Stur setzte sich Raimund weiterhin dagegen zur Wehr, den zu spät Gekommenen einen Anteil an der Beute zu gewähren, und er wurde nicht müde zu betonen, daß sie ihn ja auch nicht verdient hätten, da sie an der Eroberung der Stadt nicht beteiligt gewesen seien. Doch sehr zu seiner Überraschung sicherte ihm das keineswegs die Unterstützung der anderen Edelleute. Verglichen mit Gottfrieds Großzügigkeit wirkte Raimund habgierig und selbstsüchtig.
In einem letzten verzweifelten Versuch, die Unterstützung der Unentschlossenen zu gewinnen, schlug Raimund einen Kompromiß vor: Zunächst sollten die Verluste jener ausgeglichen werden, welche die Stadt erobert hatten; dann könne man den Rest der Beute zu gleichen Teilen unter allen Anwesenden verteilen, wie es in Konstantinopel abgemacht worden war.
An jedem anderen Tag hätte man diesen Vorschlag vielleicht als weise Entscheidung eines großen Herrschers betrachtet, doch nun war es bereits zu spät. Aufgestachelt von Gottfrieds Befürwortern waren die Fürsten und Edlen begierig, die Sache zu einem Ende zu bringen, und allein die Vorstellung, um jede Goldmünze feilschen zu müssen, erfüllte sie mit Widerwillen. Raimunds kluger Vorschlag wurde als Herabsetzung von Gottfrieds Großzügigkeit betrachtet.
Balduin, der fühlte, daß der geeignete Augenblick gekommen war, erhob sich inmitten des Lärms der Versammelten, die lautstark ihre Zustimmung zu Gottfrieds Plan bekundeten. »Meine geschätzten Herren und Mitchristen!« rief er und hämmerte mit dem Heft seines Dolches auf den Tisch. »Es freut mich, daß Ihr meinen Bruder so hoch schätzt. Daher empfehle ich Euch, unseren Gefährten und Freund zum Herrscher auszurufen, Herzog Gottfried von Bouillon.« Er ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen. »Was sagt Ihr, meine Herren?« Er deutete auf seinen Bruder. »Ich sage: König Gottfried!«
Die Kirche bebte unter dem frenetischen Jubel der versammelten Fürsten. Mit Händen und Dolchen trommelten die Edelleute auf den Tisch, und einige rissen die Schwerter aus den Scheiden und hielten sie in die Luft. Sie jubelten und riefen Gottfrieds Namen, und jene, die ihm am nächsten saßen, standen auf und priesen ihn als König.
Wohlwollend lächelnd wartete Gottfried ab, bis der Lärm abgeebbt war; dann erklärte er: »Euer Lob rührt mich zutiefst, und vor dieser herrschaftlichen Versammlung erkläre ich, daß ich die Aufgabe auf mich nehmen werde, die Ihr mir angetragen habt, und mit Gottes Hilfe und unter seiner Führung werde ich sie nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen.«
Erneut brandete Jubel auf. »Gott will es!« schrien sie. »Gottfried
ist König! Gott will es!«
Als der Lärm ein weiteres Mal verhallte, sagte der neue Herrscher von Jerusalem: »Daß in der Stadt des Königs der Könige ein Sterblicher einen solchen Titel trägt, ist unangemessen. Daher bitte ich Euch: Verleiht mir keinen Rang, den anzunehmen kein Sterblicher wagen darf. Wenn ich hier herrschen soll«, er richtete seinen frommen Blick auf den Altar, »dann laßt mich herrschen als Advoca-tus Sancti Sepulchri!«
Von allen Dingen, die er hätte sagen können, war dies das Beste, und die Versammlung brachte ihm nur um so größere Bewunderung entgegen. Im Handstreich hatte Gottfried den verbliebenen Widerstand hinweggefegt und das Feld gesäubert. »Heil Gottfried, Verteidiger des Heiligen Grabes!« riefen sie, und die Kirche erbebte erneut unter ihrem Jubel.
Da jedermann damit beschäftigt war, Gottfried hochleben zu lassen, bemerkte niemand die Ankunft einer kleinen Gruppe von Kriegern in voller Rüstung: Arm- und Beinschienen waren mit Mustern verziert; lange weiße Roßschweife schmückten die Helme; schimmernde Schuppenpanzer schützten ihre Körper, und allesamt trugen sie lange, zweischneidige Stoßlanzen. Sie wurden von einem Mann geführt, der ähnlich gerüstet war; nur der Helm fehlte, und sein Harnisch war mit Gold beschlagen, und er trug einen purpurnen Umhang.
Das plötzliche Erscheinen der fremden Krieger ließ die Herren des Westens verstummen. Wie ein Mann drehten sie sich um und blickten erstaunt auf die Erscheinung in ihrer Mitte. Einige zogen die Schwerter und bereiteten sich darauf vor zu kämpfen; andere wiederum mahnten ihre Gefährten zur Ruhe. Lediglich ein oder zwei der Pilgerfürsten erkannten die Gestalt an der Spitze der Eindringlinge. Gottfried war einer von ihnen.
»Friede und Willkommen!« rief er und streckte dem jungen Offizier des Kaisers und seinen Warägern die Hand entgegen. »Ich grüße Euch, Drungarios Dalassenos. Euer Erscheinen kommt etwas unerwartet.«
Der Drungarios verneigte sich steif - zuerst vor dem Altar, dann vor den Frankenfürsten. »Im Namen von Alexios, Nachfolger der Apostel, Stellvertreter Gottes auf Erden und Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, überbringe ich Euch Grüße und Glückwünsche zu Eurem überwältigenden Sieg.« Das schwache Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er ohne Umschweife auf den Grund seines Hierseins zu sprechen kam. »Der Kaiser hat mich gesandt, um Euch für Euren Erfolg zu loben und um die Rückführung der Heiligen Stadt in den Reichsverbund vorzubereiten.«
Jerusalems neuer Herrscher starrte den Eindringling verblüfft an. Die Stadt an den Kaiser übergeben? Gottfried sah, wie ihm die gerade erst verliehene Würde wieder entrissen wurde. Er hatte sein Amt noch nicht einmal angetreten, und schon wurde er vom Kaiser abgesetzt.
Dalassenos nutzte den Überraschungsvorteil und fuhr fort: »Selbstverständlich wird der Kaiser Euch und Eure Truppen angemessen entlohnen für die Schätze, die Ihr zurückerobert habt. Als Zeichen seiner Dankbarkeit und seines guten Willens hat er ein Dekret erlassen, daß alle Ausgaben seiner Vasallen, die zur Rückeroberung der Heiligen Stadt notwendig waren, aus der kaiserlichen Schatzkammer gedeckt werden sollen. Mehr noch: Kaiser Alexios hat mir freie Hand gegeben, was die Belohnung betrifft, die jene erwartet, welche ihn bei der Wiedererrichtung der kaiserlichen Herrschaft unterstützen.«
Nachdem der Drungarios geendet hatte, ging ein Geräusch um den Tisch herum, das dem wütenden Knurren eines Hundes ähnelte. Eine unheimliche Spannung lag über dem Raum, während die versammelten Fürsten Luft holten, um den unverschämten Eindringling niederzuschreien. Doch bevor es dazu kommen konnte, erhob sich Graf Raimund, der sich besser als alle anderen an den Eid erinnerte, den sie dem Kaiser geschworen hatten. »Wenn Ihr gestattet, Herzog Gottfried, würde ich gerne darauf antworten.«
»Ich bitte Euch: Sprecht, Herr«, erwiderte Gottfried froh um jede Hilfe.
»Mein Herr Drungarios«, begann Raimund in kaltem Tonfall, »es ist nur recht und billig, daß Ihr uns die Achtung des Kaisers übermittelt. Nun, da der Kreuzzug ein glückliches Ende gefunden hat, ist es ebenfalls recht, daß wir uns unserer Verpflichtungen erinnern und der Hilfe, die uns der Kaiser gewährt hat.« Der großgewachsene fränkische Fürst breitete die Arme aus und fuhr fort: »Ich weiß, ich spreche für jeden in diesem Raum, wenn ich sage, daß wir dem Kaiser für seine Hilfe auf ewig dankbar sind. Wahrlich: Ohne seine Rücksichtnahme und Unterstützung hätten wir den Kreuzzug niemals beenden können.«
»Hört! Hört!« knurrten einige der anderen Edelleute.
»Dennoch«, fuhr Raimund fort, »erkläre ich vor dieser Versammlung, daß wir Euer Ansinnen leider ablehnen müssen. Wir, die wir die Stadt gewonnen haben, werden in ihr herrschen und ihren Schutz übernehmen.« Der Graf richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Um es kurz zu machen, Herr: Die Stadt wird nicht an das Reich übergeben.«
Dalassenos versteifte sich. Der Augenblick war gekommen, den er mehr als alles andere gefürchtet hatte. »Ich werde Euch das nur ein einziges Mal fragen: Weigert Ihr Euch, Euren Eid zu erfüllen?«
Die Fürsten am Tisch bereiteten sich auf den unvermeidlichen Zusammenstoß vor. Treueid hin oder her, sie hatten weder die Absicht, Jerusalem aufzugeben, noch Antiochia, Edessa oder irgendeine der anderen Städte, die sie den Seldschuken, Sarazenen oder Arabern abgerungen hatten; einige trauerten sogar noch immer Nikaia nach, das an Alexios übergeben worden war. Sie hatten die Heilige Stadt gewonnen - der Kaiser hatte damit gar nichts zu tun -, und sie wollten verflucht sein, wenn sie sie ihm ohne Kampf überlassen würden.
Doch Raimund war gerissen. »Wie viele hier werden bestätigen können, wäre ich der erste, der den Eid erfüllt, den wir vor dem kaiserlichen Thron in Konstantinopel geschworen haben«, sagte er; »doch ich fürchte, ich muß Euch um Verzeihung bitten, Drunga-rios, denn ich fühle mich verpflichtet, Euch daraufhinzuweisen, daß
Jerusalem dem Kaiser niemals gehört hat.«
Ein Schatten huschte über Dalassenos' Gesicht. »Wollt Ihr Eure verabscheuungswürdige Habgier etwa hinter einem solch durchsichtigen Schleier verbergen? Die Oberhoheit über die Heilige Stadt fiel schon seit jeher in den Aufgabenbereich der Kirche, und daher ist der Kaiser als Oberhaupt dieser Kirche auch der rechtmäßige Herrscher von Jerusalem. Jeder Versuch, dem Reich die Kontrolle über die Heilige Stadt vorzuenthalten, wird als kriegerischer Akt gegen die Kirche betrachtet werden.«
Gottfried nahm Raimunds Argument wie ein Banner auf und stürzte sich ins Gefecht. »Wir alle sind dem Kaiser äußerst dankbar für die großzügige Unterstützung, die er unserer Sache gewährt hat. Wie alle meine Brüder hier, so erinnere auch ich mich sehr wohl daran, daß wir geschworen haben, sämtliche Städte und Güter an Konstantinopel zu übergeben, die einst ein Teil des Reiches waren. Doch Raimund hat recht: Jerusalem fiel niemals unter die Jurisdiktion des Reiches - außer zu Zeiten des alten römischen Reiches, da Rom und Konstantinopel eins waren -; daher dürft Ihr nicht erwarten, daß wir Euch etwas zurückgeben, das Ihr niemals verloren habt.«
Dalassenos wußte, daß die Kreuzfahrer niemals freiwillig ihren Preis aufgeben würden; in Antiochia und Edessa hatten sie bereits bewiesen, daß sie nichts hergeben würden außer unter Anwendung von Gewalt. Als Drungarios tön poimön konnte Dalassenos den lateinischen Fürsten jederzeit den Krieg erklären, doch dadurch würde er das Reich in die unmögliche Situation zwingen, gegen die Heilige Stadt ziehen zu müssen. Wie sollte der Kaiser der gesamten Christenheit es rechtfertigen, daß er gegen die Verteidiger seiner eigenen Kirche kämpfte? So wünschenswert ein solcher Krieg auch sein mochte, er war unmöglich, und Dalassenos wußte das.
Nachdem er sich eingestanden hatte, daß er das Feld würde räumen müssen, verschoß er den letzten Pfeil, der ihm in seinem Köcher geblieben war. »Ich werde den Kaiser von Eurer Entscheidung in Kenntnis setzen«, erklärte Dalassenos in der schwachen Hoffnung, die verhaltene Drohung würde die Kreuzfahrer in ihrem Entschluß wanken lassen. »Ohne Zweifel wird er sich freuen zu hören, daß Ihr die Buchstaben unserer Abmachung anerkennt, wenn auch nicht ihren Geist. Und da Ihr offenbar soviel Wert auf Genauigkeit legt, nehme ich an, daß Ihr bereits Maßnahmen in die Wege geleitet habt, um einen bestimmten wertvollen Gegenstand wieder in den Besitz des Reiches zu überführen.«
Die Fürsten blickten einander schuldbewußt an. Es war an Gottfried als neuem Herrscher Jerusalems herauszufinden, von welchem Gegenstand der Abgesandte des Kaisers sprach. »Falls wir irgend etwas genommen haben sollten, das uns nicht gehört«, erwiderte er großmütig, »dann versichere ich Euch, werden wir es sofort zurückgeben.« Balduin funkelte ihn zornig an, doch Gottfried fuhr unbeeindruckt fort: »Sagt uns nur, von welchem Gegenstand Ihr sprecht, und wir werden ihn Euch mit Freuden übergeben.«
Dalassenos lächelte. In vielerlei Hinsicht waren diese Kreuzfahrer wie kleine Kinder. »Wißt Ihr es denn nicht?« fragte er. »Dabei ist es doch in jedermanns Mund. Tatsächlich sprechen alle Christen von Jerusalem bis Konstantinopel nur noch von der heiligen Lanze.«
ach ihrer triumphalen Rückkehr aus dem Rat hatten sich BoAr Vhemund, König Magnus und ihre Edlen und Berater in die Privatgemächer des Fürsten zurückgezogen. Wie der Rest von Magnus' Kriegshaufen, so wartete auch Murdo voller Erwartung auf die Rückkehr des Königs von den Beratungen; und wie der Rest der Män-ner, so wurde auch er immer unruhiger und langweilte sich. Doch im Gegensatz zu den anderen war er nicht im geringsten am Ergebnis der Beratungen interessiert. Er wartete lediglich auf den König, um ihn um Auflösung seines Treueids zu bitten, weil er mit Magnus' Segen und mit reinem Gewissen nach Hause zurückkehren wollte.
Zuerst verbreiteten sich die unterschiedlichsten Gerüchte mit rasender Schnelligkeit. Es hieß, die Beute solle zu gleichen Teilen aufgeteilt werden; andere wiederum behaupteten, gar nichts solle geteilt werden. Die Fürsten hatten einen König gewählt; die Fürsten hatten keinen König gewählt. Der Kaiser war an der Spitze von zehntausend Warägern im Heiligen Land angekommen; der Kaiser stand bereits vor den Toren! Der Kaiser verlangte die Stadt und alle Beute; die Fürsten bereiteten sich auf den Krieg vor.
Die Stunden vergingen, und als keine weiteren Nachrichten nach außen drangen, hörten die Spekulationen schließlich auf, und die Männer wurden zunehmend mürrisch und gereizt. Die Nordmänner stöhnten und beklagten sich nun offen, und ihre anfangs gute, erwartungsvolle Stimmung verschlechterte sich mehr und mehr. Mur-do dachte darüber nach, ob er der Stimmung entfliehen sollte, indem er einfach hinausginge, doch es war zu heiß, um durch die Straßen zu wandern, und außerdem stank es in der Stadt noch immer wie die Pest. Dann dachte er daran, durchs Tor ins Tal hinauszugehen, aber er fürchtete, sollte er zu lange fortbleiben, könnte er die Gelegenheit versäumen, den König zu sprechen.
»Sie haben sich weder etwas zu essen noch zu trinken bringen lassen«, bemerkte Fionn. »Also werden wir nicht mehr sehr viel länger warten müssen.«
»Ich zumindest habe vom Warten die Nase voll«, erklärte Mur-do und sprang unvermittelt auf. »Ich gehe.«
»Bleib aber in der Nähe«, riet ihm der Mönch. »Ich werde dich rufen, wenn die Beratungen beendet sind.«
»Leb wohl«, erwiderte Murdo, der sich bereits auf dem Weg befand.
Er verließ den Hof, eilte den von Säulen gesäumten Korridor zum
Ausgang entlang und trat hinaus auf die Straße. Kurz bevor er das Jaffa-Tor erreichte, holte ihn Bruder Emlyn ein. »Murdo! Warte!« rief der dicke Mönch. Murdo blieb stehen, und Emlyn gesellte sich zu ihm. »Ich habe gesehen, wie du den Palast verlassen hast. Wo gehst du hin?«
»Ich will die Sachen meines Vaters holen, und dann gehe ich nach Hause.«
»Wenn der Rat erst einmal eine Entscheidung gefällt hat, werden wir alle nach Hause gehen. Es kann sich höchstens noch um ein paar Tage handeln - glaube ich -, und dann.«
»Ich habe keinen Grund, auch nur einen Tag länger zu bleiben«, unterbrach ihn Murdo in scharfem Tonfall. »Ich habe getan, wozu ich hierhergekommen bin. Jetzt kann ich diesen Ort für immer verlassen.«
»Deine Brüder.«
»Sie sind nicht länger meine Brüder«, erklärte Murdo verbittert.
»Ich wollte sagen, daß deine Brüder dich sehr schlecht behandelt haben; aber das ist noch lange kein Grund.«
»Torf und Skuli haben sich entschieden und ich mich auch. Tatsächlich haben sie mir sogar einen großen Dienst erwiesen. Ich weiß jetzt, daß ich in dieser Angelegenheit allein bin. Also gut. So hat auch alles angefangen, und so werde ich auch weitermachen.«
»Sprich nicht so«, tadelte ihn der Mönch in sanftem Tonfall. »Komm mit mir zurück, und wir werden mit dem König sprechen. Es wäre gut, wenn du ihm gestatten würdest, dich von dem Eid zu entbinden.«
Murdo setzte sich wieder in Bewegung. Emlyn folgte ihm. »Du kannst ja zurückgehen, wenn du willst«, erwiderte Murdo. »Mich wirst du nicht dazu überreden.«
»Wie willst du denn überhaupt nach Orkneyjar kommen?«
»Viele Kreuzfahrer verlassen bereits die Stadt. In Jaffa werde ich schon ein Schiff finden, das mich mitnimmt.« Als der Mönch ihn fragte, was er tun wolle, wenn niemand einen freien Platz habe, antwortete er: »Dann werde ich mir eben ein Schiff kaufen. So oder
so, ich will so schnell wie möglich weg von hier.«
»Dann werde ich dich begleiten«, erklärte der Mönch.
»Du bist einer der Berater des Königs; du kannst ihn nicht einfach so verlassen.«
»Ach ja?« bemerkte Emlyn. »Mein Eid hält mich also davon ab, deiner dich aber nicht - oder wie soll ich das verstehen? Erkläre mir das bitte.«
Murdo seufzte. »Was soll ich also tun?«
»Komm mit mir zurück, und bitte den König, dich von deinem Eid zu entbinden, wie es sich gehört. Gib ihm die Möglichkeit, dir seinen Segen zu geben.«
»Und falls er sich weigert?«
»Das ist seine Entscheidung. Er ist der König, und du bist sein Lehnsmann«, antwortete Emlyn. Er ergriff Murdos Arm und drehte den dickköpfigen jungen Mann herum. »Jetzt komm schon, und rechne nicht immer mit dem Schlimmsten. Magnus ist ein vernünftiger Mann und ein ausgesprochen wohlwollender Herr, wenn du ihm nur Gelegenheit gibst, das zu beweisen.«
Murdo kehrte in den Palast zurück und zu dem schier endlosen Warten. Gegen Mittag erschienen die Fürsten wieder und verkündeten, daß sie fest davon überzeugt seien, daß man ihren berechtigten Forderungen schon bald nachkommen würde. Sie sprachen von ihrem neuerlichen Eifer, einander zu unterstützen, und von der festen Absicht, sich für die außergewöhnlichen Dienste ihrer Kämpfer erkenntlich zu zeigen. Anschließend zog sich Bohemund mit seinen Edelleuten wieder in seine Gemächer zurück und überließ Magnus seinen Männern.
Es folgte eine weitere Zeit des Wartens, während der der König die Fragen erregter Nordmänner beantwortete und ihre Ängste zerstreute. Schließlich war Murdo an der Reihe. Mit Emlyn an seiner Seite trat er vor den König und sagte: »Mein Herr und König, ich erbitte Eure Gunst und Eure Nachsicht.«
»Sprich offen, mein Freund«, forderte ihn Magnus freundlich auf. »Aber ich bitte dich: Sprich rasch, denn ich muß schon bald wieder zu Bohemund, damit wir unsere Beratungen fortsetzen können.«
In knappen Worten erklärte Murdo seinen Wunsch, so rasch wie möglich wieder nach Hause zurückzukehren. Er bat den König, ihn von dem Treueid zu entbinden, versprach ihm aber gleichzeitig weiterhin Treue und Freundschaft, woraufhin Magnus antwortete: »Auch ich teile deinen Wunsch, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber ich bitte dich, mir noch ein wenig mehr von deiner Geduld zu borgen. Wir werden Jerusalem schon bald alle gemeinsam verlassen, und wir werden als reiche Männer gehen.«
Als er dies hörte, ließ Murdo alle Hoffnung sinken. Die Vorstellung, auch nur einen Tag länger in Jerusalem bleiben zu müssen, erfüllte ihn mit Furcht. Er raffte all seinen Mut zusammen und sagte: »Verzeiht mir, Herr Magnus, aber ich bin gerne bereit, Euch meinen Anteil an der Beute zu geben, wenn Ihr mir nur gestattet, bereits jetzt nach Jaffa aufzubrechen.«
Magnus dachte kurz darüber nach. »Dein Angebot führt mich in Versuchung«, gestand er ein. »Doch ich wäre ein schlechter Herr, wenn ich darauf eingehen würde. Die Straße zwischen hier und Jaffa ist nicht sicher, und ich kann keinen Mann entbehren, dich zu begleiten. Daher fürchte ich, wirst du bleiben und deinen gerechten Anteil an der Beute annehmen müssen, den Fürst Bohemund und ich in eben diesem Augenblick aushandeln.«
Der König drehte sich um und machte sich davon. In einem letzten verzweifelten Versuch bemühte sich Murdo, den König doch noch umzustimmen. »Falls ich jemanden finden sollte, der mich begleitet, mein Herr und König, würdet Ihr dann zustimmen?«
Magnus schüttelte abschätzig den Kopf. »Falls du jemanden finden solltest, der freiwillig seinen Anteil an der Beute aufgibt, dann darfst du mit meinem Segen von dannen ziehen.« Er kicherte freudlos. »Aber wie ich meine Männer kenne, wirst du noch versuchen, einen von ihnen dazu zu überreden, wenn wir bereits in Jaffa Segel setzen.«
»Ich werde ihn begleiten«, meldete sich Emlyn zu Wort und trat vor.
Magnus runzelte die Stirn.
»Wenn Ihr gestattet, Herr«, fügte der Mönch rasch hinzu, »dann könnte ich ihn bis Jaffa begleiten und Euch dort erwarten. Das wäre kein Problem für mich, denn schließlich erhalte ich als Priester ohnehin keinen Anteil.«
»Also gut«, stimmte Magnus ungeduldig zu. »So soll es sein. Ich beuge mich dem Urteil meines weisen Ratgebers. Geht mit meinem Segen. Möge Gott euch auf eurer Reise beschützen. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet? Der Herr von Tarent wartet auf mich.«
Nachdem der König und seine Edelleute verschwunden waren, sagte Emlyn: »Komm. Wir sagen Ronan und Fionn Bescheid und verabschieden uns von ihnen. Dann machen wir uns auf den Weg.«
Sie fanden Ronan, der sich gerade darauf vorbereitete, sich König Magnus anzuschließen, um ihn bei den Beratungen zu unterstützen, und Murdo sagte ihm Lebewohl. »Wieso Lebewohl?« fragte Ronan. »Soll das etwa heißen, daß du uns verläßt?«
»Ja, das tue ich«, antwortete Murdo in entschlossenem Tonfall. Er erklärte den Handel, den er mit König Magnus gemacht hatte, und berichtete von Emlyns Angebot, ihn bis Jaffa zu begleiten. »Der gute Bruder wird dafür sorgen, daß ich einen Platz auf einem Schiff bekomme, aber ich würde leichteren Herzens davonziehen, wenn ich auch deinen Segen hätte.«
»Darum brauchst du mich doch nicht zu bitten, Murdo, mein Herz«, erwiderte Ronan. Liebevoll betrachtete er Murdo. »Wenn ich wüßte, daß ich dich irgendwie von deinem Entschluß abbringen könnte, würde ich dir raten zu bleiben. Aber ich fürchte, das wäre reine Zeitverschwendung.« Er hob die Hand über den Kopf des jungen Mannes und sagte: »Der Herr unser Gott segne dich und bewahre dich vor allem Übel und erweise dir seine Gnade. Das Licht seines Angesichts scheine über dir und gewähre dir Frieden, wohin du auch gehst.«
Dann umarmte er Murdo, wünschte ihm Lebewohl und fragte: »Hast du schon Jon Reißzahn von deinem Entschluß erzählt?«
»Sag du den anderen für mich Lebewohl«, bat Murdo. »Er ist im Augenblick sowieso nicht hier.«
»Dann finde ihn, Murdo«, forderte ihn Ronan auf. »Er wird dir eine gute Reise wünschen wollen.«
»Sag ihm, ich wäre ihm sehr dankbar für seine Fürsorge, und falls er jemals nach Orkneyjar kommen sollte, wird immer ein Krug guten braunen Biers auf ihn warten.«
Die Hitze, die aus der Erde emporstieg, traf die Gesichter der Wanderer wie ein Luftstoß aus einem glühenden Ofen, während sie den schattigen Tunnel des Tors durchquerten. Die Sonne war eine grellgelbe Scheibe in einem von Hitze und Staub blassen, diesigen Himmel. Riesige schwarze Schwärme von Aasvögeln kreisten noch immer in der windstillen Luft über der Stadt; ihr Krächzen und Kreischen hallte von oben herab durch die toten Straßen.
Nachdem sie das Tor durchschritten hatten, bog Murdo sofort auf die Straße nach Hebron ein, die zum Berg Zion und zur Kirche der Heiligen Jungfrau führte. »Wie willst du die Sachen deines Vaters aufs Schiff bekommen?« fragte Emlyn.
»Das wirst du schon sehen«, antwortete Murdo. Mehr wollte er nicht sagen.
Kurze Zeit später kamen sie in Sichtweite des kleinen Weilers, wo Ronan sich das Kamel ausgeborgt hatte. Murdo verließ die Straße und marschierte auf den Hof zu. »Glaubst du, der Mann wird dir sein Kamel geben?« fragte Emlyn.
»Das wird er, wenn er das Gold sieht.«
Sie gingen weiter in Richtung der kleinen, weißgetünchten Lehmhäuser. Als sie den Hof betraten, erschien ein dürrer brauner Hund an der Hausecke und begann lauthals zu bellen. Nur einen Augenblick später trat der Bauer schreiend aus der Tür. Als er sah, wer da vor seinem Haus stand, eilte er herbei, ergriff Murdos Hand und küßte sie, wobei er unablässig in der seltsamen Sprache des Heiligen Landes plapperte.
»Was sagt er?« verlangte Murdo zu wissen.
Emlyn blickte zu dem Bauern und schüttelte den Kopf. »Er spricht, wie du weißt, Aramäisch. Ronan beherrscht diese Sprache, ich nicht.«
Murdo rollte mit den Augen. Er entzog dem Bauern die Hand, griff in seinen Gürtel und holte eine goldene byzantinische Münze hervor. Dann deutete er auf das Kamel, das neben dem Pfosten im Hof kniete. Der Bauer begann erneut zu plappern, deutete ebenfalls auf das Tier und nickte begeistert. Anschließend drehte er sich um und rief etwas ins Haus hinein, woraufhin seine Frau erschien. Sie warf einen schüchternen Seitenblick auf Murdo und huschte zu dem Kamel. Dort angekommen griff sie nach einem Stock, der an dem Pfosten lehnte, schlug das Tier auf die Schulter, schnalzte mit der Zunge und zischte irgend etwas. Gemächlich erhob sich die häßliche Kreatur, und während die Frau die Zügel losband, redete der Bauer unablässig auf Murdo ein, der nur nickte und lächelte.
Nachdem sie ihre Aufgabe beendet hatte, gesellte sich die Frau zu ihrem Mann und küßte Murdo ebenfalls die Hand, der daraufhin eine weitere Goldmünze aus seinem Gürtel zog und ihr gab. Sie schnappte sich die Münze und ließ sie in einer Falte ihres Gewandes verschwinden, beinahe noch bevor ihr Mann etwas davon bemerkt hatte. Bei all dem Glück, das unerwarteterweise über ihn hereingebrochen war, riß der Bauer erschrocken die Augen auf und begann leidenschaftlicher denn je auf Murdo einzureden.
Nur mit Mühe gelang es Murdo, sich der Verehrung des Bauern und seiner Frau zu entziehen. Schließlich machte er sich jedoch auf den Weg und führte sein neu erstandenes Lasttier hinter sich her. Obwohl er genau wußte, daß der Mann ihn nicht verstand, rief er ihm noch ein letztes Lebewohl zu, als er und Emlyn den Hof verließen.
»Ich frage mich, ob sie wissen, daß sie ihr Kamel nie wiedersehen werden?« sinnierte Emlyn, während sie den Hügel wieder zur Straße hinunterstiegen.
»Deshalb habe ich ihnen ja auch die zweite Münze gegeben«, erwiderte Murdo.
»Das habe ich mir gedacht«, erklärte Emlyn und nickte anerkennend.
»Sieh mal dort drüben«, sagte Murdo und deutete auf die weiter unten liegende Straße, auf der gerade eine Gruppe von Rittern vorbeizog. »Ob das wohl bedeutet, daß die Beratungen endlich ein Ende gefunden haben?«
»Wer ist das? Kannst du das erkennen?« fragte Emlyn und blinzelte mit den Augen. »Ist das Balduin?«
»Nein, nicht Balduin«, antwortete Murdo. »Ich weiß nicht, wer das ist.«
Die Reiter waren außer Sichtweite verschwunden, lange bevor Mur-do und sein Gefährte wieder die Straße erreichten, und auch als sie den steilen Hang des heiligen Berges emporkletterten, sahen sie nirgends eine Spur der Ritter. Oben angekommen marschierten sie an der Kirche vorbei und zwischen den Flüchtlingen hindurch zum Klostertor. Dieses stand weit offen, und im Hof wimmelte es von Pferden und Bewaffneten. Murdo zögerte nicht; er ging hinein, bevor ihn jemand aufhalten konnte.
Er und Emlyn hatten jedoch gerade erst zwei Schritte über die Schwelle getan, als ihnen ein verwirrter Pförtner entgegeneilte. »Es tut mir leid«, sagte der Mönch, »aber es darf niemand hinein. Auf Befehl des Kaisers werden die Tore für die Nacht geschlossen.«
»Bitte«, sagte Emlyn. »Wir werden niemanden stören. Wir wünschen nur, die weltlichen Überreste der Familie dieses Mannes aus den Katakomben zu holen; dann machen wir uns sofort wieder auf den Weg.«
Der Pförtner runzelte die Stirn. »Es ist der Befehl des Kaisers!« erklärte er mit lauter Stimme und versuchte, sie hinauszudrängen.
»Ihr habt uns nicht das Tor geöffnet«, erklärte Murdo. »Es stand weit offen, und wir sind hereingekommen. Wenn jemand fragt, dann könnt Ihr ihm ja sagen, wir seien schon drin gewesen.«
»Das wage ich nicht!« kreischte der Mann. »Der Kaiser.!«
»Ist der Kaiser hier?« fragte Emlyn und ließ seinen Blick über den Hof schweifen.
»Nein, aber der Drungarios tön poimön, der persönliche Abgesandte des Kaisers«, klärte ihn der besorgte Pförtner auf. »Er ist soeben vom Rat in der Grabeskirche zurückgekehrt. Ihr müßt sofort gehen. Bitte, es wird mich den Kopf kosten, sollte jemand herausfinden, daß Ihr hereingekommen seid.« Er packte Murdo am Ärmel, als beabsichtige er, ihn hinauszuzerren.
Murdos Hand schoß vor und ergriff das Handgelenk des Mannes. »Ich werde die weltlichen Überreste meines Vaters aus den Katakomben holen«, sagte er und schob sein Gesicht unmittelbar vor das des Pförtners. »Und wenn ich das getan habe, werde ich sofort wieder von hier verschwinden. Du kannst uns helfen, oder du kannst gehen und uns in Ruhe lassen.«
Der Pförtner erbleichte und blickte hilfesuchend zu seinem Mitbruder Emlyn. »Ihr seht, wie es ist«, sagte Emlyn. »Es wird nur einen Augenblick lang dauern. Niemand wird uns bemerken.«
Der Pförtner gab schließlich nach. »Gott sei mir gnädig«, murmelte er und wedelte mit der Hand. »Geht. Geht. Und beeilt Euch!«
In den Schatten am Rand des Hofes eilten Murdo und Emlyn an den Soldaten vorbei. Auf einer Seite des Hofs, umgeben von einer Gruppe Krieger in glänzenden Rüstungen, bemerkte Murdo den Abt und den dunkelhäutigen Mann, den er in jener Nacht gesehen hatte, da sie den Schatz hier versteckt hatten. Als Murdo und Emlyn an ihnen vorbeihuschten, blickte der Mann auf und starrte Mur-do an; Murdo wußte, daß er erkannt worden war. Der Mann wandte seine Aufmerksamkeit jedoch sofort wieder dem Abt zu, der gerade etwas sagte, und Murdo und Emlyn setzten ihren Weg Richtung Küche und Refektorium fort.
Dort angekommen, duckte sich Murdo durch die Tür, nahm eine Fackel aus der Halterung an der Wand und entzündete sie am Ofenfeuer; dann stiegen die beiden Freunde in die Dunkelheit der Katakomben hinab.
Unter der Erde war die Luft angenehm kühl. Murdo erreichte die unterste Treppenstufe, und der Geruch von Trockenschimmel und Staub wehte ihm entgegen. Im flackernden Licht der Fackel sah er die Spuren ihres letzten Besuchs auf dem Boden, und diesen folgte er durch die Stollen, bis er schließlich den Ort erreichte, wo der Schatz ruhte.
Murdo bemerkte sofort den Schild seines Vaters, der unterhalb einer der Nischen lag, wo sie den Schatz verborgen hatten; er bückte sich nieder, und da er nichts sah, steckte er die Fackel in die Nische. Das mit Leichentüchern umwickelte Bündel war noch immer dort, zusammen mit Schwert, Gürtel und Harnisch. Rasch überprüfte Murdo auch die anderen Nischen: Alles war unverändert. Als er bemerkte, daß er die Luft angehalten hatte, stieß er einen langen, erleichterten Seufzer aus. »Alles in Ordnung«, berichtete er Emlyn. »Es ist alles noch da.«
»Was habe ich dir gesagt?« erwiderte der Mönch. »Es gibt keinen sicheren Ort für deinen Schatz als solche Katakomben.«
»Das werde ich mir merken«, sagte Murdo und zog das erste Bündel aus der Nische.
Sie arbeiteten rasch und still, zogen ein Bündel nach dem anderen heraus, trugen sie hintereinander die Treppe hinauf und banden sie an das Traggestell des Kamels. Zu guter Letzt holte Mur-do noch Schwert, Schild, Gürtel und Harnisch seines Vaters und verstaute sie ebenfalls. Zufrieden, daß sein Schatz in Sicherheit war, führte Murdo das Kamel wieder auf den Hof hinaus.
Inzwischen herrschte bereits weit weniger Unruhe als noch zuvor. Eilig überquerten die beiden Gefährten den Hof. Niemand bemerkte sie, mit Ausnahme des Pförtners, der sichtlich erleichtert war, sie zu sehen. Als sie sich ihm näherten, öffnete er sofort das Tor. »Beeilt Euch! Beeilt Euch!« drängte er und winkte sie hindurch.
Wenige Schritte hinter dem Tor blieb Murdo stehen. »Nicht anhalten!« rief der Pförtner und winkte ihnen weiterzugehen. »Verschwindet! Niemand weiß, daß Ihr hiergewesen seid. Geht, bevor Euch noch jemand sieht.«
Murdo flüsterte Emlyn zu: »Sprich mit ihm. Beschäftige ihn einen Augenblick.« Er schob seinen Freund Richtung Pförtner. »Sorg dafür, daß er woanders hinschaut.«
Emlyn beeilte sich, Murdos Aufforderung nachzukommen. »Vielen Dank, Bruder«, sagte er, ergriff den Arm des Mannes und drehte ihn herum. »Ihr habt uns wahrlich einen großen Dienst erwiesen, und wir sind Euch für Eure Freundlichkeit sehr dankbar.« Er führte den Mann zurück zum Tor. »Habt keine Furcht, Ihr werdet uns nie wiedersehen.«
»Der Befehl stammt nicht von mir, versteht Ihr?« sagte der besorgte Kirchenmann. »Es ist der Abgesandte des Kaisers. Wir müssen tun, was er sagt, und.«
»Darüber bin ich mir vollkommen im klaren«, unterbrach ihn Em-lyn. »Seid versichert, daß wir keinen Groll gegen Euch hegen.«
»Im Gegenteil«, sagte Murdo und trat neben die beiden, »ich möchte dies dem Kloster als Zeichen unserer Dankbarkeit übergeben.« Mit diesen Worten drückte er dem verblüfften Pförtner eine goldene Schüssel in die Hand.
»Was ist das?« winselte der Pförtner. Er starrte auf die Schüssel, als eröffne sie ihm eine ganze Welt neuer Schwierigkeiten.
»Ein Geschenk«, erklärte Murdo. »Ich möchte, daß Ihr es dem Abt bringt und ihm sagt, dies sei mein Dank dafür, daß er uns für kurze Zeit Zugang zu den Katakomben gewährt hat. Werdet Ihr das tun?«
»Er wird es noch vor der Vesper in Händen halten«, antwortete der Pförtner erleichtert, daß sich die Angelegenheit so rasch und ohne Probleme erledigt hatte.
»Dann werden wir Euch nicht länger belästigen. Komm, Bruder«, sagte Murdo an Emlyn gewandt. »Laß uns unsere Reise fortsetzen.«
Sie ließen den verwirrten Pförtner mit der goldenen Schüssel in der Hand vor dem Tor zurück und machten sich an der Kirche vorbei auf den Weg den Berg hinab. Murdo blickte über das Tal hinweg zur Heiligen Stadt, die inzwischen rot im Zwielicht schimmerte, und zum erstenmal, seit er seine Heimat verlassen hatte, hatte er das Gefühl, sein Ziel erreicht zu haben.
Sie stiegen ins Tal hinunter und wanderten einmal mehr im Schatten der Mauer. Als sie die Jaffa-Straße erreichten, warf Murdo einen letzten Blick auf den Davidsturm; dann kehrte er Jerusalem den Rücken zu und richtete den Blick gen Westen. »Wir werden uns neben der Straße einen Schlafplatz suchen«, sagte er. »Hast du Hunger?«
»Ein wenig Brot und Wein käme mir schon sehr gelegen«, antwortete Emlyn; »aber im Augenblick bin ich noch recht zufrieden.«
»Vielleicht können wir von einem Bauern etwas zu essen und zu trinken kaufen«, bemerkte Murdo. »Aber hoffentlich finden wir zumindest etwas Wasser.«
»Falls nicht, dann werden wir eben fasten wie wahre Pilger ... bis wir Jaffa erreichen«, erklärte Emlyn gut gelaunt.
Nach einer Weile bog die Straße Richtung Norden ab, und die beiden Wanderer konnten die Lagerfeuer der Kreuzfahrer auf den Hügeln und im Tal nördlich der Stadt sehen. Der Himmel war nun beinahe völlig schwarz, und die ersten Sterne funkelten am Firmament. Die Straße führte steil in die Hügel hinauf, bevor sie ihren langen Abstieg zum Meer begann. Nachdem Emlyn und Mur-do erst einmal das Tal hinter sich gelassen hatten, wurde es merklich kühler, und sie spürten eine leichte, angenehme Brise auf der Haut. Ja, und es ist auch ein gutes Gefühl, wieder auf dem Weg zu sein, dachte Murdo. Es ist ein gutes Gefühl, wieder nach Hause zu gehen.
D
as war sehr unbesonnen von dir, Gottfried«, bemerkte Balduin und hielt seinen Becher in die Höhe, damit man ihn wieder
füllen konnte. »Wie konntest du nur versprechen, dem Kaiser einen Schatz zu übergeben, ohne zu wissen, um was es sich handelt?«
»Wäre es dir lieber gewesen, er hätte Jerusalem genommen?« erwiderte Gottfried mürrisch und funkelte seinen Bruder und die Edelleute an, die mit ihm zusammensaßen. Der Tag hatte mit einem überwältigenden Sieg begonnen und war in einer unvorstellbaren Katastrophe geendet. Bei seinem ersten Akt als Herrscher der Heiligen Stadt war es ihm gelungen, die heiligste aller Reliquien zu verlieren.
Die Herren des Westens waren wütend auf ihn und schrien nach Blut. Einige von ihnen weigerten sich sogar offen, den Eid zu erfüllen, den sie dem Kaiser gegenüber geleistet hatten, und forderten statt dessen, Byzanz den Krieg zu erklären. Die Tatsache, daß die Zahl der kaiserlichen Truppen die der arg dezimierten Pilgerheere inzwischen bei weitem überstieg, war offenbar noch niemandem aufgefallen.
Jerusalem war erobert. Die berauschenden Tage, die dem Fall der Stadt gefolgt waren, wichen Tagen des nüchternen Nachdenkens -zumindest für Gottfried von Bouillon, den Verteidiger des Heiligen Grabes, wenn schon für niemand anderen. In der kurzen Zeit seit seinem glorreichem Aufstieg und der unmittelbar folgenden grausamen Ernüchterung hatte Gottfried immer und immer wieder über seine wenig beneidenswerte Position nachgedacht. Die Herren des Westens hatten die Heilige Stadt befreit, doch der Preis war fürchterlich gewesen. Außerdem würden viele der Kreuzfahrer schon bald wieder in ihre Heimat zurückkehren, und dann wäre er allein und von Scharen listiger, erbarmungsloser Feinde umzingelt: Türken und Sarazenen, soviel stand fest, und vermutlich auch Syrer und Armenier, die, obwohl Christen, immer und immer wieder unter den Pilgern gelitten hatten. Alle diese Feinde kannten das Land, und sie waren weit weniger empfindlich gegenüber der Hitze als Gottfrieds kriegsmüdes Heer.
Gottfried war sich der traurigen Wahrheit nur allzu bewußt: Die Kreuzfahrer würden schon bald auf die Hilfe des Kaisers angewiesen sein. Enge Beziehungen zu Alexios waren die einzige Möglichkeit, an Unterstützung zu kommen. Wenn er nicht noch eine göttliche Eingebung haben würde - noch diese Nacht! -, würde Gottfried morgen Jerusalems wertvollsten Schatz als Zeichen des Friedens an den Abgesandten des Kaisers übergeben und Alexios' Oberhoheit anerkennen müssen. Allein die Vorstellung reichte aus, daß er sich unbehaglich wand. Er würde zum Gespött der gesamten Christenheit werden - der Herr von Jerusalem: ein Vasall der Griechen!
»Oh, schau nicht so trübsinnig drein, Bruder«, sagte Balduin über den Rand seines Bechers hinweg. »Die Nacht ist noch jung. Es wird uns schon noch etwas einfallen.«
»Das sagst du«, schnaufte Gottfried. »Du kannst morgen zurück nach Edessa reiten und deine Herrschaft in Prunk und Pracht antreten. In der Zwischenzeit beginnt meine Schmach und meine Schande - und das nur, weil ich dem Kaiser die heilige Lanze übergeben muß!«
Das ständige Jammern seines Bruders langweilte Balduin allmählich. Er trank einen weiteren Schluck und sagte: »Dann gib die Herrschaft doch an jemand anderen. Gib sie an Bohemund, oder besser noch: Gib sie an Sultan Arslan. Ha!«
Gottfried starrte seinen jüngeren Bruder an. »Du bist ein Arsch, Balduin - schlimmer noch: Du bist ein betrunkener Arsch. Wenn das das Beste ist, was dir einfällt, dann geh wieder nach Edessa. Ich werde mich der Demütigung alleine stellen.«
»Jetzt hör aber mal zu.« Balduin versuchte aufzustehen, doch er mußte feststellen, daß seine Beine bei weitem nicht mehr so standfest waren, wie er gedacht hatte. »Ich habe nur versucht, dir zu helfen. Wenn du das nicht begreifst, dann hast du diese Demümü ... diese De-mü-ti-gung verdient.« Er rief nach dem Diener, der in der Nähe stand. »Wein, du Faulpelz! Mehr Wein!«
»Du hast schon genug gehabt, Bruder«, sagte Gottfried, stellte seinen Becher ab und stand auf. »Ich gehe zu Bett. Du solltest das gleiche tun.«
»Großartig«, murmelte Balduin. »Der Kaiser klatscht in die Hände, und du schreist >Donner!<. Nun, wenn ich an deiner Stelle wäre, dann würde ich das Ding von hier wegschaffen. Soll Alexios sie sich doch von jemand anderem holen.«
Gottfried wünschte seinem volltrunkenen Bruder und den anderen anwesenden Edelleuten eine gute Nacht, überließ sie dem Wein und ging in sein Schlafgemach. Nachdem er seinen Leibdiener entlassen hatte, legte er sich ins Bett, doch er fand keine Ruhe. Also stand er wieder auf, ging zum Fenster und öffnete es, um etwas frische Luft hereinzulassen. Er blickte hinaus: Über den Olivenhainen war eben der Mond aufgegangen, und die Jaffa-Straße wand sich wie ein silberner Fluß auf die Stadt zu, während man im Norden die Lager der Kreuzfahrer als große schwarze Flächen erkennen konnte. In wenigen Tagen würden die Pilger verschwunden sein, und ihre Lager wären nur noch eine weitere abscheuliche Erinnerung in der langen, turbulenten Geschichte dieser alten Stadt.
Du Narr, dachte Gottfried. War er soweit gekommen, hatte er soviel riskiert, nur um am Ende zu einer Zielscheibe des Spotts zu werden? Die Last seines Versagens drückte ihn nieder, und so kniete er sich vor das Fenster und begann zu beten. Lange Zeit verharrte er in dieser Stellung, und als er sich schließlich wieder erhob, war ihm leichter ums Herz geworden. Er würde die Schande als ihm von Gott auferlegte Buße für die Fehler ertragen, die er auf der Pilgerfahrt begangen hatte.
Mit diesem Gedanken im Kopf legte er sich erneut aufs Bett. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als ihn die Müdigkeit schließlich übermannte, und auch dann war es nur ein leichter, unruhiger Schlaf. Er erwachte vom Krächzen der Krähen auf den Dächern unter seinem offenen Fenster, und Balduins letzte Worte aus der vergangenen Nacht fielen ihm wieder ein: Soll Alexios sie sich doch von jemand anderem holen!
Zum erstenmal seit dem katastrophalen Ausgang der Versammlung in der Grabeskirche sah Gottfried einen Hoffnungsschimmer am Horizont: Wenn er die heilige Lanze schon aufgeben mußte, dann sollte zumindest ein anderer sie bewahren als der Kaiser. Aber wer?
Die Antwort hallte durch Gottfrieds Geist mit der Macht eines Schlachtrufs. Er spürte eine Erregung in seinem Blut wie sonst nur auf dem Schlachtfeld. In einem einzigen winzigen Augenblick hatte der vollständige Plan in ihm Gestalt angenommen. Jeder Hauch eines Zweifels war von einer Sekunde auf die andere wie weggefegt: Es gab nur einen Mann auf der ganzen weiten Welt, der in der Lage war, sich der Forderung des Kaisers zu widersetzen. Wenn irgend jemand die heilige Lanze für die Kreuzfahrer aufbewahren konnte, dann Papst Urban. Sollte Alexios doch den Papst um die heilige Lanze bitten!
Gottfried sprang aus dem Bett, wie ein Löwe, der zum Angriff übergeht. Sein Kopf war voll mit Dingen, die es nun zu erledigen galt. Zuallererst mußte er den Gesandten hinhalten. Er brauchte Zeit, wenn sein Plan auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg haben sollte.
Gottfried stürmte aus dem Schlafgemach und rief: »Balduin! Wo ist mein Bruder?« Er packte den im Vorraum schlafenden Diener an den Schultern und schüttelte ihn. »Such meinen Bruder, und bring ihn zu mir! Ich will ihn sofort sehen!« Dann eilte er in die Palastkapelle, um seine Morgengebete zu verrichten. Anschließend würde er sofort nach dem Abt schicken und seinen Plan in die Tat umsetzen.
M:
urdo und Emlyn hatten eine kurze Nacht neben der Straße verbracht, ohne zu schlafen. Noch vor Sonnenaufgang machten sie sich bereits wieder auf den Weg. Als die Sonne über den Hügeln hinter ihnen erschien, blickten sie die Straße hinunter, die sich über eine Reihe langer, flacher Hänge zum Meer hinunterwand. Verstreut liegende Bauernhöfe standen an den Hängen, und als die Sonne die ersten Schatten warf, machten sich Emlyn und Murdo zum nächstgelegenen dieser Höfe auf, in der Hoffnung, dort etwas Wasser bekommen zu können und vielleicht auch eine Handvoll Futter für das Kamel.
Als sie den staubigen Hof erreichten, war Emlyn bereits schweiß-überströmt. Da niemand hierzusein schien, gingen die beiden Wanderer zum Brunnen und ließen einen ledernen Wasserschlauch in das dunkle, kühle Loch hinab. Zunächst fürchtete Murdo, der Brunnen sei ausgetrocknet; doch als sie kurz darauf den Schlauch wieder nach oben zogen, war er zur Hälfte mit schlammbraunem Wasser gefüllt, welches Murdo in einen in der Nähe stehenden Trog goß, damit das Kamel davon trinken konnte. Murdo wiederholte diesen Vorgang; dann ließ er den Schlauch ein drittes Mal hinab, zog ihn wieder hoch und bot Emlyn den ersten Schluck an. Der Mönch schniefte und nahm zwei Schluck. »Ich habe schon Schlimmeres getrunken«, erklärte er und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Es wird uns zumindest auf den Beinen halten, bis wir etwas Besseres auftreiben können.«
»Wie auch immer: Wir brauchen mehr Wasserschläuche«, erwiderte Murdo und blickte zu dem Bauernhaus aus Lehmziegeln. Fliegen summten durch den Hof, doch ansonsten war es vollkommen still. »Ich frage mich, ob das Haus verlassen ist.«
»Das werden wir bald herausfinden«, sagte Emlyn und ging auf das Haus zu.
Eine schmutzige, zerrissene Decke hing vor dem Eingang. Emlyn schlug sie beiseite und rief mit lauter Stimme: »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, ich bitte Euch: Kommt heraus und begrüßt zwei müde Pilger!« Er wartete; dann rief er erneut. Als er abermals keine Antwort erhielt, drehte er sich wieder zu Murdo um. »Ich glaube, es ist niemand hier.«
Murdo band das Kamel an den Trog und überquerte den Hof mit schnellen Schritten, während Emlyn einen Blick in das Haus warf. »Leer«, sagte er, als Murdo sich neben ihn in den Eingang drängte.
Murdo ließ seinen Blick durch den einzigen Raum schweifen. Seine Augen gewöhnten sich rasch an das dämmrige Licht im Inneren des Hauses. Ein kleiner, niedriger Tisch und ein dreibeiniger Stuhl standen neben der Tür, und in der Mitte des Raums befand sich ein Herd. Murdo legte die Hand auf die Asche: Sie war kalt. Es war nicht mehr festzustellen, vor wie langer Zeit dieser Ort verlassen worden war. Neben dem Herd befand sich eine Sammlung von Tontöpfen und -krügen in verschiedenen Größen, allesamt rissig und schwarz vom Feuer. Außer diesen Dingen war der Raum vollkommen leer; höchstwahrscheinlich hatten der Bauer und seine Familie alles von Wert mitgenommen.
»Sieh mal hier!« rief Emlyn und deutete auf einen kleinen groben Stoffsack, der an einem hölzernen Haken an der Wand hing. Der Mönch ging zu dem Sack und schaute hinein. »Gott sei gelobt, denn er hilft den Seinen in der Not!«
»Was ist das?« fragte Murdo ungeduldig. Das leere Haus machte ihn nervös; es gefiel ihm hier nicht, und er wollte sich so rasch wie möglich wieder auf den Weg machen.
»Korn«, antwortete der Mönch. Er griff in den Sack, und holte eine Handvoll heraus, die er in seiner Tasche verschwinden ließ. »Genug für das Kamel, und für uns ist auch noch genug da, wenn wir nichts Besseres finden.«
»Gut«, sagte Murdo. »Wir werden auch ein paar von diesen Krügen hier mitnehmen - für Wasser.« Er sammelte einige der Tongefäße ein, ging zum Brunnen und begann sie zu füllen. In der Zwischenzeit band Emlyn die mit Korn gefüllte Tasche an das Traggestell des Kamels; dann holte er die Krüge von Murdo ab, verstaute sie ebenfalls auf dem Kamel, und schließlich erschien Murdo mit dem gefüllten Wasserschlauch und hängte ihn um den Sattelknopf.
»Wir sollten uns wieder auf den Weg machen, bevor es zu heiß wird«, sagte Murdo, nachdem alles verstaut war. Er blickte in den
Himmel, der im Osten bereits weiß von der kommenden Hitze des Tages schimmerte. »Wir können später eine Pause einlegen und uns ausruhen.«
Sie verließen den Bauernhof, und ein wenig erfrischt setzten sie ihre Reise fort. Das Land war ruhig: Es waren weder Menschen auf den Feldern zu sehen, noch vermochten die beiden Wanderer in der Nähe der Häuser irgendwelche Bewegungen zu erkennen. Mur-do glaubte sich daran zu erinnern, hier Bauern, Frauen, Kinder, Hunde und Vieh gesehen zu haben, als er vor einigen Tagen über diese Hügel nach Jerusalem gezogen war.
Sie wanderten den ganzen Morgen hindurch, und als die Sonne zu heiß wurde, suchten sie sich einen Olivenbaum neben der Straße und ruhten sich in seinem Schatten aus. Sie tranken aus einem der Krüge, und Emlyn gab dem Kamel eine Handvoll Korn. Mur-do döste vor sich hin, als er plötzlich Emlyns Hand auf seinem Arm spürte. »Hörst du das? Da kommt jemand.«
Im selben Augenblick vernahm Murdo das Klappern von Hufen auf der Straße und war sofort hellwach. Die Reiter würden sie schon bald erreicht haben, und so kauerten sie sich in die Schatten des Baums und beobachteten, wie Soldaten in zwei Reihen an ihnen vorbeigaloppierten.
»Die haben es aber eilig«, bemerkte Emlyn.
»Das ist der Abgesandte des Kaisers«, erwiderte Murdo, als er die ungewöhnlichen Rüstungen der Reiter bemerkte. »Sie müssen sich gerade auf den Aufbruch vorbereitet haben, als wir in der Abtei waren.«
Die Soldaten ritten weiter, und erneut senkte sich Stille über das Land. Murdo und Emlyn streckten sich unter dem Baum aus und schliefen die Hitze des Tages hindurch. Erst als die Sonne tief im Westen stand, setzten sie ihren Weg fort.
Emlyn sang ein Lied zum Lob von Licht und Wärme und sprach anschließend ein Bittgebet für Wanderer. Als er damit fertig war, fragte Murdo: »Wie seid ihr in die Dienste von König Magnus gekommen?«
»Nun«, antwortete Emlyn, »das ist eines unserer Geheimnisse.«
»Noch ein Geheimnis?« spottete Murdo. »Es ist ja geradezu ein Wunder, daß du überhaupt über irgend etwas sprichst.«
»Die Cele De sind mit der Zeit ein Geheimorden geworden, das ist wahr«, gestand Emlyn. »Glaub mir: Das war nicht immer so. Aber jetzt ist Geheimhaltung unser bester Schutz. Deshalb haben wir auch König Magnus ausgewählt.«
»Ihr habt ihn ausgewählt?« Murdo lachte spöttisch auf. »Dann gleicht Magnus keinem König, von dem ich jemals gehört habe.«
»Wir brauchten einen Beschützer und einen Wohltäter«, erklärte der Mönch und ignorierte Murdos Hohn. »Wir sind nur wenige, und die Macht des Antichrists ist groß. Entweder mußten wir selbst zum Schwert greifen oder jemanden finden, der uns verteidigt. König Magnus war der mächtigste Herrscher des Nordens, also.«
»Warte mal. Was war das? Der Antichrist? Was, in Gottes Namen, ist das?«
»Du würdest besser daran tun, dieses Wort nur leise auszusprechen«, warnte Emlyn. »Die Cele De wissen, daß sich in jedem Zeitalter ein mächtiger, böser Geist erhebt, um seinen sündigen Willen den Menschen aufzuzwingen. Häufig sucht dieser böse Geist Zuflucht in der Kirche selbst, wo er mit seiner Schlechtigkeit den größten Schaden anrichten und die armen Seelen Unschuldiger verderben kann; wenn dies geschieht, nennen wir es den Antichrist - das Gegenteil von Christus. Was auch immer unser Erlöser sein mag, der Antichrist ist das genaue Gegenteil.«
»Und wer ist nun dieser Antichrist?«
»Es ist selten nur eine Person«, erwiderte Emlyn. »Manchmal aber vielleicht schon. Meistens jedoch gleicht er mehr einer Krankheit, einer Pest, die den Leib Christi befällt und versucht, ihn zu zerstören.«
»Wenn dem so ist, welchen Nutzen hat dann ein König, egal wie viele Schwerter und Männer ihm zur Verfügung stehen?«
»Oh«, bemerkte Emlyn rasch, »du darfst mich nicht mißverstehen. Der Antichrist mag ja vielleicht ein Geist sein, wenn auch ein unheiliger, aber die Macht ist außerordentlich, die er über jene in seinen Diensten hat. In letzter Konsequenz muß der Antichrist mit Schwert und Feuer bekämpft werden.«
Murdo betrachtete den Mönch neben sich - stämmige Beine stampften rhythmisch den Weg entlang; das rote Gesicht troff von Schweiß. Wie so oft, wenn er mit dem bescheidenen Kirchenmann sprach, so hatte das Gespräch auch diesmal eine unerwartete Wendung genommen. Murdo fühlte sich wie ein Fischer, der tatenlos zusehen muß, wie die sicher geglaubte Beute plötzlich mit einem letzten Glitzern der silbernen Schuppen in den unergründlichen Tiefen des Wassers verschwindet. »Erzähl mir vom Wahren Weg«, forderte er den Mönch auf.
»Ich habe dir schon alles gesagt, was ich dir sagen kann. Wenn du mehr erfahren willst, dann mußt du ein Cele De werden«, erwiderte der Mönch.
»Aus mir wird niemals ein Mönch«, erklärte Murdo und winkte verächtlich ab.
»Habe ich irgend etwas davon gesagt, daß du Priester werden sollst? Die meisten Cele De sind Priester, das ist wahr. Die meisten, aber nicht alle.«
Das erregte Murdos Interesse. Er fragte, was er tun müsse, um ein Cele De zu werden. Emlyn antwortete: »Du solltest besser fragen, was du tun mußt, nachdem du dich uns angeschlossen hast.«
»Heißt das, du willst es mir nicht sagen?«
»Das heißt«, erwiderte der Mönch, »daß du gut daran tätest, darüber nachzudenken, welchen Preis es kostet, dem Wahren Weg zu folgen.«
»Wie soll ich denn wissen, welchen Preis es kostet«, beschwerte sich Murdo, »wenn mir niemand sagt, was der Preis ist? Wer sind die Cele De überhaupt, daß sie jedermann mit solchem Mißtrauen begegnen?«
Emlyn seufzte müde, als wäre gerade ein schlafender Hund erwacht, um erneut nach ihm zu schnappen. »Seit den Zeiten König Osw-ys - jenes armen umnachteten Mannes, der sich von seiner bösartigen Frau und diesem gierigen sächsischen Bischof hat leiten las-sen -, seitdem mußten wir fortwährend Roms Beleidigungen ertragen. Die Cele De, die länger in diesem Land waren als jeder Sachse, wurden überall von den hinterhältigen Lakaien des Papstes gejagt, und schließlich hat man uns in die Wildnis hinausgetrieben.« Der Priester verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir, die wir die Lehren des Herrn als erste zu den Heiden trugen, werden von jenen geschmäht und getadelt, die aus unseren Händen die Erlösung empfangen haben.« Emlyns Stimme wurde immer lauter. »Wir, die wir mit unseren erlauchten Brüdern an der Festtafel sitzen sollten, sind gezwungen, im Hof mit den Aussätzigen und Übeltätern zu stehen! Das allmächtige Rom stopft sich in den Reichen der Könige mit allem voll, was es in seine gierigen Finger bekommen kann, doch uns verweigert man selbst den beschei-dendsten Anteil. Nachdem wir Licht und Leben zu jenen gebracht haben, die solange in Tod und Dunkelheit lebten, hat man uns zu Wanderern gemacht und zu Ausgestoßenen - selbst in jenen Ländern, wo man einst beim Klang des Namens Cele De vor Freude gesungen hat.«
Murdo starrte den Mönch verwundert an. Er wußte, daß gewisse Spannungen zwischen Rom und den Cele De existierten, doch er hatte noch nie gehört, daß sich einer der guten Brüder so vehement darüber beschwert hatte. »Das ist also der Grund, warum ihr König Magnus als euren Beschützer ausgewählt habt«, sagte Murdo und dachte darüber nach, was Emlyn zu Anfang gesagt hatte.
Als Emlyn Luft holte, um etwas darauf zu erwidern, hallte ein Donnern durch die Luft, als braue sich in der Ferne ein Sturm zusammen. Sowohl er als auch Murdo drehten sich unwillkürlich um und blickten die Straße zurück. Im selben Augenblick erscholl das Donnern erneut, diesmal lauter.
»Noch mehr Krieger, vermute ich«, sagte Emlyn. »Es scheint, als werden wir auf dieser Straße niemals allein sein.«
Das Donnern von Hufen rollte unaufhaltsam auf sie zu. Es klang beunruhigend. »Sie kommen rasch näher«, bemerkte Murdo, »und es sind viele.«
»Vielleicht werden wir auf dem Weg doch noch ein wenig Gesellschaft haben.«
»Nein«, widersprach Murdo und schaute sich nach einem Ort um, der ihnen Zuflucht bieten könnte. »Machen wir, daß wir von der Straße kommen.« Ein Stück weiter lief die Straße durch die Überreste eines Zedern- und Pinienwaldes, aber bis dorthin würden sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen, und der letzte Bauernhof, an dem sie vorübergekommen waren, war bereits so weit weg, daß er nicht mehr zu sehen war. Abgesehen von Felsbrocken in verschiedenen Größen und dem für Palästina typischen gelegentlichen Olivenbaum oder Dornenbusch war das Land um sie herum vollkommen kahl.
»Dort drüben.« Murdo deutete auf einen Dornenbusch, der inmitten eines Haufens von Felsbrocken wuchs; gemeinsam ragten Busch und Felsen aus der Landschaft heraus. Wenn sie das Kamel dazu bewegen könnten, sich hinzuknien, wäre es ihnen möglich, sich dort zu verstecken.
Murdo packte das Halfter des Kamels und trieb das Tier auf den Felshaufen zu. Sie hatten die Straße jedoch gerade erst verlassen, als das Kamel den Kopf zurückriß und unvermittelt stehenblieb. Mur-do zerrte am Halfter, doch das Tier weigerte sich hartnäckig weiterzugehen.
»Sie kommen!« rief Emlyn. »Ich kann sie sehen!«
Murdo wirbelte herum. Die Reiter erschienen gerade über der Hügelkuppe, doch sie waren noch zu weit entfernt, als daß man sie hätte zählen können; es hätten sechs oder sechzehn sein können, Murdo wußte es nicht.
»Hilf mir!« rief Murdo seinem Freund zu und zog erneut am Halfter. Emlyn eilte zur Korntasche und steckte beide Hände hinein. Dann hielt er das Korn dem Kamel unter die Nase, und tatsächlich gelang es ihm, das Tier dazu zu bewegen, einige Schritte vorwärts zu gehen. Doch die Gelegenheit war vorüber. Die Reiter waren schon viel zu nahe herangekommen.
Es waren weder sechs noch sechzehn - es waren mehr als sechzig -, und es handelte sich auch weder um Kreuzfahrer noch um
Unsterbliche. Murdo bemerkte die weißen Turbane auf den Köpfen der Reiter und verzweifelte. »Türken!«
Der Felshaufen war weniger als ein paar Dutzend Schritt entfernt, aber es war zu spät. Denn obwohl Murdo und Emlyn ihn noch rechtzeitig hätten erreichen können; das faule Tier bewegte sich keinen Schritt von der Stelle.
»Laß es!« sagte Emlyn.
»Nein!« schrie Murdo trotzig. »Sie werden mich schon töten müssen, wenn sie den Schatz haben wollen.«
»Genau das werden sie auch tun und noch dazu, ohne vorher darüber nachzudenken.« Der Mönch zerrte an Murdos Arm. »Komm weg von hier, Murdo.«
»Nein!« Murdo ging um das Kamel herum und griff nach dem Schwert seines Vaters. »Versteck dich hinter den Felsen. Ich werde sie aufhalten und.«
»Murdo, hör auf damit!« brüllte Emlyn. In seiner Stimme lag eine Kraft und Entschlossenheit, wie Murdo sie noch nie zuvor bei dem Mönch gehört hatte. »Denk nach! Das ist es nicht wert, mein Sohn.«
»Es ist mein Leben!« fauchte Murdo. »Du weißt nicht, was dieser Schatz für mich bedeutet.« Er zog das Schwert und nahm den Schild vom Sattelknopf.
Emlyn trat neben ihn und packte ihn mit hartem Griff am Arm. »Nein, Murdo«, sagte er in bestimmtem Tonfall. »Glaub ja nicht, daß du sie besiegen könntest. Steck das Schwert wieder weg.«
»Es ist unser einziger Schutz«, widersprach Murdo und legte den Schwertgürtel an.
»Hör mir jetzt genau zu. Wir haben nicht viel Zeit. Ich kann dich beschützen«, sagte der Mönch. »Ich kann uns beide beschützen, aber nur, wenn keine Waffen im Spiel sind.«
Emlyn sprach mit einem Selbstvertrauen, das Murdos Entschluß ins Wanken brachte. Er wog das Schwert in der Hand und spürte sein beruhigendes Gewicht. Dann blickte er zu den heranstürmenden Türken. Es waren inzwischen bereits weit mehr als hundert, und noch immer erschienen weitere auf der Hügelkuppe.
»Du hast mir in vielen kleinen Dingen bereits vertraut. Wirst du mir auch jetzt vertrauen?« fragte Emlyn. »Wirst du tun, worum ich dich bitte?«
Den Blick noch immer auf den herannahenden Feind gerichtet dachte Murdo, daß er im günstigsten Falle, drei-, viermal würde zuschlagen können, bevor ihn die Türken mit ihren Lanzen niederstrecken würden.
»Was muß ich tun?« fragte Murdo.
»Stell dich neben mich«, antwortete Emlyn, »und halte dich an meinem Umhang fest.«
Obwohl dies für ihn keinen Sinn ergab, tat Murdo, wie ihm geheißen. »Und jetzt gib mir dein Schwert«, befahl der Mönch.
Murdo zögerte.
»Hast du nicht gehört, Murdo? Wir brauchen es nicht. Du mußt mir jetzt vertrauen.«
Emlyn ergriff das Schwert mit beiden Händen, schloß die Augen und sprach ein paar Worte, die wie ein Gebet klangen; dann begann er mit der Schwertspitze einen Kreis in die ausgetrocknete Erde zu zeichnen. Murdo beobachtete, wie die Türken heranstürmten. Der Mönch schloß den Kreis, der nun ihn und Murdo umschloß; schließlich hob er den Arm und warf das Schwert in hohem Bogen weg. Die Waffe drehte sich einmal um die eigene Achse und landete mit einem dumpfen Knall ein Dutzend Schritte entfernt im Staub.
»Was tust du? Sie sind fast da!« beschwerte sich Murdo. Er konnte die Furcht in seiner Stimme nicht länger verbergen.
»Das ist ein caim«, erklärte der Mönch, »ein mächtiges Symbol.«
»Ein Symbol!« Murdo kreischte beinahe. Er hätte es besser wissen müssen, als einem Priester zu vertrauen. Warum hatte er Em-lyn nur das Schwert gegeben?
»Es stellt die alles umfassende Gegenwart und die schützende Hand Gottes dar. Jetzt laß nur nicht meinen Umhang los, und tritt nicht aus dem Kreis. Hast du das verstanden?«
Murdo nickte.
»Unser Herr Jesus Christus hat gesagt: >Wo auch immer zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ih-nen.<« Emlyn schloß die Augen und hob die Hände mit den Handtellern nach oben und begann zu singen.
Die Seldschuken hatten sie nun fast erreicht. Murdo konnte den Schweiß auf den Flanken der Pferde sehen und die dunklen, unfreundlichen Augen der Reiter. Es kostete ihn all seinen Mut, doch auch er schloß die Augen, und er hörte zu, als Bruder Emlyn sagte: »In Jesu heiligem Namen beschwöre ich den Schutz der Drei auf mich herab. Ich stehe im Kreis der Macht des Königs der Könige und lege mein Leben, meinen Geist und meine Seele in seine sorgenden Hände. Mein lieber Herr Jesus, mein Erlöser, befreie mich aus dieser Gefahr. Wenn die Feinde sich um mich versammeln, verberge mich in deiner Hand.«
Nachdem die Beschwörung beendet war, öffneten die beiden die Augen und sahen, wie die Feinde an ihnen vorüberritten. Die Hufe der Pferde wirbelten dichte graue Staubwolken auf, während die Reiter nur eine Lanzenlänge entfernt an Murdo und Emlyn vorbeigaloppierten. Mit geblähten Nüstern rannten die Pferde so schnell sie konnten; ihre Reiter hatten die dunklen Augen stur geradeaus gerichtet und blickten weder rechts noch links.
Immer mehr kamen die Straße entlang, und Murdo und der Priester standen vollkommen regungslos in ihrem Schutzkreis und schauten zu. Murdo krallte sich in Emlyns Umhang. Er fürchtete, die Reiter würden sie jeden Augenblick entdecken und anhalten; aber die Türken ritten achtlos an ihnen vorüber.
Schließlich war der letzte der feindlichen Krieger vorbei, und Mur-do ließ Emlyns Umhang los und drehte sich um, um nach dem Kamel zu sehen. Während er sich rasch umschaute, wich Unglaube der Sorge. Er konnte das Kamel nirgends sehen; die elende Kreatur war verschwunden.
»Das Kamel ist weg.« Murdos Kopf wirbelte hierhin und dorthin in der Hoffnung, irgendwo eine Spur des Tiers zu entdecken.
»Rühr dich nicht«, zischte der Mönch und ergriff Murdos Arm, um ihn an Ort und Stelle festzuhalten.
Noch während er sprach, erschien eine weitere Gruppe von Seld-schuken auf der Straße. Murdo drehte sich in die entsprechende Richtung um und sah, daß sich plötzlich eine kleinere Gruppe aus der Hauptmacht löste, die Straße verließ und unmittelbar vor ihm und Emlyn zum Stehen kam. Der vorderste Seldschuke sagte etwas, und zwanzig Lanzen wurden gesenkt.
ie Augen der Türken glitzerten schwarz und hart wie Schiefersplitter. Die Pferde schlugen mit den Köpfen; ihre Mäuler und Flanken waren weiß von Schweiß, und ihre dünnen, zerbrechlich wirkenden Beine scharrten unablässig im Staub. Hinter diesen Türken sah Murdo, wie die Hauptmacht der Seldschuken vorbeigaloppierte; er sah den Silberbeschlag an den Halftern und Sätteln der Pferde und das Funkeln der goldenen Dolche in den breiten Stoffgürteln der Reiter. Auch sah er das Aufblitzen elfenbeinfarbener Zähne hinter den dichten schwarzen Bärten und die schneeweißen Turbane über den bronzefarbenen Gesichtern.
Der Anführer der Krieger sagte etwas, und Murdo beobachtete, wie der Mund des Mannes unverständliche Worte formte; Speichel troff von seinen Lippen, und jeder Tropfen schillerte wie eine Staubflocke im Sonnenlicht. Verächtlich und drohend streckte der Mann das Kinn vor.
All das sah Murdo mit schrecklicher Klarheit - einer Klarheit, die von dem fürchterlichen Pochen in seinen Ohren noch verschlimmert wurde. Das Rauschen des Blutes in seinen Adern erfüllte sei-nen Kopf mit einem Donnern, das alle anderen Geräusche übertönte. Sein Mund war trocken und klebrig. Seine Kopfhaut juckte, und sein Herz raste und sprang in seiner Brust wie ein gefangenes Tier, das versuchte, sich zu befreien. Seine Beine zitterten, doch gleichzeitig drängten ihn seine Muskeln zu rennen, zu fliehen. Es kostete Murdo sein letztes Gran Mut, im Kreis des caim zu bleiben.
Der Anführer sprach erneut; dann stieß er die Lanze vor, und die Spitze berührte Murdos Hals. Er spürte, wie geschärfter Stahl in sein Fleisch schnitt, doch er zuckte nicht zurück. Er stellte sich der Klinge und wünschte sich ein rasches Ende. Seine letzten Gedanken sollten Ragna gelten, und so versuchte er, ihr Bild in seinen Gedanken heraufzubeschwören; doch zu seinem großen Entsetzen konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie sie aussah.
Das paßt, dachte er voller Abscheu. Sein Leben war von Priestern zugrunde gerichtet worden, und nun würde er sterben, weil er einem vertraut hatte. Und dies trotz seines Entschlusses, niemals wieder einem Kirchenmann zu vertrauen! Das bedeutete seinen sicheren Untergang.
Schweiß lief Murdos Wangen und Stirn hinab. Mach ein Ende, dachte er. Töte mich, und zieh deines Weges.
Der Seldschukenführer sprach erneut. Murdo atmete tief durch, um sich auf den Todesstoß vorzubereiten, als Emlyn neben ihm langsam die Hand hob, als wolle er den Mann grüßen.
»La ilaha illa 'llah«, sagte der Priester. Er sprach klar und langsam, und die Wirkung seiner Worte war überwältigend.
Die Seldschuken starrten den Mönch an. »La ilaha illa 'llah«, wiederholte der Anführer die seltsamen Worte. Die Lanzenspitze löste sich sofort von Murdos Kehle, und der Anführer der Feinde rief seinen Männern etwas zu.
Die Türken wendeten daraufhin ihre Pferde, und ohne sich noch einmal umzudrehen, folgten die Reiter den anderen die Straße hinunter. Der Anführer jedoch blickte ein letztes Mal über die Schulter zurück zu Murdo und dem Mönch und rief: »Muhammadun ra-sulu 'llah'.« Dann gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte
seinen Männern hinterher.
Murdo beobachtete mit einer Mischung aus Erleichterung und Verwirrung, wie sich die zwanzig Seldschuken wieder der Hauptmacht anschlossen. Den vielen Standarten und Bannern nach zu urteilen, welche die Krieger mit sich führten, handelte es sich bei den Reitern um einen hohen Fürsten mit seiner Leibgarde. Insgesamt mußten es zweihundert oder mehr sein, jeder auf einem weißen Pferd mit schwarzer Schabracke und schwarzem Zaumzeug. Jeder der Krieger trug einen spitzen, mit langem Roßschweif verzierten Helm unter dem Turban und einen kleinen, runden Schild mit silbernem Rand. Einige der Krieger führten Packpferde mit Kisten und Truhen hinter sich her. Murdo stand sprachlos daneben und beobachtete, wie Reihe um Reihe die Straße hinunterzog und hinter der nächsten Hügelkuppe verschwand.
Nachdem auch die letzten Seldschuken verschwunden waren, atmete Murdo tief durch und schickte sich an, aus dem caim zu treten. »Warte«, mahnte ihn Emlyn.
Murdo blickte auf den Kreis hinunter, den sein Freund in den Staub gezeichnet hatte. Emlyn kniete nieder, faltete die Hände und sprach ein leises Gebet; dann legte er die Hand auf den Kreis und wischte ein kleines Stück weg: Der caim war durchbrochen. »Jetzt können wir gehen.«
Sie traten aus dem zerbrochenen Ring, und Murdo hatte das Gefühl, als erwache er aus einem Traum. Emlyn wiederum hob die Hände gen Himmel und sang eine Lobeshymne auf Gottes endlose Gnade und Macht. »Wir leben, Murdo!« rief er schließlich. »Frohlocke, und preise den Herrn!«
»Du hast gesagt, du würdest uns beschützen«, erklärte Murdo, »und das hast du auch.«
»Ich habe nichts weiter getan, als Gott anzurufen«, korrigierte ihn der Priester in sanftem Tonfall. »Es war unser Herr, der uns aus der Hand des Feindes gerettet hat.«
»Was hast du zu ihm gesagt?« fragte Murdo. »Zu dem türkischen Häuptling, meine ich.«
»La ilaha illa 'llah«, wiederholte der Mönch. »Das sind die einzigen arabischen Worte, die ich kenne. Sie bedeuten: >Es gibt keinen Gott außer Gott<, und das ist der einzige Punkt, wo Christen und Mohammedaner übereinstimmen. Ich habe sie von unseren Brüdern in Arles gelernt. Du solltest dich über unser Glück freuen, Murdo. Es war Gottes Wunsch, daß wir noch ein wenig länger im Reich der Lebenden weilen sollen. Wir sind verschont worden! Halleluja!«
Murdo nickte. Er versuchte noch immer zu verstehen, was geschehen war. Hatte der verzauberte Kreis - der caim - sie gerettet? Oder hatten die Türken einfach nur Besseres zu tun gehabt? Vielleicht hatten sie es als unter ihrer Würde betrachtet, einem halbverrückten Mönch und einem zerlumpten, unbewaffneten Jüngling das Leben zu nehmen. Vielleicht steckte jedoch auch mehr dahinter als das.
»Wir sind aus der Hand des Todes errettet worden«, fuhr Emlyn fort. Sein Gesicht glühte förmlich vor Freude. »Unser guter Hirte hat uns durchs Tal der Schatten geführt. Er hat uns eine große Gnade erwiesen und seine Gunst geschenkt. Heute ist der Tag, den Herrn zu preisen und zu frohlocken.«
»Ich frohlocke doch«, erklärte Murdo und drehte sich wieder um, um nach dem Kamel zu suchen.
Schließlich fanden sie das faule Tier am Boden liegend im Schatten des Felshaufens, hinter den sie hatten fliehen wollen, als die Türken erschienen waren. Das Kamel schlief, die Augen geschlossen, den Kopf hoch erhoben. Mit seinem sandfarbenen Fell paßte es hervorragend in diese Gegend - das war wohl auch der Grund, dachte Murdo, warum er es beim erstenmal nicht gesehen hatte.
Murdo packte die Zügel und zog daran, um die Kreatur zu wecken. Erst dann bemerkte er, daß sie kein Wasser mehr hatten; das ungeschickte Tier hatte jeden einzelnen Tropfen verschüttet, als es sich schwankend niedergelegt hatte, denn leider hatten sie in dem Bauernhaus keine Pfropfen oder Deckel für die Krüge gefunden.
»Wir haben kein Wasser mehr«, sagte Murdo und deutete auf die
Krüge, als sich der dicke Mönch zu ihm gesellte. »Kennst du dafür auch einen Zauber?«
Emlyn runzelte mißbilligend die Stirn. »O du Kleingläubiger!«
Murdo verzichtete auf weitere Bemerkungen. Emlyn trat zu ihm und packte ebenfalls die Zügel. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das widerspenstige Tier zum Aufstehen zu bewegen. Das Kamel blökte protestierend, als es sich auf seine seltsame Art erhob. Anschließend führte Emlyn das Tier auf die Straße zurück. Mur-do ging neben ihm; allerdings hielt er kurz an, um das Schwert aufzuheben.
Sie setzten ihren Weg fort - der Priester pries noch immer den Herrn, doch Murdo war noch genauso nachdenklich wie zuvor. Als die Sonne den Horizont berührte, erreichten sie die Kuppe, hinter der die Türken verschwunden waren.
Nun glaubte Murdo auch den Grund zu kennen, warum ihnen niemand auf der Straße begegnet war und warum sämtliche Höfe und Weiler in der Gegend verlassen waren: Höchstwahrscheinlich waren die Seldschuken schon geraume Zeit hier unterwegs und hatten die Menschen aus ihren Häusern vertrieben.
Nachdem sie die Hügelkuppe erreicht hatten, hielten sie an, um auf der anderen Seite hinunterzublicken. Im Licht der untergehenden Sonne sahen sie, wie die Straße ihren Weg über die Hügel zum Meer fortsetzte, das inzwischen als silberner Streif am Horizont zu erkennen war. Zu ihrer Linken, noch sehr weit weg, aber deutlich erkennbar, war ein weit matteres Schimmern zu sehen: Jaffa. Einen Augenblick lang blieben sie stehen und blickten zu ihrem Ziel.
»Es sieht so aus, als wollten sie auch nach Jaffa«, bemerkte Em-lyn und deutete auf die Staubwolke, die den Standort der Seldschuken anzeigte.
»Das vermute ich auch«, stimmte ihm Murdo zu.
»Vielleicht sollten wir lieber wieder nach Jerusalem zurückkehren«, schlug der Mönch vor.
»Wir können nicht wieder nach Jerusalem zurück«, sagte Murdo. »Wir haben kein Wasser. Jaffa ist näher. Bis dorthin schaffen wir es
vielleicht noch.«
»Aber wenn es in Jaffa zu Kämpfen kommen sollte.«
»Wir haben keine andere Wahl«, unterbrach ihn Murdo und setzte sich wieder in Bewegung.
Die Sonne ging unter, und Zwielicht legte sich über das Land. Zum erstenmal, seit sie Jerusalem verlassen hatten, knurrte Murdo der Magen. Sein Mund war trocken, und seine Zunge klebte am Gaumen; er wünschte, er hätte mehr getrunken, als er noch Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Die Luft kühlte rasch ab, als das letzte Glimmen des Zwielichts im Osten verschwand und die Nacht sich herabsenkte. Die beiden Wanderer setzten ihre Reise fort, bis die Müdigkeit sie schließlich übermannte und sie sich einen Platz neben der Straße suchten, wo sie sich ausruhen konnten. Sie banden das Kamel an einen Felsen, ohne es abzuladen; dann richteten sie sich für die Nacht ein. Erschöpft von den Anstrengungen des Tages legte Murdo seinen Kopf auf einen Stein und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem er erst durch das ferne Donnern von Hufen geweckt wurde.
Einen Augenblick lang lag Murdo regungslos da und lauschte auf das Geräusch, das durch den Boden und den Stein hallte, auf dem er lag. Das Donnern wurde ständig lauter, und er wußte, daß die Reiter nicht mehr weit entfernt waren. Rasch stand er auf und schaute sich um; der Himmel leuchtete im ersten Morgenlicht. Die Sonne war bereits aufgegangen, doch von ihrem Standpunkt aus, konnten sie sie noch nicht sehen.
Murdo bückte sich, packte Emlyn an den Schultern und schüttelte ihn. Der Kirchenmann wachte erschrocken auf. »Wie? Was?«
»Reiter«, sagte Murdo. »Wir sollten außer Sichtweite verschwinden, bevor sie uns sehen.« Er blickte den langen Hang hinauf und entdeckte einen kleinen Felsvorsprung, hinter dem sie sich verbergen konnten. Sie ließen das Kamel schlafen, eilten den Hügel hinauf, legten sich auf den Bauch und warteten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Reiter in Sichtweite kamen. »Wer sind sie? Kannst du es erkennen?« fragte Emlyn.
»Nein, sie sind noch zu weit entfernt, und das Licht ist nicht gut.«
Hinter den Felsen verborgen warteten sie weiter. Deutlich war nun das Klimpern von Zaumzeug zu hören - ein leises Klingeln unter dem Donnern der Hufe. Die Reiter näherten sich in schnellem, doch maßvollem Tempo; sie schienen weder jemanden zu verfolgen noch vor jemanden zu fliehen. Murdo hob den Kopf und blickte zur Straße. In diesem Augenblick erschien die Sonne über der Kuppe, sandte ihre Strahlen den Hang hinunter und beleuchtete die Reiter.
»Kreuzfahrer!« rief Murdo. »Emlyn, sieh nur! Wir sind gerettet!« Er sprang auf, stieß einen lauten Schrei aus und wedelte mit den Armen. »Hierher! Hierher!«
Doch ob die Reiter ihn nun sahen oder nicht, zumindest zeigten sie keinerlei Interesse an ihm. Nicht einer von ihnen verringerte seine Geschwindigkeit. Die ganze Abteilung - vielleicht hundert Ritter - setzte unverwandt ihren Weg nach Jaffa fort.
»Sie sehen uns nicht«, sagte Emlyn. »Wir müssen sie vor den Türken warnen! Murdo, beeil dich! Lauf los, und sag es ihnen!«
So rasch der Untergrund es erlaubte, rannte Murdo zur Straße, wo er stehenblieb, erneut mit den Armen winkte und den Kreuzfahrern zurief anzuhalten. Außer einem kurzen Blick des ein oder anderen Reiters bewirkte er nichts. Emlyn holte ihn ein, baute sich neben ihm auf und begann ebenfalls zu schreien. Vielleicht nur weil sie zu zweit waren und weil so weit entfernt von jeglicher Zivilisation nur selten Menschen zu finden waren, gelang es ihnen tatsächlich, die Aufmerksamkeit des letzten Ritters zu erregen. Der Mann wendete sein Pferd, blickte abfällig auf die beiden herab und verlangte zu wissen, was ihnen einfiele, Männer im Dienste des Verteidigers des Heiligen Grabes aufzuhalten.
»Wir wollen Euch warnen«, antwortete Emlyn rasch. »Wir haben Seldschuken auf der Straße gesehen.«
»Es gibt immer Türken in dieser Gegend«, schnaufte der Ritter. »Das sind Plünderer, nichts weiter.«
»Das waren mehr als nur Plünderer«, erklärte der Mönch.
»Bist du ein Feldherr, daß du solche Dinge weißt?« fragte der Kreuzfahrer. Er nahm die Zügel auf und schickte sich an, seinem Pferd die Sporen zu geben.
»Er sagt die Wahrheit«, mischte sich Murdo ein. »Es waren Türken - Hunderte von ihnen -, und sie waren gestern auf dieser Straße. Wir haben sie beide gesehen. Sie ritten in Richtung Jaffa.«
»Habt ihr gesehen, wie sie in die Stadt geritten sind?« verlangte der Ritter zu wissen.
»Nein«, antwortete Murdo und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, »wir sind auf dem Weg von.«
»Armselige Bettler«, schnaufte der Ritter. »Macht, daß ihr wegkommt!« Er schlug die Zügel gegen den Hals des Pferdes, und das Tier sprang davon.
»Wartet!« rief ihm Murdo hinterher. »Wir brauchen Wasser - nur einen Schluck. Wir haben unser Was.«
»Trinkt Pisse!« rief der Ritter und ritt davon, um sich wieder zu seinen Gefährten zu gesellen.
Durstig und enttäuscht machten sich Murdo und Emlyn daran, das Kamel zu wecken, und nach mehreren Versuchen gelang es ihnen auch, die widerspenstige Kreatur dazu zu überreden, sich auf seine großen, platten Füße zu erheben. Dann machten sie sich wieder auf den Weg und folgten der Staubwolke der Kreuzfahrer.
Während sie abermals die Straße entlangwanderten, sang Emlyn leise Gebete auf gälisch, um sich zu beschäftigen. Murdo hörte ihm zu, und hier und da erkannte er sogar ein Wort. Die vertraute Sprache erinnerte ihn an seine Mutter. Er fragte sich, wie sie wohl die Nachricht vom Tod ihres Gatten aufnehmen würde und von der Weigerung ihrer Söhne, nach Hause zurückzukehren und für die Rückgabe ihres Landes zu kämpfen. Er fragte sich, wie es Ragna in der Zwischenzeit ergangen war, und was sie gerade tat. Ob sie ihn ebenso sehr vermißte wie er sie, und ob sie einander je wiedersehen würden? Nicht zum erstenmal schwor er sich, sie nie mehr zu verlassen, sollte er je wieder nach Hause zurückkehren.
Die Sonne nahm an Kraft zu, während sie in den Himmel stieg, und bald wich die angenehme Morgenwärme einem glühendheißen
Feuer, das die trockenen Hügel und Felsen förmlich zum Brennen brachte, während sich ein irritierendes Flimmern über die Täler legte. Als die beiden Wanderer nicht mehr weiter konnten, blieben sie stehen und hielten nach einem schattigen Platz Ausschau, um sich auszuruhen. Es gab keinen Baum in der Nähe; lediglich ein einzelner großer Dornenbusch spendete ein wenig Schatten.
Murdo führte das Kamel zu dem Busch, schlug ihm vorsichtig mit einem Stock vors Bein, und das Tier kniete nieder. Als nächstes zog Murdo sein schweißdurchtränktes Wams aus und legte es über den Busch. Schließlich ließ er sich in den knochentrockenen Staub neben Emlyn nieder, und die beiden ruhten sich in den Schatten von Wams, stinkendem Kamel und Busch aus. Es war zu heiß, um zu reden oder nachzudenken, und allmählich machte sich der Wassermangel bemerkbar. Murdos Mund fühlte sich so trocken an wie die Steine, auf denen er lag, und seine Zunge war auf die doppelte Größe angeschwollen; seine Lippen waren spröde, und seine Augäpfel waren so ausgetrocknet wie Zunder.
Er schloß die brennenden Augen und legte den Kopf auf den Arm. Einen Augenblick später hörte er Emlyns sanftes Atmen: Der Mönch war eingeschlafen.
Murdo jedoch konnte nicht einschlafen, so sehr er sich auch bemühte. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu jenem schrecklichen Augenblick zurück, da er geglaubt hatte, die Türken würden ihn töten, während er sich wie ein kleines Kind an Emlyns Umhang geklammert hatte. Erneut spürte er die Lanzenspitze an seiner Kehle und hörte den Krieger sagen: »Errichte mir ein Reich, Bruder!«
Die Stimme klang so klar und lebensecht, daß Murdo unwillkürlich die Augen aufriß und sich umschaute. Natürlich war niemand zu sehen, und Emlyn schlief noch immer, also wußte er, daß er geträumt haben mußte. Aber obwohl die Stimme nur Einbildung gewesen war, so waren die Worte doch die des heiligen Andreas gewesen, und Mur-do hatte dem Heiligen versprochen zu tun, was er konnte. Vielleicht, so hoffte Murdo, konnte derselbe Gott, der den Kreis im Staub beschützt hatte, ihm helfen, sicher nach Hause zu kommen.
»Bring mich nur nach Hause, und ich werde dir dein Reich schaffen«, sagte Murdo. »Ich werde es direkt neben meinem eigenen errichten.«
Sein Murmeln weckte Emlyn, der verschlafen die Augen öffnete. »Hast du etwas gesagt?« fragte er gähnend.
»Nein«, flüsterte Murdo. »Schlaf weiter.«
Der Mönch gähnte erneut und schloß die Augen. »Das sieht wie Rauch aus«, sagte er und schlief sofort wieder ein.
Murdo lag einen Augenblick lang einfach nur da, bevor ihm auffiel, was Emlyn da gerade gesagt hatte. Er drehte den Kopf und blickte in die Richtung, in die Emlyn geschaut hatte. Er sah trockenes, sonnenverbranntes Land voller Staub unter einem vor Hitze flimmernden Himmel. Ein dünner dunkelgrauer Faden stieg in die wolkenlosen Höhen empor. Ja, dachte Murdo, das sah wirklich wie Rauch aus. Aber was sollte an einem solch gottverlassenen Ort denn brennen?
Er hob den Kopf und schaute genauer hin. Der Faden befand sich im Westen; er war ein wenig dicker und dunkler geworden. Das war Jaffa!
Murdo erhob sich auf die Knie und beschattete seine Augen mit der Hand. Die Sonne hatte bereits ihren Abstieg begonnen; ihr machtvolles Licht ließ den Faden fast unsichtbar erscheinen. Mühsam rappelte sich Murdo auf und beschloß, nur ein paar Schritte den Hang hinaufzugehen, um besser sehen zu können; doch er stellte fest, daß er bis zur Straße zurücklaufen mußte, wollte er bis zum Horizont schauen.
Ein rascher Blick bestätigte seinen Verdacht: Der Rauch kam aus der ummauerten Stadt.
Murdo eilte zurück zum Busch, nahm sein Wams von den Zweigen und zog es wieder an. Dann kniete er nieder und rüttelte Emlyn wach. »Du hattest recht mit dem Rauch«, berichtete ihm Mur-do. »Jaffa brennt.«
»Dort wird wohl gekämpft«, bemerkte der Mönch verschlafen.
»Vielleicht«, räumte Murdo ein. »Es ist noch zu weit weg, um das
mit Bestimmtheit sagen zu können.«
»Ich hoffe, die Schiffe sind nicht in Gefahr.«
»Die Schiffe!« Bisher war Murdo noch nie in den Sinn gekommen, daß auch die Schiffe bei einem Kampf gefährdet sein könnten. Was, wenn die Türken den Hafen angegriffen hatten? »Beeil dich!«
»Murdo, warte!« rief ihm Emlyn hinterher. Der Mönch rappelte sich mühsam auf, eilte davon, erinnerte sich an das Kamel und kehrte wieder um, um es loszubinden.
Die kurze Rast hatte bei weitem nicht ausgereicht, um sich zu erholen; dennoch machten sich die beiden Wanderer in der Hitze des Tages wieder auf den Weg. Das war Wahnsinn, dachte Murdo; selbst wenn er die Kämpfenden rechtzeitig erreichen würde - was sollte er tun?
»Langsamer, Murdo«, rief Emlyn und folgte ihm auf die Straße. Das Kamel zog er hinter sich her.
Murdo ignorierte den Mönch. Er senkte den Kopf als Schutz vor der Sonne und ging raschen Schrittes voran. Obwohl er durstiger war denn je, hielt er den Mund geschlossen und konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wie lange dies so ging, vermochte er nicht zu sagen; für ihn schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Dieser merkwürdige Zustand hielt an, bis er Emlyn sagen hörte: »Murdo! Schau! Ich kann den Hafen sehen!«
Murdo hob den Kopf und stellte erstaunt fest, wie weit sie gekommen waren. Die Stadt lag am Ufer unter ihnen, und ihre weißen Häuser schimmerten golden im Licht der untergehenden Sonne, während das Meer sich zu beiden Seiten als silbrige Fläche bis zum Horizont erstreckte. In der Nähe des Stadttors stiegen schwarze Rauchsäulen in den Himmel empor, dort, wo vor den Mauern die Schlacht noch immer tobte; doch unberührt von den Kämpfen lagen die Schiffe sicher im Hafen vor Anker.
»Kannst du erkennen, wer das dort unten ist?« fragte Emlyn, trat neben Murdo und hockte sich in den Staub der Straße.
»Nein«, antwortete Murdo, »wir sind noch zu weit weg. Ich vermute, daß sind Gottfrieds Männer - die, die vorhin an uns vorbeigeritten sind. Ohne Zweifel haben die Türken sie erwartet.«
Mit diesen Worten setzte er sich wieder in Bewegung.
»Murdo! Um der Liebe Gottes willen, Mann, kannst du nicht einmal einen Augenblick lang stehenbleiben, damit ich wieder zu Atem komme?«
»Du kannst später Atem holen«, rief Murdo über die Schulter zurück. »Wir müssen dort hinunter.«
»Murdo! Bleib stehen!« schrie der Mönch. »Wir können den Ausgang der Schlacht genauso gut hier abwarten.«
Murdo eilte jedoch unbeeindruckt weiter in Richtung Stadt. Hinter sich hörte er Emlyn rufen: »Murdo, wenn du dein Leben auch nur ein ganz klein wenig zu schätzen weißt, dann geh nicht dorthinunter!«
Murdo blieb stehen und blickte auf die weite Ebene vor den Toren. Emlyn hatte recht: Es gab nichts, was er dort unten hätte tun können - außer sterben. Also kehrte er wieder zu dem wartenden Priester zurück, nahm ihm die Kamelzügel aus der Hand und führte das Tier zu einem weiteren Busch neben der Straße, wo sie sich niederließen, zur Stadt hinunterblickten und den Ausgang der Schlacht abwarteten.
on ihrem hohen Aussichtspunkt aus beobachteten sie, wie der Tumult auf der Ebene allmählich nachließ, woraufhin sich die größere von der kleinen Masse löste und sich um die Stadt herum davonmachte, bis sie schließlich an der Küste entlang verschwand.
Murdo stand langsam auf. »Es ist vorbei. Die Türken sind weg.«
Er und Emlyn setzten ihren Weg den Hügel hinab fort. Als sie schließlich die Ebene erreichten, betrat eine weitere Heerschar das Schlachtfeld: Die Einwohner Jaffas strömten aus dem Tor. Murdo und der Mönch hielten sich am Rand des Schlachtfeldes und eilten ihnen entgegen. Bald stießen sie auf die ersten Leichen: Kreuzfahrer, die von Seldschukenpfeilen niedergestreckt worden waren. Mehr Pferde als Männer lagen hier, und viele der Tiere lebten noch und scharrten im Todeskampf mit den Hufen im Staub.
Je näher sie dem Zentrum der Schlacht kamen, desto dichter wurde das Leichenfeld. Sie stießen auf den Leichnam eines Ritters, der unter sein Pferd gefallen war. Die Hand des Reiters hielt noch immer das Schwert. Murdo blieb kurz stehen und betrachtete den Unglücklichen; dann blickte er zu dem Wasserschlauch am Sattel des toten Pferdes.
»Er hat keine Verwendung mehr dafür«, sagte Emlyn, »und kümmern tut es ihn auch nicht mehr.«
Murdo nickte, bückte sich rasch und löste die Schnur, die den Schlauch am Sattel hielt. Eilig entfernte er den Pfropfen und hielt den Schlauch an den Mund. Kühl und angenehm strömte das Wasser über seine ausgetrocknete Zunge und die Kehle hinunter. Er trank in gierigen Zügen, und nur widerwillig setzte er den Schlauch wieder ab und reichte ihn Emlyn.
Sie teilten sich das Wasser, bis der Schlauch leer war, woraufhin Emlyn ihn wieder an seinen Platz zurücklegte. Dann schlug er ein Kreuz über dem gefallenen Krieger und sprach ein Totengebet. Das Wasser hatte die Lebensgeister der beiden Wanderer geweckt, und so setzten sie ihren Weg ins Zentrum der Schlacht fort, wo die heftigsten Kämpfe stattgefunden hatten. Immer mehr Tote bedeckten den Boden, und der Staub war schwarz von Blut. Obwohl Murdo und Emlyn genau hinsahen, entdeckten sie nirgends Verwundete. Die meisten der Toten wiesen sowohl Schwert- als auch Pfeilwunden auf. »Sie haben sie mit Pfeilen niedergestreckt und ihnen dann mit dem Schwert den Rest gegeben«, bemerkte Murdo mit harter
Stimme. »Der Feind hat keine Gnade gekannt.«
»Das ist wegen Jerusalem«, erklärte Emlyn. Traurig blickte er auf das Gemetzel, und seine runden Schultern wurden vom Gewicht des schrecklichen Anblicks niedergedrückt. »Jetzt beginnt die Zeit der Rache, in der der Tod regiert und das Böse sich über die Welt ergießt.«
Bei diesen Worten sah Murdo vor seinem geistigen Auge erneut das fürchterliche Blutbad in der Heiligen Stadt, jenen Sturm aus Haß, Gier und Mordlust, der die prächtige Stadt in ein Leichenhaus verwandelt hatte. Er sah sich selbst, wie er durch die blutige Verwüstung wanderte, ängstlich, verloren und allein, während über ihm im rauchverhangenen Himmel der uralte Feind mit ledernen Schwingen entlangflog und sich an dem Schlachten und dem Chaos ergötzte.
Nun schaute sich Murdo um, und er sah dieselbe grausige Zerstörung und hörte dasselbe dämonische Lachen wie in den Mauern der Heiligen Stadt. Was in Jerusalem begonnen worden war, würde noch tausend Jahre andauern, dachte er; Krieg und Rache würden niemals ein Ende finden. Diese Toten hier waren die ersten einer verfluchten Rasse, deren Zahl schon bald die der Sterne übersteigen würde.
Errichte mir ein Reich, hatte der heilige Andreas gesagt. Errichte ein Reich, in dem meine Schafe in Frieden weiden können, und errichte es weit, weit weg vom Ehrgeiz kleingeistiger Menschen und ihrem Streben nach Macht und Reichtum. Mache es zu einem Königreich, wo die Menschen in Frieden dem Wahren Weg folgen können, und wo das Heilige Licht den Suchenden den Weg weist.
Als Murdo nun auf dieses Totenfeld blickte, ließ die Erinnerung an die Worte des Geistermönchs sein Herz schneller schlagen: Alles, was du besitzt, ist dir aus gutem Grund gegeben worden, Bruder. Ich frage dich erneut, sagte die Stimme aus den Katakomben. Willst du mir dienen?
Murdo hatte versprochen zu tun, was er konnte. Als er nun auf diese sinnlose, mutwillige Verschwendung von Leben blickte im Dienste einer machtlüsternen Gier und eines unstillbaren Ehrgeizes, da wußte Murdo, wußte ohne jeden Zweifel, was es war, worum Andreas ihn gebeten hatte.
Ich werde tun, was ich kann, hatte er in den Katakomben gelobt. Nein, beschloß er jetzt, ich werde mehr tun. Ich werde eine Zuflucht aus dem Sturm des Todes und der Zerstörung errichten. Ich werde ein Reich erschaffen, wo das Heilige Licht den Menschen als Leuchtfeuer die Richtung in der schrecklichen Dunkelheit weist.
Als Emlyn ihn berührte, zuckte Murdo erschrocken zusammen. »Was hast du da gerade gesagt? Es klang wie das Sanctus Clarus. Fühlst du dich wohl, Murdo?«
Der junge Mann nickte.
»Wir sollten sehen, ob wir etwas tun können«, sagte der Mönch und ging weiter. Murdo folgte ihm und zog das Kamel hinter sich her. Im Herzen und in Gedanken wußte er mit aller Klarheit, daß er nicht ohne Grund in eben diesem Augenblick an diesen Ort gerufen worden war.
Murdo und Emlyn suchten sich einen Weg zwischen den Leichen hindurch und erreichten schließlich jene Stelle, wo die Kreuzfahrer sich zum letzten Gefecht gestellt hatten. Hier stapelten sich die Toten, und nur noch wenige Pferde waren zu sehen. Die pferdelosen Ritter waren keine Gegner für die berittenen Seldschuken gewesen. Pfeile ragten aus jedem Körper; die meisten waren gleich mehrfach getroffen worden.
Hier war es auch, daß die Einwohner von Jaffa ihre Arbeit begonnen hatten. Ein Teil von ihnen entfernte Harnische und Sättel von Pferden, während andere den Tieren die Haut abzogen und sie an Ort und Stelle schlachteten. Die roten, rohen Kadaver glitzerten im harschen Sonnenlicht, und der ranzige Gestank der Eingeweide mischte sich mit dem süßen Geruch des Blutes. Ein Stück weiter entfernt trennten Bürger Kreuzfahrer von Türken. Die Seldschuken wurden einfach auf einen Haufen geworfen; die Christen jedoch legte man in ordentlichen Reihen auf den Boden. Männer und Frauen gingen an diesen Reihen entlang und nahmen den Toten sämtliche Wertsachen, Waffen und jedes noch intakte Kleidungsstück ab.
Diese Dinge wurden dann zu wartenden Wagen getragen, wo sie unter dem wachsamen Blick eines großen Mannes mit schwarzem Hut und langem Stab verladen wurden, vor dessen Füßen ein Haufen kleinerer Wertsachen lag.
Da dieser Mann, den anderen Befehle zu erteilen schien, gingen Murdo und Emlyn zu ihm, um soviel wie möglich über die Schlacht in Erfahrung zu bringen. Emlyn grüßte höflich, woraufhin der Mann sich zu ihnen herumdrehte und die Stirn runzelte. »Was wollt ihr?« fragte er und betrachtete mißtrauisch das Kamel.
»Wir haben die Schlacht beobachtet«, antwortete Emlyn. »Wir waren auf dem Weg nach Jaffa und haben gesehen.«
Schwarzhut wandte sich ab und schrie einen Mann an, der in einem der Karren stand. »Auf diesen nur die Waffen!« brüllte er. »Wie oft muß ich dir das denn noch sagen?«
Er drehte sich wieder zu dem Priester um und sagte: »Es war eigentlich gar keine richtige Schlacht. Die Türken haben auf sie gewartet.« Er deutete auf die Wertgegenstände zu seinen Füßen. »Habt ihr irgend etwas zu verkaufen?«
»Wir haben Rauch gesehen«, sagte Murdo. »Ist die Stadt auch angegriffen worden?«
»O ja, sie haben versucht, die Tore in Brand zu stecken«, antwortete der Kaufmann. »Das war nun schon das dritte Mal in diesem Monat. Aber wir haben die Feuer gelöscht.« Erneut brüllte er seinen Helfer im Wagen an; dann sagte er: »Wenn ihr schon hier herumsteht, dann könnt ihr euch genauso gut nützlich machen. Ich bezahle gutes Silber für ihre Sachen.«
»Was ist mit den Verwundeten?« fragte Emlyn.
Der Kaufmann zuckte mit den Schultern. »Falls ihr welche findet, könnt ihr ihnen die letzte Ölung geben.«
Aus dem Wagen hallte das Klirren von Stahl. »Paß auf damit!« brüllte der Kaufmann. »Soll ich etwa zerbrochene Klingen verkaufen?«
Eine Frau näherte sich dem Kaufmann; sie hielt einen Gürtel mit
Silberschnalle in der Hand - den Schwertgürtel eines Ritters. Der Mann nahm den Gürtel entgegen, musterte ihn und warf ihn auf den Haufen vor seinen Füßen. Dann griff er in die Börse an seiner Seite, holte eine Handvoll Münzen heraus und zählte der Frau einige davon in die Hand. Sie verneigte sich und huschte davon, um so rasch wie möglich ihre Arbeit wiederaufzunehmen.
Murdo und Emlyn schritten zwischen den Gefallenen hindurch und suchten nach jenen, die vielleicht noch gerettet werden konnten. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie ein leises, gequältes Stöhnen hörten.
»Dort drüben«, sagte Emlyn und rannte in Richtung des Geräuschs. Murdo band das Kamel rasch an den Sattelknopf eines toten Pferdes und löste den Wasserschlauch vom Sattel des toten Tiers; dann gesellte er sich zu dem Priester, der neben einem Ritter kniete. In Brust und Hüfte des Mannes steckten zwei Pfeile.
Der Verwundete stemmte sich auf die Ellbogen auf, als Murdo dem Priester den Wasserschlauch reichte. »Türken.«, keuchte der Mann.
»Ruht Euch aus, mein Freund«, sagte Emlyn in sanftem Tonfall. Er zog den Pfropfen aus dem Schlauch und bot dem Verwundeten das Wasser an. »Trinkt ein wenig. Das wird Euch helfen.«
Der Ritter, ein hellblonder Normanne, griff unbeholfen nach dem Schlauch und hielt ihn sich an den Mund. Er trank, und das Wasser lief ihm aus dem Mund über die Brust, wo es sich mit dem Blut aus der Wunde mischte. Er trank so rasch, daß er sich verschluckte. Er hustete. Wasser spritzte aus seinem Mund, und er fiel zurück.
Der Mönch griff sofort nach dem Wasserschlauch und steckte den Pfropfen wieder hinein. »Wir müssen die Pfeile herausholen, Mur-do«, sagte er. »Gib mir dein Messer.«
»Die Seldschuken haben uns angegriffen. Sie haben sie geraubt.«, sagte der Ritter. Er packte Emlyns Gewand und riß den Mönch nach vorne. »Sie haben uns aufgelauert.« Vor lauter Schmerzen verzog er das Gesicht und biß die Zähne zusammen. »Sagt Herzog Gottfried. Sie haben sie genommen!«
»Ruhig«, beschwichtigte ihn Emlyn. »Ruhig jetzt. Wir werden Eure Wunden bald verbunden haben.«
Bevor Murdo fragen konnte, wovon der Mann gesprochen hatte, schloß der Ritter die Augen und verlor das Bewußtsein. Emlyn beugte sich über das Gesicht des Verwundeten. »Er schläft«, erklärte er einen Augenblick später. Dann drehte er sich besorgt zu Mur-do um und sagte: »Es wird bald dunkel werden. Wir müssen uns beeilen.«
Mit Hilfe des Messers öffnete der Mönch das Wams des Mannes, um die Wunde offenzulegen. Der Pfeil war unmittelbar unter der linken Schulter in die Brust gedrungen. »Der hier hat Glück gehabt«, bemerkte Emlyn.
Er schüttete ein wenig Wasser auf die Wunde, um das Blut wegzuwaschen. Dann preßte er behutsam die Messerspitze in die Haut neben der Wunde. Der Ritter stöhnte, wachte aber nicht auf.
»Pack den Pfeil so fest du kannst«, befahl Emlyn. Murdo tat, wie ihm geheißen, und der Mönch fuhr fort: »Auf mein Kommando mußt du mit aller Kraft an dem Pfeil ziehen. Bist du bereit?«
Murdo packte den Pfeil mit beiden Händen. »Ja.«
»Zieh!«
Murdo riß an dem Geschoß, und Emlyn drückte die Schulter des Verwundeten mit seiner freien Hand herunter, während er gleichzeitig das Messer drehte, und der Pfeil kam heraus. Der Arm des Mannes zuckte kurz; dann lag er wieder regungslos da.
»Das hast du gut gemacht«, keuchte Murdo und warf den Pfeil beiseite.
Der Mönch reichte ihm das Messer. »Schneide ein paar Streifen aus seinem Umhang heraus, und wir können ihn verbinden«, sagte er und schüttete erneut Wasser auf die Wunde. Dann holte er einen kleinen Beutel aus seiner Tasche, in dem sich ein gelbes Pulver befand, von dem er eine Fingerspitze auf die Schulter träufelte, bevor er die Stoffstreifen entgegennahm, die Murdo ihm reichte, und die Wunde verband.
Nachdem das erledigt war, wandte Emlyn seine Aufmerksamkeit der Wunde in der Hüfte des Mannes zu und entfernte auch diesen Pfeil mit derselben Geschicklichkeit, die Murdo bereits bei der ersten Wunde in Erstaunen versetzt hatte. Zweimal an diesem ereignisreichen Tag hatte der Mönch ihn überrascht; er fragte sich, welche Fähigkeiten der Priester noch besaß, von denen er nichts wußte.
Sie waren gerade dabei, die Hüftwunde zu verbinden, als sie von den Hügeln im Osten her das Donnern von Hufen vernahmen. In der Erwartung, heranstürmende Seldschuken zu sehen, drehte sich Murdo in Richtung des Geräuschs um. Doch statt Türken sah er im gelben Licht der untergehenden Sonne zwei lange Kolonnen von Rittern herangaloppieren.
»Wer ist das?« fragte Emlyn, stand auf und stellte sich neben Mur-do. »Die Banner - kannst du sie erkennen?«
»Schwarz und Gelb, glaube ich«, antwortete Murdo.
»Schwarz und Gelb. Das ist Fürst Bohemund«, sagte Emlyn.
Die Kreuzfahrer umritten das Schlachtfeld und erreichten schließlich jene Stelle, wo sich ihre Gefährten zum letzten Kampf gestellt hatten. Dort hielten sie an, und viele Ritter stiegen ab und liefen zwischen ihren toten Kameraden umher. In der Zwischenzeit ritten die Anführer zu dem Kaufmann mit dem schwarzen Hut, der die Leichenfledderer befehligte.
»Bleib bei ihm«, sagte Murdo zu Emlyn. »Ich will wissen, was dort gesprochen wird.«
»Seid gegrüßt, Freunde!« rief ein großer, breitschultriger Mann dem Kaufmann und seinen Gehilfen gerade zu, als Murdo sich ihnen näherte. Der polierte Helm und Harnisch des Ritters schimmerte golden im Licht der Abenddämmerung. Sein langes blondes Haar quoll unter dem Helm hervor, und seine kräftigen Muskeln waren gespannt, während er versuchte, sein Pferd ruhig zu halten. Die gelassene, befehlsgewohnte Art des Mannes verriet Murdo, daß dies Bohemund persönlich sein mußte.
»Ich sehe keine Überlebenden von Herrn Gottfrieds Abteilung.« Er betrachtete die kleine Versammlung mit ernsten dunklen Augen.
»Ich bitte Euch: Sagt mir, daß ich mich irre.«
Der Kaufmann nahm es auf sich, für alle zu antworten. »Leider habt Ihr recht, mein Fürst. Die Türken haben ihnen einen Hinterhalt gelegt. Ihr Sieg war vollständig; es gab keine Überlebenden.«
»Wenn Ihr gesehen habt, wie sie den Hinterhalt gelegt haben«, sagte der Mann an Bohemunds Seite, »dann frage ich mich, warum Ihr keine Männer aus der Stadt geschickt habt, um Gottfrieds Leuten zur Hilfe zu eilen.«
»Sie hatten Feuer ans Tor gelegt«, erwiderte der Kaufmann. »Was hätten wir denn tun sollen?«
»Besitzt die Stadt keine anderen Tore?« verlangte der Ritter wütend zu wissen.
Bohemund hob die Hand und gebot Schweigen. »Laßt es gut sein, Bayard. Getan ist getan.« Er deutete auf den Wagen, in den die Waffen verladen wurden. »Geht, und seht nach, was sie gefunden haben.« Der Ritter ritt zum Wagen, und während er die Stadtbewohner befragte, wandte sich der Fürst ein weiteres Mal an den Kaufmann. »Diese Männer kamen aus Jerusalem. Muß ich davon ausgehen, daß sie die Stadt gar nicht erst erreicht haben?«
»Leider ja, mein Fürst, sie haben sie nicht erreicht«, bestätigte Schwarzhut. »Unglücklicherweise wurden sie angegriffen, bevor sie sich in den Schutz der Mauern flüchten konnten.«
Der Fürst von Tarent nickte und schaute sich um. Als er Murdo erblickte, sagte er: »Du da. Hast du es genauso gesehen?« In der Frage lag weder Mißtrauen noch Vorwurf. Gnädig blickte Bohemund auf den jungen Mann herab; in der Abenddämmerung schimmerte sein Gesicht rötlich.
»Wir haben den Kampf nur aus der Ferne gesehen«, antwortete Murdo und deutete auf die Hügel im Osten. »Als wir hier ankamen, war die Schlacht bereits vorüber. Aber es gibt da.«, begann er in der Absicht, dem Fürsten zu berichten, daß es doch einen Überlebenden gab.
Aber bevor er weitersprechen konnte, kehrte der Ritter mit Namen Bayard von der Inspektion der Wagen zurück.
»Sie ist nicht unter den Waffen«, berichtete er und zügelte sein Pferd. »Vermutlich haben die Türken sie mitgenommen. Sie können noch nicht weit gekommen sein. Wir könnten sie immer noch einholen.«
Bohemund wandte seine Aufmerksamkeit den Männern zu, die zwischen den Toten suchten. Er rief sie zu sich und fragte: »Habt ihr sie gefunden?«
»Nein, Herr«, antwortete der ihm am nächsten stehende Krieger; die anderen äußerten sich ebenso.
»Geht wieder zu euren Pferden«, befahl Bohemund. »Kommt, Bayard. Wir werden herausfinden, wohin sich die verfluchten Seldschuken zurückgezogen haben.« Er dankte dem Kaufmann und den Stadtbewohnern für ihre Hilfe, wendete das Pferd und ritt davon. Innerhalb weniger Augenblicke schloß sich ihm die gesamte Heerschar an. Vorbei an den Mauern der Stadt galoppierten sie nach Süden die Küste entlang.
Murdo kehrte wieder zu Emlyn zurück. Der Mönch hatte seinen Umhang über den Verwundeten gelegt, und nun saß er neben ihm und betete. Als Murdo sich ihm näherte, hob er den Kopf. »Was hast du erfahren?«
»Du hattest recht: Es war Bohemund«, bestätigte der junge Mann. »Sie suchen nach irgend etwas. Sie haben gesagt, der Trupp, dem die Türken aufgelauert haben, hätte zu Gottfried gehört und daß.« Murdo hielt inne und blickte auf den verwundeten Ritter. »Ich weiß, was es ist, das sie suchen.«
»Nun?« fragte der Mönch.
»Er hat versucht, es uns zu sagen«, erwiderte Murdo und deutete auf den Bewußtlosen. »>Sie<, deren Verschwinden wir Gottfried berichten sollten, ist die heilige Lanze.«
»Sie haben die heilige Lanze verloren«, murmelte Emlyn verbittert. »Diese verfluchten Narren! Blind und dumm - jeder einzelne von ihnen. Vom König bis zum einfachen Fußkämpfer, nicht einer ist unter ihnen, der auch nur ein Gran Verstand sein eigen nennen dürfte. Wenn man sie alle in einen Sack stecken und draufhauen
würde, würde man immer den Richtigen treffen. O mein Gott!«
Einst hätte ein solcher Wutausbruch des sonst so sanften Mönches Murdo beunruhigt, doch jetzt nicht. Er wußte genau, wie der Mönch sich fühlte; er empfand genauso.
Emlyn sank auf die Knie und reckte die geballten Fäuste gen Himmel.
»Sie haben deinen Namen in einen Fluch verwandelt, oh Herr, mein Gott!« schrie er. »Sie lästern dich durch ihre Taten. Wer wird deine Ehre jetzt wiederherstellen, o mein König? Wer wird die Schlechtigkeit der Mächtigen hinwegfegen?«
Murdo hörte diese Worte und fühlte Zorn in seinem Herzen. Er antwortete: »Ich werde es tun.«
Die Hände noch immer erhoben blickte Emlyn zu seinem Freund. »Murdo?« Als er das seltsame Funkeln und die feste Entschlossenheit in den Augen des jungen Mannes sah, sagte er: »Du hast die Vision auch gesehen.«
»Das habe ich«, bestätigte Murdo. »Du hast von Fluch und Blasphemie gesprochen. Man hat euch doch aufgetragen, die heilige Reliquie vor jenen zu retten, die.«
».die sie mit ihrer Blasphemie beflecken, ja, aber.«, begann der Mönch.
»Ich werde sie suchen«, unterbrach ihn Murdo. Sein Selbstvertrauen wuchs von Augenblick zu Augenblick. »Es ist nicht recht, daß sie eine heilige Reliquie benutzen, um mit ihrer Hilfe um Macht und Rang zu schachern. So oder so: Ich werde sie zurückbringen.«
Der Priester stand rasch auf und stellte sich vor ihn. »Hör mir zu, Murdo: Einmal in seinem Leben wird der Mensch vor die Wahl gestellt, dem Wahren Weg zu folgen oder sich von ihm abzuwenden«, sagte Emlyn im selben Tonfall, den er auch für die Geschichten verwendete, die Murdo stets so bewegt hatten. »Diese Zeit ist für dich jetzt gekommen, Murdo. Es beginnt hier und jetzt. Du könntest alles verlieren, wonach du in deinem Leben gestrebt hast - sogar das Leben selbst; aber wenn du deine Entscheidung erst einmal getroffen hast, gibt es kein Zurück mehr. Hast du das verstanden?«
Murdo nickte. In diesem Augenblick sah er den Weg genau vor sich. Er hatte den ersten Schritt einer Reise getan, die sein ganzes Leben lang dauern würde, und zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich wahrhaft frei. »Ich werde gehen«, wiederholte er.
»Gib mir dein Schwert«, forderte Emlyn. »Die Menschen greifen auch in geistigen Schlachten stets zu den Waffen. Sie vergessen, was es wirklich ist, das sie aufrecht hält und ihnen die Erlösung bringt. Statt dessen vertrauen sie auf ihre eigene Kraft und versagen. Ich will nicht, daß dir das gleiche widerfährt.«
Murdo zögerte.
»Sieh dich doch nur einmal um«, sagte der Mönch und deutete auf das von Leichen übersäte Feld. »Gottfrieds beste Krieger vermochten die Lanze nicht zu verteidigen. Warum glaubst du, daß ausgerechnet deine Klinge einen Unterschied machen würde?« Er streckte die Hand nach der Waffe aus. »Diese Schlacht wird nicht durch Geschick mit dem Schwert entschieden werden, sondern durch die Kraft des Glaubens und Gottes Willen.«
Murdo schnallte das Schwert ab und reichte es Emlyn. »Du hast recht«, stimmte er zu. »Außerdem würde es mich nur behindern.«
»Gott segne dich, Murdo, und er möge seine Engel senden, dich zu schützen und sicher wieder zurückzubringen.«
Murdo dankte dem Mönch, umarmte ihn und sagte: »Wenn du erst einmal in der Stadt bist, geh zum Hafen. Finde Jon Reißzahns Schiff, und warte dort auf mich. Ich werde zu dir kommen, so schnell ich kann.«
Dann trank Murdo etwas Wasser und füllte den Schlauch mit Hilfe anderer nach, die er sich zwischen den Toten zusammensuchte. In der Zwischenzeit durchsuchte Emlyn die Satteltasche des Verwundeten, bis er schließlich einen Streifen Dörrfleisch und etwas hartes Brot gefunden hatte. Dann band er noch den Umhang eines in der Nähe liegenden toten Ritters vom Sattel los und kehrte wieder zu Murdo zurück. »Ich glaube, das wirst du heute nacht gebrauchen können«, sagte der Priester und reichte ihm den Umhang. »Und nimm auch dieses Brot und das Fleisch mit.«
Murdo warf sich den Wasserschlauch über die Schulter und zog den Umhang an. »Ich komme sobald wie möglich wieder zurück«, wiederholte er und nahm Brot und Fleisch aus den Händen des Mönchs entgegen. Als er in den Himmel blickte, sah er, daß im Osten bereits die Sterne funkelten. »Es verspricht eine klare Nacht zu werden, und der Mond scheint hell. Ich werde den Weg gut sehen können. Aber du solltest dich auch beeilen, bevor die Tore für die Nacht geschlossen werden.«
Er setzte sich in Bewegung und folgte der Richtung, die Bohemund und seine Männer eingeschlagen hatten. »Hab keine Furcht!« rief ihm Emlyn hinterher. »Gott selbst geht an deiner Seite.«
»Paß auf, daß du das Kamel nicht verlierst!« rief Murdo zurück und hob zum Abschied die Hand.
Dann richtete er den Blick gen Süden, wo grasbewachsene Dünen am Ufer entlangführten. Von dort aus hatten die Seldschuken die Kreuzfahrer angegriffen, und dorthin waren sie auch wieder verschwunden. Irgendwo in diesen Dünen, dachte Murdo, würde er die heilige Lanze finden.
ls Murdo den Rand der Sanddünen erreichte, machte sich zum erstenmal die Müdigkeit in seinen Knochen bemerkbar. Er hielt gerade lange genug an, um Atem zu holen und einen Schluck Wasser zu trinken, bevor er auf die erste Düne hinaufstieg, um einen besseren Blick auf die Umgebung zu haben. Trockenes, zähes Seegras überwucherte die Kuppe der Düne, und Murdo mußte sich einen Weg durch die hohen Halme bahnen, um die andere Seite sehen zu können.
Da der Mond vor kurzem über den Hügeln aufgegangen war, konnte Murdo weit in die Bucht hinaussehen. Unmittelbar vor ihm, nicht mehr als drei Meilen entfernt, erhoben sich die Mauern von Jaffa. Zu seiner Rechten befanden sich weitere Dünen, zwischen denen sich kleine Täler Richtung Meer öffneten. Zu seiner Linken, in etwas größerer Entfernung, sah er die Küstenlinie hinter der Stadt als silbernen Streifen am Horizont.
Noch während er sich umschaute, vernahm er die unverkennbaren Geräusche einer Schlacht weit im Süden. So, dachte er. Bohe-mund hat die Seldschuken also gefunden. Bevor er länger darüber nachdenken konnte, hatten sich seine Füße bereits in Richtung des Kampfes in Bewegung gesetzt.
In gemächlichem Trott durchquerte er die Dünen und lauschte auf jedes Geräusch. Zwar wäre es leichter gewesen, unmittelbar am Ufer entlangzugehen, doch er glaubte, dort könne man ihn allzuleicht entdecken; also beschloß Murdo sich so nahe wie möglich an den Dünen zu halten, wo er sich im Notfall verstecken konnte und nicht zu leicht zu fangen wäre. Nach einer Weile erreichte er eine Stelle, wo die Küste scharf nach rechts abbog. Da er nicht hinter die Biegung blicken konnte, stieg er die nächste Düne hinauf, um zu sehen, was ihn auf der anderen Seite erwartete.
Schon bevor er den Kamm erreichte, wußte er, was er finden würde: Mit jedem Schritt, den er höher stieg, wurde der Kampfeslärm lauter.
Vor ihm erstreckte sich ein langer, flacher Strand. Auf halber Strecke zwischen dem glitzernden Wasser und den Sanddünen erblickte er eine wirbelnde Masse von Menschen und Pferden; dort fand die Schlacht statt. Das Klirren der Schwerter hallte von den Dünen wider und erzeugte den Eindruck, als finde der Kampf in jedem Loch und jedem Winkel der Küste statt.
Unsicher, was er als nächstes tun sollte, hockte sich Murdo in das lange Seegras, um zu beobachten und zu warten. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung im Sand unterhalb der Düne: Eine Gruppe von Reitern floh aus dem Kampf und kam genau auf ihn zu. Dem Glitzern des Mondlichts auf ihren von Roßschweifen gezierten Helmen nach zu urteilen und aufgrund der ungewöhnlichen Schnelligkeit ihrer Pferde kam Murdo zu dem Schluß, daß es sich um Türken handeln mußte. Er legte sich bäuchlings in den Sand und hielt den Atem an.
Die feindlichen Krieger galoppierten vorbei und verschwanden in den kleinen Tälern zwischen den Dünen - nur gut zweihundert Schritt von Murdos Versteck entfernt. Wieder verlegte sich Murdo aufs Beobachten und Warten, und als die Türken nicht wieder auftauchten, beschloß er nachzusehen, was sie trieben.
Langsam schlich er über den Sand. Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte, bis er schließlich jene Stelle erreichte, wo die Feinde verschwunden waren. Dort hielt er an. Unten im Tal konnte er eine große dunkle Masse erkennen, die sich in den Schatten verborgen hatte. Kein Geräusch ging von ihr aus; nichts rührte sich.
Die Seldschuken sind ein Wandervolk, hatte sein Vater gesagt. Sie leben in Zelten undführen ihre Schätze stets mit sich - selbst in die Schlacht.
Mehr als ein Dutzend Pferde standen unmittelbar unter ihm, und Murdo glaubte zunächst, die Krieger seien rasch abgestiegen und hätten sie dort angebunden; doch als er genauer hinschaute, bemerkte er, daß die Männer noch immer in den Sätteln saßen. Die Türken hatten ihm den Rücken zugekehrt, und allesamt schienen sie die Schlacht zu beobachten, die noch immer auf dem Strand tobte.
Murdo blickte zu der schwarzen Masse in der Mitte des Tals, wo auch die Ersatzpferde standen, und er wußte, daß er das Schatzzelt des Seldschukenführers gefunden hatte.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand in unmittelbarer Nähe lauerte, ließ sich Murdo die Düne hinuntergleiten. Rasch eilte er zum Zelt - wobei er sorgfältig darauf achtete, das Mondlicht zu meiden -, und schließlich erreichte er den Schatten des seltsam geformten Gebildes. Das Zelt wirkte wie ein großer schwarzer Flügel, der über dem Sand schwebte; sein Eingang war gerade groß genug, um einem einzelnen Mann Zugang zu gewähren.
Vorsichtig trat Murdo an die Öffnung und spähte hinein. Zwar konnte er in der Dunkelheit nur wenig erkennen, doch das gesamte Zelt schien mit Kisten und Truhen verschiedener Größe gefüllt zu sein. Murdo blieb kurz stehen und lauschte; dann ging er hinein und wäre beinahe über eine Truhe gestürzt, die unmittelbar hinter dem Eingang stand. Die Truhe war groß und mit einer eisernen Kette verschlossen, die leise rasselte, als Murdo dagegen stieß.
Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, vermochte er einige Gegenstände in dem Zelt zu erkennen: Stoffballen, mehrere Krüge, Schüsseln und Schatullen. Er begann, jede Truhe, Kiste und Schatulle abzutasten, und schließlich fand er eine, die nicht verschlossen war und griff hinein.
Seine Finger schlossen sich um eine beachtliche Menge Münzen. Er nahm eine Handvoll davon heraus und hielt sie sich vors Gesicht. Es handelte sich um byzantinische Goldmünzen; die Truhe quoll förmlich davon über.
Schließlich begann er angestrengt, nach der heiligen Lanze zu suchen. Die Seldschuken hatten ihre Beute in aller Eile in dieses Zelt gebracht; es herrschte ein einziges Durcheinander. Stolpernd und kriechend suchte sich Murdo einen Weg zwischen den Truhen und Kisten hindurch und betete, daß er die Lanze erkennen würde, wenn er sie fand. Sein Ziel war ein willkürlich zusammengeworfener Haufen an der Rückwand des Zeltes: die Beute, welche die Türken den Kreuzfahrern vor Jaffa entrissen hatten. Neue Hoffnung keimte in ihm auf, als er den Haufen erreichte und damit begann, Langschwerter und Plattenharnische herauszuziehen.
Daß plötzlich Stimmen vor dem Zelt ertönten, überraschte Mur-do.
Seine Gedanken überschlugen sich. Rasch duckte er sich nieder, blickte zum Eingang und sah vor dem Zelt zwei dunkle Gestalten zu Pferd. Murdo quetschte sich näher an die Rückwand heran und hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, daß sie nicht hereinkommen würden.
Doch während er sich immer weiter vom Eingang zurückzog, stieg einer der Männer aus dem Sattel, trat ins Zelt, griff sich eine Kiste und eilte wieder hinaus.
Murdo verließ der Mut. Die Türken hatten damit begonnen, den Schatz zu verladen, um ihn abzutransportieren. Verzweifelt suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit, während er immer weiter zurückwich.
Hintereinander betraten vier weitere Krieger das Zelt und trugen Kisten und Truhen hinaus zu den wartenden Packpferden. Während die Männer die Kisten auf den Traggestellen befestigten, herrschte im Zelt kurz Ruhe.
Murdo erkannte, was dies bedeutete: Von den ungefähr zwanzig Männern, die den Schatz bewachten, waren nur sechs abgestellt worden, ihn zu verladen. Der Menge der Kisten und Truhen nach zu urteilen, würde es geraume Zeit dauern, bis sie damit fertig sein würden. Murdo faßte wieder Mut; ihm blieb noch immer genug Zeit zum Suchen.
Die Krieger kehrten zurück und holten weitere Truhen. Murdo zählte mit, und als der sechste das Zelt wieder verlassen hatte, setzte er sich in Bewegung. Er tastete im Dunkeln seine Umgebung ab und griff nach verschiedenen Gegenständen - Becher und Schüsseln, gefüllte Geldbeutel, Seidenkleider, Banner, kleine, mit Edelsteinen besetzte Duftkästchen -; doch jeden einzelnen von ihnen stellte er sofort wieder ab. Gleichzeitig lauschte er die ganze Zeit über auf die Türken, die sich vor dem Zelt unterhielten, und versuchte, am Klang ihrer Stimmen zu erkennen, wann sie wieder ins Zelt zurückkehren würden.
Als die Krieger zum drittenmal das Zelt betraten, hörte Murdo ihre Schritte rechtzeitig genug, um sich verstecken zu können; doch beim viertenmal hatte ihn nichts vorher gewarnt. Er war gerade dabei, sich auf den Knien zur Mitte des Zelts vorzutasten, als ein Türke im Eingang erschien.
Murdo erstarrte und hoffte, daß der Mann ihn im Dunkeln nicht sehen würde. Der Krieger bückte sich, hob eine Kiste hoch und ging wieder hinaus. Rasch ließ sich Murdo hinter einer Truhe zu Boden gleiten, um sich zu verstecken, bevor der nächste Mann hereinkam. Während er sich fallen ließ, stieß er mit dem Ellbogen gegen einen langen dünnen Gegenstand, der auf der Truhe neben ihm lag. Das Ding rutschte herunter und schlug mit dumpfem Knall auf eine kleine Kiste. Murdos Hand schoß vor und packte den Stab, bevor er noch mehr Lärm verursachen konnte.
Der dünne Gegenstand war in ein leuchtend weißes Tuch gewickelt und fühlte sich kalt und hart an. Sein Gewicht war so vertraut, daß Murdo wußte, daß er die heilige Lanze gefunden hatte, auch ohne daß er sie auspackte. Im selben Augenblick hörten die Türken vor dem Zelt auf zu sprechen. Murdos Herz setzte einen Schlag lang aus. Hatten sie ihn gehört?