgesprochen beklagenswert; doch ich weiß nicht, was die Kirche in dieser Angelegenheit unternehmen kann.«

Niamh starrte ihn verblüfft an. »Diese Ungerechtigkeit muß so rasch wie möglich aus der Welt geschafft werden«, sagte sie. »Unser Gut ist uns abgenommen und an einen Mann mit Namen Orin Breitfuß gegeben worden, an einen Edelmann, der ein Berater von Prinz Sigurd sein soll. Der Bischof muß sich beim Prinzen für unser Recht einsetzen. Er muß die Rückgabe unserer Ländereien verlangen - unter Androhung der Exkommunikation, wenn es denn nicht anders geht.«

»Ich wünschte, wir würden solche Macht besitzen, wie Ihr sie uns zugesteht«, erklärte der Abt mit aufgesetzter Leidensmiene. »In Wahrheit besitzen wir jedoch keine solche Autorität. Der Bischof würde Euch das gleiche sagen.«

»Dann soll er uns das ins Gesicht sagen«, knurrte Murdo.

»Wenn das nur möglich wäre«, erwiderte der Abt.

»Weigert Ihr Euch, uns eine Audienz zu vermitteln?« verlangte Ni-amh zu wissen.

»Leider steht es nicht in meiner Macht, irgend etwas zu verweigern oder zu gestatten«, erklärte der Kirchenmann. »Es ist der Befehl des Bischofs. Dem müssen wir alle gehorchen.«

»Mein Gemahl befindet sich auf Pilgerfahrt«, erklärte Frau Niamh. »Er kämpft für die Kirche, und Ihr wollt mich ernsthaft glauben machen, daß der Bischof, der ihn dazu bewogen hat, das Kreuz zu nehmen, nicht die Zeit findet, sich um eine solch eklatante Verletzung des Friedens zu kümmern, den er selbst uns immer wieder gepredigt hat.«

»Ich wiederhole mich gerne noch einmal«, erwiderte der Abt. »Ihr überschätzt unsere Macht. Die Kirche besitzt nicht die Autorität, um die Einhaltung.«

Der Abt hielt unvermittelt inne, als sich die Tür hinter ihm öffnete. Alle drehten sich um und sahen den Bischof höchstpersönlich aus seinem Audienzsaal treten. »Es ist schon gut, mein lieber Abt«, sagte Adalbert in freundlichem Tonfall. »Ich habe Stimmen gehört und beschlossen, meine Gebete kurz zu unterbrechen, um nachzusehen, ob ich vielleicht helfen kann.« Er lächelte wohlwollend und sagte an die Besucher gewandt: »Frau Niamh, es ist schön, Euch zu sehen. Sagt mir, meine Tochter, wie darf ich Euch behilflich sein?«

Während der Abt mürrisch die Stirn runzelte, trat Niamh vor den Bischof und berichtete ihm in aller Kürze vom Diebstahl ihres Landes und in welche Not sie das gestürzt hatte. Mit wachsendem Unglauben beobachtete Murdo, wie der Erzbischof mitfühlend nickte und schließlich erklärte: »Das ist wirklich ausgesprochen unangenehm. Ja, wirklich. Glaubt mir: Ich wünschte, wir könnten etwas dagegen tun.«

»Aber Ihr könntet Euch für uns einsetzen«, beharrte Niamh. »Ihr seid die einzige kirchliche Instanz auf ganz Orkneyjar. Man hat uns Schreckliches angetan. Unter Androhung der Exkommunikation könnt Ihr sie zwingen, uns das Land zurückzugeben, das sie gestohlen haben.«

Noch immer mitfühlend erwiderte der Bischof: »Edle Frau, das kann ich nicht.« Dann schien er seine Antwort noch einmal zu überdenken. Er hob den Finger und fragte: »Wie heißt der Mann, der die Herrschaft über Euren Besitz genommen hat?«

»Er ist einer von Prinz Sigurds Ratgebern, ein Edelmann mit Namen Orin.« Niamh blickte zur Bestätigung zu Murdo; dieser nickte höflich, obwohl sich zunehmend Mißtrauen in ihm regte.

Der Bischof schien einen Augenblick zu zögern, als erinnere ihn der Name an irgend etwas. »Herr Orin Breitfuß?«

»Genau der, ja«, antwortete Niamh. »Kennt Ihr ihn?«

»Leider ja«, seufzte der Bischof. »Ich wünschte, Ihr hättet irgendeinen anderen Namen genannt, nur nicht diesen. Habe ich diesen Mann nicht in eben diesem Raum hier zur Audienz empfangen, Gerardus?«

»Das habt Ihr in der Tat, ja«, antwortete der Abt, der nach Murdos Ansicht im Laufe des Gesprächs einen verdächtig selbstzufriedenen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.

»Meine liebe Frau«, wandte sich der Bischof wieder an Niamh, »ich habe keinen Augenblick lang an Euch und der Rechtmäßigkeit Eu-res Anliegens gezweifelt.«

»Dann werdet Ihr uns helfen?«

»Ich habe Euch bereits gesagt, daß ich das tun würde, wenn ich denn könnte«, beteuerte Adalbert. »Aber Herr Orin ist dem König gefolgt und hat das Kreuz genommen.«

Plötzlich überkam Murdo eine große Furcht. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand ein Messer in den Leib gerammt und würde die Klinge nun langsam herumdrehen.

»Wie so viele von unseren Inseln, so ist auch er ein Pilger geworden«, fuhr der Bischof fort. »Angesichts der bevorstehenden Reise hat er vom Dekret des Papstes Gebrauch gemacht, was den Schutz seines Landes betrifft.«

Niamh starrte den Bischof fassungslos an. »Wollt Ihr damit etwa sagen.« Ihr fehlten die Worte.

»Die Heilige Mutter Kirche hat den Schutz seiner Ländereien übernommen«, erwiderte der Bischof. »Die entsprechenden Dokumente sind unterzeichnet worden und befinden sich nun auf dem Weg nach Jorvik, wo man sie aufbewahren wird. Wie Ihr also seht, ist es zu spät.«

»Wann ist das geschehen?« fragte Niamh mit kalter Stimme.

»Vor zwei Tagen«, antwortete der Abt mit offensichtlicher Schadenfreude.

»Vor zwei Tagen!« schrie Murdo. »Vor zwei Tagen! Und das, obwohl Ihr gewußt habt, daß wir uns schon seit fünf Wochen um eine Audienz bemühen! Ihr habt es gewußt und nichts unternommen!«

»Beruhige dich, mein Sohn. Dein Zorn ist unangebracht. Wie du dir denken kannst, hat die Machtübernahme von Prinz Sigurd viele plötzliche und unerwartete Veränderungen mit sich gebracht. Wir haben von morgens bis abends ohne Unterlaß gearbeitet, um all die Bittsteller zufriedenzustellen, die uns gleich euch ihre Probleme vorgetragen haben, welche im Zuge der Absetzung des Jarls entstanden sind. Ich versichere dir, bis zu diesem Zeitpunkt haben wir nichts von eurer Not gewußt.«

»Hrafnbu gehört uns!« schrie Murdo; mit geballten Fäusten trat er auf den Bischof zu. »Es gehört uns, und Ihr habt es gewußt!«

»Ja!« schnappte Adalbert mit aufflackerndem Zorn. »Und ich habe versucht, deinen Vater zur Vernunft zu bringen, doch er weigerte sich. So sei es. Jetzt müßt ihr mit den Folgen seiner Dummheit leben.« Mit einem Blick auf Niamh fügte er rasch hinzu: »Es tut mir leid, daß ich so grob reden muß, gute Frau, aber ich kann nichts für euch tun.«

Abt Gerardus kam dem Bischof zu Hilfe. »Hätte Herr Ranulf nicht so gierig auf seine Einnahmen geschielt, unterstände das Gut schon längst unserer Herrschaft, und ihr hättet noch immer eine Heimat.«

Murdo stieß einen erstickten Schrei aus und stürzte auf den Abt zu, der rasch zurückwich.

»Murdo!« schrie seine Mutter. Ihre Stimme klang wie ein Peitschenhieb. Sie zog ihn zurück und sagte: »Komm, mein Sohn. Wir wollen diese braven Kirchenmänner nicht länger mit unseren unwichtigen Sorgen belästigen. Sie müssen sich auch noch um die anderen Schafe in ihrer Herde kümmern. Es scheint, als sei bereits die Zeit des Scherens gekommen.«

»Frau Niamh«, protestierte der Bischof, »ich fürchte, Ihr habt mich mißverstanden.«

»Habe ich das?« forderte sie ihn in scharfem Ton heraus. »»Gierig auf seine Einnahmen ... unter unserer Herrschaft...«« Sie hielt kurz inne. Ihre Augen funkelten. Als sie erneut das Wort ergriff, sprach sie leise, kaum hörbar. »Ich glaube, ich habe Euch nur allzu gut verstanden, stolzer Priester.«

Der Bischof runzelte die Stirn. »Bitte, Ihr müßt Euch in Geduld üben. Ohne Zweifel wird sich alles von selbst regeln, wenn die betreffenden Herren von ihrer Pilgerfahrt zurückgekehrt sind.«

»Was schlagt Ihr vor, sollen wir bis dahin tun?« verlangte Niamh zu wissen. »Sollen wir auf dem Marktplatz betteln gehen?«

»Der Konvent ist stets.«, begann der Abt.

Doch Niamh hörte nicht länger zu. »Komm weg hier, Murdo. Hier gibt es keine Gerechtigkeit.«

Sie wandte den Kirchenmännern den Rücken zu und ging zur Tür.

Murdo funkelte die Männer haßerfüllt an und fühlte den brennenden Schmerz machtlosen Zorns. »Ihr werdet den Tag noch verfluchen, an dem Ihr meinen Vater verleumdet und Euch gegen uns gestellt habt«, sagte er mit vor Wut zitternder Stimme. »Hört gut zu! Das schwört Euch Murdo Ranulfson!«

»Komm fort hier, Murdo«, rief seine Mutter von der Tür her. »Verschwende kein Wort mehr an diese da.«

Murdo funkelte die Kirchenmänner weiter an und trat einen Schritt rückwärts. »Ihr kennt den Wert eines Schwurs, der auf heiligem Boden geleistet worden ist. Erinnert Euch meiner Worte.«

Der Abt wollte etwas darauf erwidern, doch der Bischof bedeutete ihm zu schweigen, und Murdo und seine Mutter traten wieder hinaus in den Vorraum. Murdo sah den Tisch, an dem der Abt gesessen hatte - zwei andere Mönche hockten nun über dem Schriftstück, das Gerardus studiert hatte. Murdo schlenderte zum Tisch, griff nach dem Tintenfaß und schüttete die schwarze Tinte über das Pergament. Die Mönche kreischten erschrocken auf; einer warf die Hände über den Kopf, während der andere verzweifelt versuchte, das Manuskript zu retten, indem er die Tinte mit dem Ärmel abtupfte.

Murdo ließ seinem Zorn freien Lauf. Mit aller Kraft trat er gegen den Tisch. Das massive Möbel fiel mit lautem Krachen zu Boden; Pergamente flogen durch den Raum, und das Tintenfaß zerbarst.

Weitere Mönche, die den Tumult gehört hatten, stürmten in den Raum, sahen den umgestürzten Tisch und warfen sich auf Murdo. Er wich dem Angriff aus, doch einem von ihnen gelang es, ihn am Arm zu packen, und so fielen auch die anderen über ihn her.

»Schafft ihn raus hier!« rief der Abt von der Tür aus.

Die Mönche zogen Murdo auf die Beine und schleppten ihn fort.

»Laßt ihn los!« schrie Niamh und eilte ihrem Sohn zu Hilfe.

Einer der erregten Kirchenmänner drehte sich um und stieß sie beiseite. Als Murdo Niamh fallen sah, stützte er sich an den Armen der Mönche ab, die ihn umklammert hielten und trat mit beiden

Füßen dem Unglücklichen ins Gesicht, der es gewagt hatte, seine Mutter anzurühren. Seine Füße trafen den Mann genau am Kinn. Der Kopf des Mönchs flog zurück, und der Mann fiel zu Boden wie ein gefällter Baum. Gleichzeitig brachte die Wucht von Murdos Tritt die anderen Mönche aus dem Gleichgewicht, und allesamt wurden sie umgeworfen und rissen den Jüngling mit sich.

»Schafft ihn hier raus!« schrie Abt Gerardus erneut. Seine Stimme klang rauh vor Zorn.

Die Mönche, die ihren Gefangenen trotz des Sturzes nicht losgelassen hatten, zerrten ihn wieder auf die Beine. Mit langen Schritten eilte der Abt herbei. »Du dummer, frecher.« Er hob die Hand zum Schlag.

»Das reicht!« rief der Bischof. Adalbert stand in der Tür; sein Gesicht war grau, doch seine Haltung gefaßt. »Es reicht, sage ich. Das hier ist ein Gotteshaus, und dieses Benehmen ist beschämend.« Er deutete auf die Tür. »Frau Niamh, ich muß Euch bitten, diesen Ort augenblicklich zu verlassen.«

»Wir gehen«, erwiderte Niamh knapp. »Komm, Murdo.«

Murdo schüttelte den Griff der Mönche ab und gesellte sich zu seiner Mutter. »Ihr nennt das hier ein Gotteshaus«, zischte er, »aber ich sehe hier nur Diebe und Feiglinge.«

Die Mönche wollten sich erneut auf ihn stürzen, doch Niamh packte ihn am Arm und zog ihn fort. Eiligen Schrittes folgten sie ihren eigenen Spuren durchs Kloster und hielten erst an, als sie wieder auf dem schlammigen Pfad vor der Kathedrale standen. »Das ist das reinste Schlangennest«, murmelte Murdo, der noch immer vor Zorn zitterte.

»Wir werden unser Land wiederbekommen. Mach dir darüber keine Sorgen«, versicherte ihm Niamh. »Wenn dein Vater wieder zurückkehrt, werden wir.«

»Und was sollen wir bis dahin tun?« unterbrach sie Murdo. »Was ist, wenn sie erst im Sommer wieder zurückkehren? Oder im Sommer danach? Wie lange sollen wir warten, bis wir das wieder zurückerhalten, was rechtmäßig unser ist?« »Wir können auf Cnoc Carrach bleiben. Ragnhild hat angeboten...«

»Du bleibst auf Cnoc Carrach bei Ragnhild«, fiel Murdo ihr erneut ins Wort. »Ich werde nicht einen Tag länger warten - nicht solange unser Heim in den Händen von Dieben und habgierigen Priestern ist.«

Schweigend sah Niamh ihren Sohn einen Augenblick lang an. »Was hast du vor, Murdo?«

»Wenn wir vor Herrn Ranulfs Rückkehr nicht zurückfordern können, was unser ist, dann werde ich gehen und ihn zurückholen.«

»Nein«, widersprach ihm Niamh nachdrücklich. »Denk doch mal darüber nach, was du da sagst, mein Sohn. Du kannst nicht ins Heilige Land gehen.«

»Warum nicht? Alle anderen gehen doch auch - selbst Orin Breitfuß. Vielleicht schließe ich mich ja ihm an!«

In Wahrheit waren seine Gedanken eher verwirrt gewesen, doch nachdem er die Worte erst einmal ausgesprochen hatte, war ihm alles klargeworden. Es war so einfach. Murdo wußte genau, was er zu tun hatte.

Niamh sah die Entschlossenheit in den grauen Augen ihres Sohnes und erkannte darin die gleiche Sturheit wie bei ihrem Gemahl. »Nein, Murdo«, wiederholte sie. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Hafen hinunter, wo Peder mit dem Boot wartete. »Ich will nichts mehr davon hören.«

Sie ging ungefähr ein Dutzend Schritte weit, doch als Murdo keinerlei Anstalten machte, ihr zu folgen, blieb sie stehen und drehte sich um. »Hör auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen.«

»Lebe wohl, Mutter.«

»Murdo, hör mir zu.« Sie ging wieder zu ihm zurück, und Murdo wußte, daß er gewonnen hatte. »Du kannst nicht gehen - jedenfalls nicht so. Das ist unmöglich.«

»Ich gehe aber.«

»Du brauchst Proviant und Geld. Du kannst nicht einfach so hinausziehen wie auf einen Jahrmarkt. Du mußt dich auf die Reise vor-bereiten.«

Murdo erwiderte nichts darauf, sondern sah seine Mutter nur ausdruckslos an.

»Bitte«, fuhr Niamh fort, »komm zumindest mit mir zurück nach Cnoc Carrach, und wir werden dich angemessen für die Reise ausstatten.«

»Also gut«, stimmte ihr Murdo schließlich zu. »Aber wenn Orin Breitfuß nach Jerusalem absegelt, werde auch ich an Bord sein.«

ie Nacht lag schwer auf dem Haus und auf Murdos Seele. Er starrte in die Dunkelheit hinaus, denn seine endlos umherwirbelnden Gedanken ließen ihn keinen Schlaf finden. Er dachte über die bevorstehende Reise nach und über die Prüfungen, die ihn erwarteten, und wie er seinen Vater finden sollte. Niamh hatte ein ausführliches Schreiben an Ranulf verfaßt, in dem sie ihn inständig bat zurückzukehren; doch Murdo vermutete, daß der Feldzug ohnehin schon beendet sein würde, wenn er Jerusalem erreichte, und selbst falls nicht, so war er fest davon überzeugt, daß sein Vater und seine Brüder ihn ohne Zögern zurückbegleiten würden, um das Unrecht aus der Welt zu schaffen, daß ihnen in ihrer Abwesenheit widerfahren war.

Er dachte auch über die Hinterhältigkeit von Bischof Adalbert nach und über Abt Gerardus; er verfluchte sie aus tiefstem Herzen. Er dachte darüber nach, wie er einen Platz auf König Magnus' Schiff bekommen könnte, und am meisten dachte er an Ragna. Morgen würde er Cnoc Carrach verlassen, und er wußte nicht, wann er wieder zurückkehren würde. Nachdem er nun so viele Wochen in ihrer Nähe verbracht hatte, erschien ihm die bevorstehende Trennung unerträglich. Sie nicht mehr bei der Arbeit zu sehen und nicht mehr ihre Stimme beim Frühstück hören zu dürfen - daß er nicht bei ihr verweilen durfte, sah er als die größte Prüfung von allen an.

Wie als Antwort auf seine Gedanken hörte er das Knarren von Dielenbrettern vor seiner Tür, und nur einen Augenblick später hob sich der Riegel. Murdo setzte sich im Bett auf. Die Kerze war schon fast heruntergebrannt, dennoch griff er danach und stand auf. Da er ohnehin nicht schlafen konnte, hatte er sich auch nicht ausgezogen. Die Tür schwang auf, Ragna trat ins Zimmer und zog die Tür leise wieder zu.

»Ragna, was.«, begann er.

Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Schschsch! Nicht so laut. Jemand könnte uns hören.«

»Was tust du hier?«

»Willst du, daß ich wieder gehe?«

»Nein. Nein.« Er blickte in ihre großen Augen, betrachtete ihr offenes Haar und das sanfte Schwellen ihres Busens unter dem Nachtgewand, und Verlangen keimte in ihm auf. »Bleib«, sagte er. »Ich kann ohnehin nicht schlafen.«

»Ebensowenig wie ich«, erwiderte sie. »Das ist unsere letzte Nacht, denn ab morgen bist du fort.«

»Ich werde wieder zurückkommen«, bemerkte er hoffnungsvoll.

»Ich weiß.« Unglücklich senkte sie den Kopf. »Aber dann wird alles anders sein. Du wirst wieder zurück nach Hrafnbu gehen, während ich hierbleiben werde, und.«

»Nein«, sagte er und überraschte sich mit diesem Wort selbst. Rag-na hob rasch den Kopf. Ihre Augen schimmerten im Kerzenlicht. »Wir werden Zusammensein«, erklärte er.

»Glaubst du? Das würde mir gefallen, Murdo. Das würde mir sogar sehr gefallen.« Plötzlich verlegen ob ihrer eigenen Kühnheit, zögerte sie einen Augenblick und wandte den Blick ab. »Du mußt mich für verdorben halten«, sagte sie leise.

»Niemals«, widersprach ihr Murdo sanft. »Ich halte dich für ... für wunderschön.«

Sie lächelte wieder. »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Aus einer Falte ihres Kleides holte sie einen langen Dolch hervor und hielt ihn ins Kerzenlicht. »Er hat meiner Mutter gehört, aber sie hat ihn mir zum letzten Julfest geschenkt.«

Murdo nahm den Dolch und wog ihn in der Hand. Die Klinge war ungewöhnlich dünn, das Heft leicht. Es war die Waffe einer Frau, doch hervorragend gearbeitet: Die gerade Klinge war scharf und spitz wie der Zahn einer Schlange. Offensichtlich war die Waffe sehr teuer gewesen.

»Bist du sicher, daß du ihn mir geben willst?«

Ragna nickte. »Ich dachte, wenn du ihn in deinem Wams verbirgst, wird er dir helfen, dich zu schützen.«

»Danke.« Murdo betrachtete den Dolch noch einen Augenblick lang, bevor er schließlich wieder zu Ragna schaute. »Ich habe nichts für dich«, gestand er.

Sie legte ihre Hand auf die seine. »Ich habe alles, was ich will -oder zumindest werde ich das haben, wenn du wieder zurückkehrst. Versprich mir, daß du wieder zu mir zurückkehren wirst, Murdo.«

»Ich werde wieder zurückkehren, Ragna.«

»Versprich es«, beharrte sie auf ihrer Forderung.

Murdo nickte der jungen Frau ernst zu, die ihn mit ihren fan-kelnden Augen gefangenhielt. »Von ganzem Herzen verspreche ich dir: Ich werde wieder zu dir zurückkehren. Das schwört dir Mur-do Ranulfson.«

Sie legte ihm die Hand auf den Hinterkopf, zog sein Gesicht näher zu sich heran und küßte ihn. Ihre Lippen waren warm, und Mur-do wünschte, sie würden für immer auf den seinen liegen. Noch nie war ihm ein Abschied so schwergefallen wie dieser.

Nach einem Augenblick löste sich Ragna wieder von seinem Mund und drückte ihre Wange an die seine. »Ich werde auf dich warten, mein Geliebter«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Laß uns zu Gott beten,

daß ich nicht allzu lange warten muß.«

Sie drehte sich um und ging wieder Richtung Tür. Dann warf sie einen letzten Blick über die Schulter zurück. Sie zögerte, und Mur-do, dem das nicht entgangen war, trat vor und ergriff ihre Hand. »Bleib«, sagte er.

Sie schaute ihn mit großen Augen an und blickte dann zögernd zur Tür.

»Bitte«, sagte er und schluckte.

Sie warf sich ihm in die Arme. Gemeinsam fielen sie aufs Bett zurück, ihre Körper umeinander geschlungen und ihre Lippen den Mund des anderen suchend und gierig küssend. Murdos Hände glitten über Ragnas Leib, und er spürte das warme, willige Fleisch durch das dünne Nachthemd hindurch. Dann stieß er ein lautes Stöhnen aus und setzte sich unvermittelt auf.

Ragna rollte zur Seite. »Was stimmt nicht?«

»Nichts«, antwortete Murdo. »Warte.«

Er stieg aus dem Bett und ging zu der Truhe, in die er seinen Gürtel mitsamt der Börse gelegt hatte. Er nahm den Gürtel heraus, öffnete die Börse und holte die Pilgermünze hervor, die ihm der Kaufmann Dufnas für den Torzoll von Jerusalem gegeben hatte. Dann kehrte er wieder zum Bett zurück, zog Ragnas Dolch und drückte die scharfe Klinge in die kleine Silberscheibe.

Ragna hatte sich inzwischen hingekniet und beobachtete ihn. Ihr Herz schlug so schnell und hart, daß sie nicht mehr sprechen konnte.

Murdo legte den Dolch beiseite, nahm die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger und bog sie mit aller Kraft durch, bis sie schließlich in der Mitte auseinanderbrach. Eine der Hälften reichte er Rag-na mit den Worten: »So wie diese Münze entzwei gerissen ist, so sollen auch unsere Seelen entzwei gerissen sein, solange wir voneinander getrennt sind.«

Ragna nahm das Münzenstück, hielt es gegen Murdos Hälfte und vereinte so die beiden Teile wieder. »So wie dies hier wieder zusammengefügt wird, so sollen auch unsere Seelen wieder zusammengefügt werden.«

Dann legten sie die Hände über der Münze zusammen und sagten gemeinsam: »Von dieser Nacht an und bis in alle Ewigkeit.«

Murdo zog Ragna wieder zu sich heran, und sie küßten sich, um den Eid zu besiegeln. Ragna warf die Bettdecke beiseite und zog Murdo mit sich hinunter auf ihr Hochzeitsbett.

Dieses erste Mal, daß sie sich liebten, verflog für Murdo in einem wilden Rausch des Verlangens. Hinterher lagen sie sich keuchend in den Armen.

»Sie könnten.«, begann Murdo, als er wieder sprechen konnte. »Sie könnten unseren Schwur anzweifeln.«

»Schschsch«, flüsterte Ragna. »Vor den Augen Gottes haben wir einander versprochen und sind nun miteinander verbunden. Niemand vermag uns mehr zu trennen. Wenn du zurückkehrst, werden wir unseren Schwur vor dem Altar erneuern.«

»Ich werde nie wieder einen Fuß in die Kathedrale setzen.«

»Dann wird es eben in unserer Kapelle geschehen«, schlug Rag-na vor.

»Also gut«, stimmte ihr Murdo zu, »in eurer Kapelle.« Er beugte sich vor, um Ragna ein weiteres Mal zu küssen. »Ich wünschte, ich müßte nicht gehen. Aber es ist schon bald Morgen, und.«

Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Sprich nicht vom Abschied. Das ist unsere Hochzeitsnacht.« Mit diesen Worten setzte sie sich auf und zog das Nachthemd aus. Murdo sah die wunderbare Fülle ihres Busens und die geschmeidigen Rundungen ihrer Hüften, als sie sich vornüberbeugte, um die Kerze auszublasen. Dann war sie wieder an seiner Seite, küßte ihn, streichelte ihn und führte seine Hände auf eine Entdeckungsreise über ihren Körper. Das zweite Mal, das sie sich liebten, war langsamer und süßer, und Mur-do wünschte, es würde niemals enden; aber es endete, und Murdo zersprang das Herz vor Freude, daß die wunderschöne Ragna sich ihm hingegeben hatte.

Dann schliefen sie ein. Die Gesichter dicht beieinander atmeten sie den Atem des anderen ein, und ihre Körper teilten die Wärme.

Kurz vor Sonnenaufgang schlüpfte Ragna aus dem Bett und schlich sich aus dem Zimmer, und Murdo wußte, daß er niemals wieder ganz sein würde. Ein Teil von ihm würde immer bei Ragna bleiben.

Später, nach dem Frühstück, stiegen Niamh, Ragnhild und Rag-na mit Murdo zur Bucht hinab. Peder und zwei von Herrn Brusis Männern warteten am Boot. Die Strahlen der Morgensonne hatten den Nebel der Nacht verbannt, und es versprach ein klarer Tag zu werden. »Wir haben guten Nordwind«, rief Peder, als Murdo und die anderen sich ihm näherten. »Es dürfte eine ruhige Fahrt nach Inbhir Ness werden.«

Niamh blieb mitten auf dem Weg stehen. »Du wirst umkehren, sobald es Schwierigkeiten gibt«, sagte sie.

»Ich werde tun, was ich dir gesagt habe.«

»Oder wenn du keinen Platz auf dem Schiff bekommen kannst.«

»Mutter«, antwortete Murdo sanft, aber entschlossen, »wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Ich bin kein Pilger. Ich werde nicht kämpfen. Ich will meinen Vater finden und ihn wieder nach Hause holen. Das ist alles.«

»Und deine Brüder«, fügte Niamh hinzu.

»Natürlich.« Murdo seufzte verzweifelt.

Niamh war jedoch noch nicht fertig. »Es ist nur, weil du doch der einzige bist, der mir geblieben ist. Wenn dir etwas zustoßen sollte, Murdo, dann weiß ich nicht, wie.«

Verlegen, weil Ragna und ihre Mutter dieses Gespräch mit anhörten, drehte sich Murdo um und versicherte Niamh: »Mir wird schon nichts geschehen. Ich bin ja schließlich nicht allein. Immerhin werde ich mit einer großen Streitmacht reisen; da kann mir gar nichts passieren. Das verspreche ich dir.«

Sie setzten sich wieder in Bewegung. »Bevor du dich versiehst, werde ich wieder zu Hause sein«, sagte Murdo und versuchte damit, die traurige Stimmung zu vertreiben, die sich langsam um ihn herum ausbreitete. Nun, da der Augenblick des Abschieds gekommen war, verspürte er noch weit weniger Lust zu gehen als in den vergangenen Tagen. Nach der vergangenen Nacht mit Ragna wünschte er sich tatsächlich nichts sehnlicher, als in Orkneyjar zu bleiben und für immer an ihrer Seite zu sein.

Wenn er jedoch bleiben würde, dann würde es niemals dazu kommen. So wie Murdo die Dinge sah, konnte er nur ein gemeinsames Leben für sich und Ragna aufbauen, wenn Hrafnbu wieder in den Besitz der Familie überging, und damit dies geschah, mußte er seinen Vater finden und zurückbringen.

Zwar war sein Eifer inzwischen gedämpft, doch diese Gedanken mahnten ihn, daß hier weit mehr auf dem Spiel stand als nur die Wiedererlangung von gestohlenem Hab und Gut: Sein eigenes Glück war in Gefahr, solange Eindringlinge ihr Land beherrschten. Also bekräftigte Murdo im Geiste noch einmal seinen Entschluß und richtete den Blick aufs Meer hinaus.

Als sie den Kiesstrand erreichten, drehte Murdo sich noch einmal um, dankte Frau Ragnhild für ihre Fürsorge und Gastfreundschaft, die sie sowohl ihm als auch seiner Mutter erwiesen hatte, und er dankte ihr auch für die schönen neuen Kleider, die er trug - ein hübscher rotbrauner Wollumhang, eine robuste Hose aus dem gleichen Material und ein Wams aus gelbem Leinentuch sowie ein breiter Gürtel und weiche Lederstiefel. Schließlich dankte er ihr noch für das Geld, das sie ihm für die Reise gegeben hatte und versprach, es bei der nächsten Gelegenheit zurückzuzahlen.

»Es ist nicht mehr, als ich nicht auch für meine Blutsverwandten getan hätte«, erwiderte Frau Ragnhild. Die Art und Weise, wie sie das Wort >Blutsverwandte< betonte - beziehungsweise, daß sie es überhaupt verwendete - und dabei leicht vorwurfsvoll die Augenbrauen hob, verriet Murdo, daß Ragna ihrer Mutter erzählt haben mußte, was vergangene Nacht zwischen ihnen geschehen war. »Deine Mutter und ich sind mehr als Schwestern«, fuhr Ragnhild fort. »Ich freue mich über ihre Gesellschaft, und das um so mehr, da die Männer fortgezogen sind. Wir sind hier in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen. Paß du nur auf dich selbst auf, Murdo, und möge Gott dir eine rasche Rückkehr gewähren!«

Dann umarmte Murdo seine Mutter zum letztenmal, während

Ragnhild und ihre Tochter ein wenig abseits standen und den beiden zuschauten. Nachdem Niamh sich von ihrem Sohn verabschiedet hatte, trat sie beiseite und machte Ragna Platz, die Murdo sittsam auf die Wange küßte. »Komm wieder zu mir zurück, Murdo«, flüsterte sie.

»Das werde ich«, murmelte er, und er verspürte das Verlangen, sie zu umarmen und ihren willigen Leib an den seinen zu drücken.

»Gott möge dir eine rasche Rückkehr gewähren, mein Leben«, segnete ihn auch Ragna und trat von ihm weg. Bevor er etwas darauf erwidern konnte, hatte sie sich bereits wieder zu ihrer Mutter gesellt. Es gab soviel, was er ihr sagen wollte, doch das war unmöglich, solange jedermann ihnen zuschaute. Also preßte er statt dessen schweigend die Hand auf den Dolch unter dem Wams und schwor ihr im Geiste ewige Liebe. Ragna bemerkte die Geste und antwortete ihm mit den Augen.

Nachdem er noch ein weiteres Mal versprochen hatte, so rasch wie möglich wieder zurückzukehren, watete Murdo ins Meer hinaus, wo Peder an den Riemen bereits auf ihn wartete. Er kletterte über die Reling und nahm seinen Platz am Bug ein, während die beiden Diener das Boot aufs Meer hinaus drehten und es vom Ufer abstießen. Murdo rief ein letztes Mal Lebewohl, als Peder an den Riemen zog und das Boot in die Bucht hinausfuhr. Nicht einen Augenblick lang wandte er den Blick von den Gestalten am Ufer, die immer kleiner wurden, bis sie schließlich nur noch farbige Punkte inmitten der grauen Felsen der Bucht waren.

Schließlich rief ihm Peder zu, das Segel zu setzen, was Murdo auch tat. Als er sich anschließend wieder umdrehte, war die Bucht bereits hinter den Klippen verschwunden, und die Zurückgebliebenen waren nicht mehr zu sehen. Trotzdem hob Murdo noch einmal die Hand zu einem letzten Gruß, dann wandte er sich seiner Arbeit zu.

12. Januar 1899:

Edinburgh, Schottland

^ftch bin im Jahre unseres Herrn 1856 geboren worden, in der i\J kleinen, sauberen Industriestadt Witney in Oxfordshire, als Sohn von Eltern von gutem schottischem Blut. Mein Vater, der seine geliebten Highlands verlassen hatte, um unserer Familie im Wollhandel eine Existenz aufzubauen, hatte sein Geschäft schließlich auf eine solide Grundlage gestellt, engagierte einen Verwalter und kehrte wieder in den Norden zurück - in >Gottes eigenes Land<, wie er zu sagen pflegte.

So kam es, daß ich in der Mitte meines sechsten Lebensjahrs aus dem regen Treiben einer wohlhabenden Cotswold-Stadt mitsamt meiner Wurzeln herausgerissen und in eine primitive Hütte inmitten eines verregneten, farnbedeckten Hochmoors verpflanzt wurde, das -meiner damaligen Meinung nach - im abgelegensten Winkel Schottlands lag. Umgeben von Schafen und Stechginster begann ich meine Ausbildung an einer winzigen Dorfschule, wo ich meine Lehrer und Mitschüler nicht nur als ungehobelt oder geradezu als ungehörig empfand, sondern auch als unverständlich. Das erste Jahr meiner Schullaufbahn habe ich mit ständigen Weinkrämpfen verbracht, und nach jedem Tag habe ich mir geschworen, nie mehr in diese verfluchte Schule zurückzukehren.

Es war meine Großmutter, die mich in meiner kindlichen Not tröstete. »Ruhig, mein Jungchen«, pflegte sie immer zu sagen. »Alles wird wieder gut, wenn Gott will.« Sie hatte natürlich recht. Ich beendete die Schule und graduierte in St. Andrews nach einem Doppelstudium der Geschichte und der klassischen Literatur.

Da ich eine gewisse professionelle Faulheit der täglichen Routine eines hart arbeitenden Wollieferanten vorzog, wie es mein Vater war - und womit er es zu einem nicht unbeträchtlichen Wohlstand gebracht hatte -, unterschrieb ich rasch einen Kontrakt bei einem von Edinburghs angesehensten Anwälten. Daraufhin beschäftigte ich mich tagaus, tagein mit der freundlichen, doch langweiligen Arbeit, Verträge, Gutachten, Entwürfe und Gerichtsurteile für meine Vorgesetzten zu kopieren - eine wahre Plackerei. Nach ein paar Wochen in diesem Beruf, begann ich zu vermuten, daß das Leben, zu dem ich mich entschlossen hatte, doch nicht so ganz meinen Vorstellungen entsprach. Ich begann zu trinken - allerdings nur mäßig und nur in Gesellschaft meinesgleichen - und vergeudete meine Abende mit langen, sinnlosen Gesprächen, billigem Whisky und noch billigeren Zigarren in einem von Auld Reekie's vielen guten Pubs - was meinen lieben alten Vater zutiefst entsetzt hätte.

Doch ich war jung, ungebunden und voller Tatendrang. Meine Bedürfnisse waren einfach und leicht zu erfüllen. Einer meiner Schreiberkollegen und Mittrinker war, wie sich bald herausstellte, ein eingefleischter Wandersmann, dem es nichts ausmachte, mit nur einem Stock in der Hand und einem halben Sixpence in der Tasche über unbekannte Straßen zu dem ein oder anderen fernen Ziel zu marschieren. Er war ein wahrer >Sohn des Farns< und rühmte sich des Namens Alisdair Angus McTavot. Ein hervorragender Kamerad, dieser Angus - den Namen Alisdair verabscheute er und bestand darauf, daß man ihn in seiner Gegenwart nicht benutzte. Angus McTa-vot besaß einen ansteckenden Enthusiasmus, und schon bald fand ich mich an den Wochenenden und während des wenigen Urlaubs auf den feuchten Straßen wieder und zog mit ihm von Ort zu Ort.

Vor so manchem Sturm haben wir in Kuhställen Schutz gesucht und darauf gewartet, daß der Regen nachlassen würde, und dabei ergab es sich, daß wir viel über unsere Familien gesprochen haben. Es stellte sich heraus, daß der McTavot-Clan Verbindungen zum längst vergessenen schottischen Adel besaß. Sein Vater war ein Baronet, was auch immer das besagen mag, und obwohl ein solcher Titel nicht länger Garantie für beachtliche Pfründe war, konnte man ihm immer noch ein Quentchen Prestige entnehmen. Wenn schon nichts anderes, so hatte Angus seinem adeligen Erbe zumindest eine gewisse Neigung zu Pomp und obskuren Traditionen zu verdanken. Häufig verwendete er altmodische Redeformen, und er besaß eine Schwäche für keltische Geschichte, besonders wenn sie mit seinem primitiven Adel in Verbindung stand.

Es war Angus, der mich in den Alten und Ehrenvollen Orden des Hochlandhirschen einführte - anderen als gewöhnlicher Gentlemen-Klub geläufig. In seiner Blütezeit besaß der Alte Hirsch, wie er liebevoll von den Eingeweihten genannt wurde, so illustre Mitglieder wie Cameron Brodie und Arthur Pitcairn Grant und zählte auch so berüchtigte Briganten wie Drummond >Black< Douglas und Richter Buchanan zu den Seinen. Sir Walter Scott war Ehrenmitglied des Alten Hirschen, ebenso wie Kapitän Lawrie, der seinen Ruhm bei der Krakatau-Katastrophe begründet hatte. Obwohl noch immer sehr respektabel, hatte der Klub in den vergangenen Jahren an Glanz verloren und zog nicht mehr in gleichem Maße die Blaublüter und Patrizier an wie noch zu seiner Blütezeit - was, wie ich vermute, auch der Grund dafür war, warum man Angus und mich aufgenommen hat. Einige unserer Juristenbrüder waren ebenfalls Mitglied dort, und einem Klub anzugehören wurde allgemein als karrierefördernd betrachtet.

Im Alten Hirsch fand ich eine Zuflucht vor dem vergeudeten Leben eines Rauchers und Trinkers. Es war weitaus leichter, die Einladung zu einer Freitagabend-Sauferei mit den Worten abzulehnen: »Ich würde ja gerne, Jungs, aber ich muß in den Klub. Tut mir leid.«

So kam es, daß ich an einem verregneten Freitagabend allein im Rauchersalon des Klubs saß. Es war kurz nach acht, und die meisten anderen Mitglieder waren bei meiner Ankunft bereits zum Dinner gegangen, also hatte ich den Klub sozusagen ganz für mich allein. Ich genoß gerade einen frühreifen Malt, während ich auf den verspäteten Angus wartete, als ein großer, distinguiert wirkender Herr in einem schlichten, doch teuren Anzug sich in den Ledersessel mir gegenüber setzte. Er trug eine Zeitung bei sich, doch diese legte er gefaltet auf seinen Schoß, während er mich oberflächlich musterte.

Ich nahm an, daß er darauf wartete, daß ich mich vorstellte - das war etwas, was man üblicherweise von jüngeren Mitgliedern erwartete, um älteren Gelegenheit zu geben, den Neuling zu begutachten, bevor dieser offiziell eingeführt wurde. Aber bevor ich meinen Namen nennen konnte, sagte der Mann: »Bitte, entschuldigen Sie. Ich will Sie nicht stören. Aber sind Sie nicht der Freund des jungen McTa-vot?«

»Genau«, erwiderte ich. »Ich warte gerade auf ihn.«

»Ja«, sagte der Fremde, »er wird noch ein paar Minuten aufgehalten werden. Ich dachte, wir könnten vielleicht die Gelegenheit nutzen und uns ein wenig unterhalten.«

Das erregte meine Neugier, wie ich gestehen muß.

»Erlauben Sie«, sagte der Mann und bot mir eine Zigarre aus einem goldenen Zigarrenetui an.

Ich wählte eine der Panatelas des Fremden, dankte ihm und lehnte mich zurück.

»Ich vermute, sie kennen Angus, nicht wahr?« fragte ich und versuchte, so nonchalant wie möglich zu klingen.

»Ich kenne seinen Vater«, antwortete der Mann. »Ihren Vater kannte ich übrigens auch. Ein feiner, aufrechter Mann. Ich habe ihn sehr bewundert.« Er entzündete ein Streichholz, um es an seine Zigarre zu halten. »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ihn sehr vermisse.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte ich, »aber ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem. Sie müssen wissen, daß mein Vater noch immer lebt - jedenfalls war es noch so, als ich zum letztenmal bei ihm gewesen bin.«

Der Mann erstarrte; das Streichholz verharrte mitten in der Luft. Seine scharfen grauen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. »Bei Gott! William Murray lebt immer noch! Ich war doch auf seiner Beerdigung ... oder zumindest habe ich das geglaubt.«

Der Fehler wurde offenbar. »William war mein Großvater«, erklärte

ich. »Mein Vater heißt Thomas.«

Der Mann sackte in seinen Sessel zurück, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Er löschte das Streichholz und starrte mich verwirrt und forschend an.

»Oh, das tut mir wirklich leid«, sagte er, nachdem er wieder zu sich gekommen war. »Ich scheine ein wenig durcheinander zu sein. Sie sind sein Enkel. Natürlich! Natürlich sind Sie das. Bitte, verzeihen Sie mir. Ich fürchte, das ist die Last des Alters. Ich kann von Glück reden, wenn ich mich daran erinnere, in welchem Jahrhundert ich mich befinde, geschweige denn in welchem Jahr.«

»Ich bitte Sie, Sir«, erwiderte ich. »Das passiert mir ständig.«

Er entzündete ein weiteres Streichholz, hielt es an seine Zigarre und rauchte nachdenklich. »Thomas. Ja, natürlich«, murmelte er zu sich selbst. »Wie dumm von mir.« Er reichte mir die Streichholzschachtel.

»Dann haben Sie also meinen Großvater gekannt.« Ich nahm ein Streichholz, entzündete es und beschäftigte mich mit Rauchen, um dem Fremden Gelegenheit zu geben, etwas darauf zu erwidern.

»Nicht halb so gut, wie ich gewollt hätte«, antwortete er schließlich. »Ich habe ihn ein- oder zweimal bei geschäftlichen und gesellschaftlichen Anlässen gesehen. William war der Freund eines Freundes, verstehen Sie?« Er hielt kurz inne, nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarre und fügte hinzu: »McTavot war mehr in meinem Gesichtskreis.«

»Ich verstehe.« Wir sprachen über die McTavots, und er fragte mich, wie Alisdair und ich uns kennengelernt hatten. Ich erklärte ihm, daß wir in derselben Anwaltskanzlei arbeiteten und daß Angus mich unter seine Fittiche genommen und mir Edinburgh gezeigt habe. »Wäre er nicht gewesen, hätte ich vermutlich nie vom Alten Hirsch gehört«, schloß ich meinen Bericht.

»Das ist wohl auch die beste Art, irgendwo eingeführt zu werden«, erwiderte der Gentleman freundlich. »Als Freunde von Freunden.«

In diesem Augenblick erschien Angus. Er war vollkommen durchnäßt, und als er sich ausschüttelte, verteilte er Regentropfen über die teuren Lederpolster. »Es tut mir wirklich schrecklich leid«, entschuldigte er sich. »Eine halbe Stunde lang habe ich versucht, eine Droschke zu bekommen. Offenbar rennen alle Kutscher in Deckung, sobald sich auch nur ein paar Regenwolken am Himmel zeigen. Ich bin durch und durch naß. Was ist das?« Er griff nach meinem Glas, schnupperte daran und leerte es mit einem Zug. »Woah!« keuchte er. »Jetzt geht's mir schon wieder besser.«

»Setzen Sie sich«, lud ihn der alte Gentleman ein. »Darf ich Ihnen etwas zu rauchen anbieten?«

»Vielen Dank.« Angus nahm eine der dünnen Zigarren, zündete sie an und sagte: »Wie ich sehe, habt ihr beiden euch kennengelernt. Gut.« Er rieb sich die Hände. »Ich bin verhungert.« An den alten Herrn gewandt sagte er: »Wir wollten gerade zum Dinner gehen. Wollen Sie sich uns nicht anschließen? Man hat mir gesagt, heute abend gäbe es Haggis.«

Der Gentleman stand auf. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich fürchte, ich bin heute abend bereits verabredet. Ein andermal vielleicht.« Er wünschte uns beiden einen schönen Abend und ging davon, ruhig und selbstbewußt wie eine Katze, die gerade ihre Milch bekommen hatte.

»Was für ein seltsamer Mann«, bemerkte ich, nachdem er verschwunden war.

»Pembers?« fragte Angus. »Warum sagst du das?«

Ich berichtete ihm von dem Mißverständnis meinen Vater betreffend und wie sich die Sache aufgeklärt hatte. »Das Seltsame ist, daß ich das Gefühl hatte, er wußte wirklich nicht, in welchem Jahrhundert er sich befindet, wenn man das denn glauben kann. Einen Augenblick lang wirkte er vollkommen verloren. Und da war noch etwas anderes: Ich habe ihm nicht meinen Namen genannt - er hat ihn bereits gewußt.«

»So? Dein Name ist ja auch kein Geheimnis, oder?« entgegnete Angus, zog die Uhr aus der Tasche und warf einen raschen Blick darauf. »Irgend jemand im Klub wird ihn ihm verraten haben. Entspann dich. Pembers ist schon in Ordnung.« »Pembers? Heißt er so? Er hat sich mir nicht vorgestellt.«

»Pemberton«, erklärte mir McTavot. »Er ist ein Freund der Familie seit ich weiß nicht wann. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang.«

Wir machten uns auf den Weg zum Speisesaal.

»Was tut Pemberton?« fragte ich.

»Du meinst, beruflich?« Angus zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, er gehört zum alten Landadel. Warum fragst du?«

»Nur so.«

Wir betraten den großen, mit dunklem Holz verkleideten Speisesaal, und ich entdeckte viele bekannte Gesichter unter den Anwesenden, doch meine Aufmerksamkeit wurde sofort auf die Frauen in Abendkleidern gezogen, die überall verteilt an den Tischen saßen. Es war Ladies' Night - der Alte Hirsch bewirtete bisweilen Damen -, und infolgedessen waren weniger Tische frei als üblich, und auf den meisten standen brennende Kerzen. Ich entdeckte einen kleinen, freien Tisch in der Nähe der Anrichte und machte mich auf den Weg dorthin. Einige der älteren Mitglieder waren bereits beim Käse angelangt.

Ich wollte mich gerade setzen, als Angus meine Wahl begutachtete und erklärte: »Das ist nicht der richtige, fürchte ich. Das ist mit Sicherheit nicht der richtige. Laß uns den dort drüben nehmen.«

Er ging zu einem Nachbartisch, der für vier Personen gedeckt war und auf dem die Kerzen noch nicht brannten. Als Angus einen Stuhl heranzog, machte ich ihn darauf aufmerksam, daß dieser Tisch reserviert sei, wie man anhand der nicht entzündeten Kerzen erkennen könne.

»Das ist er, ja«, stimmte er mir zu und setzte sich. »Für uns.«

»Du hast einen Tisch für uns reserviert?«

»Das habe ich, ja. Ich habe eine Überraschung für dich.« Er spähte durch den Raum. »Ich hoffe, meine Überraschung ist nicht aufgehalten worden.«

»Du machst mich neugierig«, erwiderte ich. »Erzähl mir mehr.«

»Alles zu seiner Zeit.«

Ein Kellner in weißem Jackett erschien und informierte uns über die Speisekarte des heutigen Abends. Dann drehte er sich wieder um und überließ uns dem Studium der umfangreichen Weinkarte des Klubs.

»Da war noch etwas anderes, weißt du?« sagte ich und beugte mich verschwörerisch vor.

»Noch etwas? Wovon redest du überhaupt?«

»Du hast doch gesagt, du hättest eine halbe Stunde lang auf eine Droschke gewartet. Davon hätte doch sonst niemand wissen können, oder?«

»Zumindest nicht, wenn dieser jemand nicht bei mir gewesen wäre, nein.«

»Natürlich nicht«, bestätigte ich, »doch Pemberton wußte es. Und er wußte auch, daß ich auf dich gewartet habe.«

»Das wirst du ihm wohl gesagt haben.«

»Stimmt, aber er hat es gewußt. >Sie sind doch der Freund des jungen McTavot, nicht wahr?< hat er gesagt, und ich habe ihm geantwortet, ich würde gerade auf dich warten.«

»Na und?«

»Und dann hat er mir gesagt, du würdest noch ein paar Minuten aufgehalten werden und daß wir uns in der Zwischenzeit genausogut unterhalten könnten.«

»Du hast ihm doch gesagt, daß du auf mich wartest; also war es nicht weiter schwer zu erraten, daß ich mich verspätet habe.«

»Nicht >verspätet<«, korrigierte ich ihn ernst, »>aufgehalten< - das war es, was er sagte. Ich hatte den Eindruck ... nun, ich hatte den Eindruck, als hätte er irgendwie dafür gesorgt.«

»Unsinn«, schalt mich Angus. »Ich habe auf eine Droschke gewartet und versucht.«

»Ja? Was hast du versucht?«

»Das ist egal«, wich er mir aus. »Aber wie auch immer: Warum sollte Pemberton mich aufhalten wollen?«

»Damit er mit mir sprechen konnte.«

»Er kann mit dir sprechen, wann immer er will«, lachte Angus.

»Das muß er nicht erst arrangieren. Du hast das alles wohl irgendwie in den falschen Hals bekommen.«

»Möglich«, gab ich zu, »doch ich verstehe nicht, warum.«

Bevor ich zu Ende sprechen konnte, stieß Angus seinen Stuhl zurück, sprang auf und strahlte wie ein Cherub. Ich drehte mich um, um zu sehen, was ihn derart erregt hatte, und erblickte zwei absolut umwerfende junge Frauen. Sie wurden vom Oberkellner hereingeführt, und bei ihrem Erscheinen ging ein Raunen durch die Anwesenden, und alle Köpfe drehten sich nach ihnen um: Die eine besaß dunkles Haar, war ausgesprochen schlank, und die andere mit ihren rötlichbraunen Haaren war ein wenig größer und üppiger geformt, und beide wirkten geradezu atemberaubend in ihren enganliegenden Satinkleidern. Mehr noch: Sie hielten genau auf Angus und mich zu.

Angus eilte der Dunkelhaarigen mit zwei Sprüngen entgegen, dankte dem Kellner und führte die Frau an unseren Tisch. »Libby, meine Liebe! Du siehst phantastisch aus.«

Das also war Libby. Ich hatte den Namen schon oft genug gehört - Angus schrieb ständig jemandem dieses Namens auf dem Kontinent -, aber ich hatte keine Ahnung, daß sie inzwischen von ihren Reisen zurückgekehrt war oder daß Angus jemanden von solch umwerfender Schönheit kannte. Er drehte sich zu mir um und sagte: »Darf ich dir meine Verlobte vorstellen, Elizabeth Gowan, und ihre Cousine, Caitlin Charmody.« Er lächelte, als die rothaarige Schönheit mir ihre Hand anbot. »Meine Damen, das hier ist mein ältester und bester Freund, Gordon Murray.«

Er sprach, als hätten wir uns schon in früheren Leben gekannt; aber wenn seine leichte Übertreibung mir die Gesellschaft dieser verführerischen Wesen sicherte, wer war ich dann, ihm zu widersprechen?

»Meine Damen, ich bin entzückt.« Ich ergriff die Hand der jungen Frau und berührte sie galant mit den Lippen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miss Charmody.«

»Auch ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Murray«, gurrte sie mit tiefer, melodischer Stimme.

»Wenn Sie erlauben.« Ich beugte mich vor und zog einen Stuhl zurück. Ihr edles Parfüm betäubte meine Sinne mit dem Duft exotischen Nektars, und augenblicklich fragte ich mich, was es wohl für ein Gefühl wäre, sie zu küssen. »Angus sagte, er hätte eine Überraschung für mich, und ich bin entzückt zu sehen, um was für eine Überraschung es sich dabei handelt.«

Ich fürchte, das waren vermutlich die letzten vernünftigen Worte, die ich in dieser Nacht gesagt habe. Denn nach dem Erscheinen der Damen brachte uns der Kellner Champagner, und wir alle tranken auf die offizielle Verkündung von Angus' und Elizabeths Verlobung, sehr zum Amüsement der anderen anwesenden Klubmitglieder.

So verging der Abend mit Kerzenlicht, Wein und Gelächter. Als wir uns erhoben, um zu gehen, war der Speisesaal dunkel, denn alle anderen, einschließlich der Kellner, waren längst schon gegangen. Anschließend spazierten wir zu viert am Ufer entlang, und das -so glaube ich - über Stunden. Irgendwann wußte ich nicht mehr, was ich sagen sollte, doch die rothaarige Schönheit hing an meinen Lippen, und so redete ich weiter, nur um sie bei mir zu behalten, und mir graute vor dem Augenblick unseres Abschieds. Ich redete wie ein Idiot, um diese drohende Katastrophe herauszuzögern.

Doch der Abschied konnte nicht für immer aufgeschoben werden, und schließlich wünschten wir uns gegenseitig eine gute Nacht. Dann rief Angus eine Droschke für die Damen, bezahlte den Fahrer und schickte sie los. Ich stand auf der Straße und blickte der Liebe meines Lebens hinterher, die langsam im immer dichter werdenden Nebel verschwand. Ich hatte das Gefühl, als hätte man mich des Lebens selbst beraubt - oder zumindest des einzigen Lebens, das nach diesem Abend den Namen noch wert war. Um alles noch schlimmer zu machen, fiel mir plötzlich ein, daß ich sie hatte ziehen lassen, ohne vorher noch ein weiteres Treffen zu vereinbaren oder mir auch nur ihre Adresse zu sichern.

Angus, der auf einer Woge des Glücks und der Liebe schwamm, warf einen kurzen Blick auf mein Gesicht und sagte: »Schau nicht so griesgrämig drein, mein Freund. Du wirst sie schon wiedersehen.«

»Wann?« fragte ich. Meine Stimme klang wie ein armseliges Blöken.

»Morgen, würde ich sagen. Wir vier werden zum Sonntagspicknick nach Queen's Ferry gehen. Es ist schon alles arrangiert. Hast du das etwa vergessen?«

»Wir alle vier? Du meinst. Ich dachte, nur du und Lizzy...«

»Libby.«

»Wir alle vier? Wirklich? Ich dachte. Aber das ist ja phantastisch. Das ist großartig!«

»Beruhige dich.« Er legte mir die Hand auf den Arm. »Komm jetzt.« Angus machte sich auf den Weg die Straße hinunter. »Laß uns sehen, ob wir noch irgendwo eine von diesen verdammten Droschken bekommen können.«

So kam es, daß sich zwei der bedeutendsten Ereignisse in meinem Leben an ein und demselben Abend ereigneten. Zwei Treffen, die kurz hintereinander stattgefunden hatten - mit Pemberton und mit Miss Caitlin Charmody - und die den gesamten Verlauf meines Lebens verändern sollten, das erste nicht weniger als das zweite.

VI uf Befehl von Alexios, Oberstem Herrn des Heiligen Römischen WReiches, Auserwähltem des Himmels, Nachfolger der Apostel, wird angeordnet, daß Ihr die Stadt nicht mit Euren Armeen betreten dürft; doch es wird Euch gestattet, hier Euer Lager aufzuschlagen, und hier werdet Ihr warten, bis der Basileus Euch empfängt.« Ni-ketas hielt kurz inne und blickte von dem Pergament auf, das er in Händen hielt. »Habt Ihr verstanden, was Euch vorgelesen worden ist?«

Gottfried, der Herzog von Bouillon, neigte den Kopf; doch sein Bruder Balduin erwiderte kühn: »Wie lange sollen wir warten?«

»Ihr werdet warten«, erklärte der Kommandant der Exkubiten geduldig, »bis der Basileus Euch zu sich ruft.«

»Hörst du das, Bruder?« wandte sich Balduin entrüstet an Gottfried. »Wir sollen hier draußen vor den Mauern warten wie ein Haufen Leprakranker!«

»Wartet, wie immer Ihr wollt«, erwiderte Niketas in gelassenem Tonfall, »aber warten werdet Ihr, und zwar bis der Basileus Eure Gesellschaft wünscht.«

»Das ist unerträglich!« schnaufte Balduin.

»So ist es befohlen worden«, schloß der Offizier. Er reichte das Dokument dem älteren der beiden Brüder, drehte sich um und stieg auf sein Pferd. Ausdruckslos beobachteten ihn dabei die Waräger des Kaisers; sie waren gleichermaßen darauf vorbereitet zu kämpfen wie sich zurückzuziehen.

»Nach allem, was wir auf dieser Reise erdulden mußten«, schäumte Balduin, »werden wir in dieses Lager gepfercht wie ein armseliger Haufen Bettler. Das ist eine Beleidigung!«

»Vielleicht hätten die christlichen Einwohner von Selymbria eine solche Beleidigung vorgezogen«, entgegnete Niketas in scharfem Tonfall.

»Das war ein Fehler«, gestand Gottfried. »Ein Fehler, den wir zutiefst bereuen.«

»Ich bin sicher, daß Selymbria sich freuen wird, das zu hören«, erklärte Niketas. »Ohne Zweifel werden die Überlebenden zu Euren Ehren ein Festmahl veranstalten. Ich wünschte nur, Eure Reue würde sich auch - sagen wir - >materiell< ausdrücken; die Waisen und Witwen könnten Mühe haben, genug Nahrung zum Feiern zu finden, wenn sie von Eurer Reue erfahren.«

»Komm sofort von dem Pferd herunter, du unverschämtes Arschloch!« brüllte Balduin. »Wir befehligen eine Armee von vierzigtausend Mann! Wir lassen uns nicht.«

»Oh, wir haben gesehen, wozu Eure ruhmreiche Armee fähig ist«, unterbrach ihn Niketas kalt, »als Ihr die Unschuldigen und Wehrlosen angegriffen habt. Falls Euch die Begrüßung des Kaisers zu grob erscheint, dann schlage ich vor, Ihr denkt einmal darüber nach, ob die Ermordung seiner Untertanen geeignet war, seine Freude ob Eures Erscheinens zu erwecken.«

Balduin stieß einen erstickten Schrei aus und sprang vor. Die Waräger senkten die Lanzen und bereiteten sich auf einen Angriff vor.

»Bitte, haltet Frieden!« meldete sich Gottfried zu Wort und hielt seinen Bruder zurück. An den Kommandanten der Palastwache gewandt sagte er: »Wir werden dem Befehl gehorchen. Bitte, überbringt Eurem Kaiser dieses Versprechen zusammen mit unseren besten Wünschen.«

Niketas zog die Zügel an, wendete sein Pferd und ritt, gefolgt von den Warägern, davon. Als sie das Soldatentor erreichten, galoppierten die Reiter eilig hindurch, und die schweren Flügel wurden hinter ihnen wieder geschlossen. Der Kommandant kehrte sofort zum Bla-chernenpalast zurück und wurde ohne Verzögerung in die kaiserlichen Privatgemächer geführt, wo der Basileus seine Rückkehr erwartete.

»Nun?« fragte Alexios. »Was hältst du von ihnen, Niketas?«

»Es sind Franken, Basileus«, erwiderte der Kommandant und zuckte mit den Schultern, »arrogante, ungebildete Hitzköpfe.«

»Haben sie den Angriff geleugnet?«

»Sie sagten, es sei ein Fehler gewesen, welchen sie zutiefst bedauerten.«

Alexios nickte nachdenklich. »Das ist zumindest etwas. Aber wie auch immer: Wir werden die Waräger ausschicken, um die Nachzügler einzusammeln und sie nach Konstantinopel zu eskortieren. Wir werden keine weiteren Angriffe auf Bürger und Eigentum des Reiches mehr dulden. Sorg dafür, Niketas.«

»Es wird geschehen, wie Ihr befehlt, Basileus.« Der Kommandant der Exkubiten bestätigte den Erhalt des Befehls mit einer Verbeugung. »Was die betrifft, die bereits eingetroffen sind, so habe ich ihnen befohlen, ihr Lager vor den Mauern aufzuschlagen, wie Ihr angeordnet habt. Wünscht Ihr, daß ich ihre Führer zu einer Audienz zu Euch bestelle?«

»Bald, Niketas, aber jetzt noch nicht«, antwortete Alexios. »Wenn ihre Hitzköpfe ein wenig ausgekühlt sind, werden sie vielleicht wieder ein wenig zu Verstand kommen. Sie sollen ruhig eine Weile über ihre Taten nachdenken. Deshalb werden Wir sie vorläufig warten lassen.«

»Und die Nahrungsmittel, Basileus?«

»Wir werden den Neuankömmlingen die gleichen Mittel zur Verfügung stellen wie Graf Hugo«, erwiderte der Kaiser ungeduldig. »Nicht mehr und nicht weniger.«

Niketas akzeptierte den Plan, doch stellte er seinen Nutzen in Frage. »Glaubt Ihr, daß dies ausreichen wird, Basileus?«

»Es ist mehr, als sie den Menschen von Selymbria gegeben haben«, antwortete Alexios in scharfem Ton.

»Verzeiht mir, Basileus, aber es sind wirklich sehr viele.«

»Wie viele, Niketas?«

»Die Kundschafter sagen.«

»Wir wissen, was die Kundschafter sagen«, unterbrach ihn der Kaiser. »Wir haben dich gefragt, Niketas. Du hast sie gesehen; also was sagst du?«

»Vielleicht zwanzigtausend, und ständig kommen mehr.« Unwillig, die schlechte Nachricht weiterzugeben, hielt er kurz inne. »Die Herren der Franken prahlen mit der doppelten Zahl.«

»Vierzigtausend«, stöhnte Alexios und rechnete rasch durch, wieviel es ihn kosten würde, so viele Mäuler zu füttern.

»Und das sind nur die Soldaten«, fuhr Niketas fort. »Sie haben auch noch Frauen und Kinder mitgebracht.«

»Gott stehe uns bei«, seufzte Alexios. Diese Kreuzfahrer waren Wahnsinnige: Sie nahmen ihre Frauen und Kinder mit in den Krieg! Was war in sie gefahren? Daß sie hier ankamen, ohne auf die Gefahren vorbereitet zu sein, die sie erwarteten, das war schon dumm genug; aber daß sie überdies auch noch ihre Frauen und Kinder diesen Schrecken aussetzten, war vollkommen unverständlich.

Reumütig erinnerte sich Alexios an die ersten, die hier angekommen waren, und wie sie den höchsten Preis für ihre Torheit bezahlt hatten: Der Eremit Peter von Amiens und seine Bauernarmee waren von den Seldschuken vor den Toren von Antiochia niedergemetzelt worden. Von den sechzigtausend, die Konstantinopel verlassen hatten, waren nur siebentausend verschont und in die Sklaverei verschleppt worden; den Rest hatte man abgeschlachtet. An einem einzigen Nachmittag hatten dreiundfünfzigtausend fehlgeleitete Christenmenschen ihr Leben für die Dummheit des Bischofs von Rom geopfert. Das Ausmaß dieser Tragödie entzog sich Alexios' Vorstellungskraft.

»Gott stehe uns bei!« seufzte Alexios erneut. Dann beendete er die Audienz und überließ seinen Kommandanten dessen Pflichten.

Nachdem Niketas gegangen war, rief der Basileus nach seinem Kammerherrn. »Gerontios«, sagte er, als der Mann erschien, »bring Uns unseren Reitumhang und unsere Haube. Wenn Wir fort sind, kannst du den Magister Officiorum davon in Kenntnis setzen, daß Wir den Palast verlassen haben.«

»Wie Ihr befehlt, Basileus«, erwiderte der alte Diener. »Soll ich den Drungarios rufen, um dem Basileus aufzuwarten?«

»Nein«, antwortete Alexios, »Wir wünschen, heute alleine auszureiten.«

Mit der Frage nach seinem Reitumhang und seiner Haube pflegte der Kaiser seit langem auszudrücken, daß er den Palast ohne den üblichen Aufwand an Leibgardisten und Beratern zu verlassen wünschte. Das war etwas, was er häufig tat, besonders wenn er die wahre Stimmung des Volkes kennenlernen wollte. Alexios verkleidete sich nicht. Er hatte schon früh bemerkt, daß er sich ohne den ganzen Pomp, der ihn normalerweise umgab, vollkommen unerkannt auf den Straßen bewegen konnte. Mit seiner kräftigen Statur und dem unauffälligen Äußeren widmete ihm niemand sonderlich Aufmerksamkeit; wenn er in einfache Kleider gehüllt war, betrachtete ihn jeder als gewöhnlichen Bürger.

Nachdem er sein Staatsgewand ab- und den einfachen Umhang und die Haube eines Stallknechts angelegt hatte, verließ der Auserwählte des Himmels und Stellvertreter Gottes auf Erden eilig den Palast durch einen der verborgenen Ausgänge. Er schob den Riegel der niedrigen, schmalen Tür beiseite, duckte sich hindurch, eilte zwischen zwei hohen Mauern entlang und erreichte schließlich eine kleine, gewundene Straße voller verlassener Marktstände. Nachdem er auf die Straße hinausgetreten war, schaute er sich um, um sich zu vergewissern, daß ihn niemand bemerkt hatte, doch er sah nur zwei ausgemergelte Hunde, die in einem Müllhaufen wühlten.

Alexios zog die Haube tiefer ins Gesicht, ging raschen Schrittes die Straße entlang, bog um die nächste Ecke und verschwand auf dem dahinterliegenden Marktplatz, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Eine Zeitlang schlenderte er über den Markt und genoß die Gerüche und Geräusche. Einmal blieb er stehen, um einen Beutel Datteln von einem älteren Kaufmann zu erstehen; dann lenkte er seine Schritte zur Mauer des Theodosius.

Wie selbstverständlich bewegte sich Alexios inmitten seiner Untertanen, aß Datteln und überlegte, welche Sühne er von den Kreuzfahrern für die Zerstörung von Selymbria verlangen sollte. Diese arroganten Fürsten mußten zur Vernunft gebracht werden, und er würde dafür sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan würde, bevor sie wieder nach Hause zurückkehrten. Zunächst jedoch mußte er diese armseligen Potentaten einschätzen können, die es wagten, im Namen Gottes so ungehörig durch sein Reich zu reiten.

Als er die Mauer erreichte, wandte sich Alexios nach links und ging die breite Straße hinunter, die an den gesamten westlichen Verteidigungsanlagen vorbeilief. Zwischen Straße und Mauer hatten die Armen ihre Bretterhütten errichtet, einfache Verschläge, die gerade einmal dazu ausreichten, den Regen abzuhalten. Wie so viele in der Hauptstadt, so sah auch Alexios in diesem Umstand ein Symbol für den Zustand des Reiches: Die massiven Mauern standen für die starke Herrschaft des Gesetzes und den einen wahren Glauben der zivilisierten Menschheit, und die elenden Hütten waren das Symbol für das Leben jener Bürger, deren Überleben auf bemitleidenswerte Weise von der Stärke des Reiches abhing.

Dann und wann humpelte eine Elendsgestalt aus einer der Hütten, um zu betteln, und Alexios hatte stets eine Münze und ein Wort des Trostes für jene übrig, die danach fragten. Als er schließlich keine Münzen mehr hatte, gab er den Armen seine Datteln.

Nach einer Weile erreichte er den großen Platz vor dem Goldenen Tor, dem letzten der alten Tore. Spätere Kaiser hatten vor der Mauer des Theodosius neue Verteidigungsanlagen errichten lassen, doch in diesem Teil Konstantinopels erhoben sich die alten über die neuen Mauern und kündeten von der ruhmreichen Vergangenheit der Stadt. Nachdem er das Tor durchquert hatte, fand sich Alexios im Viertel der Schmiede und Kunsthandwerker wieder, die ihrer Arbeit in einfachen Holzständen nachgingen, hinter denen sie zumeist mit ihren Familien in ein paar kleinen Zimmern wohnten. Den Geräuschen nach zu urteilen, arbeitete jeder einzelne Handwerker eifrig hinter einer Wand aus dem Rauch der Schmiedefeuer. Das Schlagen von Hämmern auf Metall, Holz und Stein und das Rufen der Männer, die einander um Werkzeuge oder Material baten, schwoll immer mehr zu einer Kakophonie an, nicht unähnlich jenem Getöse, das bei einer Schlacht herrschte.

Alexios mochte den Lärm und den Tumult; er schätzte Männer, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Hände Arbeit verdienen konnten. Häufig blieb er stehen, um das ein oder andere Produkt zu bewundern, doch niemals ließ er sich auf ein Gespräch ein, denn das hätte unweigerlich ein Feilschen über den Preis der Ware zur Folge gehabt, was er verabscheute.

Er hielt weiter auf sein Ziel zu und erreichte schließlich das Ende des Schmiedeviertels, wo er stehenblieb und zum erstenmal auf das Lager der Pilger blickte, die ihre Zelte weit jenseits der den Toren vorgelagerten Ebene aufgeschlagen hatten - bei der Ebene handelte es sich um einen Teil der alten Salzmarschen, die vor langer Zeit trockengelegt worden waren. Überall auf den Hängen, die das Goldene Horn umgaben, waren kleine, dunkle Zelte verteilt - eine unreine Flut, die drohte, sich ins Wasser des Bosporus zu ergießen. Der Rauch der Kochfeuer hing über dem Lager, so daß Alexios das Gefühl hatte, auf eine dunkle Bergkette zu blicken, die von grauen Gewitterwolken verhangen war. Diese finsteren Berge erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Das waren Tausende - Zehntausende! Und den Berichten der Kundschafter und Spione zufolge war dies nur die erste von vielen Gruppen, die durch das Reich marschierten, und alle hielten sie auf die Hauptstadt zu.

Alexios ging näher heran. Von der äußeren Grenze des Lagers aus konnte er inmitten des Rauchs die Pferche kaum erkennen, in denen die Pferde der Franken standen. Doch obwohl er die Tiere nicht sehen konnte, so konnte er sie doch riechen - selbst auf diese Entfernung war der Geruch von Pferdedung unverkennbar. In größerer Nähe würde der Gestank geradezu überwältigend sein. Dennoch beschloß der Kaiser, sich die Sache näher anzuschauen, und so machte er sich auf den Weg über die Ebene; er wollte die verrückten Römer in Fleisch und Blut sehen.

Nicht, daß ihm der Anblick unvertraut gewesen wäre: In jungen Jahren hatte er eine seiner ersten Schlachten als Kaiser gegen eben diese Art Männer geschlagen. Über Jahre hinweg hatte er gegen den hinterlistigen Robert Guiscard gekämpft, bis der sture Herzog schließlich den Kampf aufgegeben hatte und nach kurzem Widerstand dem Fleckfieber erlegen war. Nach dem Tod des alten Herzogs hatten seine Söhne begonnen, sich untereinander um die Nachfolge zu streiten, und so hatte sich das Reich auf die Verteidigung seiner Nordgrenzen konzentrieren und sich der neuen, wachsenden Bedrohung im Osten stellen können, die von den Seldschuken ausging.

Nun waren die Römer - wie sie sich selber gerne bezeichneten -wieder zurückgekehrt, und die Tatsache, daß sie hier waren, um Ale-xios bei der Rückeroberung des Heiligen Landes zu helfen, freute ihn bei weitem nicht so sehr, wie man hätte erwarten können. In Robert Guiscard hatte er das wahre Gesicht des Westens gesehen, und er hatte guten Grund, dieses Gesicht zu hassen und zu verachten. Zum Wohle des Reiches jedoch durfte er nicht zulassen, daß diese Gefühle seine Verhandlungen mit den Anführern der Pilger beeinträchtigten. Er würde sie empfangen; er würde sie sogar willkommen heißen, doch er würde ihnen nicht glauben, und niemals, niemals, würde er ihnen vertrauen.

Als Alexios sich der ersten Reihe von Zelten näherte, bemerkte er eine beachtliche Zahl von Kaufleuten, die den Pilgern ihre Waren feilboten - alles von wertvollem Schmuck über Seidenstoffe, für die die Weber von Byzanz berühmt waren, bis hin zu Kohlsuppe, gekochten Eiern und Brot. Beim Näherkommen bemerkte er einen schrillen Unterton in den Stimmen der Kaufleute, und schon bald erkannte er, daß die Geschäfte offensichtlich nicht so liefen wie gewohnt. Als ihm mehrere Händler entgegenkamen, die mürrisch ihre noch immer mit Waren vollbeladenen Karren vor sich her schoben, grüßte Alexios einen von ihnen und fragte ihn, was denn los sei.

»Argh!« Der Kaufmann rollte mit den Augen. »Beim Licht des Himmels, diese Römer sind schlimmer als die Barbaren! Sie wollen alles, nur nicht zahlen. Man kann nicht mit ihnen reden. Ich bin fertig hier.«

Bevor der Kaiser etwas darauf erwidern konnte, verlangte der Mann zu wissen: »Halten sie uns etwa für Trottel, die ihre Waren verschenken? Seht Euch doch nur mal diese Melonen an!« Er nahm eine reife Frucht von dem ordentlichen Stapel auf seinem Karren. »Habt Ihr schon jemals so schöne Melonen gesehen? Und diese Aprikosen! Hier, versucht eine. Habt Ihr schon einmal solche Aprikosen gegessen?«

Nein, bestätigte der Kaiser dem Mann, er habe wirklich noch nie solch wunderbare Aprikosen gegessen.

»Natürlich nicht!« schrie der Händler. »Ich baue sie selbst an! Das sind Früchte, die der Tafel des Basileus höchstpersönlich würdig sind! Und was tun die da? Sie rümpfen ihre Nasen über mich!« Der Mann nahm seinen Karren auf und machte sich wieder auf den Weg. »Theo-tikis ist mit denen fertig! Sollen sie sich meiner nur erinnern, wenn sie verhungern! Argh!«

Andere Händler brachten ähnliche Beschwerden vor: Die Römer besaßen Gold genug, doch sie weigerten sich, es auszugeben. Sie schienen zu glauben, daß ihnen außer dem Getreide und dem Wasser, mit dem der Kaiser sie versorgte, auch alles andere kostenlos zustand. Für die Kaufleute war das schon schlimm genug, doch noch schlimmer war die unerklärliche Verachtung der Römer gegenüber den Griechen. Die Beschimpfungen aus den Mündern der Gäste machten den Kaiser zunächst verlegen, dann verwunderten sie ihn. Bis zum letzten Mann schienen die lateinischen Ritter für ihre byzantinischen Brüder nichts als Verachtung übrig zu haben; sie schmähten und verfluchten sie im selben Atemzug, da sie nach ihren Waren verlangten.

»He, Schweinchen! Hier rüber!« riefen sie und grunzten. »Hierher, Schweinchen! Nennst du das etwa Brot, du Schwein! Dafür gebe ich dir noch nicht mal einen Scheißhaufen.«

Oder: »Was denn? Glaubst du etwa, ich rühre den Stoff noch an, nachdem du ihn mit deinen dreckigen Händen betatscht hast? Weg damit, du scheißefressender Köter!«

Diese Litanei von Beschimpfungen wurde stets wiederholt, wann immer mehrere Händler beisammen standen. Und wenn dieses Verhalten den Kaufleuten schon Sorgen bereitete, so empfand Alexios es sogar als ausgesprochen alarmierend. Vor ihm hatte eine riesige Armee ihr Lager aufgeschlagen, deren Kämpfer den gemeinsamen Glauben mit den Bürgern des Reiches nicht anerkannten und die sich zudem als ihren östlichen Brüdern überlegen betrachteten, so daß sie es nicht einmal für nötig hielten, die simplen Regeln des Anstands zu beachten.

Was der Obstverkäufer gesagt hatte, entsprach der Wahrheit: Diese Römer waren schlimmer als die Barbaren. Einen unwissenden Barbaren gelüstete es nur nach so viel, wie er mit eigenen Händen fortschleppen konnte. Diese Männer jedoch wollten die Welt - und wie es den Anschein hatte, glaubten sie bereits, sie zu besitzen. Alexios beschloß, daß ihnen diese Vorstellung so bald wie möglich ausgetrieben werden mußte. Ja, aber er mußte sie still und heimlich besiegen, ohne es zu offenen Auseinandersetzungen kommen zu lassen.

Alexios schlenderte am Rand des Lagers entlang und beobachtete die Ritter und Fußsoldaten. Beinahe ohne Ausnahme handelte es sich um ungewöhnlich große Männer: Sie besaßen breite Schultern, mächtige Bäuche und Hüften und starke Hände und Muskeln. Ihre Bewegungen waren kraftvoll und entschlossen, wenn auch ein wenig schwerfällig und nicht geschmeidig, wie man es von guten Kämpfern erwartet hätte. Ihre Haut war blaß, beinahe ohne jegliche Farbe, und besaß die Textur und Farbe von rohem Teig. Alexios gefiel die Vorstellung, daß selbst die leichteste Berührung dauerhafte Spuren in dem weichen Fleisch hinterlassen würde.

Die Gesichter der Römer waren breit mit dicken Lippen und großen Nasen; die Augen standen weit auseinander und wirkten unnatürlich klein unter den dichten Augenbrauen. Alexios konnte sich nicht vorstellen, wie irgendeine Frau einen solchen pferdegesichti-gen Mann anziehend finden konnte. Doch am Schlimmsten von allem war ihr Haar: Sie trugen es lang! Wie Frauen! Und wie das Haar junger Frauen, so fiel auch den Römern das offene Haar in Locken bis weit über die Schultern; seltsamerweise waren sie aber bis auf den einen oder anderen Schnurrbart glattrasiert. Die Kombination aus langem Haar und glattem Kinn wirkte merkwürdig auf das byzantinische Auge; Alexios erschien die Mischung sogar ein wenig obszön - als hätten die Fremden verrückterweise darauf bestanden, das zu bedecken, was enthüllt werden mußte, und umgekehrt.

Die Kleidung der Kreuzfahrer war grob und schwer und dunkel gefärbt. Die meisten trugen einen Umhang über einer knielangen Tunika, die an der Hüfte von einem breiten Ledergürtel gehalten wurde, in den sie ihre Messer steckten. Alexios bemerkte allerdings, daß einige wenige auch Umhänge aus teureren Stoffen besaßen, auf die Vierecke und Streifen in unterschiedlichen Farben gestickt waren - Rot und Grün, Gelb und Blau, Schwarz und Weiß. Aber egal ob Umhang, Tunika oder Hose, sämtliche Kleidungsstücke der Fremden waren für ein weit wechselhafteres Klima bestimmt als das, wohin sie ihre Reise geführt hatte - ganz zu schweigen von dem, das in den Ländern herrschte, die sie mit Gottes Hilfe erreichen wollten.

Ihre Füße steckten in schweren Lederstiefeln oder Schuhen im alten römischen Stil mit harten Sohlen und dicken Schnürbändern, die fast bis zum Knie hinaufreichten. Zumindest darin zeigten sie ein wenig Weisheit: Der Boden des Heiligen Landes war hart und trocken, mehr Stein als Erde, und ein Soldat, der nicht gehen oder laufen konnte, konnte auch nicht kämpfen. Zu viele gute Männer waren schon gestorben, weil ihr Schuhwerk den Marsch nicht ausgehalten hatte, geschweige denn die Schlacht, sinnierte Alexios; der Kaiser achtete sehr auf die Fußbekleidung seiner Soldaten.

Das Benehmen der Fremden entsprach genau dem, was Alexios erwartet hatte: hochmütig, unverschämt und unhöflich. Sie staksten voller unerträglichem Stolz durchs Lager, grüßten einander mit flegelhaften Gesten, und ihre Gespräche wurden oft durch lautes, ungezügeltes Lachen unterbrochen. Sie sprachen mit lauter Stimme und benahmen sich barsch - mit einem Wort: Sie waren primitiv. Sie verhielten sich, als seien sie nicht im mindesten zivilisiert und hätten nichts als Stroh im Kopf. Sie waren ungeladene Gäste in einem Land fern ihrer Heimat. Um der Liebe Christi willen, bedeutete ihnen das denn gar nichts?

Mit der Arroganz und dem Ehrgeiz ihrer Anführer hatte man rechnen müssen, aber die beiläufige Brutalität der einfachen Kämpfer war eine unerwartete und böse Überraschung. Alexios sah darin die häßliche Fratze einer bösen Macht - eine Sündhaftigkeit, die ihren Ursprung in einem Herzen aus Haß, Ignoranz und Gier hatte.

Nachdem er genug gesehen hatte, wandte sich der Kaiser ab und eilte in den Palast zurück, um seine Berater zu sich zu rufen und sich auf die bevorstehende Schlacht vorzubereiten. Als er schließlich durch die Geheimtür wieder in den Palast schlüpfte, hatte Ale-xios bereits seinen ersten Schlag geplant. Es würde den Feind in Form eines Geschenks treffen, hatte er beschlossen - oder besser noch: in Form vieler Geschenke. Je ausgefallener und teurer desto besser.

er Kaiser ließ seine ungehörigen Besucher neun Tage lang warten; dann sandte er den Kommandanten der Exkubiten mit einer Vorladung hinaus. »Der Kaiser wird euch jetzt empfangen«, informierte Niketas Gottfried und Balduin mit eisiger Stimme. »Macht euch bereit. Morgen früh wird man euch eine Eskorte schicken, die euch zum Palast geleiten wird.«

Am nächsten Tag wurden Gottfried, Herzog von Bouillon, und Balduin von Boulogne, jeder mit einem Gefolge aus Edelleuten, in den großen Empfangssaal des Blachernenpalastes geführt. Die beiden Fürsten und ihr Gefolge schritten mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen durch die Pracht des Palastes. Polierte, blaßgrüne Marmorböden erstreckten sich unter einer mit Gold verzierten Decke, die auf einem Wald aus grazilen Marmorpfeilern ruhte, die so rein und weiß waren, daß sie mit dem Licht des Mondes zu strahlen schienen.

Geführt vom Magister Officiorum, der würdevoll seinen elfenbeinernen Amtsstab in die Höhe hielt, passierten die Römer zwei riesige Tore aus poliertem Kupfer, die sich geräuschlos öffneten, um den Weg in einen Raum freizugeben, welcher alles an Pracht übertraf, was sie bisher gesehen hatten. Seltener blauer und grüner Marmor, der unter enormem Kostenaufwand aus den entlegensten Winkeln des Reiches herbeigeschafft worden war, zierte Wände und Boden und schimmerte im Licht Hunderter parfümierter Kerzen, die in goldenen Leuchtern überall im Raum verteilt waren.

Vor ihnen auf einer Empore aus Porphyr, gekleidet in seine purpurfarbenen Staatsgewänder, die goldene, mit Rubinen und Perlen verzierte Krone auf dem Haupt, saß Basileus Alexios Komnenos, Auserwählter des Himmels, Herrscher der gesamten Christenheit, Gottes Stellvertreter auf Erden und Nachfolger der Apostel. Wenn ihr erster Blick auf den mächtigsten lebenden Mann die Herren des Westens nicht beeindruckt hatte, so erregte sie der Anblick des Thrones aus purem Gold bis tief in ihre Seelen hinein. Auch bemerkten sie die beeindruckende Präsenz der in drei Reihen angetretenen warägischen Leibgarde des Kaisers, die mit Äxten und silbernen Schilden ausgestattet war und deren Helme mit Lapislazuli und deren Harnische mit Gold besetzt waren.

Gottfried und Balduin waren erstaunt, erregt, fasziniert und erfreut über alles, was sie sahen. Auch wenn sie dem Mann mit Gleichgültigkeit begegneten, so konnten sie doch weder seinen Reichtum ignorieren noch die Macht, die ihm zur Verfügung stand. Um es kurz zu machen: Beide stellten sich unabhängig voneinander vor, wie sie selbst in marmornen Palästen auf goldenen Thronen sitzend Hof hielten und sieben Fuß große Krieger in die Schlacht führten, deren Rüstungen allesamt mit kostbaren Edelsteinen verziert waren. Dies alles erschien ihnen dermaßen verlockend und angemessen für Männer von ihrem Rang, daß die Brüder keinen Grund sahen, warum sie einen solch erhabenen Status nicht eher früher als später erlangen sollten. Auch wenn sie jetzt vielleicht nur Besucher in einem Land von unermeßlichem Reichtum waren, so waren sie doch von königlichem Geblüt, und somit stand ihnen das gleiche zu wie allen Königen. Sie brauchten es sich nur zu nehmen.

Der Magister führte die Gruppe zum Thron, wo er dreimal den Stab auf den Boden stieß und verkündete: »Ich bringe vor Eure Majestät Eure ergebenen Diener Gottfried von Bouillon und Balduin von Boulogne und ihre Vasallen.«

Dann warf er sich zu Boden und bedeutete den verwirrten Edelleuten, sie sollten es ihm gleichtun. Alexios ließ sie einen langen Augenblick lang auf dem Boden liegen, bevor er die Hand hob und erklärte: »Ihr dürft Euch erheben.«

Die Fürsten gehorchten und blickten in kluge dunkle Augen in einem kühlen, berechnenden Gesicht. Gottfried, der ältere der beiden Brüder, sprach als erster. »Mein Herr und Kaiser«, sagte er in seinem besten Latein, »wir grüßen Euch im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Möge er Euch segnen. Wir überbringen Euch auch die Grüße Seiner Heiligkeit, Papst Urban, der Euch bittet, Eure Brüder in Christi mit Wohlwollen aufzunehmen.«

»Wir nehmen Euren Gruß entgegen«, erwiderte Alexios, »und Wir sind bereit, Euch und allen unter Eurem Befehl Unsere Freundschaft anzubieten. Sicherlich habt Ihr bereits die Geschenke erhalten, die Wir Euch als Zeichen Unserer Freundschaft haben zukommen lassen, und jene, die Unserem Thron die Treue schwören, erwarten noch mehr.«

»Wir haben sie in der Tat erhalten, mein Herr und Kaiser«, antwortete Gottfried. »Unser Dank ist so grenzenlos wie Eure Großzügigkeit.«

Alexios neigte königlich den Kopf zur Seite. »Wir nehmen ebenfalls an, daß Ihr auch den Proviant erhalten habt, den Wir Euch

für Eure Truppen geschickt haben.«

»Wir stehen in Eurer Schuld, mein Herr und Kaiser«, erwiderte der Herzog.

»Diese Schuld läßt sich leicht begleichen«, erklärte ihm der Kaiser. »Wir erwarten nur eines als Gegenleistung.«

»Mein Herr und Kaiser braucht uns nur seinen Wunsch zu nennen«, sagte Gottfried, »und wir werden ihn so schnell wie möglich in die Tat umsetzen.«

»Das freut Uns zu hören.« Der Kaiser hob die Hand, und ein schwarzgewandeter Beamter trat vor. Der Mann trug eine rote Haube so flach wie eine Maurerkelle und stellte sich neben den Thron. Nachdem er sich tief verbeugt hatte, reichte der Logothet dem Kaiser ein Pergament. Der Kaiser nahm das Dokument entgegen, entfaltete es und begann zu lesen.

Die beiden edlen Brüder hörten zu und wurden zunehmend nervös, denn das Dokument enthielt Verhaltensregeln, an die sie sich halten sollten, solange sie Gäste des Reiches waren. Als Alexios zu dem Treueid kam, den sie zu schwören hätten und durch den sie die Oberherrschaft des Kaisers über alle Herren des Westens anerkennen sollten, waren sie entsetzt.

»Mein Herr und Kaiser«, flehte Gottfried. »Es ist uns sehr unangenehm; aber wir haben bereits Kaiser Heinrich IV. den Treueid geleistet. Wir können unmöglich zwei Herren die Treue schwören. Daher muß ich Euch leider bitten, uns die Erfüllung dieser Bedingung zu erlassen.«

»Aber Wir werden sie Euch nicht erlassen, Gottfried von Bouillon«, erwiderte Alexios in ruhigem, doch mißbilligendem Tonfall. »So wie es nur einen Gott gibt, so gibt es auch nur ein Heiliges Römisches Reich, und Konstantinopel ist seine Hauptstadt. Es gibt nur einen höchsten Herrscher, jenen Herrscher, den Ihr vor Euch auf dem Thron seht; es gibt keinen zweiten. Es kümmert Uns nicht, was die Herren des Westens in ihren eigenen Ländern tun und lassen, aber wenn sie in die Hauptstadt des Reiches kommen, dann werden sie dem Herrn die Treue schwören, der sie mit Speis und

Trank versorgt.«

Den Römern verschlug es die Sprache. Keiner von ihnen hatte ein solch ungebührliches Willkommen erwartet. Unter unsäglichen Strapazen waren sie neun Monate lang marschiert, um dem angeschlagenen Reich zur Hilfe zu eilen - und das nur, um als Dank für ihre edle Gesinnung einen Schlag ins Gesicht zu bekommen, und noch dazu aufgrund solch einer lächerlichen Kleinigkeit! Erwartete der Kaiser tatsächlich, daß sie dieses verabscheuungswürdige Dokument unterzeichneten?

»Kaiser Alexios«, sagte Gottfried schließlich ein wenig unsicher, »wir können Eurer Aufforderung unmöglich nachkommen.«

»Weigert Ihr Euch etwa?« fragte der Kaiser.

»Nein, nein«, beeilte sich Gottfried zu antworten, »aber es ist uns einfach nicht möglich, dieses Dokument zu unterzeichnen.«

Nun fand auch Balduin seine Stimme wieder und fügte hinzu: »Unser Wort ist unsere Ehre, mein Herr und Kaiser, und dieses Wort ist gut genug für jeden Mann.«

Alexios sträubten sich die Nackenhaare. »Ehre? Wir werden nicht zulassen, daß dieses große Wort in Unserer Gegenwart in den Schmutz gezogen wird. Wir haben genug von Eurer Ehre gesehen, um zu wissen, daß Euer Wort, welches Ihr nur allzu leicht gebt, ebenso leicht wieder gebrochen wird, wenn es Euch paßt. Um es kurz zu machen: Wir glauben, daß es nichts gibt, was Ihr, sofern es nicht beschworen wurde, nicht sofort wieder vergessen würdet, wenn die Waagschale des Schicksals sich in eine andere Richtung neigt.«

Der Kaiser funkelte die beiden verwirrten Edelleute vor ihm wütend an und erklärte: »Wahrlich, Wir sagen Euch, Wir werden Eure Unterschriften auf diesem Pergament bekommen, oder Ihr werdet Jerusalem nie erreichen.«

Die beiden Brüder blickten einander hoffnungslos an, doch sie gaben nicht nach. Alexios beschloß, ihnen Zeit zu geben, die Entscheidung zu überdenken. »Geht jetzt«, sagte er müde. »Kehrt in Euer Lager zurück, und beratet Euch mit Euren Getreuen. Wir erwarten in zwei Tagen eine Antwort von Euch.«

Nach diesen Worten wurden die Herren Gottfried und Balduin aus dem Thronsaal geführt. Sie bewegten sich wie Verdammte, denn mit einem Mal schienen all die Reichtümer unendlich weit entfernt, von denen sie geträumt hatten. Niedergeschlagen und verwirrt wurden sie alsbald aus dem Palast geworfen und fanden sich in dem stinkenden Lager wieder, wo sie verzweifelt über den unerklärlichen Verrat der verschlagenen Griechen sinnierten.

So begann ein Krieg der Willenskraft, der über mehrere Wochen andauern sollte. Nachdem es die Pilger wiederholt abgelehnt hatten, den Treueid zu unterzeichnen, stellte der Kaiser schließlich die Nahrungsmittellieferungen ein. Von Zeit zu Zeit sandte der Kaiser Hugo von Vermandois als seinen persönlichen Abgesandten ins Lager der Kreuzfahrer, um die Herren des Westens davon zu überzeugen, das Dokument zu unterzeichnen, auf daß ihre Truppen endlich das Brot und den Wein genießen könnten, die in der Stadt auf sie warteten. Jedesmal lehnten sie den Eid ab, während sie verbittert beobachteten, wie ihre eigenen Vorräte nach und nach dahinschwanden.

Das erste Warnsignal, daß es an der Zeit war, die sturen Fürsten zur Aufgabe zu zwingen, erhielt Alexios, als eine Warägertruppe zurückkehrte, deren Aufgabe es gewesen war, verstreute Pilger zusammenzusuchen und vor die Hauptstadt zu bringen. Der Kommandant der Einheit suchte sofort den Drungarios auf und übergab ihm einen Brief vom Neffen des Kaisers, Johannes, dem Exarchen von Dyrrhachion. Dalassenos dankte dem Mann und eilte zum Kaiser, den er mit seiner Familie ins Gebet vertieft in der Palastkapelle fand.

Leise betrat Dalassenos die Kapelle, ging zum Altar, kniete sich hinter seine Verwandten und wartete auf das Ende der Messe. Nachdem der Erzbischof die Liturgie beendet hatte, erhob sich die kaiserliche Familie und drehte sich um, um zu sehen, wer sich da zu ihnen gesellt hatte. »Dalassenos!« rief die Kaiserin. Irene, eine große und elegante Frau, lächelte gnädig und streckte ihrem Lieblingshöfling die Hand entgegen. »In den vergangenen Tagen haben wir dich nur selten gesehen. Ich hoffe, du wirst mit uns die Ostermesse feiern - und natürlich auch am anschließenden Festmahl teilnehmen.«

»Es wäre mir eine Freude, Basilissa«, erklärte Dalassenos und küßte die ihm angebotene Hand.

»Wenn du uns jetzt bitte entschuldigen würdest«, sagte Alexios. »Ich glaube, Dalassenos ist aus gutem Grund hierhergekommen.«

»All diese endlosen Besprechungen«, schimpfte Irene. »Wird das jemals enden? Kommt, Kinder«, sagte sie und sammelte ihren Nachwuchs ein, »eure Lehrer warten auf euch.«

Alexios verabschiedete sich von seiner Frau und seinen Kindern und wandte sich dann an Dalassenos. »Die Waräger sind zurückgekehrt. Ihr Patrikios hat das für Euch gebracht«, berichtete der Drun-garios und reichte dem Kaiser den Brief.

Alexios brach das Siegel, entfaltete das Pergament und überflog den Inhalt. Dalassenos bemerkte eine Änderung im Gesichtsausdruck seines Verwandten und fragte: »Schlechte Nachrichten, Basileus?«

»Mindestens zwei weitere Kreuzfahrerheere haben unsere Grenzen überschritten. Sie befinden sich in eben diesem Augenblick auf dem Weg zur Hauptstadt«, antwortete Alexios. Er runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Es scheint, als stünde eines dieser Heere unter dem Befehl unseres alten Feindes Bohemund von Tarent.«

»Der!« knurrte der Drungarios. »Ich dachte, wir hätten Guiscards mißratenen Sohn zum letztenmal gesehen.«

»Das habe ich auch gedacht, Vetter«, gestand der Kaiser.

»Und die andere Armee?« fragte der Drungarios.

»Sie steht unter dem Befehl eines Mannes mit Namen Raimund, Graf von Toulouse. An den Iden des März sind sie in Dyrrhachi-on gelandet, und Johannes hat sie rasch weitergeschickt. Sie können jeden Augenblick hier eintreffen.«

Dalassenos kämpfte gegen seinen wachsenden Zorn an. »Ich werde das Thema der Petschenegen die Straßen bewachen lassen und ihnen befehlen, uns sofort Nachricht zukommen zu lassen, sobald sie die beiden Armeen entdecken. Das sollte uns genug Zeit geben,

um.«

»Ich habe eine bessere Idee«, unterbrach ihn Alexios. »Befiehl ihnen, den Grafen und seine Männer augenblicklich in die Hauptstadt zu eskortieren. Ich will nicht, daß diese mörderischen Pilger noch weitere Städte plündern.«

»Es wird nach Eurem Willen geschehen, Basileus«, erwiderte der junge Offizier. »Nennt der Exarch eine Zahl, mit wie vielen wir rechnen müssen, und.?«

Bevor er weitersprechen konnte, erschien der Kommandant der Exkubiten in der Tür. Niketas hüstelte höflich, und als Alexios ihn zu sich winkte, sagte er: »Verzeiht mein Eindringen, Basileus, aber ich glaube, wir haben ein Problem. In einem der Märkte vor den Stadtmauern sind Unruhen ausgebrochen. Die Scholien haben sich der Situation angenommen, aber ich dachte, Ihr solltet es wissen. Außerdem scheint es, als würden die Römer ihr Lager näher ans Goldene Horn verlegen. Sie könnten sich auf einen Angriff auf die Stadt vorbereiten.«

Die Sorgenfalten auf der Stirn des Kaisers vertieften sich; er rieb sich mit der Hand übers Gesicht.

»Was haben sie nur vor?« fragte Dalassenos niemand besonderen und senkte verzweifelt den Blick.

Alexios atmete tief durch und erklärte Niketas: »Vielleicht geschieht gar nichts. Trotzdem müssen wir auf alles vorbereitet sein. Laß die Bogenschützen antreten, und schick die Waräger auf die Mauern.« An Dalassenos gewandt sagte er: »Ruf die Unsterblichen zusammen.«

»Wünscht Ihr, die Pilger anzugreifen, Basileus?« fragte Niketas.

»Nein«, entschied der Kaiser. »Jedenfalls noch nicht. Wenn sie auf die Tore vorrücken, befiehl den Bogenschützen über ihre Köpfe hinwegzuschießen. Geht jetzt. Beide. Wir werden uns auf der Mauer treffen.«

Der Kaiser erhob sich, verließ die Kapelle und eilte in seine Gemächer, wo er Gerontios befahl, er solle die Waffenträger rufen. »Wir werden diese streitsüchtigen Herren lehren, daß es ein Fehler ist, Krieg mit ihrem Kaiser anzufangen.«

Während seine Diener ihn für die Schlacht einkleideten, befahl Alexios dem Magister, den Logotheten des Symponos herbeizurufen. Kurz darauf erschien keuchend der alte Beamte mit dem Dokument, nach dem der Kaiser verlangt hatte. Alexios nahm ihm das Pergament ab, schnallte sich das Schwert um und machte sich eiligen Schrittes auf den Weg zur Mauer. Auf den Stufen zum Wehrgang kam ihm Niketas entgegen.

»Es gibt elf Tote, Basileus«, berichtete der Kommandant, »und siebenundzwanzig Verwundete.«

»Und unter den Bürgern? Wie viele?«

»Achtzehn, Basileus«, antwortete Niketas. »Drei Kaufleute, sechs Markthändler und ein oder zwei Handwerker; der Rest waren Frauen und Kinder.«

Nachdem er seinen Kommandanten wieder entlassen hatte, stieg der Kaiser die letzten Stufen zur Mauerkrone empor, wo ihn Da-lassenos erwartete.

»Die Kämpfe dauern noch immer an, Basileus. Die Römer haben die Märkte geplündert, die ihrem Lager am nächsten lagen«, informierte ihn der Drungarios tön poimön. »Sie scheinen sich auf einen Sturm aufs Tor vorzubereiten.«

»Wo sind ihre Befehlshaber?« fragte Alexios und blickte auf die wirbelnde Masse der Bewaffneten hinab, die über die Torbrücke schwärmten. Wie so viele Barbaren vor ihnen, so glaubten auch diese Lateiner, daß sie das Reich zu Fall bringen konnten, indem sie die Tore von Konstantinopel niederrissen.

»Es scheint sich nicht um einen organisierten Angriff zu handeln, Basileus«, antwortete der junge Drungarios. »Tatsächlich scheint die Hauptstreitmacht sich sogar zurückzuziehen.« Er deutete auf den Fluß, an dessen Südufer Kreuzfahrer entlangmarschierten. Jenseits der alten Salzmarschen war auf ganzen Abschnitten kein einziges Römerzelt mehr zu sehen, und noch immer waren an vielen Stellen Männer damit beschäftigt, ihre Behausungen abzubauen. Die Pilgerarmee war auf dem Marsch.

»Sie könnten versuchen, sich in eine bessere Ausgangsposition für eine Belagerung zu bringen«, bemerkte Dalassenos. »Oder vielleicht wollen sie den Fluß überqueren und die Stadt von Osten her angreifen.«

»Von jenseits des Flusses?« Alexios schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«

»Wie dem auch sei«, erwiderte Dalassenos, »wir könnten die Streitmacht vor dem Tor besiegen, bevor die anderen den Angriff auch nur bemerken.«

In diesem Augenblick erschien im Laufschritt ein Stratege. »Die Bogenschützen sind bereit«, meldete er. »Sie erwarten Eure Befehle.«

Der Kaiser wandte sich vom Tor ab und blickte über die Schlägerei hinweg. Ein dichter Rauchschleier hing über dem Markt, wo der Streit seinen Ausgang genommen hatte. Auf dem Markt - oder auf dem, was von ihm übrig war - herrschte vollkommenes Chaos: Die hölzernen Stände der Markthändler waren zerschlagen worden, und die Bruchstücke lagen überall verteilt; zerstörte Waren waren in den Staub getrampelt worden. Hier und da humpelten Verwundete verloren durch die Verwüstung, und zwei oder drei Leichen lagen noch immer zwischen den Trümmern, um die sich bisher niemand gekümmert hatte, obwohl mehrere andere bereits auf Karren verladen worden waren, die man nun eiligst zu einer kleinen Kirche in der Nähe brachte.

»Soll ich den Befehl zum Angriff geben?«

»Laßt ein paarmal über ihre Köpfe hinwegschießen«, befahl Ale-xios. »Treibt sie vom Tor zurück.« Dann wandte er sich an die Ex-kubiten hinter ihm. »Wir brauchen ein Pferd, und bringt auch eins für den Drungarios. Gebt Uns Bescheid, wenn die Unsterblichen eingetroffen sind.«

»Basileus?« fragte der Drungarios ein wenig verwirrt. »Die Unsterblichen werden mit Leichtigkeit mit ihnen fertig. Es gibt keinen Grund, warum Ihr Euch persönlich in Gefahr begeben müßtet. Gestattet mir, Euch Bericht zu erstatten, wenn die Römer sich ergeben haben.«

»Nein, Dalassenos, ich will, daß die Römer mich sehen, wie ich meine Truppen in die Schlacht führe, damit sie wissen, wer es ist, der von ihnen den Treueid verlangt. Wir werden sie in ihrem eigenen Lager schlagen, und sie werden den Treueid unterzeichnen«, sagte er und drückte seinem Verwandten das Pergament in die Hand. Dann drehte er sich wieder zum Fluß um und blickte auf die langen Reihen der Kreuzfahrer, die über die Ufer marschierten, und schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist wirklich unangenehm. Ich wüßte nur allzu gerne, was sie vorhaben.«

Wenige Augenblicke später kam die Nachricht, daß die Unsterblichen eingetroffen seien und vor dem Tor warteten. Alexios und Dalassenos stiegen von der Mauer herunter, um sich der Elite des Reiches anzuschließen.

Unten angekommen, nahmen sie ihre Plätze an der Spitze der Truppen ein, und der Kaiser gab noch einige letzte Befehle; dann drehte er sich zur Mauer um, und winkte seinem Strategen, der daraufhin den Bogenschützen befahl, den Kampf zu eröffnen.

»Öffnet die Tore!« befahl Alexios.

Die Torleute setzten die schweren Winden in Gang. Ein lautes Stöhnen ertönte, als die riesigen Torflügel langsam auseinander schwangen.

Begleitet von seinem Drungarios tön poimön, einhundert berittenen Unsterblichen und fünfundsiebzig Warägern zu Fuß stürzte sich Alexios in den Kampf. Die Pilger, die von den Bogenschützen vom Tor zurückgetrieben worden waren, standen dicht gedrängt am anderen Ende der Brücke, jenseits des Trockengrabens vor der Mauer. Im selben Augenblick, da das Tor geöffnet wurde, stürmten sie geschlossen vor, doch nur um sofort wieder von den Berittenen zurückgeworfen zu werden.

Als die Pferde über die Brücke herandonnerten, hielten die Kreuzfahrer in ihrem Vormarsch inne. Wütende Kriegsschreie verwandelten sich in Rufe des Entsetzens, als die vordersten Reihen dem Druck von hinten nichts entgegensetzen konnten und erkennen mußten, daß ihnen die Flucht unmöglich war. Die wenigen Glücklichen am äußeren Rand des Mobs sprangen von der Brücke in den Graben, um den kaiserlichen Lanzen zu entkommen. Der Rest wurde niedergeritten, als die Reiter mit voller Wucht in die ungeordnete Masse der Kreuzfahrer hineinstießen.

Verwirrt und verzweifelt flohen die Pilger in Scharen vor dem kaiserlichen Angriff. Obwohl der Kaiser befohlen hatte, daß seine Truppen den Kampf nicht suchen sollten, konnten sie nicht anders, als die Flüchtenden niederzuhauen; denn die Pilger rannten in wilder Flucht hierhin und dorthin. Dennoch starben weit mehr unter den Füßen ihrer in Panik geratenen Kameraden als unter den Hufen und durch die Lanzen der kaiserlichen Reiterei.

Die Reiter schlugen eine breite Schneise durch die sich in alle Himmelsrichtungen verteilenden Kreuzfahrer und rückten rasch auf den Fluß vor und damit auf die offene Flanke des Kreuzfahrerheeres, das am Ufer entlangmarschierte. Als sie näher kamen, stellte sich ihnen eine geschlossene Gruppe von Verteidigern entgegen - vielleicht hundert eilig zusammengerufene Ritter und mehrere hundert Fußsoldaten -, die sich zu einer groben Schlachtreihe zwischen den kaiserlichen Truppen und den eigenen Leuten formierten. Zwar waren sie bereit zum Kampf, doch wirkten sie unentschlossen und unsicher, denn sie warteten darauf, was die Byzantiner als nächstes tun würden.

»Halt!« rief Alexios und zog die Zügel an. Sein Pferd stieg und blieb augenblicklich stehen, nur ungefähr ein Dutzend Schritt von der vordersten Reihe der Ritter entfernt. Augenblicklich eilte die Leibwache an Alexios' Seite, während die Unsterblichen sich zu Doppelreihen an den Flanken formierten, um sich den zögernden Rittern als unüberwindbare Mauer entgegenzustellen.

Alexios blickte am Schaft seiner Lanze entlang und legte dem vordersten Ritter die Spitze an die Kehle. »Ich bin Alexios, Herrscher des Heiligen Römischen Reiches. Verstehst du, was ich sage?« fragte er in einfachem Latein, so daß sein Gegenüber ihn selbst bei beschränkter Bildung nicht mißverstehen konnte.

»Ich verstehe«, erwiderte der aufsässige Ritter. Das Alter des Mannes und die Narbe in seinem Gesicht wiesen ihn als Veteran vieler Schlachten aus. Klugerweise machte er keinerlei Anstalten, nach dem Schwert zu greifen.

»Wer sind deine Herren?« verlangte Alexios zu wissen.

Der Pilger nickte zur Seite und deutete damit an, daß er den Kaiser zu den betreffenden Männern führen wolle. »Geh, und hol sie«, befahl der Kaiser. »Ich werde hier auf sie warten.«

Als er sah, daß die Griechen offenbar nicht an einem Kampf interessiert waren, nickte der Ritter einem seiner Nachbarn zu. Der zweite Ritter gab seinem Pferd die Sporen und ritt eilig davon. Es folgte ein langes, angespanntes Schweigen, während die einander gegenüberstehenden Truppen auf die Ankunft der Kreuzfahrerfürsten warteten und sich gegenseitig zornige Blicke zuwarfen.

Plötzlich entstand Unruhe in den hinteren Reihen der Ritter. Eine Gasse bildete sich zwischen ihnen, und Alexios sah eine Gruppe von Reitern, die sich ihm rasch näherte. Er wartete, bis sie in Reichweite seiner Stimme gekommen waren, dann sagte er: »So! Und jetzt sagt mir, wie die furchteinflößenden Händler sich gegen eure mächtigen Schwerter geschlagen haben. Haben ihre Kinder und Mütter eurem Angriff massiven Widerstand entgegengesetzt? Der Sieg ist euer! Oh, wie der Glanz des Ruhms auf eure edlen Schultern strahlt!«

Herzog Gottfried wirkte ehrlich verwirrt. Dennoch wollte er etwas darauf erwidern, doch Alexios fuhr fort: »Warum vergeltet ihr die Großmütigkeit des Reiches mit Verrat? Noch nicht einmal wilde Hunde beißen die Hand, die sie füttert.«

Alexios funkelte die versammelten Ritter an, die nervös auf ihren Sätteln hin und her rutschten und zu ihren Führern blickten, in der Erwartung, diese würden ihre Ehre gegen den unerklärlichen Zorn des Kaisers verteidigen. »Schande!« brüllte Alexios. »Das Blut der Unschuldigen schreit nach Gerechtigkeit. Wir verlangen von euch, daß ihr aus euren eigenen Taschen den Familien der Erschlagenen eine Entschädigung zahlt.«

»Mein Herr und Kaiser«, verteidigte sich Gottfried, »ich schwöre vor Gott und allen, die hier versammelt sind, das ich nicht weiß,

wovon ihr sprecht.«

»Ignoranz steht Euch gut, mein Herr«, erwiderte Alexios in scharfem Tonfall. »Nun denn, ich will Euch erleuchten.« Dann berichtete er dem in Ungnade gefallenen Edelmann von dem Aufruhr und dem Angriff auf den Marktplatz und verlangte zu wissen: »Wo warst du, als deine Männer den Frieden und die Freundschaft zwischen unseren Völkern gebrochen haben?«

»Uns sind die Vorräte ausgegangen«, antwortete der Herzog und versuchte, sich herauszureden. »Die Leute waren hungrig - sie sind am Verhungern. Seit Wochen hatten sie nichts außer altem Brot.«

»Frische Vorräte warten auf deine Männer, wie du sehr wohl weißt«, erinnerte ihn der Kaiser. »Ihr müßt mir nur den Treueid schwören, und ihr bekommt soviel Proviant wie ihr wollt.« Nachdem er seinem Zorn Luft gemacht hatte, wandte sich Alexios dem eigentlichen Grund seines Hierseins zu. »Dieser Tag«, sagte er in versöhnlichem Tonfall, »ist der Tag, den Wir für die Unterzeichnung des Treueids bestimmt haben. Wir warten auf eure Anwort. Wie lautet sie?«

Gottfried blickte auf die kaiserlichen Truppen, die vor ihm aufmarschiert waren, und zögerte. Plötzlich stürmte Balduin von hinten heran. »Diese Forderung ist eine Beleidigung!« schrie er. »Ich sage, wir unterzeichnen nicht!«

Alexios blickte ihn leidenschaftslos an. »Gebt Uns eure Treue, oder gebt Uns euer Leben. Die Wahl liegt bei euch, meine Freunde, aber noch bevor dieser Tag zu Ende geht, werden Wir das eine oder das andere bekommen.«

»Zum Teufel mit deinem Eid!« kreischte Balduin und zog das Schwert. Mehrere der Ritter riefen ihm Mut zu. Überall wurden Schwerter aus den Scheiden gezogen.

»Sei ruhig, Balduin!« brüllte sein Bruder. »Steck dein Schwert weg. Wir werden der Aufforderung des Kaisers nachkommen.« An Ale-xios gewandt sagte er: »Der Angriff auf den Markt war unüberlegt. Bei meiner Ehre schwöre ich, daß jene, die ihn angeführt haben, bestraft werden.« Sein Blick wanderte unglücklich von Balduin zu einigen der Ritter in den vordersten Linien, die mit einem Mal sehr ruhig geworden waren. »Wir bedauern zutiefst die Zerstörung und die Verluste, und wie Ihr wünscht, werden wir entsprechende Entschädigung leisten.«