Die Seeleute behaupteten, sie hätten die Schafe streunend in den Wäldern gefunden, aber Murdo bemerkte, daß einer der Männer eine tiefe Wunde am Bein hatte, die an einen Hundebiß erinnerte, und bei einem anderen prangte eine unerklärliche Beule auf der Stirn. Jon Reißzahn schien an weiteren Erklärungen nicht interessiert zu sein, und alle genossen mehrere Tage lang das frische Schaffleisch - einschließlich der drei Mönche, welche die >gefandenen< Tiere zunächst mißbilligend beäugt hatten.

Während ein langweiliger Tag auf den anderen folgte, gewöhnte sich Murdo an das Schwanken des Schiffes, und er genoß es, unter dem klaren Nachthimmel zu schlafen und den unendlich über ihn wandernden Sternen. Wenn der Wind gut und die See ruhig war, ließ Jon das Schiff bisweilen auch nachts durch die Wellen gleiten, wobei er sich an den Sternen orientierte. Die Nordmänner wechselten sich am Steuer ab, und nach einer gewissen Zeit wurde Mur-do erlaubt, sich auch als Steuermann zu versuchen. Obwohl das Schiff weit größer war als alles, worauf er bisher gesegelt war, entdeckte Murdo alsbald, daß hier die gleichen Fähigkeiten gefragt waren wie auf kleineren Booten, und er rühmte sich, das Segel stets im Wind und den Bug in den Wellen halten zu können.

Um etwas Abwechslung in die kargen Mahlzeiten aus Dörrfleisch und Haferbrei zu bringen, widmeten sich Murdo und die Mönche dem Fischfang. Wenn die Sonne als glühend roter Ball hinter dem Horizont versank, die Sterne am klaren Nachthimmel erschienen und frisch gefangene Makrelen über dem Feuer in dem kleinen Kohlenbecken brutzelten - das war der Teil des Tages, den Murdo am meisten mochte; denn dann pflegte er sich gegen einen der Getreidesäcke zu lehnen, seine Bierration mit den Mönchen zu trinken und den Gesprächen zu lauschen, welche die Kirchenmänner beim Kochen führten. Größtenteils waren diese Unterhaltungen vollkommen unsinnig - jedenfalls soweit es Murdo betraf. Sie diskutierten über die Rangfolge der fünf Sinne, ob Cherubim sich jemals zu Engeln entwickelten, ob der Mond voller Teufel sei und so weiter.

Nach dem Essen ließ sich Emlyn häufig dazu überreden, eine Geschichte zu erzählen. Er besaß eine schöne, ausdrucksvolle Stimme und einen schier unerschöpflichen Schatz an Geschichten, von denen einige zwei, drei Nächte lang dauerten. Laut Emlyn handelte es sich dabei lediglich um alte Geschichten seines Volkes - von denen er einige im übrigen im Skriptorium seines Klosters niedergeschrieben hatte -, und alt waren sie zweifelsohne. Dennoch erzeugten sie eine seltsame Wirkung auf Murdo, der sich von ihnen magisch angezogen fühlte und auf eine Art von ihnen fasziniert war, daß er sich schämte, es offen auszusprechen.

Der Kymre erzählte sie gut, denn er paßte seine melodische Stimme stets den verschiedenen Stimmungen in den Geschichten an: Mal sprach er gedämpft von Furcht und Leid, mal zitternd von Zorn oder laut von großen Triumphen. Bisweilen sang Emlyn sogar, und das mutete noch weit eigentümlicher an, denn er sang die wunderschönsten Lieder in einer merkwürdigen Sprache; doch obwohl Murdo kein einziges Wort verstand, fühlte er sich allein durch die Melodie zutiefst gerührt.

Wenn ein solches Lied zu Ende war und Murdo fragte, wovon es gehandelt habe, gab Emlyn meist etwas zur Antwort wie: »Ah, das waren Rhiannons Vögel.«, oder: »Das war Branwens Trauergesang über den Tod ihres Kindes.«, oder: »Das war Llew Silberhands Triumph über die Cythrawl.«, und ja, bestätigte Murdo danach jedesmal, er habe die Vögel gehört und Branwens Trauer und Llews Freude empfunden.

Im Laufe der Monate riefen die Geschichten und Lieder in Mur-do eine seltsame und starke Sehnsucht hervor - ein Verlangen nach etwas, das er nicht kannte. Es war ein Gefühl, als hätte man ihm gestattet, eine Kostprobe von einem unglaublich wohltuenden Elixier zu nehmen, nur um ihm den Becher sofort wieder von den Lippen zu reißen.

Gelegentlich fing Murdo in den Worten des Kymren das Echo von etwas auf, das auch aus dem Munde seiner Mutter hätte stammen können, und dann wiederum glaubte er, einen Ruf aus der Anderswelt gehört zu haben - eine Stimme, die über die Jahre hinweg zu ihm herüberhallte, ein ferner Schrei, leise wie ein Flüstern und so vertraulich wie ein Kuß -, und der Schock des Erkennens ließ ihm die Haare zu Berge stehen und sein Herz schneller schlagen.

Eines Nachts lauschte er Emlyn, wie dieser die Geschichte von Rhonabwy sang, und noch Tage danach fühlte er sich leer, doch sonderbar erregt. Eine innere Unruhe erfüllte ihn, und er war so nervös, daß Jon Reißzahn dies bemerkte und die Vermutung äußerte, auf dem Schiff werde es Murdo allmählich zu eng. »Das geht wieder vorbei«, versicherte ihm Jon. »Am besten, du denkst gar nicht darüber nach.« Doch Murdo wußte, daß seine Unruhe nichts mit der Enge des Schiffes zu tun hatte, sondern in der verrückten Welt begründet lag, die Emlyn mit seinen Geschichten heraufbeschwor.

Falls jemand anderes ähnlich empfand, dann erfuhr es Murdo zumindest nie. Seine eigenen Gefühle behielt er ebenfalls für sich; er verbarg die Sehnsucht tief in seinem Inneren und schützte sie wie ein kostbares Juwel, damit sie ihm niemand stehlen konnte. Seine Arbeit verrichtete er wie jemand, der unter einer Krankheit litt, die sowohl Schmerzen als auch Verzückung verursachte; denn er ertrug die Qualen leichten Herzens, so süß war sein Leiden.

Tag für Tag segelten sie weiter nach Süden, immer weiter weg von den Murdo vertrauten Gestaden, und mit jedem Tag erschien ihm der Ort wirklicher, den Emlyn in seinen Liedern beschrieb, bis er schließlich zu so etwas wie einer zweiten Heimat wurde. Egal ob bei Tag oder bei Nacht, Murdo blickte hinaus auf das unendliche Meer und träumte von jenem magischen Ort, dem Reich der Sommersterne, von dem der rundgesichtige Mönch sang. Mehr und mehr hatte Murdo das Gefühl, dorthin zu gehören.

Eines Nachts erklärte Emlyn, daß er heute nicht bei Stimme sei, woraufhin die Nordmänner lautstark protestierten: »Singen! Singen! Wir wollen Die Schlacht der Bäume hören.«

»Ah, das ist wirklich eine schöne Geschichte - eine sehr schöne sogar. Vielleicht werde ich sie morgen für euch singen«, erwiderte Emlyn und sagte, er müsse sich ausruhen, bevor er sich einer solch tiefsinnigen Geschichte widmen könne.

Damit gaben sich die Seemänner zufrieden und wandten sich wieder ihrem Bier zu, während Murdo neben Emlyn kroch, der an der Reling saß und nach Westen starrte, wo die letzten violetten Sonnenstrahlen im Zwielicht verschwanden. Murdo machte es sich neben dem Mönch bequem, sagte aber nichts. Nach einer Weile seufzte Emlyn.

»Ist das das hiraeth?« fragte Murdo. »Das Heimweh?«

»Das weißt du doch«, antwortete der Mönch. »Und diesmal hat es mir das Herz gebrochen.«

Murdo nickte mitfühlend. Inzwischen empfand er etwas Ähnliches. Schweigend saßen sie beieinander, lauschten dem sanften Rauschen der Wellen und blickten in die immer dunkler werdende Nacht hinaus. Nach einer Weile fragte Murdo: »Das wahre Licht - was ist das?«

Der Mönch drehte sich zu Murdo um. »Wo hast du davon gehört?«

»Du hast mir davon erzählt«, antwortete Murdo. »Du hast gesagt, ihr wärt die Hüter des wahren Lichts.«

»Sanctus Clarus - das Heilige Licht«, korrigierte ihn der Mönch. »Wir sind die Hüter des Heiligen Lichts, die Wächter des Wahren Weges.«

»Ja, genau das war's«, bestätigte Murdo. »Aber was bedeutet das?«

»Ah, nun«, antwortete Emlyn. »Das ist nichts, was wir jedem erzählen.« Er hielt kurz inne, und Murdo fürchtete bereits, er würde schweigen, doch dann fügte der Mönch hinzu: »Allerdings sehe ich keinen Grund, warum es uns schaden sollte, wenn du davon erfährst.« Er lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bierbauch. »Ich weiß nur nicht so recht, wo ich beginnen soll.«

Er dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er: »Lange bevor der heilige Padraic seine Hütte inmitten der wilden Stämme Eires errichtete, bevor der selige Colm Cille den Felsen von Hy für seine Abtei auswählte, hat die weise Bruderschaft von Britannien und Gallien das Heilige Licht bewahrt: die heiligen Lehren unseres Herrn Jesus Christus. Diese Lehren wurden von den Aposteln selbst bewahrt und über Generationen hinweg von einem prie-sterlichen Gläubigen an den nächsten weitergereicht.«

»Meinst du die Lehren der Kirche?« fragte Murdo enttäuscht. Er hatte auf eine bessere, eine erfreulichere Erklärung gehofft als diese.

»Nein«, antwortete Emlyn. »Zumindest nicht, was man in diesen dunklen Zeiten als solche bezeichnet.«

»Was dann.?«

»Hör mir einfach zu, Junge. Hör zu, und lerne.«

Der Mönch atmete tief durch und fahr fort: »Padraic war nicht der erste, der den Wahren Weg erkannt hat, nein, und er war auch nicht der letzte - bei weitem nicht. Aber er war ein unermüdlicher Diener des Heiligen Lichts, und er.«

»Sind der Wahre Weg und das Heilige Licht dasselbe?« unterbrach ihn Murdo.

»Nein, das Heilige Licht ist das Wissen - das Wissen, das aus der Lehre entspringt. Der Wahre Weg ist die Anwendung, verstehst du? Die tägliche Anwendung dieses Wissens. Der erste.«

»Warum hast du gesagt, es sei ein Geheimnis?«

»Was? Würdest du es bitte unterlassen, mich ständig zu unterbrechen« schnaufte Emlyn beleidigt. »Ich habe nicht gesagt, es sei ein Geheimnis. Ich habe gesagt, daß wir nicht häufig darüber sprechen - besonders nicht mit jenen, die nicht bereit sind, uns zuzuhören.«

»Ich habe doch nur.«

»Wenn du jetzt vielleicht deine Zunge im Zaum halten könntest, wäre ich wohl in der Lage, dir eine befriedigende Erklärung zu geben.« Er schürzte die Lippen und schloß die Augen. Murdo wartete ungeduldig. Nach wenigen Augenblicken sagte der Mönch: »Es verhält sich folgendermaßen: Padraic war nicht der erste, und er war nicht allein. Wie ich bereits gesagt habe, gab es vor und nach ihm noch andere - Männer wie unseren Helden Colm Cille und den ehrenwerten Adamnan -, mutige Männer, die mit ihrer Treue die Flamme über lange, bittere Jahre hinweg am Leben erhielten.

Aber die Dunkelheit ist gierig. Sie ist unersättlich. Stets will sie mehr und mehr verschlingen, und je mehr sie verschlingt, desto größer wird sie, und je größer sie wird, um so mächtiger und hungriger wird sie. Es gibt nur eines, was stark genug ist, sich der alles verschlingenden Dunkelheit entgegenzustellen: das Heilige Licht. Tatsächlich ist es das mächtigste Ding auf Erden, und deshalb schützen wir es mit unserem Leben.«

Murdo konnte diese Behauptung nicht einfach so stehenlassen. »Wenn es wirklich so mächtig ist, wie du sagst, warum muß es dann beschützt werden?«

Emlyn schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Ts-ts-ts! Allein, daß du solch eine Frage stellst, beweist, wie wenig du von höheren Dingen verstehst. Dennoch bin ich nicht überrascht. Woher solltest du es auch besser wissen? Du hast dein gesamtes junges Leben im Irrtum verbracht. Du bist wie alle anderen auch in die Irre geführt worden; du hast dich verlaufen wie jene armen Schafe in der Nacht.«

»Die sind gestohlen worden«, stellte Murdo klar.

»Ja«, bestätigte Emlyn geistesabwesend, »ich vermute, du hast recht. Aber sie haben sich dennoch verirrt. Sag mir: Kann man den Schafen die Schuld geben, wenn ihre Hirten faul, blind und falsch sind? Könnte man die Schafe dazu bringen, das Wandern aufzugeben, brauchte man keine Hirten mehr.«

»Und wenn Schafe fliegen könnten«, fügte Murdo hinzu, »dann würden wir sie Vögel nennen.«

»Spotte nur, wenn du mußt«, erwiderte Emlyn. »Ich habe nichts anderes erwartet. Wir, die Cele De, sind an Spott gewöhnt. Immerhin ist Spott die Fluchtburg bedrohter Ignoranz.«

Murdo schämte sich ob dieses Tadels und entschuldigte sich für seinen Ausbruch. »All dieses Gerede von Schafen und Hirten. Es wirkte einfach komisch auf mich. Bitte, erzähl mir vom Wahren Weg. Warum nennt ihr ihn so?«

»Weil er ein Weg ist«, antwortete der Mönch. »Es ist der Weg von Wahrheit und Verständnis, der uns zurück zum Anfang führt - zu jenem Tag, da der Herr die Zwölf zu seinen Dienern bestimmt hat. Von diesem Tag an sind die Lehren unseres Herrn in ununterbrochener Linie von einem Diener zum anderen weitergegeben worden.

Es steht geschrieben: >O mein Volk, hört meine Lehren, lauscht meinen Worten. Ich werde in Gleichnissen sprechen, euch Verborgenes kundtun und euch Dinge vom Anbeginn der Schöpfung lehren.< Und dann: >Als Jesus allein war, fragten ihn die Zwölf nach den Gleichnissen. Der Herr antwortete ihnen: Euch ist das Geheimnis des Himmels gegeben worden; aber jenen, die außerhalb stehen, wird alles in Gleichnissen kundgetan, auf daß sie stets sehen, doch niemals erkennen, stets hören, doch niemals verstehen.< So war es von Anfang an. Der Weg reicht ohne Unterbrechung zurück bis zu jenem Tag.«

»Aber was ist das für eine Lehre?« fragte Murdo. Er war fasziniert, doch inzwischen wurde er ob der vagen Erklärungen des Mönches immer ungeduldiger. »Das klingt mir nicht viel anders als das, was unser Bischof zu Hause sagt.«

»Und genau da irrst du dich. Denn im Gegensatz zu vielen unserer Brüder und Schwestern im Glauben sind wir nicht im Irrtum befangen. Doch die Lehren unseres Herrn können nur jemandem vermittelt werden, der bereit ist zu hören, und ich glaube nicht, daß du bereits so weit bist, sie zu empfangen.« Murdo öffnete den Mund, um dagegen zu protestieren, doch Emlyn fuhr rasch fort: »Trotzdem werde ich dir etwas davon erzählen, und vielleicht wird das den Keim der Weisheit in dir säen. Wie ich gesagt habe, ist die Dunkelheit gierig und heimtückisch. Selbst in jenen ersten Tagen versuchte sie bereits, alles zu verschlingen, was sie verschlingen konnte, doch die Gegenwart unseres Herrn hielt sie im Zaum.

Als er dann in den Himmel aufgefahren war, um dort seine ewi-ge Herrschaft zu beginnen, machte sich die Große Dunkelheit auf die Suche nach den Schwachen und Unvorsichtigen; jene, die sie zerstörte, führte sie zuerst in die Irre. So kam es, daß die Dunkelheit ihre eigene Saat des Irrtums und der Verwirrung ausbrachte, während gleichzeitig der Glaube zu blühen und zu wachsen begann. Viele sind getäuscht worden und viele vernichtet.

Ach! Die heilige Kirche, die große Festung unseres Glaubens, ist zerbrochen, und ihre Bollwerke sind geschändet worden. Jene, die in ihren Mauern Schutz gesucht haben - sei es als Schaf oder Hirte«, Emlyn warf einen kurzen Blick auf Murdo, »Führer wie Gefolgsleute, vom höchsten Patriarchen bis zum niedrigsten Schreiber -, alle sind sie von der Dunkelheit befleckt, und alle sind sie des Heiligen Lichts beraubt. Die Augen ihrer Herzen sind verkümmert, und sie nehmen das Licht der Wahrheit nur noch als vagen Schimmer wahr - wenn überhaupt.

Du mußt verstehen, daß ich nicht um meiner selbst willen so rede. Glaubst du, ich genieße es, den Untergang meiner Brüder und Schwestern im Glauben mit ansehen zu müssen? Glaubst du, ich würde Freude daran finden, wie viele diese blinden Führer in die Irre leiten? Der Verlust geliebter Freunde und die Verschwendung von Seelen ist bitterer als alles, was ich kenne.

Doch noch nicht einmal um ihretwillen würde ich das aufgeben, was man mir anvertraut hat - selbst nicht, wenn es mir möglich wäre. Wir sind die Hüter des Heiligen Lichts; wir dienen Ihm und Ihm allein, der das Licht scheinen läßt. Solange wir leben, halten wir am Heiligen Licht fest und beschützen es vor der Dunkelheit bis zu jenem Tag, da unser Erlöser wiederkehren wird.«

Danach schwieg der Mönch, und nach einer Weile fragte Mur-do: »Wie kommt es, daß ihr als einzige davon wißt?«

»Wir mögen vielleicht wenige sein«, erwiderte der Mönch, »aber nicht so wenige. Nein, wir sind nicht die einzigen - obwohl wir jedes Jahr weniger werden, das stimmt. Doch deine Frage ist gut: Warum wir und niemand sonst?

Ich glaube, Gott selbst hat die Cele De auserwählt, die Hüter des

Lichts zu sein, weil wir uns in gewissen Dingen von unseren Brüdern unterscheiden. Der heilige Padraic pflegte zu sagen, Gott habe die Kelten auserwählt, um über den Wahren Weg zu wachen, weil wir am Rande der Welt leben - weit weg von den gnadenlosen Ränkespielen des Ostens.

Ich habe oft und lange über diese Worte nachgedacht, und ich glaube, der heilige Padraic hatte recht. Der Glaube wurde den einfachen Menschen unserer Welt zunächst vom Herrn selbst gelehrt. Schäfer und Bauer, Töpfer und Fischer - das waren die Auserwählten, die zuerst Gottes Wort haben lauschen dürfen. Erst sehr viel später ist der Glaube auch von den Königen und Fürsten dieser Welt angenommen worden - von den Hohen und Mächtigen, den Statthaltern und Herrschern der Völker.

Als Gott dann nach jemandem Ausschau hielt, der ihm als Hüter und Wächter dienen konnte, fiel sein Blick wie selbstverständlich auf die Kelten - auf ein Volk, das jenen ersten glich, welche die Lehre vernommen haben: einfache Leute, die fest mit dem Land und ihren Nächsten verbunden sind. Unsere Häuser sind Hütten aus Schlamm und Zweigen, die wir in die grünen geschützten Täler unserer Heimat bauen; wir leben nicht in goldenen Städten, in denen es von Fremden nur so wimmelt. Unsere Fürsten sind Männer unserer eigenen Sippe, von unserem eigenen Stamm, nicht Statthalter, die irgendein Kaiser in seinem weit entfernten Palast ernannt hat. In unserer Kirche drückt sich unser natürlicher Adel aus, der Adel eines Volkes, das nichts von religiöser Philosophie oder kirchlicher Hierarchie versteht, aber dessen Herz ob eines schönen Liedes vor Freude überquillt und das das Schimmern eines schneebedeckten Gipfels im Morgengrauen zu schätzen weiß.«

Murdo lief ein Schauder über den Rücken, während er den Worten des Mönches lauschte. Er hatte das Gefühl, plötzlich eine Wahrheit zu erkennen, die er schon lange gewußt, doch die auszusprechen er niemals gewagt hatte.

»So kam es«, fuhr Emlyn fort, »daß der Herr, unser Gott, den heiligen Funken auf die Kelten übertragen hat, und seitdem haben wir dafür gesorgt, daß das Feuer niemals verloschen ist. Denn wir sind vor allem ein schlaues und listiges Volk, das in allen Angelegenheiten des Herzens und der Seele eine große Hartnäckigkeit an den Tag legt. Zwar vermochte die Mutterkirche den Heimsuchungen der Großen Dunkelheit nicht zu entrinnen, doch verborgen vor den Augen der Welt und von allen Seiten von sich streitenden Barbaren umgeben, wurde ihr jüngster Ableger im Dienst des Lichts immer stärker. Der Rest der Kirche, die sich mit dem Namen unseres Herrn schmückt, mag in Verruf geraten sein und mit Intrigen und Skandalen der Macht nachjagen und in Schande versinken, aber wir, die wahren Cele De, bleiben standhaft und halten am Wahren Weg fest.«

Emlyn schwieg einen Augenblick lang. Dann seufzte er. »Ach, fy enaid«, sagte er, und seine Stimme verhallte in der Nacht. »Ich fürchte, ich habe schon zuviel gesagt.«

»Das stimmt nicht«, versicherte ihm Murdo. »Ich beginne allmählich zu verstehen ... glaube ich. Aber was, wenn ihr euch irrt? Was, wenn es weder ein Heiliges Licht noch einen Wahren Weg gibt?«

»Auch ich habe mich das bereits gefragt«, erwiderte der Kirchenmann nachdenklich. »Ich habe lange und hart darüber nachgedacht, und ich glaube, am Ende läuft alles auf folgendes hinaus: Wenn wir uns irren, was kann dann schlimmstenfalls geschehen? Nun, schlimmstenfalls sind wir nur eine Handvoll irregeleiteter Mönche, die sich einbilden, eine besondere Aufgabe zu haben - weiter nichts.«

Mit dieser Antwort machte sich der rundliche Mönch bei Mur-do beliebter als mit allem, was er bisher gesagt hatte oder was er sonst hätte sagen können. Murdo hatte noch nie einen Kirchenmann kennengelernt, der auch nur den Hauch von Zweifel zugegeben hätte. Hier jedoch war ein Mönch, der nicht nur seine Zweifel eingestand, sondern auch die Möglichkeit einräumte, daß sie berechtigt sein könnten.

»Aber wenn wir recht haben, was dann?« fuhr Emlyn fort. »Dann liegt die Zukunft des Glaubens und der Menschheit in unseren Händen, und es ist unsere Aufgabe, beides zu beschützen. Wie du also siehst, bleibt es gleich, ob wir uns irren oder nicht - wir können

unsere Pflicht auf keinen Fall verleugnen.«

»Ich verstehe«, erklärte Murdo. »Aber wenn niemand den Menschen den Wahren Weg weist, wie sollen sie dann je die Lehre empfangen? Und warum muß sie geheimgehalten werden?«

»In den Augen der Welt gehören wir weder zu den Hohen noch zu den Mächtigen; das ist sowohl ein Segen als auch ein Fluch«, antwortete der Mönch. »Unsere Waffen sind die Waffen der Schwachen: Schläue und Heimlichkeit. Beides besitzen wir im Überfluß und haben gelernt, damit umzugehen. Du darfst unsere Feinde nicht unterschätzen: Es sind viele, und sie sind mächtig - der Papst in Rom ist der Höchste unter ihnen. Seit nunmehr sechshundert Jahren versucht Rom, die Cele De zu vernichten, doch wir haben überlebt. Wir sind zwar nur wenige, aber genug, um unsere Arbeit auch in Zukunft fortsetzen zu können. Es ist die Heimlichkeit, die unser Überleben sichert, und daran halten wir fest.«

Murdo dachte einen Augenblick lang nach, dann fragte er: »Wenn Heimlichkeit für euch so wichtig ist, warum hast du mir dann das alles erzählt?«

»Ich habe dir soviel erzählt, wie ich jedem erzählen würde, der fragt und bereit ist zuzuhören. Die eigentliche Lehre ist das Geheimnis, nicht die Art ihrer Verbreitung oder ihr Zweck.«

Traurig betrachtete Murdo den Mönch. Was auch immer sonst sie sein mochten, die Cele De waren offenbar Verrückte: Sie streiften durch die Wildnis am Ende der Welt und hielten nach Trotteln Ausschau, denen sie ihre Geschichten erzählen konnten. Mur-do mochte Emlyn, und der Mann tat ihm leid. Aber trotz allem machte ihn all dieses Gerede von Licht, Wegen, Geheimnissen und Lehren nervös und ungeduldig, und er bedauerte es, sich auf dieses unsinnige Gerede eingelassen zu haben. Auch kam er sich dumm vor, weil er sich - wenn auch nur kurz - von dem Mönch zu der Hoffnung hatte verleiten lassen, in den Geschichten könne ein Körnchen Wahrheit stecken, daß es etwas geben könnte, das zu lernen und zu schützen sich lohnen würde.

Noch während er über diese Dinge nachdachte, erinnerte sich Mur-do an sein eigenes kleines, schäbiges Geheimnis: daß er in Wirklichkeit überhaupt kein Kreuzfahrer war. Er hatte weder das Kreuz genommen noch die Absicht, für die Befreiung des Heiligen Landes zu kämpfen. Die Erinnerung daran milderte sein hartes Urteil über den seltsamen Mönch ein wenig. Da er sein eigenes Geheimnis als viel zu wertvoll erachtete, um es jemandem mitzuteilen, konnte er nachvollziehen, wie Emlyn sich fühlen mußte.

ünf Wochen, vielleicht sechs, aber auf keinen Fall mehr«, erklärte 11 Graf Raimund von Toulouse zuversichtlich. »Die Entfernung zwischen den Städten ist nicht allzu groß, und der Weg ist gut markiert. Noch vor dem Sommer werden wir Jerusalem erreichen.«

»Aber die Führer sagen, die Straßen seien bestenfalls unsicher«, bemerkte Hugo. »Auch könnte der Feind die alten Versorgungsposten am Weg zerstört haben. Es könnte länger dauern, als wir vermuten.«

Nach der Eroberung von Nikaia hatten sich die lateinischen Fürsten in Graf Raimunds großem Zelt versammelt, um Wein zu trinken und die Karte zu studieren, die man für sie in Rom auf Geheiß des Papstes angefertigt hatte. Voller Freude über den leichten Sieg, den ihnen das Schicksal gewährt hatte, standen die Fürsten um die entrollte Ziegenhaut herum, die mit feinen Linien und kleinen, doch deutlich lesbaren Schriftzügen übersät war.

Seit den Tagen der Antike konnte man das Hochland von Anatolien auf drei verschiedenen Wegen überqueren. Jede dieser Routen bot dem Reisenden eine Reihe von Vorteilen ebenso wie Herausforderungen. Nach dem Erscheinen der Seldschuken hatte sich jedoch alles verändert: Heutzutage überwogen auf jeder Strecke die Nachteile die Vorteile bei weitem. Anatolien zu durchqueren war inzwischen vor allem eine Frage der Ausdauer geworden, denn selbst der gebildetste und erfahrenste Pilger vermochte nicht mehr zu sagen, auf welchem Weg man am ehesten Erfolg haben würde; da das Land nun schon seit über einer Generation nicht mehr zum Reich gehörte, wußte beispielsweise niemand mehr, in welchem Zustand sich die Straßen befanden. Auch vermochte niemand zu sagen, auf wen oder was die Pilger während der Reise stoßen würden und welche der alten Städte und Siedlungen überhaupt noch existierten. Wo befanden sich die Wasserstellen? Und wie stark war der Feind im Innern des Landes?

»Die Führer, auf deren Urteil Ihr so vertraut, sind allesamt Spione«, zischte Raimund, und sein hageres Gesicht verhärtete sich. »Spione im Dienst dieses elenden Feiglings von Kaiser. Es würde ihm nur allzu gut gefallen, wenn wir versagen, denn dann könnte er die Beute für sich allein beanspruchen. Habt Ihr vergessen, wie rasch er sich auf das eroberte Nikaia gestürzt hat? Er hatte es schon an sich gerissen, noch bevor das Blut auf den Straßen getrocknet war.«

»Auf den Straßen war kein Blut«, korrigierte ihn Stephan in sanftem Tonfall. »Außerdem hatten wir ohnehin schon beschlossen, ihm die Stadt zu übergeben, damit wir so rasch wie möglich weiterziehen können. Es wird Tag für Tag heißer, und wir müssen weiter. Der Sommer könnte uns mehr Leben kosten als der Feind.«

»Bah!« rief Raimund. »Ihr blökt wie ein Schaf!Meine Herren«, sagte er streng, »wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie leicht die Sarazenen zu schlagen sind. Wären die Griechen auch nur halb so gute Kämpfer wie wir, hätten sie sie schon vor Jahren ins Meer getrieben.«

»Die Sarazenen sind einfach nur lästig«, erklärte Balduin in seinen Becher hinein, »weiter nichts.«

»Seldschuken«, erinnerte Stephan seine Mitpilger. »Es sind keine Sarazenen, sondern Seldschuken. Ich glaube, da besteht ein Unterschied.«

»Da besteht kein Unterschied«, knurrte Raimund.

»Dem stimme ich zu«, warf Bohemund gelassen ein. »Ramm ihnen das Schwert in den Bauch, und sie bluten; schlag ihnen den Kopf ab, und sie sterben.«

»Es sind allesamt Ungläubige, und wir werden sie ausrotten wie Ungeziefer.« Balduin ließ seinen Blick durchs Zelt schweifen, und die Fürsten nickten zustimmend. »Wir haben Nikaia ohne große Mühe eingenommen. Der Rest wird uns ebenso leicht in die Hände fallen.«

»Aber wenn die Führer sagen.«, begann Hugo erneut in dem verzweifelten Bemühen, daß man seine Sorgen ernst nahm.

»Hängt die Führer auf.« brüllte Raimund und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin es leid, mir ständig ihr Gequatsche anzuhören. Diese intriganten Griechen sind Teil der Pläne dieses hinterlistigen Kaisers. Ich warne Euch, Vermandois: Ihr vertraut ihnen auf eigene Gefahr. Die Karten, die uns der Papst gegeben hat, sind mehr als ausreichend für die vor uns liegende Aufgabe. Um auf schnellstem Weg nach Jerusalem zu gelangen, müssen wir uns lediglich an die alte Militärstraße halten.«

Raimund richtete sich zu seiner vollen Größe auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und funkelte seine Mitpilger über den Tisch hinweg an. »Auf nach Antiochia, sage ich, und möge der Teufel den Letzten holen!«

Am nächsten Tag machte sich die größte Streitmacht seit den goldenen Zeiten Roms auf den Weg über die zerstörte Straße. Gestaffelt marschierten die Kreuzfahrer auf, um den Staub der jeweils vorangehenden Kolonne aus dem Weg zu gehen; dann warfen sie einen letzten Blick auf die eroberte Stadt und wandten sich schließlich Richtung Jerusalem.

Nikaia war die erste richtige Bewährungsprobe für die Kreuzfahrer gewesen, und sie hatten sie bestanden. Daß sie den Sieg mit bemerkenswerter Leichtigkeit errungen hatten, schmälerte die Freude über den Erfolg nicht im mindesten, denn tatsächlich hatte der

Sieg bis zur Kapitulation der Stadt in Frage gestanden - was hauptsächlich darin begründet lag, daß das Kreuzfahrerheer zu Beginn der Belagerung seine volle Stärke noch nicht erreicht hatte.

Die letzten Pilger - Herzog Robert, seine edlen Verwandten und ihre Armee aus englischen, normannischen, schottischen und flämischen Rittern - hatten sich dem Heerbann erst am Abend vor dem Fall von Nikaia angeschlossen. Wie die anderen vor ihnen, so hatten auch sie den Treueid in Konstantinopel abgelegt, waren von den kaiserlichen Schiffen über den Bosporus nach Pelekanon transportiert worden und waren von dort nach Nikomedeia marschiert, der letzten Stadt in Anatolien, die noch unter byzantinischer Herrschaft stand. Dort wurden sie bereits von einer Abteilung Unsterblicher unter dem Kommando des Strategen Tatikios erwartet, der vom Kaiser den Befehl erhalten hatte, die Pilger zu begleiten. Voller Ungeduld eilten die lateinischen Fürsten unter Führung der Byzantiner nach Nikaia, um sich dort dem Pilgerheer anzuschließen.

Obwohl die Ritter ständig auf der Hut waren und nach Feinden Ausschau hielten, entdeckten sie keine Spur der Ungläubigen. Dank der Führung des Tatikios und der Tatsache, daß die anderen Pilger vor ihnen hier entlanggezogen waren und alle Feinde vertrieben hatten, kamen sie rasch voran. Aber trotz des Fehlens jeglicher feindlicher Aktivitäten wurde Nikaia bereits einen Monat lang belagert, als die Nachzügler vor der Stadt eintrafen. Von Sultan Kilidsch Arslan zur Festung erklärt, versperrte Nikaia den Kreuzfahrern den Weg wie ein riesiger Fels. Ehe die Stadt nicht eingenommen war, konnten sie nicht weiter vorrücken. Allerdings lag Nikaia an einem See und war von hohen Mauern umgeben, die nur an wenigen Stellen von mächtigen, mit Eisen beschlagenen Toren durchbrochen wurden. Daher fiel es der Stadt leicht, den Angriffen der Kreuzfahrer zu widerstehen, und zunächst hatte es den Anschein, als würde die Belagerung ewig dauern.

Als die letzten Pilger jedoch in Sichtweite der belagerten Stadt kamen, erhob sich unter den auf den Mauern versammelten Kriegern des Feindes lautes Geschrei. Die frisch eingetroffenen Kreuzfahrer deuteten dieses Schreien als Ausdruck des Entsetzens seitens der feigen Seldschuken, die offenbar beim Anblick einer solchen Masse von edlen Rittern und tapferem Fußvolk die Furcht ergriffen hatte. Doch die Pilger konnten diese Vorstellung nur kurz genießen, denn alsbald mußten sie feststellen, daß die Verteidiger in Wahrheit jubelten, da Sultan Kilidsch Arslan in eben diesem Augenblick mit seinen Truppen am nördlichen Horizont erschienen war.

Rasch fanden die Kreuzfahrer heraus, daß Sultan Kilidsch Arslan von einem Raubzug zurückkehrte, aufgrund dessen er bei Ankunft der ersten Lateiner nicht in Nikaia gewesen war. Als er nun seine Hauptstadt von den Kreuzfahrern umzingelt sah, beschloß der Sultan, keinen Augenblick zu zögern und den Belagerungsring zu durchbrechen, um sein Volk zu befreien. Gleichzeitig sammelte Herzog Robert seine Ritter und bildete eine Schlachtreihe. Während er das Fußvolk zur Unterstützung zurückhielt, wartete er auf den Angriff der Seldschuken. Nach ein paar halbherzigen Vorstößen mußte der Sultan erkennen, daß die Invasoren nicht nachgeben würden, und da er selbst nur eine kleinere Truppe kommandierte, wie sie für einen Raubzug üblich war, beschloß er alsbald, den Angriff abzubrechen.

Beim ersten Anzeichen, daß der Feind sich zurückziehen würde, nahmen die Pilger die Verfolgung auf, und es gelang ihnen, ein paar Nachzügler niederzustrecken, bevor der Sultan und seine kleine Heerschar erneut in den Hügeln verschwanden.

Wundersamerweise kostete das erste Gefecht mit den Ungläubigen nur einen einzigen Christen das Leben - einem unglückseligen Fußkämpfer, den ein Pfeil in den Nacken getroffen hatte, welcher vorher vom Schild eines Ritters abgeprallt war. Roberts Kreuzfahrer dankten Gott für seine Gnade und schlossen sich den Belagerern an.

Graf Raimund war inzwischen ungeduldig geworden, und aus Furcht, der Sultan würde bald mit einer größeren Streitmacht wieder zurückkehren, hatte er Befehl gegeben, Belagerungstürme zu bauen, um mit deren Hilfe die Mauern zu überwinden.

Drei Tage lang wurde ununterbrochen an den Türmen gearbeitet. Der plötzlich neu entflammte Eifer der Eindringlinge beunruhigte die Bevölkerung von Nikaia. Tag für Tag beobachteten sie mit wachsendem Entsetzen, wie die Türme sich ihrer Vollendung näherten. Nachdem sie gesehen hatten, wie ihr Sultan von diesen seltsamen neuen Römern in die Flucht geschlagen worden war und da sie ein Gemetzel fürchteten, falls die Mauern mit Gewalt genommen würden, sandte der Emir von Nikaia im Schutze der Nacht einen Abgesandten ins feindliche Lager, um mit dem Befehlshaber der Byzantiner über die Einstellung der Kampfhandlungen zu verhandeln. Der Abgesandte verließ die Stadt durch ein Kanaltor auf der Seeseite und kehrte kurz darauf mit einer kaiserlichen Eskorte auf demselben Weg wieder zurück.

Als die Kreuzfahrer sich am nächsten Morgen wieder erhoben, um die Arbeit an den Belagerungstürmen fortzusetzen, wehte die kaiserliche Flagge über dem Tor. Wütend über diesen Verrat rief Raimund Tatikios in sein Zelt und verlangte eine Erklärung.

»Sie wollten sich ergeben«, erklärte der Stratege schlicht, »und da die Stadt vormals dem Basileus gehört hat, baten sie um kaiserlichen Schutz. Selbstverständlich habe ich entsprechende Vorkehrungen getroffen, eine Garnison in der Stadt zurückgelassen und die Verteidiger entwaffnet.«

»Das ist Verrat!« brüllte Raimund und sprang aus dem Stuhl.

»Welcher Art?« fragte der Stratege.

»Mir hätten sie sich ergeben müssen«, antwortete der Graf und schlug sich auf die Brust. »Die Belagerungstürme sind fast fertig. Wir sind bereit, die Stadt zu stürmen. Der Sieg gehört mir.«

Der listige Byzantiner blickte dem großen, schlanken Ritter in die Augen. »Ich verstehe Euren Zorn nicht«, erwiderte er. »Ich dachte, es wäre Sinn des Ganzen gewesen, die Stadt zu erobern und nicht, sie zu zerstören. Diplomatie ist dem Blutvergießen stets vorzuziehen.« Tatikios hielt kurz inne und musterte Raimund mit kaum verhohlener Verachtung. »Aber vielleicht hättet Ihr das Blutvergießen

ja vorgezogen.«

»Raus hier!« kreischte Raimund und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Raus!«

Der Stratege verneigte sich steif, machte auf dem Absatz kehrt und ging. Zurück blieb ein Graf von Toulouse, der vor Wut förmlich kochte, weil man ihn auf so schändliche Art um seinen Sieg betrogen hatte.

Alle Wut war jedoch rasch vergessen, als die lateinischen Fürsten gemeinsam die Kontrolle über die Stadt übernahmen und die Probleme ihnen rasch über den Kopf wuchsen, denn sie konnten sich nicht einigen, wie sie vorgehen sollten: Keiner wollte dem anderen die Eintreibung des Tributs anvertrauen, und noch nicht einmal über die Frage der Höhe der Zahlungen kam es zu einer Einigung. Auch vermochte niemand zu sagen, was sie denn mit Nikaia anfangen sollten, nun da sie die Stadt erobert hatten.

Daß die Stadt von jetzt an beschützt werden mußte, war offensichtlich; andernfalls wäre sie rasch wieder in die Hände von Sultan Kilidsch Arslan gefallen. Schließlich war sie die Hauptstadt der Seldschuken gewesen, und diese würden alles daransetzen, einen solch wertvollen strategischen Außenposten so schnell wie möglich wieder zurückzugewinnen. Auch war den Kreuzfahrern eine der Lieblingsfrauen des Sultans gemeinsam mit einigen seiner Kinder in die Hände gefallen, und Kilidsch Arslan würde ohne Zweifel versuchen, sie zu retten und sich an jenen zu rächen, die ihn gedemütigt hatten.

Herzog Gottfried sprach sich dafür aus, eine kleine Garnison zurückzulassen. »Zum Wohl jener, die Weiterreisen, müssen wir die Stadt sichern«, erklärte er. »Wir dürfen nicht zulassen, daß der Feind uns die Verbindung nach Konstantinopel abschneidet. Auch möchte ich es vermeiden, daß wir den ganzen Weg nach Jerusalem diese Sarazenenteufel auf den Fersen haben.«

Bischof Adhemar stimmte dem zu. »Als Zeichen seines Wohlgefallens hat uns Gott den ersten von vielen großen Siegen geschenkt. Es wäre respektlos von uns, würden wir nun einfach wegwerfen, was der Herr uns in seiner Großmut gegeben hat. Die Stadt muß an den Papst und die heilige Mutter Kirche übergeben werden.«

Bohemund und Tankred plagten andere Sorgen. »Die Rückeroberung des Heiligen Landes hat gerade erst begonnen«, belehrte Bohemund seine Gefährten. »In den kommenden Tagen werden wir jeden Kämpfer brauchen. Um die Stadt zu sichern, müßten wir eine beachtliche Truppe abstellen, und ich will auf keinen einzigen Mann verzichten.«

»Fürst Bohemund hat recht«, erklärte Hugo von Vermandois. »Unsere Kräfte bereits jetzt aufzuteilen, wo wir noch so weit von Jerusalem entfernt sind, wäre äußerst dumm.« Die Herren von Flandern und der Normandie stimmten dem ebenfalls zu, gemeinsam mit einigen anderen Edelleuten.

Dabei blieb es dann; eine richtige Entscheidung wurde nicht getroffen. Zwar war offensichtlich, daß irgendeine Form von Garnison in der Stadt eingerichtet werden mußte, wollten die Kreuzfahrer sie in ihrem Besitz behalten, doch ebenso offensichtlich wollte niemand zu diesem Zeitpunkt gute Kämpfer entbehren, wo das eigentliche Ziel der Pilgerfahrt noch so weit entfernt war. Auch war niemand bereit, zurückzubleiben und den anderen den Ruhm und die Beute zu überlassen, die es in den kommenden Schlachten zu gewinnen galt.

Dieses Patt dauerte einen Tag und eine Nacht lang an - bis Graf Stephan vorschlug, daß man einen Kurier nach Konstantinopel entsenden solle, um den Kaiser darüber zu unterrichten, daß Nikaia zurückerobert und dem Eid gemäß an das Reich übergeben worden sei.

»Es könnte sein«, erklärte Stephan, »daß die Byzantiner Truppen entbehren können, um die Stadt zu sichern. Wenn sie sich bereit erklären würden, sie zu besetzen, könnten wir unseren Weg fortsetzen.«

Der Vorschlag wurde sofort von allen akzeptiert, und noch bevor die Tinte auf dem Pergament getrocknet war, eilten Kuriere nach Konstantinopel. Anschließend richteten sich die lateinischen Fürsten in der Stadt ein. Da man zum Zweck der Belagerung bereits große Lager errichtet hatte, blieb der Großteil des Heeres vor den Mauern. Die Fürsten jedoch verlangten nach besseren Unterkünften für sich und ihre Familien, und so beschlagnahmten sie die besten Häuser der Stadt.

Der Kaiser wartete allerdings nicht auf die Ankunft der Kuriere. Er hatte sich bereits auf den Weg nach Nikaia gemacht, nachdem ihm seine Spione berichtet hatten, die Stadt stünde kurz vor der Kapitulation. Alexios landete einige Meilen südlich der Stadt in einer kleinen Bucht an der kleinasiatischen Küste und ritt mit zwei Abteilungen aus Opsikion und Anatolien im Gefolge die kurze Strek-ke landeinwärts, um die Übergabe Nikaias persönlich zu überwachen. Zur Überraschung der Kreuzfahrer traf der Kaiser just in dem Augenblick ein, da die Pilger eifrig darüber diskutierten, welchen der Paläste in der Stadt sie als ersten plündern sollten.

Während die lateinischen Fürsten sich darüber stritten, wie man sich am besten Nikaias Reichtum aneignen konnte, führte Tatikios seine Abteilung Unsterblicher in die verlassene Garnison und besetzte sie. Anschließend sicherte er das Tor und hieß die Leibgarde des Kaisers willkommen. Die Soldaten bezogen entlang der Hauptstraße Stellung, um dem Kaiser einen würdigen Empfang zu bereiten, während die Kreuzfahrer nichts weiter tun konnten, als verwundert zuzuschauen, wie Alexios als Triumphator durch die Tore der Stadt ritt.

Anschließend rief der Kaiser die Pilger zu sich, um sie zu ihrem Sieg zu beglückwünschen. »Das habt ihr gut gemacht, meine Freunde«, lobte er in freundlichem Tonfall. »Mit der Eroberung Nikai-as habt ihr einen wertvollen Besitz für das Reich zurückgewonnen und Sultan Kilidsch Arslan seiner Hauptstadt beraubt. Seit langem schon plagt der Seldschuken-Fürst Konstantinopel, indem er unablässig gegen die Tore des Reiches anrennt. Doch nun ist alles anders. Der Sultan nennt nicht länger ein Haus sein Heim; ihm ist nichts weiter geblieben als sein Zelt, und mit Gottes Hilfe wird ihm eines Tages auch das abgenommen werden.«

Damit keine Unklarheit über seine Absichten herrschte, fügte Ale-xios hinzu: »Wir wollen, daß jeder hier anwesende Edelmann Unsere Dankbarkeit dafür bezeugt, daß diese Stadt wieder in den Schoß des Reiches zurückgeführt worden ist. Damit ihr euren Weg so rasch wie möglich fortsetzen könnt, werden Wir die Verwaltung Nikaias übernehmen, um euch von dieser Last zu befreien.«

Anschließend gewährte er der Sultanin, ihren Dienern und Kindern sicheres Geleit nach Konstantinopel, wo sie sich aufhalten könne, bis man sich mit Sultan Kilidsch Arslan darüber verständigt habe, wann und wo er seine Gattin wiederzusehen wünsche. Die westlichen Fürsten waren entsetzt ob dieses außergewöhnlichen Wohlwollens gegenüber dem Feind. Um die Kreuzfahrer durch diese Anordnung jedoch nicht langfristig zu verärgern, gab Alexios gleichzeitig Order, die Schatzkammer des Sultans zu öffnen und den Inhalt zu gleichen Teilen unter den Anführern der Pilger zu verteilen; des weiteren ließ er alles Getreide auf dem Markt der Stadt beschlagnahmen und zu dem vor den Toren lagernden Heer schaffen. Für sich selbst beanspruchte der Kaiser nichts - außer Nikaia.

Während der Kaiser sich darum kümmerte, die neugewonnene Stadt wieder in einen Teil des byzantinischen Reiches zu verwandeln, setzten die Kreuzfahrer frohen Mutes ihren Weg ins Heilige Land fort. Dem Beschluß folgend, den sie in Raimunds Zelt getroffen hatten, brachen sie bereits einen Tag nach Ankunft des Kaisers auf, in der Hoffnung, den Kreuzzug schon bald erfolgreich beenden zu können - und zwar trotz der wiederholten Warnungen des Tatikios und der byzantinischen Führer, daß sie Sultan Kilidsch Arslan nicht zum letztenmal gesehen hätten.

In den folgenden Tagen durchquerten die Pilger mehrere verlassene Dörfer und Städte: Orte, die einst blühende Marktplätze und Handelsmetropolen gewesen waren. Die menschenleeren Hügel waren übersät von zerfallenen Bauernhöfen, und die gesamte Straße entlang waren die Häuser bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Brunnen und Weinberge, Felder und Wälder - alles war zerstört. Brük-ken waren abgerissen und Zisternen und Dämme zerschmettert wor-den, so daß das lebenspendende Wasser im trockenen Erdreich versickerte. Die wenigen Flüsse, an denen die Pilger vorüberkamen, waren ausgetrocknet, und je tiefer sie ins Landesinnere vordrangen, desto trockener wurde es.

Nach nur fünf Tagen neigten sich die Wasservorräte des Heeres dem Ende zu, und man beschloß, die Pilgerschar in zwei Abteilungen aufzuteilen, um es den Versorgungseinheiten leichterzumachen, die ohnehin schon immer weitere Strecken zurücklegen mußten, um Futter für die Tiere und Wasser für alle herbeizuschaffen. Die erste dieser Abteilungen, die aus den Heeren Gottfrieds, Balduins, Hugos und sämtlichen Franken unter der Führung von Graf Raimund bestand, sollte nach Norden über die Straße weiterziehen, während die andere - die Armeen Roberts von Flandern, Stephans, Tankreds und Roberts von der Normandie, sowie der Rest der Engländer und Normannen - unter Bohemunds Führung sieben Meilen weiter südlich marschieren sollte.

So zogen sie durch die bithynischen Berge, und nur hier und da wurden sie von kleinen, aber wilden Gruppen seldschukischer Reiter angegriffen, die sich jedoch jedesmal mit Leichtigkeit in die Flucht schlagen ließen. Hinter den Bergen fand sich Bohemunds Abteilung auf einer weiten, hügeligen Hochebene wieder, in Sichtweite eines Flusses und nicht weit entfernt von der antiken, inzwischen jedoch zerstörten Stadt Dorylaion.

Beinahe wahnsinnig vor Durst strömten die Pilger in Scharen ans Flußufer, wankten ins Wasser und versanken bis zu den Knien im kühlen Schlamm. In dem Bemühen, so rasch wie möglich an die lebensrettende Flüssigkeit zu kommen, stießen sie einander beiseite, und einer kletterte über den anderen. Auch die Pferde stürzten sich in den Fluß, als sie das Wasser rochen, und tranken so viel sie konnten.

Nachdem die Pilger ihren Durst gestillt hatten, begannen sie, sämtliche Fässer und Trinkschläuche mit Frischwasser zu füllen. Schließlich gesellten sich die Älteren zu den Kindern, die bereits ausgelassen im Fluß badeten. Fröhlich planschten die sonnenverbrannten Pilger im kühlen Naß, und alsbald hallten die Ruinen der nahe gelegen Stadt von fröhlichem Lachen wider.

Da die Wiesen am Ufer in saftigem Grün erstrahlten - das erste gute Weideland, das die Kreuzfahrer seit Konstantinopel gesehen hatten -, ordnete Fürst Bohemund an, ein Lager aufzuschlagen. Die Kreuzfahrer trieben die Tiere auf die Weiden und genossen die erste angenehme Nacht seit langer Zeit. Nachdem sie am nächsten Morgen ein letztes Mal gebadet hatten, bereiteten sie sich widerwillig auf den Aufbruch vor.

Sie hatten sich gerade erst zum Abmarsch formiert, als Sultan Ki-lidsch Arslan mit dem versammelten Heerbann der Seldschuken am Horizont erschien und die Kreuzfahrer in Stücke hieb.

16. Januar 1899:

Edinburgh, Schottland

aitlin und ich heirateten im Frühling des Jahres 1871. Nur wenige Wochen nach der Hochzeit von Angus und Libby gaben auch meine geliebte Cait und ich uns das Jawort und begannen gemeinsam ein langes, meist sonniges Leben. Natürlich sah ich Angus weiterhin in der Kanzlei, und dann und wann gingen wir auch in den Club, doch beide waren wir so sehr mit den Belangen unserer neu gegründeten Familien beschäftigt, daß uns keine Zeit mehr für unsere alten Junggesellenaktivitäten blieb.

An unserem zweiten Hochzeitstag trafen sich zwei verliebte Paare, die hoffnungsvoll in eine glückliche Zukunft blickten. Drei Monate später war Angus tot.

Wie so viele andere auch erlag er der Grippe-Epidemie, die in jenem Jahr ganz Europa heimsuchte. Ich wußte nichts von seiner Krankheit. Vage kann ich mich daran erinnern, daß er eines Freitags nicht zur Arbeit erschien, und auch am darauffolgenden Wochenende bekam ich ihn nicht zu Gesicht. Montag morgen war er dann gestorben; der Tod hatte ihn in den letzten Stunden der Nacht ereilt.

Ich war am Boden zerstört. Mein bester Freund war für immer von uns gegangen, und ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, mich von ihm zu verabschieden und ihm zu sagen, wieviel mir unsere Freundschaft bedeutet hatte. Nach der Beerdigung zogen Libby und das Kind - sie und Angus hatten eine ein Jahr alte Tochter - zurück nach Perth, wo Libbys Eltern wohnten; obwohl sie und Caitlin sich weiterhin regelmäßig schrieben, wurde es nie wieder wie früher.

Ich erzähle das alles hier, weil ich glaube, daß Angus' Beerdigung einen Wendepunkt darstellte. Selbstverständlich nahm ich an der Beerdigung teil, und während ich den Nachruf verlas, blickte ich auf und entdeckte jemanden einsam und allein im hinteren Teil der Kapelle. Es war Pemberton. Im schwarzen Anzug und dunklen Mantel, den er wie einen Umhang über die Schultern gelegt hatte, stand er ernst und gefaßt in der Nähe des Eingangs, die Hände vor der Brust gefaltet und den Blick gesenkt.

Im selben Augenblick, da ich ihn bemerkte, hob er langsam den Kopf und blickte mich an; doch er schaute nicht zu mir herauf wie jemand, den man von der Kanzel herab anspricht - wie gesagt, verlas ich gerade den Nachruf -, sondern er ... wie soll ich mich ausdrücken? Er hob die Augen und fixierte mich mit einem höchst außergewöhnlichen Blick. Obwohl er sich im hinteren Teil der Kapelle befand und ich auf der Kanzel, drang sein Blick tief in meine Seele ein und erfüllte mich mit einer derartigen Traurigkeit, daß ich gezwungen war, meine vorbereitete Rede augenblicklich abzubrechen. Ich fürchte, ich habe irgend etwas Unverständliches gemurmelt, um die Ansprache so rasch wie möglich zu beenden, und als ich mich anschließend wieder setzte, brach eine Welle der Trauer über mich herein.

Nach der Beerdigung - als ich mich wieder ein wenig gefangen hatte - hielt ich auf dem Leichenschmaus nach Pemberton Ausschau, doch er war nirgends zu sehen.

Sechs Monate später trafen wir uns erneut. Caitlin war mit unserem Sprößling - inzwischen hatten wir einen reizenden kleinen Engel mit Namen Annie - zur Sommerfrische ins Haus ihrer Tante gefahren. Ich kam leider nicht aus der Kanzlei heraus; also blieb ich daheim und sah zu, wie ich alleine zurechtkam. Während dieser Zeit saß ich eines Abends im Rauchsalon des Clubs, las die Zeitung und wartete auf den Dinner-Gong, als ich bemerkte, daß mich jemand beobachtete. Ich hob den Kopf und sah Pemberton, der mir gegenüber saß und mich mit dem gleichen Blick betrachtete wie schon auf Angus' Beerdigung.

»Sind Sie heute abend allein?« fragte er höflich, doch ohne Einleitung.

»Mr. Pemberton«, erwiderte ich, »was für eine angenehme Überraschung. Ich habe Sie nicht kommen gehört. Ja, ich esse heute abend allein; meine Frau verbringt die nächsten vierzehn Tage auf dem Land. Da ich die Produkte meiner eigenen Kochkünste nicht mehr ertragen kann, habe ich beschlossen, dem Alten Hirsch einen Besuch abzustatten, um zu sehen, ob man hier immer noch so gutes Essen serviert wie früher.«

»Oh, das Essen ist so hervorragend wie eh und je; das kann ich Ihnen versichern«, entgegnete er. »Ich wäre erfreut, wenn Sie mir beim Dinner Gesellschaft leisten würden. Ich wollte ohnehin schon seit einiger Zeit mit Ihnen sprechen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir. Es wäre mir eine Freude.«

In diesem Augenblick rief der große Gong die Mitglieder zum Essen, und der alte Gentleman stand auf. »Ich habe einen Tisch reservieren lassen. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn wir sofort hineingehen. Ich glaube, wir beide haben viel zu besprechen.«

Und wir beide sprachen in der Tat viel miteinander, das kann ich Ihnen versichern. Zunächst sprachen wir - wie nicht anders zu erwarten war - über den unerwartet frühen Tod des armen Angus; schließlich sagte Pemberton: »Ihr Nachruf auf Alisdair hat mich tief bewegt. Ich weiß, daß seine Eltern Ihnen für Ihre Freundschaft sehr dankbar sind.« Er hielt kurz inne; dann fügte er hinzu: »Ebenso wie ich.«

Anschließend wandten wir uns anderen Themen zu. Ich glaube, unser Gespräch deckte das gesamte Britische Empire und seine Probleme ab: Ägypten, den Sudan, Indien, Hongkong und ein gutes Dutzend andere Länder, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Pemberton schien sich für jeden dieser Orte zu interessieren und etwas darüber zu wissen, denn er sprach nicht wie ein beiläufiger Beobachter, sondern wie ein intimer Kenner dieser Länder, ihrer Politik, Kultur und Geschichte.

Vieles von dem, was er in jener Nacht sagte, fand ich unglaublich. Tatsächlich ging ich sogar in dem Glauben nach Hause, ich hätte mich mit einem Verrückten unterhalten - harmlos zwar, aber definitiv vollkommen verrückt.

In den folgenden Wochen und Monaten jedoch ertappte ich mich häufig dabei, wie ich mich seiner Worte, seiner Erläuterungen und Bemerkungen erinnerte, und nach und nach ergaben sie Sinn. Neugier überkam mich, und ich fragte mich, was er wohl sonst noch wußte.

Ich beschloß, Pemberton wiederzusehen. Da ich nicht wußte, wo ich ihn erreichen konnte, hinterließ ich eine Nachricht im Alten Hirsch, denn ich vermutete, daß er den Club weit häufiger besuchte als ich; bei einem seiner nächsten Besuche konnte der Portier ihm die Nachricht dann aushändigen. Tatsächlich erhielt ich innerhalb von vierzehn Tagen Antwort. Die Nachricht war auf teures, cremefarbenes Briefpapier geschrieben und lautete schlicht: »Freue mich darauf, Sie wiederzusehen. Wie wäre es mit Dinner am 16.? Mit freundlichen Grüßen, Pemberton.«

Da ich davon ausging, wir würden uns im Club treffen, erschien ich am entsprechenden Abend kurz vor acht und machte es mir in meinem üblichen Sessel bequem. Um halb neun, als ich bereits glaubte, die Nachricht mißverstanden zu haben, erschien Pemberton. Ohne nach rechts oder links zu schauen, marschierte er direkt auf mich zu, schüttelte mir die Hand, entschuldigte sich für die Verspätung und führte mich in den Speisesaal, wo er wie bei unserem letzten Treffen einen Tisch reserviert hatte.

Die Themen unseres Gesprächs an diesem Abend waren nicht weniger weit gestreut als bei unserer vorherigen Unterhaltung, doch diesmal hörte ich ihm aufmerksam zu und versuchte, mir alles zu merken, was er dabei über sich selbst preisgab. Am Ende des Abends hatte ich viel über die maritime Erforschung Polynesiens gelernt sowie über die Philosophie der Renaissance in Frankreich, doch so gut wie nichts über meinen Gastgeber. Als wir uns voneinander verabschiedeten, ergriff er meine Hand, blickte mir in die Augen und sagte: »Ich frage mich, ob Sie vielleicht Lust hätten, zwei meiner besten Freunde kennenzulernen.«

Auf dieses Angebot war ich nicht vorbereitet, und offensichtlich war mir meine Überraschung anzumerken, denn Pemberton fügte hinzu: »Wie ich sehe, ist es Ihnen unangenehm. Bitte, verzeihen Sie mir. Es war nur so ein Gedanke.«

»Nein, nein«, protestierte ich. »Es wäre mir eine Ehre, Ihre Freunde kennenzulernen, Mr. Pemberton. Also, ich.«

»Pembers, bitte. Ich glaube, wir kennen uns jetzt schon lange genug, nicht wahr, Gordon?«

»Natürlich«, bestätigte ich. Ich hatte das Gefühl, daß er Vertrauen zu mir gefaßt hatte - ein Privileg, das er offenbar nicht leichtfertig vergab; dessen war ich sicher.

»Hervorragend«, sagte er. Schließlich verabredeten wir einen Zeitpunkt für unser nächstes Treffen und wünschten uns gegenseitig eine gute Nacht.

Auf dem Heimweg dachte ich in der Droschke darüber nach, was an diesem Abend geschehen war: sicherlich nichts Wichtiges. Ich war sogar ein wenig enttäuscht. Vermutlich hatte ich etwas Außergewöhnliches erwartet und mich statt dessen mit dem Gewöhnlichen zufriedengeben müssen. Auch das folgende Dinner mit Pembertons Freunden verlief wenig bemerkenswert. Bei den beiden handelte es sich um recht angenehme Gentlemen: Der eine war ein kleiner, gut gepolsterter Waliser mit Namen Evans, der andere ein schlanker, grauhaariger Kerl französischer Abstammung, der auf den Namen De Cardou hörte. Beide waren auf eine gewisse, freundliche Art Gentlemen vom alten Schlag, doch über sich selbst gaben auch sie nichts preis.

Ich andererseits erwies mich trotz aller Bemühungen als unfähig, irgend etwas von mir zu verheimlichen. Die Leichtigkeit, mit der sie mir jede Minute meiner Existenz entlockten - von meiner Kindheit bis zu meinem Alltag in der Kanzlei -, war erstaunlich. Das Endergebnis war, daß sie nun beinahe alles über mich wußten, während ich mir nach wie vor im unklaren über meine Gesprächspartner war. Nichtsdestotrotz schienen wir an jenem Abend gemeinsam ein unsichtbares Tor durchschritten zu haben, denn von diesem Tag an wurde mir Pembertons uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil -oder genauer gesagt: Er schien mich zum Mittelpunkt seiner Aktivitäten bestimmt zu haben.

Ich gewann den Eindruck, als kenne er Gott und die Welt und als habe er mir auf die ein oder andere Art jedermanns Wohlwollen gesichert. In der Folge davon nahm unter anderem mein privates Vermögen unauffällig, aber stetig zu. Aufgrund eines Abschwungs im Wollhandel war ich nach dem Tod meines Vaters in die wenig beneidenswerte Position geraten, diverse Wechsel begleichen zu müssen. Während ich meine Schulden bisher zwar gewissenhaft, doch langsam getilgt hatte, veränderte sich meine Lage nach jenem Treffen mit Pemberton und seinen Freunden dramatisch, und alsbald eröffneten sich mir vollkommen neue Horizonte. Plötzlich wurde ich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit befördert, was selbstverständlich auch eine beachtliche Verbesserung meiner finanziellen Lage mit sich brachte. Schließlich keimte in Caitlin und mir die Hoffnung auf, daß wir eines Tages vielleicht doch einen gewissen Grad an finanzieller Unabhängigkeit erreichen würden, um unsere Träume vom Reisen erfüllen zu können.

Zu jener Zeit war es auch, daß ich immer mehr das Gefühl verspürte, beobachtet zu werden. Bitte, mißverstehen Sie mich nicht. Es war kein unangenehmes Gefühl; auch fürchtete ich nicht, daß mir etwas Böses drohe. Ich kann Ihnen versichern, dem war nicht so - eher im Gegenteil: Ich fühlte mich beschützt. Es war, als würden unsichtbare Engel über mich, Caitlin und die Kinder - es sollten zwei werden - wachen, Engel, die jederzeit bereit waren, uns zu helfen und zu verteidigen.

Und ich irrte mich nicht. Allerdings sollte ich auch erst Jahre später erfahren, welch hohen Preis meine Beschützer für meine Sicherheit zahlen mußten.

In den folgenden Monaten und Jahren entwickelte sich die seltsame Freundschaft zwischen mir und Pemberton auf unvorhersehbare

Art und Weise, besonders nachdem mir immer mehr zu Bewußtsein kam, daß er der Architekt meines unverhofften Glücks war. Daß mein Wohltäter ein Witwer war, der schon lange allein durchs Leben ging, fand ich eher durch Zufall heraus. Seitdem versuchte ich Pemberton für seine Menschenfreundlichkeit zu danken, indem ich ihn immer häufiger zu unseren Familienfesten einlud.

Um es kurz zu machen: Pemberton wurde alsbald ein fester Bestandteil unseres Haushalts. Zur Geburt unseres zweiten Kindes bat ich ihn, Pate zu werden. Begeistert nahm Pemberton an, und erschien zur Taufe mit einer Kiste Port und einem Silberlöffel, in den der Name des Kindes und ein Wappen eingraviert worden war. »Das ist das Wappen der Murrays«, erklärte er, als Caitlin ihn danach fragte.

»Das Wappen der Murrays? Du hast mir ja gar nicht gesagt, daß du ein Aristokrat bist, Liebling«, erwiderte sie an mich gewandt.

»Glaub mir: Ich hatte ja keine Ahnung«, antwortete ich.

Pemberton wurde daraufhin ausgesprochen ernst. »Es mag Ihnen ja vielleicht seltsam erscheinen«, sagte er, »aber die Murrays sind einer der ältesten und ehrenhaftesten Clans in der langen Geschichte unseres streitlustigen Volkes.« Er drehte sich zu dem kleinen Alexander um, der auf Caitlins Armen ruhte, und fügte hinzu: »Du kannst stolz auf dein Erbe sein, mein Junge.« Dann runzelte er nachdenklich die Stirn, als suche er nach etwas im Nebel der Geschichte, legte dem Knaben die Hand auf die Stirn und erklärte: »Möge das Heilige Licht dir den Weg weisen, und mögest du niemals vom Wahren Weg abweichen.«

Sie mögen dies vielleicht für einen merkwürdigen Segen halten, doch ist er nicht merkwürdiger als vieles andere was Menschen zu solchen Gelegenheiten sagen, nur daß wir uns dieser Seltsamkeit zum entsprechenden Zeitpunkt nur selten bewußt werden. Als ich Pemberton häufiger traf und ihn somit besser kennenlernte, kam ich nicht umhin zu bemerken, daß er häufig fremdartige und verwirrende Prophezeiungen von sich gab.

Für gewöhnlich kamen diese Prophezeiungen wie folgt zustande:

Ein Kommentar oder ein Thema in der Zeitung erregte Pembertons Aufmerksamkeit, und er traf daraufhin eine präzise Vorhersage bezüglich des Ausgangs des beschriebenen Ereignisses - falls dieser denn in Frage stand -, oder aber er wies auf die Folgen hin, welche dieses Ereignis nach sich ziehen würde. Mit der Zeit lernte ich, seine Bemerkungen ernst zu nehmen; denn auch wenn seine Vorhersagen bisweilen unlogisch erschienen, so trafen sie doch - bis auf wenige Ausnahmen - allesamt zu. Allerdings will ich nicht den Eindruck erwecken, daß Pemberton etwas von einem Wahrsager an sich hatte, wie man ihn auf jedem x-beliebigen Jahrmarkt findet; mit solcherlei Hokuspokus hatte er nichts zu tun. Tatsächlich stammt der Begriff >Prophezeiungen< von mir; er selbst nannte sie stets >Vor-hersagen<, womit er andeuten wollte, daß es sich lediglich um begründete Vermutungen handelte.

Auch wenn diese Vorhersagen vielleicht keiner Eingebung entsprangen, so waren sie sicherlich das Produkt eines geradezu unglaublichen Wissens und einer großen, wenn auch nicht grenzenlosen Intelligenz. Hinter dem förmlichen, eleganten, aber zurückhaltenden Verhalten des alten Mannes verbarg sich ein bemerkenswerter Intellekt, verbunden mit beachtlicher Macht und Ausstrahlung. Je näher ich Pemberton kennenlernte, desto mehr respektierte und vertraute ich ihm. Obwohl die Einzelheiten seiner Vergangenheit und selbst seines alltäglichen Lebens mir bestenfalls schattenhaft bekannt waren - beispielsweise erfuhr ich nie, wo er aufgewachsen und zur Schule gegangen war, oder woher sein enormes Vermögen stammte -, war vollkommen klar, daß es sich bei ihm um einen Menschen von tadellosem Charakter handelte.

Was auch immer er tat, ich habe ihn stets als freundlichen und rücksichtsvollen Mann erlebt. Zwar verfolgte er durchaus seine eigenen Ziele, doch begegnete er anderen ausnahmslos respektvoll, geduldig, großzügig und fair. Auch wenn er bisweilen als scharfer Richter der Welt und ihrer Fehler auftrat, so kam doch nie ein grausames oder verächtliches Wort über seine Lippen. Seine Fähigkeit und Bereitschaft, andere zu verstehen und ihnen zu vergeben, war

nahezu unendlich - zumindest hatte ich stets diesen Eindruck.

Bitte verwechseln Sie diese Milde nicht mit Feigheit; damit hatte es ganz und gar nichts zu tun. Nichts in Pembertons Verhalten entsprang dem feigen Wunsch, Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, geschweige denn der Angst vor Streit. Seine Überzeugungen standen häufig im Widerspruch zur öffentlichen Meinung, doch er hielt unbeirrt an seinen Anschauungen fest. Wenn ihn das in Konflikt mit der gesellschaftlichen Mehrheit brachte, dann war das eben so. Ich sah ihn niemals wanken. Während ich ihn immer besser kennenlernte, erkannte ich, daß Pemberton zur seltensten Art von Mensch gehörte: Er war ein guter Mann im besten Sinne des Wortes.

Das war auch der Grund, warum ich ohne zu zögern zustimmte, als er mich eines Abends fragte, ob ich nicht den Brüdern des Tempels beitreten wollte.

Wie so viele der Ereignisse, die mit Pemberton in Verbindung stehen, so fand auch dieses im Salon des Alten Hirschen statt. Der alte Gentleman hatte mich wieder einmal zu einem köstlichen Essen eingeladen, und wie gewöhnlich saßen wir hinterher bei einem Whisky und einer Zigarre beisammen, als er plötzlich sagte: »Gordon, mein Freund, ich habe Ihnen ein Angebot zu machen, das vielleicht die ein oder andere Überlegung wert wäre.«

»Ich würde mich freuen, es zu hören«, erwiderte ich gutgelaunt, und als ich sah, wie ernst er es meinte, fügte ich hinzu: »Bitte, fühlen Sie sich frei, mich zu fragen, was Sie wollen.«

»Ich kenne Sie nun schon viele Jahre, und ich glaube, auch Sie haben mich in dieser Zeit recht gut kennengelernt. Tatsächlich glaube ich sogar, daß sich eine gewisse Beziehung zwischen uns entwickelt hat.« Rasch versicherte ich ihm, wie wichtig unsere Freundschaft für mich sei, woraufhin er lächelte und sagte: »Dann bitte ich Sie um unserer Freundschaft willen: Bewahren Sie Stillschweigen über das, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Werden Sie das tun?«

»Selbstverständlich.« Neugierig beugte ich mich vor. Ich hatte Pemberton noch nie so geheimnisvoll erlebt.

»Wie Sie vielleicht schon gemutmaßt haben, habe ich viele Verpflichtungen und Interessen, die meine Zeit in Anspruch nehmen. Eine davon würde ich Ihnen nun gerne ans Herz legen; denn wie ich Sie inzwischen kennengelernt habe, glaube ich, daß Sie sie recht anregend finden werden.« Er blickte mich an, um zu sehen, ob ich wünschte, daß er fortfahren solle.

»Bitte, reden Sie weiter. Ich höre zu.«

»Bei der Organisation, über die ich mit Ihnen sprechen möchte, handelt es sich um eine sehr private und äußerst exklusive Verbindung.«

Er sprach nun derart ernst, daß ich mich genötigt fühlte, die Stimmung ein wenig zu lockern. »Eine Geheimgesellschaft? Pemberton, Sie überraschen mich.«

»Eine Gesellschaft ohne Zweifel«, erwiderte er. »Geheim? Lassen Sie uns einfach sagen, in Zeiten wie diesen kann man nicht vorsichtig genug sein, was die Auswahl derjenigen betrifft, denen wir uns anvertrauen.«

»Bitte, verzeihen Sie mir, Pemberton, aber reden wir über eine Freimaurerloge?«

»Freimaurer?« Er wirkte ehrlich entsetzt. Kurz geriet sein Dekorum ins Wanken, und ich erhaschte einen Blick auf den wahren Pemberton. »Machen Sie das nicht lächerlich! Wir haben nichts mit diesem Hokuspokus zu tun - gar nichts, Gott sei Dank. Was mich betrifft, so sind Freimaurer nicht mehr als ein Haufen bemitleidenswerter kleiner Männer, die seltsames Zeug vor sich hin brabbeln und in den Schürzen ihrer Mütter umherstolzieren. Um offen zu sein: Freimaurer sind Priester einer längst toten Religion, welche die falschen Knochen verehren.«

»Ich verstehe.«

»Nein. Unsere Organisation ist weit entfernt von derlei Dingen. Auch wenn wir nicht weniger eifersüchtig über unsere Traditionen wachen als die Freimaurer, so wurzeln wir sozusagen doch in anderer Erde. Die Eingeweihten kennen unsere Verbindung als den Mildtätigen Orden, denn wir haben uns ganz und gar dem Vollbringen guter Taten verschrieben. Seit nunmehr vierzig Jahren bin ich Mitglied in diesem Orden, und wir halten stets nach integren Männern Ausschau, die von einer Verbindung wie der unseren profitieren könnten.« Er hielt kurz inne und lächelte. »Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich Sie als neues Mitglied vorschlagen dürfte.«

»Mir wiederum wäre es eine große Ehre, ein solches Angebot annehmen zu dürfen«, erwiderte ich.

»Gut«, sagte Pemberton, der offensichtlich mit meiner Antwort zufrieden war. »Gut. Ich werde die notwendigen Vorbereitungen treffen. Sie werden in Kürze von mir hören.«

Einige Wochen später wurde ich in den Orden eingeführt und entdeckte eine Facette der Gesellschaft, die mir bis dahin entgangen war. Ich war überrascht, unter den Mitgliedern des Tempels XX -wie wir unseren örtlichen Versammlungsraum nannten - mehrere Bekannte zu finden: Männer, die ich aus meinem Beruf kannte und sogar zwei aktive Mitglieder unserer Pfarrgemeinde. In der Folge davon fühlte ich mich unter meinen neuen Brüdern von Beginn an heimisch und empfand die Verbindung als ausgesprochen anregend.

Getreu Pembertons Worten war das Vollbringen guter Taten ein vorrangiges Ziel des Mildtätigen Ordens: Man spendete Bücher für Bibliotheken, Rollstühle für Gelähmte, Medizin für Kranke, Kleidung für Armen- und Waisenhäuser und so weiter und so fort. Alles notwendige Taten, und die Empfänger waren auch angemessen dankbar, doch insgesamt wirkten die Aktivitäten des Ordens ein wenig schwerfällig. Wenn wir nicht gerade die Auslieferung von Spenden organisierten, wurden wir in den Traditionen und der Geschichte des Ordens unterwiesen oder diskutierten über gesellschaftliche Fragen.

Mein erster Eindruck war, daß der Mildtätige Orden der Brüder vom Tempel Salomons - wie er offiziell hieß - offenbar auf denselben Grundlagen beruhte wie die Freimaurerei. Wir trugen weiße Mönchskutten mit seltsamen Insignien und bekleideten unterschiedliche Grade in der Hierarchie, die man anhand der Farben von Gürtel und Kapuzen erkennen konnte. Außerdem verwende-ten wir ähnlich den Freimaurern geheime Paßwörter, an denen wir uns gegenseitig erkannten, und wir lernten uralte Rituale, aus denen die geheimnisvollen Zeremonien bestanden, die wir bisweilen abhielten.

Trotz Pembertons beharrlichen Leugnens hatte ich den Eindruck, daß die Brüder des Tempels zumindest zum Teil als Antwort auf die Freimaurerbewegung gegründet worden waren, vielleicht sogar von ehemaligen Mitgliedern dieser weit bekannteren Geheimgesellschaft. Erst nach mehreren Jahren der Mitgliedschaft begann ich zu vermuten, daß unser Orden weit mehr war als nur eine Ansammlung abtrünniger Freimaurer, die in weißen Laken herumliefen und einander Bruder Novize, Bruder Prinzipal oder Bruder Prae-ceptor nannten.

Als ich von der Existenz der Bruderschaft erfuhr, war ich dennoch überrascht, wie ich gestehen muß. Allerdings vermute ich, daß ich mich von der harmlosen Natur der größeren, wohltätigen Organisation habe einlullen lassen. Sicherlich war die Vorstellung eines zweiten, im ersten verborgenen Ordens nichts Ungewöhnliches, doch in all der Zeit, da ich ein Mitglied des Mildtätigen Ordens gewesen war, hatte ich keinerlei Grund zu der Annahme gehabt, ich hätte nicht alles gesehen.

Nachdem ich jedoch von der Bruderschaft erfahren hatte, wurde mir der eigentliche Zweck des Mildtätigen Ordens augenblicklich klar: Er diente als eine Art >Sieb<, das dem älteren, weit geheimnisvolleren Bund vorangestellt war. Mit anderen Worten: Auch wenn der Mildtätige Orden seinen eigenen Zielen folgte, so war er in Wahrheit doch nur gegründet worden, um der Bruderschaft zu dienen.

Auch fand ich zu meiner großen Verwunderung heraus, daß nur jene von der Bruderschaft erfuhren, die das Glück hatten, als Mitglied ausgewählt zu werden. So kam es, daß ich weniger als vierzehn Tage, nachdem man mich in dieses Geheimnis eingeweiht hatte, um Mitternacht vor Allerheiligen auf dem Boden einer Krypta kniete, die heiligen Eide wiederholte, die man mir vorsagte, und die Klinge eines Schwertes küßte. Anschließend tauschte ich meine weiße Mönchsrobe gegen einen schwarzen, mit purpurroter Seide abgesetzten Umhang, und man überreichte mir einen Talisman: einen rußgeschwärzten Fingerknochen, der von der Hand eines der Gründer unseres Ordens stammte - eines schottischen Adeligen, der auf dem Scheiterhaufen gestorben war, weil er unsere Bruderschaft nicht hatte verraten wollen.

agna strich mit den Händen über ihren sanft gewölbten Bauch. Eine Zeitlang hatte sie ihre wachsende Fülle verbergen können, doch nun war das nicht länger möglich.

Schon bald würden die anderen Frauen in ihrer Umgebung bemerken, was sie Tailtiu, ihrer Dienerin, bereits gesagt hatte - das vorwitzige Mädchen mit den großen, neugierigen Augen hätte es ohnehin sofort bemerkt. Tatsächlich hatte Tailtiu die Wahrheit schon vermutet, bevor Ragna selbst sich ihrer Sache sicher gewesen war.

»Wenn du irgend jemandem etwas davon erzählst, Tailtiu«, hatte Ragna sie gewarnt, »werde ich dir höchstpersönlich die Zunge herausschneiden.«

Die Drohung beeindruckte die Dienerin nicht im mindesten. »Womit wollt Ihr das bewerkstelligen? Mit dem Messer, daß Ihr unserem Murdo gegeben habt?«

»Er ist nicht unser Murdo«, erwiderte Ragna streng. »Woher weißt du das mit dem Messer überhaupt?«

»Es ist nicht mehr in Eurer Truhe«, antwortete Tailtiu fröhlich. »Es ist verschwunden - ebenso wie Herr Murdo. Da ich nicht glaube, daß er es gestohlen hat, müßt Ihr es ihm gegeben haben. Und er hat Euch das Kind gegeben.«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Tailtiu«, sagte Ragna und packte das Mädchen an den Schultern. »Niemand wird etwas davon erfahren, bis ich beschließe, es ihnen zu sagen.«

»Fürchtet Ihr, Eure Mutter könnte wütend auf Euch sein?«

»Ich schäme mich nicht für das, was ich getan habe«, erwiderte

Ragna entschlossen. »Aber ich werde mich nicht wie ein lüsternes Weib behandeln lassen, über das jeder Wüstling in Kirkjuvagr sich das Maul zerreißt. Hast du das verstanden?«

»Ich mag ihn. Er ist ein freundlicher und guter Mann. Daß Ihr ihn auch liebt, sehe ich. Wird Euer Vater in eine Ehe einwilligen? Ich glaube, er würde einen guten Ehemann abgeben.«

»Tailtiu, ich meine, was ich sage.« Ragna schüttelte das Mädchen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich werde deshalb keine Schande über mich kommen lassen. Hast du mich verstanden?«

»Ich habe verstanden, Herrin«, sagte Tailtiu. »Es wird unser Geheimnis bleiben.«

»Gut. Vergiß es nicht.«

Dieses Gespräch hatte nun schon vor mehreren Monaten stattgefunden, und entgegen aller Erwartung hatte die redselige Tailtiu den Mund gehalten, was den Zustand ihrer Herrin betraf; noch nicht einmal eine Andeutung war über ihre Lippen gekommen. Das hatte Ragna Gelegenheit gegeben zu warten und zu hoffen, und als endgültig kein Zweifel mehr an ihrer Schwangerschaft bestand, blieb ihr noch genug Zeit und Ruhe, sich darauf vorzubereiten, ihr Geheimnis kundzutun.

Zuerst wollte sie sich ihrer Mutter anvertrauen und dann Frau Ni-amh. Zu dritt würden sie dann entscheiden, was in bezug auf die bevorstehende Geburt zu tun war. Das, so schätzte Ragna, würde der schwierigste Teil werden. Die Taufe war kein Problem: Wenn die Zeit reif war, würden sie das Kind in der Hofkapelle taufen lassen. Dort konnte es auch in die Taufrolle eingetragen werden; ins Kirchenbuch von Orkneyjar würde man es ohnehin erst mit zwei Jahren aufnehmen. Bis dahin wäre Murdo mit Sicherheit wieder zurückgekehrt; sie beide wären verheiratet, und alles wäre gut. Niemand außerhalb der Familie und der Dienerschaft würde etwas von dem Kind erfahren, bis die Heirat formell vollzogen und von der Kirche anerkannt sein würde.

Während der langen Sommertage beschäftigte sich Ragna ausschließlich mit leichter Hausarbeit und wartete auf eine passende

Gelegenheit, sich ihrer Mutter zu offenbaren. Diese Gelegenheit kam, als Frau Ragnhild eines Tages in den Kräutergarten hinausging, um Fenchel fürs Abendessen zu holen. Die untergehende Sonne warf lange Schatten über die ordentlichen Kräuterbeete, als Ragna sich ihrer Mutter näherte. Die Wärme des Tages und das honigfarbene Licht vermittelten Ragna ein Gefühl von Heiterkeit.

»Es war ein guter Sommer für die Pflanzen«, bemerkte ihre Mutter. »Der beste, an den ich mich erinnern kann.«

»Vielleicht deutet das auf einen milden Winter hin«, erwiderte Rag-na.

»Winter!« Frau Ragnhild beugte sich vor, um eine verkümmerte Pflanze aus dem leuchtend grünen Beet zu rupfen. »Ich bitte dich. Der Sommer ist schon kurz genug, auch ohne daß du ihn wegredest. Als nächstes müssen wir uns auf die Ernte vorbereiten - und das bald.«

»Bis dahin werden unsere Männer sicherlich wieder zurück sein«, erklärte Ragna und pflückte ein wohlriechendes Blatt von einem nahen Ast, hielt es sich unter die Nase und drehte es zwischen den Fingern.

»Unsere Männer«, echote die Mutter. »Du redest wohl von Mur-do. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du auf diese Art von deinem Vater und deinen Brüdern sprechen würdest.«

»Ich vermisse ihn, Mutter«, sagte Ragna mit leiser Stimme.

»O ja«, seufzte Ragnhild. »Und ich vermisse deinen Vater. Es ist ein hartes Los, allein zurückbleiben zu müssen.«

»Es ist schön, daß Niamh bei uns ist. Was mit ihrem Land geschehen ist, tut mir leid, aber sie ist uns eine große Hilfe. Ich mag sie.«

»Das ist gut«, bemerkte Ragnhild geistesabwesend und widmete sich wieder dem Beet.

»Es scheint mir nur recht und billig zu sein«, fuhr Ragna fort, »daß eine Braut die Mutter ihres Bräutigams ehrt wie die eigene - und das ist nicht immer so einfach wie in diesem Fall, glaube ich.«

Die Sichel in Ragnhilds Hand verharrte nur einen Augenblick lang regungslos in der Luft, dann: schnipp, ein weiterer verkümmerter Ast. »All dieses Gerede von Braut und Bräutigam«, sinnierte Ragnhild. »Soll das etwa heißen, ich muß in diesem Haus demnächst mit einer Hochzeit rechnen?« Sie richtete sich auf und blickte ihrer Tochter in die Augen. »Oder hat die Hochzeit vielleicht schon stattgefunden?«

»Um die Wahrheit zu sagen: Das hat sie. Bevor er ging, haben wir uns einander versprochen.«

Ragnhild nickte und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Wäre es jemand anderes gewesen, hätte dein Vater ihn durch jede Straße von hier bis Jorvik geprügelt.« Sie hielt kurz inne. »Vielleicht tut er das auch jetzt noch, wer weiß?«

»Vater würde sich niemals gegen diese Verbindung stellen«, beharrte Ragna. Ein Hauch von Vorsicht lag in ihrer Stimme. »Er hat nie etwas gegen Murdo gesagt. Er würde uns seine Zustimmung nie verweigern.«

»Nein«, bestätigte Frau Ragnhild in deutlich sanfterem Tonfall. »Wie könnte er auch? Herr Ranulf ist ein Edelmann und ein langjähriger Freund der Familie. Dein Vater respektiert ihn und schätzt seine Freundschaft. Aber wie auch immer: Was geschehen ist, ist geschehen, und wir müssen das Beste daraus machen.« Erneut trennte die Sichel einen verkümmerten Zweig ab. »Das größte Problem stellt Bischof Adalbert dar. Er kann sich weigern, das Eheversprechen anzuerkennen, weißt du? Dann würden Eure Kinder der Verdammnis anheimfallen.«

»Wir haben noch Zeit.« Ragna senkte den Kopf. Die Tränen standen ihr in den Augen. »Zumindest bis zum Christfest.«

Erneut unterbrach Ragnhild die Arbeit und musterte nachdenklich ihre Tochter. Dann stellte sie den Korb ab und öffnete die Arme. Ragna warf sich ihrer Mutter an die Brust, und eine Zeitlang standen die beiden Frauen schweigend und eng umschlungen beieinander.

»O Ragna, wenn du doch nur gewartet hättest.« Ragnhild seufzte und ließ den Satz unvollendet.

»Er wird mir ein guter Mann sein, Mutter«, sagte Ragna nach einer Weile, schniefte und rieb sich die Tränen von den Wangen. »Er war immer so gut zu mir, und ich liebe ihn dafür - ich glaube, das habe ich immer schon. Wenn er wieder zurückkehrt, werden wir unseren Schwur in der Kapelle erneuern.«

»Und wenn er nicht zurückkehrt?«

»Mutter! Sag so etwas nie wieder!«

»Ich sage es aber. Meine Tochter, die Männer sind im Krieg. Du weißt genauso gut wie ich, daß Männer, die in den Krieg ziehen, nicht immer wieder nach Hause kommen. Von denen, die Heim und Familie verlassen, werden nur wenige wieder zurückkehren. Viele sterben im Kampf, und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten. Das ist zwar hart, aber es ist die Wahrheit.«

»Murdo ist nicht in den Kampf gezogen«, stellte Ragna klar. »Er will nur Herrn Ranulf finden und ihn wieder zurückbringen. Mit Krieg hat er nichts zu schaffen.«

»Das ist zumindest etwas«, gestand Frau Ragnhild. Ihr Blick war eine Mischung aus Mitleid und Zärtlichkeit. »O Ragna, wie sehr wünschte ich, daß für dich alles anders wäre.« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Wir müssen es natürlich Niamh sagen; sie wird es so schnell wie möglich wissen wollen.«

»Ich habe gedacht, wir könnten es ihr vielleicht heute abend sagen«, erwiderte Ragna. »Ich werde es ohnehin nicht mehr lange vor ihr verbergen können.«

Zärtlich legte Frau Ragnhild ihrer Tochter die Hand auf den Kopf.

»Der Kreuzzug wird lange vor dem Winter beendet sein«, sagte Ragna und zwang sich, so überzeugt wie möglich zu klingen. »Die Männer werden schon bald wieder zurück sein, und wir werden heiraten können, noch bevor das Kind geboren wird.«

»Ich bete, daß du recht hast«, sagte Ragnhild und streichelte über das goldene Haar ihrer Tochter. »Ich bete, daß dein Murdo bald wieder zurückkommt. Ich bete, daß sie alle bald wieder zurückkommen ... heil und gesund.«

Nach dem Abendessen schlug Ragnhild vor, Niamh solle sie und ihre Tochter auf einen Abendspaziergang begleiten. »Diese wunderschönen Spätsommertage entschädigen einen für all die kalten, dunklen Winternächte«, bemerkte sie, während sie über den Pfad hinter dem Haus schlenderten.

Der Himmel schimmerte purpurrot im Licht der untergehenden Sonne, und nur wenige Wolken wanderten am Horizont entlang. Von Süden her wehte eine warme Brise über das Meer heran, und die ersten Sterne funkelten über den Hügeln jenseits der blühenden Felder.

»Das war schon immer die Jahreszeit, die ich am liebsten mochte«, stimmte ihr Niamh gelassen zu. »Das Vieh hat geworfen, und die Jungtiere wachsen langsam heran. Auch gefällt mir die Ruhe vor all der Arbeit während der Ernte.«

»Ragna hat gesagt, daß sie hoffe, die Männer wären vor der Ernte wieder daheim«, sagte Ragnhild.

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Niamh. »Aber ich glaube, damit dürfen wir nicht rechnen. Was auch immer die nächsten Monate bringen werden, ich fürchte, wir werden es ohne unsere Männer überstehen müssen.«

Eine der Dienerinnen rief Frau Ragnhild just in diesem Augenblick zu sich, so daß Ragna und Niamh eine Weile allein waren. Schweigend wanderten sie ein Stück nebeneinander her und genossen die milde Abendluft. »Du warst heute abend sehr ruhig«, bemerkte Niamh nach einer Weile. »Das paßt so gar nicht zu dir. Fühlst du dich nicht wohl?«

»Ich fühle mich sogar sehr wohl«, antwortete Ragna. »Falls ich Euch zu ruhig erschienen bin, dann lag das daran, daß ich nach den richtigen Worten gesucht habe, um Euch zu sagen, was ich Euch sagen muß.«

»Mach deinem Herzen einfach Luft«, schlug Niamh vor und lächelte. »Ich glaube nicht, daß mir mißfallen wird, was du zu sagen hast.«

Ragna nickte. »Ihr seid sehr freundlich, Frau Niamh.«

»Nenn mich Nia«, unterbrach die Ältere. »Schließlich sind wir mittlerweile Freundinnen.«

»Das sind wir«, stimmte ihr Ragna zu, »und es ist eben diese Freundschaft, die ich zu verlieren fürchte.«

»Warum plagt dich solch ein Gedanke?« Niamh blieb stehen und drehte sich zu Ragna um. »Mein Herz, was stimmt nicht?«

Die junge Frau hob den Kopf. »Murdo und ich sind einander versprochen. Ich trage sein Kind unter dem Herzen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Niamh leise.

Da sie keine weitere Reaktion zeigte, faßte Ragna Niamhs Worte als Tadel auf. »Ich nehme es dir nicht übel, daß du uns deinen Segen verweigerst«, sagte sie und senkte den Kopf. »Ohne Zweifel hast du gehofft, dein Sohn würde eine bessere Partie machen.«

Mit zwei Schritten stand Niamh neben Ragna und drückte die junge Frau an die Brust. »Du darfst so etwas nie wieder sagen«, mahnte sie voller Herzlichkeit. »Ach, Ragna. Ich könnte mir keine bessere Frau für meinen Murdo vorstellen. Ich habe ihm gegenüber nie ein Wort darüber verloren, doch tief in meinem Herzen habe ich gehofft, er würde eines Tages dasselbe in dir sehen, was ich in dir sehe.« Sie schob Ragna auf Armeslänge von sich. »Ich freue mich für dich - und für ihn auch. Traurig ist nur, daß ich um eure gemeinsame Zukunft fürchte.«

»Wegen der Kirche? Daran habe ich schon gedacht. Wir können unseren Schwur.«

Niamh schüttelte den Kopf. »Nein, die Kirche ist die geringste unserer Sorgen. Schlimmer ist, daß wir unsere Ländereien verloren haben, mein Kind. Murdo wird nichts besitzen, und das ist eine schlechte Grundlage für ein gemeinsames Leben.«

»Aber ihr werdet eure Ländereien wieder zurückerhalten«, erwiderte Ragna. »Wenn Herr Ranulf und deine Söhne zurückkehren, dann werdet ihr die Herrschaft über Hrafnbu wieder übernehmen. Das weiß ich.«

»Ich wünschte, ich wäre genauso fest davon überzeugt wie du. Die Wahrheit ist jedoch, daß vieles dagegen spricht, und selbst wenn Herr Ranulf jetzt hier wäre, könnte es noch schlecht ausgehen.« Ni-amh schwieg einen Augenblick lang. »Wir dürfen nicht allzu sehr hoffen, denn die Launen von Königen sind unberechenbar; sie denken an niemanden außer an sich selbst.«

»Wollt ihr, du und dein Mann, uns etwa die Heirat verbieten, nur weil es euch an Land mangelt?« fragte Ragna nicht unfreundlich.

»Mein Herz, ich will dir gar nichts verbieten«, antwortete Niamh. »Ich gönne dir die Welt und auch meinen geliebten Sohn. Und würde er hier vor dir stehen, würde Ranulf dir das gleiche sagen. Dein eigener Vater könnte die Dinge jedoch anders sehen. Er könnte eine Verbindung ohne Land als seiner einzigen Tochter unwürdig erachten; er könnte der Meinung sein, du könntest mit einem anderen glücklicher werden, und es wäre sein gutes Recht, so zu denken.«

»Ich will aber keinen anderen«, erklärte Ragna von plötzlichem Zorn erfüllt. »Ich werde den Vater meines Kindes heiraten, sonst niemanden. Lieber würde ich sterben.«

»Schschsch«, beruhigte sie Niamh. »Sprich nicht so, denn so zu sprechen bedeutet, die Aufmerksamkeit des Teufels zu erregen. Laß uns statt dessen beten, daß der Herr unser Gott dir deinen Herzenswunsch erfüllt.«

Ragna lächelte. »Trotz all der selbstsüchtigen Könige?«

»Natürlich«, bestätigte Niamh. »Trotz all der selbstsüchtigen Könige. Schließlich sind sie keine Engel, sondern Menschen aus Fleisch und Blut.«

Sie ergriff Ragnas Arm, und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. »Nun denn, wir müssen uns auf die Geburt des Kindes vorbereiten. Wir müssen Kleider nähen.«

»Warme Kleider«, ergänzte Ragna, »denn es wird mitten im Winter zur Welt kommen.«

Arm in Arm wanderten sie durch die Abenddämmerung und sprachen über die Vorbereitungen, die sie in den kommenden Monaten treffen mußten. In dieser Nacht ging Ragna mit einer Ruhe ins Bett, wie sie sie schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr verspürt hatte. Mit einem Gebet auf den Lippen schlief sie ein. »Herr der Heerscharen«, flüsterte sie, »sende deine siebzig Engel, um meinen

Murdo zu beschützen, und bring ihn so schnell wie möglich wieder zu mir zurück. Wenn du nur dieses eine für mich tust, werde ich für immer deine treue Dienerin sein.«

(1 Ve Skidbladnir passierte die Säulen des Herkules und führ in die warmen blauen Wasser des Meeres, das die Mönche Mare Me-diterraneum nannten. »Die See von Mittelerde?« fragte Murdo, der glaubte, sich verhört zu haben.

»Genau«, bestätigte Fionn. »Wir haben das Meer in der Mitte der Welt erreicht. Von allen Meeren dieser Welt ist dies das schönste. Es ist das friedlichste und ruhigste, und nirgends fängt man so viele Fische wie hier.«

Sofort wurde die Probe aufs Exempel gemacht, und im Laufe der folgenden Tage bestätigte sich die prahlerische Behauptung des Mönches immer mehr. In jeder Bucht, in der sie für die Nacht vor Anker gingen, fingen sie bemerkenswerte Mengen verschiedener wohlschmeckender Fische. Einige dieser Fische hatten weder die Mannschaft noch die Passagiere je gesehen; einmal fingen sie auch Krabben, die Murdo sehr genoß, denn sie erinnerten ihn an die Orkneys.

Kaum drei Wochen, nachdem sie das so friedliche Meer erreicht hatten, wechselte jedoch die Jahreszeit, und das gute Wetter hatte ein Ende. Von Tag zu Tag wurde es kälter, und der Wind frischte zusehends auf, woraufhin Jon Reißzahn beschloß, es sei an der Zeit, sich nach einem Liegeplatz für den Winter umzusehen. Von nun an suchten sie ständig die Küste nach einem geeigneten Hafen ab, und schließlich entschieden sie sich für eine kleine, ein Stück landeinwärts gelegene Stadt mit Namen Arles, eine befestigte Siedlung an der Südküste von Gallien im Königreich Burgund. Jon Reißzahn wählte die Stadt nicht zufällig aus. Größere Häfen wie Toulon oder Narbonne mied er mit der Begründung: »Zu viele Leute, zu viele Schiffe und zu viele Versuchungen für unvorsichtige Seefahrer.« Arles jedoch gefiel ihm, denn es war klein und ruhig; außerdem war das Leben hier weit billiger als an anderen Orten. Das kleine Arles lag ein Stück flußaufwärts, wenige Meilen vom Meer entfernt, doch es besaß eine ausreichend große Hafenbucht, die mehreren seetauglichen Schiffen Unterschlupf gewähren konnte, und tatsächlich hatten auch einige hier Schutz vor dem Winter und seinen Stürmen gesucht.

Die Mönche waren mit Jons Wahl zufrieden; sie waren froh, die kalten, verregneten Wintertage im Gebet und im Gespräch mit den örtlichen Klerikern in der Abtei von Sainte Trophime verbringen zu können. Diese großartigen Disputationen wurden durch die freizügige Anwendung des örtlichen Rotweins auf eine noch höhere Stufe gehoben, dem sowohl die ortsansässigen als auch die zugereisten Mönche mit Eifer zusprachen. Der Rest der Mannschaft verbrachte seine Zeit zwischen diversen Trinkhallen und Bordellen im Hafenviertel.

Auf Murdo lastete die aufgezwungene Ruhepause jedoch schwer; er entdeckte nur wenig in der Stadt, was ihn interessierte. Da er weder die Lust verspürte, die örtlichen Huren zu bereichern, noch, seinen Durst bei den ansässigen Brauern zu stillen, und da ihn auch eine gelehrte Debatte mit gallischen Mönchen nicht zu reizen vermochte, beschäftigte er sich statt dessen damit, über die Hügel hinter der Stadt und am Fluß entlangzuwandern. Dank des Winterregens schimmerten die Hügel in saftigem Grün, und Murdo mochte den Duft der niedrigen Sträucher, doch da die Hügel ansonsten nichts Bemerkenswertes zu bieten hatten, machte er sich schon bald daran, die alte Stadt zu erkunden.

Die Straßen von Arles waren eng, und die Häuser standen dicht beieinander. Sämtliche Fenster waren zum Schutz vor den kalten, feuchten Winden aus Nord und West geschlossen. Auch Murdo schlenderte nur durch die gewundenen Straßen, wenn die Sonne schien. Tatsächlich gab es einige ungewöhnliche Gebäude zu bestaunen. Manche waren noch von den Römern errichtet worden, wie ihm Bruder Fionn erklärte; den Rest hatten die Mauren erbaut. Die maurischen Gebäude wirkten besonders seltsam auf Murdo. Aufgrund ihrer weißen Wände, den hohen, schlanken Säulen, der zwiebelförmigen Torbögen, bauchigen Türme und schmalen Glasfenster erschienen sie Murdo wie Paläste aus einem Traum.

Der beeindruckendste dieser >Paläste< war ein imposantes weißes Gebäude am Rand des Marktplatzes. Der Markt selbst war ein gottverlassener Ort, denn da es im Winter auch hier wie überall an Waren mangelte, verirrten sich nur wenige Menschen und Händler hierher. Tatsächlich tauchten nur dann und wann vereinzelt Kaufleute auf, die überdies nur Eier und Käse verkauften, so daß Murdo den Platz zumeist für sich allein hatte.

Auf einem seiner Streifzüge entdeckte er, daß es in der friedlichen kleinen Stadt auch einen Waffenschmied gab. Zwei andere Schmiede hatten sich ebenfalls in der Stadt niedergelassen, das wußte Murdo, doch sie stellten ausschließlich Geräte für die Bauern und den Hafen her. Der dritte Schmied jedoch arbeitete am anderen Ende der Stadt, weit weg vom Hafen und vom Markt. Murdo stolperte eines Tages über die Schmiede, als er die Stadtmauer umwandern wollte. Angezogen von mächtigen Rauchwolken und schweren Hammerschlägen hatte er eine niedrige, dunkle Behausung entdeckt, die in die alte Römermauer hineingebaut worden war. Einst war die Schmiede offenbar ein Torhaus gewesen, aber das Tor hatte man schon längst zugemauert. Das Haus - wenig mehr als eine überdachte Nische in der Mauer - diente nun einem Mann als Unterkunft und Werkstatt, der sich mit der Herstellung von Waffen und Rüstungen seinen Lebensunterhalt verdiente.

In der Schmiede war es angenehm warm, und da der Schmied scheinbar nichts gegen Besucher einzuwenden hatte, blieb Murdo stehen und schaute dem Mann zu.

»Sieh an!« rief der Schmied dem großen jungen Mann zu, der in der Tür herumlungerte. »Dir gefällt wohl die Arbeit mit Eisen, wie? Vielleicht willst du ja auch mal Schmied werden.«

Murdo erklärte ihm, daß er ein Pilger sei, der sich mit Gleichgesinnten auf dem Weg ins Heilige Land befinde. »Unser Schiff überwintert hier«, sagte er. »Im Frühling segeln wir wieder weiter.«

»Ah, dann bist du also einer von dem Langschiff!« erwiderte der Schmied in grobem, aber deutlichem Latein. »Ich habe gehört, diese Nordmänner seien verdammt wilde Krieger. Sie haben auch gute Waffen - aber meine sind besser. Komm. Ich will dir etwas zeigen.« Er winkte Murdo in die Hütte hinein, die von dem großen Schmiedefeuer beherrscht wurde. Dann zog der Mann einen glühenden Eisenstab aus dem Kohlefeuer und sagte: »Das hier wird ein Schwert werden. Jetzt sieht es vielleicht noch nach wenig aus, aber bald.! Bald wird es in der Hand des Herrn von Avignon ruhen.«

Murdo erfuhr, daß der Schmied - ein offener, verschwitzter und rußgeschwärzter Mann mit Namen Bezu - zwei Lehrlinge besaß und daß diese zwei kaum ausreichten, um die aufgrund des päpstlichen Aufrufs gestiegene Nachfrage an Waffen und Rüstungen zu befriedigen. Bezu war auf der Suche nach einem dritten Mann, der ihm helfen konnte, der wachsenden Zahl von Bestellungen Herr zu werden. »Ein starker Junge wie du gibt einen guten Schmied ab. Ich könnte es dir beibringen. Wenn du willst, spreche ich auch mit deinem Vater; ich glaube, wir könnten uns einigen.«

Höflich lehnte Murdo das Angebot ab; dennoch wurde die Schmiede bald zu dem Ort, den er am häufigsten besuchte. Tatsächlich wurde Murdo zu solch einem vertrauten Anblick für Bezu und seine Lehrlinge, daß sie ihn eines Tages einluden, ihr Mittagessen aus Käse, Salzfleisch und Brot zu teilen; als Gegenleistung für diese Freundlichkeit half Murdo den Rest des Tages in der Schmiede aus. Am Abend erklärte Bezu, Murdo sei hier jederzeit willkommen, und wenn er wolle, könne er morgen wiederkommen und ihnen helfen und

mit ihnen essen.

Dem stimmte Murdo gerne zu, und schon bald verbrachte er die meiste Zeit mit dem Schmied und seinen Lehrlingen. Gemeinsam arbeiteten sie im heißen Rauch des Schmiedefeuers und sprachen über dies und das. Murdo genoß die Gesellschaft der Schmiede ebenso sehr wie ihnen zuzusehen, wenn sie aus rotglühendem Eisen Schwertklingen, Speerspitzen und Schildbuckel formten. Bezu ließ Murdo am Blasebalg arbeiten, und als er sah, wie sehr der Jüngling die Arbeit genoß, fragte er ihn, ob er nicht lernen wolle, wie man einen Speer anfertigt.

»Zunächst mußt du das richtige Eisen auswählen«, erklärte Bezu und durchforstete einen Stapel schwarzer Metallstangen, die beinahe so lang waren wie Murdo groß. Das verblüffte Murdo, denn er hatte sich immer vorgestellt, eine Speerspitze würde aus einem kurzen, dicken Klumpen gefertigt.

»Ah, da irrst du dich, mein junger Murdo. Wir fertigen Speere im alten römischen Stil«, erklärte der Schmied. Er legte einen Finger an die Nase und fügte hinzu: »Dieses Geheimnis bewahrt meine Familie nun schon seit Generationen.«

»Und mir wirst du es verraten?« fragte Murdo, der sich von dem unerwarteten Vertrauen geschmeichelt fühlte, das Bezu ihm entgegenbrachte. »Warum?«

Bezu zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wirst du deine Meinung ändern und bei mir bleiben, wenn ich es dir zeige.« Er lächelte. »Außerdem: Wozu ist ein Geheimnis gut, wenn man es nicht ab und an jemandem verraten kann?« Er beugte sich über den Eisenstapel und zog einen geradezu unglaublich dünnen Stecken heraus. »Hier!« rief er und reichte Murdo das Eisen. »Das ist für dich!«

Murdo packte den kalten Stab aus rostigem Metall und musterte ihn zweifelnd. »Im Augenblick mag er ja nicht viel hermachen«, sagte der Schmied, »aber schon bald wird daraus ein Speer entstanden sein, der eines Fürsten würdig ist.«

Dann zeigte Bezu seinem neuen Schüler den langwierigen Prozeß, wie man aus dem dünnen Stück Eisen eine Waffe formte: Erst er-hitzte er das Metall, hämmerte es flach, faltete es zu einem Viereck, rundete die obere Hälfte sorgfältig ab, und schließlich faltete er ein Drittel dieser Hälfte ein weiteres Mal und hämmerte sie wieder flach, bis nur noch in der Mitte eine leichte Erhebung blieb und sich eine kurze, blattförmige Spitze herausgebildet hatte. Murdo gefiel die Arbeit mit Eisen, doch er betrachtete das Werk des Schmiedes mehr als Kuriosität denn als Waffe. Sicherlich war ein Eisenspeer viel zu schwer, um geworfen zu werden, und die kurze Spitze konnte nicht mehr, als die Haut des Gegners nur anzuritzen.

»Warte bis der Stiel in den Holzschaft gesteckt wird«, erklärte Bezu und zeigte Murdo, wie man die Eisenstange in einem geschnitzten Heft aus Esche oder Eiche befestigte. »Siehst du? So kann sich die Spitze nicht aus dem Schaft lösen, und dank des Metallkerns ist der Schaft stabil wie Eisen. Wenn er fertig ist, hast du einen Speer, der nicht zerbrechen kann! Das ist die römische Art.«

So verbrachte Murdo die feuchten Wintermonate: Meist kam er schon recht früh in die Schmiede, arbeitete bis Sonnenuntergang, und oft verbrachte er sogar die Nächte neben dem Feuer. Wenn die Enge der Schmiede ihn mehr bedrückte denn wärmte, ging Mur-do hinaus, setzte sich auf die alte römische Hafenmauer, wickelte sich in seinen Umhang und blickte über das flache Land hinaus aufs Meer. Regen oder Sonne - das machte keinen Unterschied für Mur-do. Die kühlen Schauer, die Burgund im Winter plagten, waren verglichen mit den eisigen Winterstürmen auf Orkneyjar geradezu angenehm.

Wenn er so alleine am Hafen saß, dachte er - wie übrigens meistens - an Ragna und überlegte sich, was er bei ihrem Wiedersehen alles tun würde. Er stellte sich vor, wie er sie lieben, mit ihr ein Heim gründen und wie sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen würden. Er dachte auch an Hrafnbu und stellte sich vor, wie er, sein Vater und seine Brüder es den Klauen des verräterischen Eindringlings Orin Breitfuß entreißen würden. Er dachte an seine Mutter, und er hoffte, daß es ihr gut ging und daß sie sich nicht allzu viel Sorgen um ihn machte. Zumindest tröstete ihn, daß sie bei Ragna war -an manch trübem Tag war dies sogar das einzige, was seine Gedanken wärmte.

Während sich das Rad der Zeit langsam Richtung Frühling drehte, wurde Murdo immer ungeduldiger, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als so bald wie möglich wieder aufzubrechen. Tag für Tag beobachtete er, wie die tiefhängenden Wolken Richtung Süden zogen, und er fragte sich, wann Jon Reißzahn wohl seine Mannschaft wieder zusammenrufen und ablegen würde. Oft ging er zum Hafen hinunter, und beinahe bei jedem Besuch fand er den großen Nordmann und ein, zwei seiner Männer, die sich mit kleineren Arbeiten beschäftigten: Sie flochten Taue, flickten das Segel, reparierten die Ruder und so weiter. Murdo vermutete, daß sie sich schon bald wieder auf den Weg machen würden, doch wann immer er fragte, blickte der Herr des Schiffes in den Himmel, begutachtete den Wind und verkündete: »Heute nicht.« Dann pflegte Jon jedesmal den Kopf zu schütteln. »Vielleicht morgen. Du hast noch einen Tag auf dem Trockenen.«

Aber auch am nächsten Tag war die Antwort stets die gleiche. Als Murdo bereits glaubte, sie würden nie wieder ablegen, blickte Jon eines Tages erneut in den Himmel und deutete auf die nach Norden ziehenden Wolken. »Heute kaufen wir Vorräte. Morgen werden wir segeln.« Dann befahl er Murdo, die Tavernen und Bordelle abzusuchen und die Mannschaft zusammenzutrommeln.

Die Arbeit war rasch getan: Die meisten der Männer hatten ihr Silber ohnehin schon lange aufgebraucht und waren begierig darauf, die Reise fortzusetzen. Die frommen Brüder Ronan, Fionn und Emlyn jedoch mußte man förmlich aus dem Kloster loseisen; dann wurden sie zu den Händlern geschickt, um Proviant zu besorgen -diese Aufgabe fiel ihnen zu, weil kein noch so wortgewandter Kaufmann die gerissenen Kirchenmänner über den Tisch ziehen konnte.

Während die Mönche den notwendigen Proviant besorgten, arbeitete die Mannschaft daran, das Langschiff seetüchtig zu machen. Dank des milden Winters befand sich der Rumpf in gutem Zustand;

kein Wasser war in Ritzen und Fugen gefroren und kein Sturm hatte Mast und Takelage beschädigt, so daß den Männern nichts weiter zu tun blieb, als das Deck zu schrubben und ein wenig aufzuräumen. Das Zelt wurde wieder auf der Plattform hinter dem Mast errichtet, und am Ende des Tages, als Fässer und Säcke mit Proviant eintrafen, war das Schiff bereit, in See zu stechen.

Zufrieden mit der Arbeit gewährte Jon Reißzahn seinen Männern einen letzten Landgang, und auch Murdo verließ das Schiff. Allerdings ging er nicht in die nahe gelegene Taverne, sondern zu Bezus Schmiede, um seinen Freunden Lebewohl zu sagen.

»Wenn du noch ein wenig länger bleiben würdest«, sagte Bezu, »könnten wir einen richtigen Waffenschmied aus dir machen.« Dann holte er den Speer hervor, an dem Murdo gearbeitet hatte und reichte ihn ihm mit den Worten: »Ich glaube, dort, wo du hingehst, wirst du ihn ganz gut gebrauchen können.«

»Aber ich besitze nichts, was ich dir dafür geben könnte.«

»Macht nichts«, erwiderte Bezu. »Er ist ein Geschenk.«

»Ich wollte ihn eigentlich noch fertigmachen«, sagte Murdo und betrachtete den blanken Stahlschaft. Auch wenn es sich um eine grobe Arbeit handelte und man die tödliche Wirkung der Waffe kaum erahnen konnte, war Murdo stolz darauf. »Ich wünschte, ich hätte etwas, was ich dir geben könnte.«

»Nimm ihn, und schmiede ihn weiter«, sagte der Waffenschmied. »Und wenn man dich fragt, woher du eine solch gute und furchterregende Waffe hast, wirst du antworten, Bezu, der Meisterschmied von Arles, habe sie gemacht, und er würde jedem, der zu ihm kommt, einen ebenso guten Speer anfertigen. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Murdo bedankte sich für das Geschenk und sagte Bezu und seinen Lehrlingen, in Orkneyjar seien sie jederzeit herzlich willkommen. Bezu begleitete ihn noch ein Stück die Straße hinunter; dann blickte der Schmied in den Himmel, blinzelte in die Abenddämmerung, wünschte Murdo eine gute Reise und eilte wieder zu seiner Hütte zurück. Anschließend lief Murdo ohne Umweg zum Hafen und ging an Bord.

»Was hast du denn da?« fragte Jon Reißzahn, als Murdo über die Reling kletterte.

»Das ist ein Speer. Ich arbeite noch daran«, antwortete Murdo und hielt dem Nordmann das Eisen entgegen, damit er es bewundern konnte.

»Ach, ein Speer«, kicherte Jon. »Das sieht mir aber gar nicht wie ein Speer aus. Bist du sicher, daß das nicht der Stab eines Schweinehirten ist?«

»Er ist noch nicht fertig«, erwiderte Murdo verärgert. »Man braucht noch Holz für den Schaft, und dann muß er noch geschärft werden.«

Der Seemann lachte. »Das hast du also die ganze Zeit über gemacht! Ich dachte schon, du hättest ein Mädchen in der Stadt.« Er deutete auf den Speer und sagte: »Wie das aussieht, solltest du das nächste Mal lieber dein Glück bei den Frauen versuchen.«

Um nicht noch mehr Spott zu ernten, zog sich Murdo an seinen üblichen Platz am Bug zurück und versteckte den unfertigen Speer unter der Schiffsreling, bevor irgend jemand anderes ihn zu Gesicht bekommen konnte.

Die Seeleute kehrten erst spät in der Nacht wieder zurück, doch Jon Reißzahn gönnte ihnen nur wenig Schlaf. Er weckte sie in den frühen Morgenstunden und gab Befehl zum Ablegen.

Das Langschiff wurde in die Bucht hinaus und dann den Fluß hinunter gerudert. Als sie die Flußmündung hinter sich gelassen hatten, setzten sie das Segel und drehten in den Wind. Sofort blähte sich das Segeltuch, und die Skidbladnir schnitt mit einer derart wilden Kraft durch die Wellen, als sei sie froh, endlich wieder frei zu sein.

Die Reise hatte wieder begonnen, ebenso wie die Suche nach König Magnus' Schiffen. Murdo war fest davon überzeugt, daß sie nun jeden Tag auf die Flotte des Königs treffen mußten - nur daß die Pilgerfahrt schon beendet und die Schiffe sich auf der Heimfahrt befinden würden.

Während sie langsam in südöstlicher Richtung die Küste entlangfuhren, hörten sie immer mehr Neuigkeiten über die Fortschritte der Kreuzfahrer. Die Genuesen, die mit ihren Schiffen die Pilgerheere versorgten, brachten Geschichten mit zurück, und diese Geschichten verbreiteten sich alsbald in allen Häfen, in denen die Skidbladnir anlegte.

Allerdings erhielten sie jedesmal ein Nein als Antwort, wenn sie nach der Flotte der Nordmänner fragten: Niemand hatte etwas von König Magnus und seinen Schiffen gehört oder gesehen. Ein winziges Stück Information erwies sich jedoch als nützlich. Vom Hafenmeister in Trapani erfuhren die Männer der Skidbladnir, daß die Kreuzfahrer keineswegs in Jerusalem seien, sondern sich auf dem Weg nach Antiochia befänden, einer nördlich des Heiligen Landes gelegenen Stadt. Mehr noch: Dieser Bericht war neu - nicht mehr als acht oder zehn Wochen alt.

»Antiochia!« rief Murdo, als man ihm die Neuigkeit mitteilte. Er hatte den Namen bereits ein- oder zweimal gehört, dennoch hatte er nicht die geringste Ahnung, wo die Stadt wohl liegen mochte; für ihn stellte eine Fahrt dorthin lediglich eine unnötige Verzögerung dar. »Warum sollten sie dorthin fahren? Das ergibt keinen Sinn. Die Nachricht muß falsch sein.«

»Das ergibt durchaus einen Sinn«, widersprach ihm Ronan freundlich. »Antiochia ist eine große Stadt mit hervorragenden Verteidigungsanlagen. Jedes Heer, das über Land marschiert, muß erst an Antiochia vorbei, wenn es nach Jerusalem will. Tatsächlich haben die genuesischen Kaufleute, welche die Pilger mit Proviant versorgt haben, berichtet, das Kreuzfahrerheer liege just in diesem Augenblick vor den Mauern der Stadt.«

»Antiochia ist näher als Jerusalem«, bemerkte Fionn. »Ohne Zweifel werden wir dort auch König Magnus finden.«

Sie segelten weiter, und die Tage wurden immer länger. Die dunkelblaue See war voller kleiner und großer Fische, und das Wasser wurde zunehmend wärmer und die Inseln kleiner und zahlreicher. Auf Murdo, der die flachen grünen Inseln von Orkneyjar gewöhnt war, wirkten die Eilande des Mittelmeers wie riesige, scharfkantige

Felsbrocken, an die sich nur hier und da verzweifelt ein paar Dor-nenbüsche klammerten. So war es auch nicht verwunderlich, daß er die trockenen Inseln mit ihren kleinen weißen Städten, die sich an die Hänge der wenigen grünen Hügel schmiegten, als wenig einladend empfand. Ihm erschien die Landschaft als geradezu unglaublich dürr, und die von Staub erfüllten Städte wirkten auf ihn verschlafen; er konnte sich nicht vorstellen, daß hier jemals etwas Bedeutendes geschehen war oder geschehen würde. Im Gegensatz zu den Mönchen, die es genossen, durch die winzigen, fliegenverseuchten Städte zu wandern und sich auf griechisch mit den Einwohnern zu unterhalten, betrachtete Murdo jede Sekunde, die sie an Land verbrachten, als verschwendet. Er konnte es kaum erwarten, nach Antiochia zu seinem Vater zu kommen.

Einige Wochen später erfuhren sie von einem Fischer in Kandia auf der Insel Kreta - der es von einem anderen Fischer gehört hatte und der wiederum von einem Olivenhändler -, daß die Schiffe der Nordmänner tatsächlich in diesen Gewässern gesichtet worden waren. Zwar war der Mann nicht sicher, aber er glaubte, die Flotte sei nach Zypern gesegelt.

Auf dem Weg dorthin hörten sie noch mehrere solcher Geschichten, und in Kyrenaia auf Zypern wurden die Berichte bestätigt. »Man sagt, vor zwei oder drei Wochen seien hier Langschiffe vorbeigekommen«, sagte Ronan. »Einer der Händler hat mir berichtet, er habe gehört, Nordmänner hätten einige Meilen von hier Proviant aufgenommen - in einem Ort mit Namen Korykos.«

Jon Reißzahn nickte. »Vor drei Wochen«, murmelte er nachdenklich, blickte in den wolkenlosen Himmel und strich sich über den Bart. »Dann werden sie sich wohl der Belagerung angeschlossen haben.«

»Das glaube ich auch«, stimmte ihm der Kirchenmann zu. »Der Kaufmann hat gesagt, Antiochia läge nur drei Tagesreisen von hier entfernt - vier, wenn der Wind schlecht ist.«

Als Murdo dies hörte, schlug sein Herz schneller. In drei oder vier Tagen würde er bei seinem Vater sein!

Dem Ziel so nahe! ... Murdo konnte sich kaum beherrschen, als

Jon Reißzahn und Ronan den Kai hinunterwanderten, um den Kapitän des Kauffahrers nach dem kürzesten Weg nach Antiochia zu fragen. Nach einem längeren Gespräch kehrten sie wieder zurück, und Jon rief schon von weitem seinen Männern Befehle zu, die es sich auf der Mole bequem gemacht hatten. Um so rasch wie möglich wieder aufs Meer hinauszukommen, eilte Murdo hierhin und dorthin, half bei den Tauen, bereitete das Segel vor und legte die Ruder ein. In der Zwischenzeit ging Ronan in die Stadt, um seine Brüder vom Markt zu holen.

Rasch war die Skidbladnir abfahrbereit, und Murdo hatte sich schon freiwillig gemeldet, die Mönche suchen zu gehen, als die drei Kirchenmänner, beladen mit Weinschläuchen, Ziegenkäse und Oliven, am Kai erschienen und, so schnell es ihre Last erlaubte, herbeieilten. Nachdem alles verstaut war, nahm Murdo ein Ruder und half dabei, das Langschiff von der Mole abzustoßen; dann hockte er sich auf die Ruderbank und ruderte, als wolle er ganz alleine das Schiff aus dem Hafen bringen. Als sie schließlich die anderen Schiffe hinter sich gelassen hatten, gab Jon Reißzahn den Befehl zum Segelsetzen, und auch dabei ging Murdo den Seeleuten zur Hand.

Es dauerte eine Weile, bis genügend Wind aufkam, doch als sie erst einmal den Windschatten der Landzunge im Westen verlassen hatten, blähte sich das Segel, und der Drachenbug schnitt erneut durch die dunkelblauen Wellen. Schließlich wurden die Ruder eingeholt und befestigt, und Murdo ging zum Bug und blickte mit einer Erregung zum Horizont hinaus, wie er sie schon seit vielen, vielen Tagen nicht mehr verspürt hatte. Auf dem Weg nach vorne kam ihm Emlyn entgegen, der zum Zelt hinter dem Mast wollte, und in seiner Aufregung bemerkte Murdo laut: »In drei Tagen werden wir in Antiochia sein, und ich werde endlich meinen Vater finden.«

»Das habe ich gehört«, erwiderte Emlyn, blieb stehen und lehnte sich neben Murdo an die Reling. »Ich freue mich für dich. Es war eine lange Reise - eine gute Reise, aber lang.« Er hielt kurz inne und warf Murdo einen freundschaftlichen Blick zu. »Hast du dir schon überlegt, wie du deinen Vater und deine Brüder finden willst?«

»Das wird nicht sonderlich schwer sein«, antwortete Murdo zuversichtlich. »Sie reisen im Gefolge des Herzogs von der Normandie. Ich muß unter den Belagerern nur nach den Normannen suchen, und dort werde ich sie finden.«

VI n den Hügeln, die sich im purpurfarbenen Nebel aus dem Meer W erhoben, war nirgends ein Hafen oder ein Landeplatz zu sehen, geschweige denn eine Stadt, die von hunderttausend Pilgern belagert wurde. Obwohl man Murdo erklärt hatte, Antiochia läge einige Meilen landeinwärts, hoffte er weiterhin, es zumindest von Ferne sehen zu können. Statt dessen jedoch erstreckte sich über den gesamten Horizont eine leere, zerklüftete Felsenküste - keine Stadt, kein Dorf, kein Bauernhof, nichts, was auch nur annähernd auf eine große, antike Stadt in der Nähe hingedeutet hätte. Auch den Hafen von Sankt Simeon hatten sie noch nicht entdeckt, von dem Ronan behauptet hatte, sie würden ihn an der Festlandküste finden.

Murdo verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die felsige Küste. Irgendwo an diesen kahlen blaßgrauen Felsen und inmitten des staubbedeckten Gestrüpps war König Magnus an Land gegangen. Der beste Hafen, so hatte man Jon berichtet, sei die Stadt mit Namen Sankt Simeon; aber abgesehen von einem winzigen Fischerdorf, an dem sie vor wenigen Stunden vorbeigefahren waren, hatten sie keine Menschenseele gesehen.

Murdo kletterte über seine schlafenden Kameraden Richtung Ruder, um mit Sturli zu sprechen, der gerade Wache hatte. »Wir müssen vergangene Nacht vom Kurs abgekommen sein«, bemerkte Mur-do verärgert. »Hier gibt es keinen Hafen.«

»Ja, ja«, stimmte ihm Sturli zu. »Allerdings glaube ich nicht, daß wir vom Kurs abgekommen sind.«

»Wir sollten den Hafen aber schon längst sehen«, erklärte Murdo und deutete auf die leeren Hügel, die inzwischen rosa im Licht der aufgehenden Sonne schimmerten. »Siehst du da vielleicht irgendwo eine Stadt?«

»Nein«, antwortete Sturli ungerührt. »Aber ich glaube trotzdem nicht, daß wir vom Kurs abgekommen sind.«

»Das müssen wir aber!« beharrte Murdo auf seiner Meinung.

»Das glaube ich nicht«, wiederholte Sturli zum drittenmal und schüttelte den Kopf. »Die Nacht war klar und voller Sterne. Ich weiß, wie man ein Schiff steuert. Vielleicht bist du es, der sich geirrt hat.«

Wütend und enttäuscht zugleich stapfte Murdo davon und ließ sich wieder auf seine Bank fallen. Er lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie die langweilige Hügellandschaft immer näher rückte, und sein Geist ging auf Wanderschaft. Er dachte über die Reise nach. Alles in allem betrachtet hatte Emlyn recht: Es war eine gute Reise gewesen. Dennoch war bereits ein Jahr vergangen und noch immer keine Spur von Jerusalem! Es würde mindestens ein weiteres Jahr dauern, bis Murdo Ragna wiedersehen würde.

Dieser Gedanke war derart entmutigend, daß Murdo ihn rasch beiseite schob; statt dessen dachte er voller Vorfreude an den Tag des Triumphs, wenn Herr Ranulf und er den Schlupfwinkel des Bischofs stürmen und ihre Ländereien zurückfordern würden. Er stellte sich vor, wie der diebische alte Kirchenmann auf die Knie fiel und schluchzend um Gnade bettelte. Murdo spürte förmlich das Schwert in seiner Hand, das er dem feisten Bischof an die Kehle drücken wollte.

Diese Vorstellung tröstete ihn lange Zeit, während das Schiff wendete und langsam die Küste hinauffuhr. Einige Stunden später kamen sie an einem kleinen Gebirge vorbei, das bis ins Meer hineinragte, und plötzlich rief Sturli vom Ruder: »Die Schiffe des Königs!«

Murdo war augenblicklich auf den Beinen und starrte zur Küste hinaus, um einen ersten Blick auf die norwegische Flotte zu erhaschen. Er suchte die gesamte Küstenlinie ab, doch er sah nichts. »Wo?« verlangte er von Sturli zu wissen, der neben ihn an die Reling getreten war.

»Dort! Die Schiffe des Königs! Ich sehe sie!« rief Nial, der am Drachenbug hochgeklettert war. Er deutete auf eine Ansammlung leuchtend weißer Häuser in einer kleinen, von steilen Felsen umgebenen Bucht. Murdo kniff die Augen zusammen, und sah eine schwarze Masse im funkelnden Wasser unterhalb der kleinen Stadt. Aus dieser Masse ragten die Masten von Langschiffen wie unzählige Spee-re. Endlich, nach so langer Zeit, hatten sie die Flotte eingeholt. Wenn das dort wirklich Langschiffe waren, dann konnten auch die Nordmänner nicht weit entfernt sein.

Als die Skidbladnir in die Bucht fuhr, war Murdo bereit, es allein mit dem gesamten Heer der Sarazenen aufzunehmen. Er wartete nicht, bis der Bug gegen die kleine Steinmole am Ende des Dorfes prallte, sondern sprang ins flache Wasser und watete ans Ufer.

»Hier ist niemand!« rief er den anderen zu, die ihm folgten. Jon Reißzahn und die drei Mönche gingen als letzte an Land, und Mur-do rannte zu ihnen. »Hier ist keine Menschenseele. Der Ort ist verlassen.«

Der große Nordmann ließ seinen Blick über die leeren Wege des ruhig daliegenden Dorfes schweifen; dann erwiderte er: »Das werden wir sehen.«

Gemeinsam gingen sie bis zu jener Stelle, wo die Hauptstraße des Dorfes in den Hafen mündete. Jon steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten, schrillen Pfiff aus. Zweimal pfiff er auf diese Art, und als der dritte Pfiff erscholl, öffnete sich die Tür eines nahe gelegenen Hauses, und ein großer, blonder Nordmann trat auf die Straße.

»Olvar Dreizeh!« rief Jon Reißzahn. »Endlich haben wir euch gefunden.«

»He, he«, erwiderte der Nordmann und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Dann bist du also endlich da, Jon Reißzahn. Was hat dich aufgehalten?«

»Wir können nicht schneller segeln, als der Wind erlaubt«, antwortete Jon.

»Ohne Zweifel hast du jede Stadt ausgeplündert, die du unterwegs gefunden hast«, entgegnete der Mann mit Namen Olvar und lächelte. »Zumindest erklärt das, warum du jetzt erst kommst.«

»Nein«, widersprach Jon fröhlich. »Wir haben Mönche bei uns«, er deutete auf Ronan, Fionn und Emlyn, »also war es uns leider versagt, auch nur eine einzige kleine Stadt zu überfallen.«

Drei weitere Nordmänner traten aus dem Haus und gingen sofort zum Ufer hinunter, um die Mannschaft der Skidbladnir lautstark willkommen zu heißen. »Seid nur ihr vier hier?« fragte Jon.

»Nein, nein«, antwortete Olvar. »Wir vier und noch sechs andere. Wir haben Lose gezogen, und die Verlierer mußten zurückbleiben, um die Schiffe zu bewachen. Der Rest hat sich der Belagerung angeschlossen.«

»Ist es weit bis zur Stadt?« fragte Ronan.

»Neun Meilen - vielleicht auch ein wenig mehr.« Olvar zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls hat man mir das gesagt.«

»Was ist mit den Dörflern?« fragte Emlyn. »Sind sie uns wohlgesonnen?«

»Ich glaube schon. Die meisten von ihnen sind auf den Feldern in den Hügeln. Nur ein paar Alte sind zurückgeblieben, und die bleiben meist für sich; allerdings versorgen sie uns mit Eiern und Käse.«

»Hast du Sarazenen gesehen?« erkundigte sich Fionn neugierig und starrte auf die trockenen, von Sträuchern überwucherten Hügel hinter dem Dorf.

»Nein«, antwortete Olvar. »Die haben sich in den Bergen versteckt. Das hier unten sind Griechen.« An Jon gewandt sagte er: »Hast du Bier mitgebracht? Hier gibt's nur Wein, und wir haben Durst.«

Bedauernd erklärte Jon, daß auch sie kein Bier mehr hätten. Dann rief er einem seiner Männer zu, Waffen und Rüstungen an Land zu bringen, das Boot zu sichern und sich auf den Abmarsch vorzubereiten.

»Willst du nicht bleiben?« fragte Olvar, und ein Schatten der Enttäuschung huschte über sein helles Gesicht.

»Wir müssen Antiochia erreichen, bevor die Stadt eingenommen ist«, erwiderte Jon. »Sonst verlieren wir unseren Anteil an der Beute. Außerdem wartet der König auf seine Berater.«

Während die Waffen ausgeladen wurden, erschienen sechs weitere Nordmänner und begrüßten ihre Kameraden. Dann wurden die Waffen unter den Männern verteilt. Da Murdo es nicht gewohnt war, einen schweren Schild zu tragen, nahm er nur einen Speer; die Klinge war auf der Reise zwar ein wenig angerostet, doch die Schneide war noch immer scharf, und der Eschenschaft fest. Als sie bereit zum Aufbruch waren, führten die Schiffswachen sie zu einem Pfad hinter dem Dorf und zeigten ihnen, wohin sie gehen mußten. Jon und seine Mannschaft, die sich nun in eine Kriegerschar verwandelt hatten, verabschiedeten sich von ihren Landsleuten und versprachen ihnen, Bier aus Antiochia zu schicken, sobald die Stadt gefallen sei.

Begierig, so rasch wie möglich zu seinem Vater zu gelangen, reihte Murdo sich unmittelbar hinter Jon und Ronan ein, welche die kleine Gruppe anführten. Nach so vielen Monaten auf See war es ein komisches Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben; Murdo rechnete jeden Augenblick damit, daß die Erde sich heben würde, und unwillkürlich bereitete er sich auf eine Welle vor, die niemals kam. Während sie die ersten Hügel am Rand des Dorfes emporstiegen, fiel ihm der Geruch der Luft auf - schwer wie die Erde selbst, ein Gemisch aus hundert berauschenden Düften, von Lehm und Felsgestein bis zu Busch und Sommerblume.