»Wir mahnen euch, großzügig zu sein«, sagte Alexios, »denn so wie ihr richtet, sollt auch ihr gerichtet werden.«

»So soll es sein«, erwiderte Gottfried. »Des weiteren stehen wir bereit, den Treueid zu unterzeichnen - wann immer und wo immer Ihr wünscht.«

»So soll es sein«, echote der Kaiser. »Wir wünschen, daß er hier und jetzt unterzeichnet werde.« Er streckte die Hand nach Dalas-senos aus, der ihm daraufhin das Pergament gab, welches Alexios entfaltete. »Kommt her«, befahl er den Brüdern; sie stiegen vom Pferd und traten vor ihn.

»Lest es vor«, befahl der Kaiser.

Widerwillig las Gottfried den Eid und versprach, Alexios die Treue zu halten und seine oberste Autorität in allen Fragen anzuerkennen, die das Reich und seine Bewohner betrafen. Des weiteren schwor er, alles ehemalige Eigentum des Reiches - seien es Länder, Städte oder heilige Reliquien -, in deren Besitz die Kreuzfahrer während der Pilgerfahrt gelangen würden, der Obhut des Kaisers zu übergeben.

Nachdem Gottfried den Eid vorgelesen hatte, holte Dalassenos einen Federkiel und ein Faß mit roter Tinte hervor und gab beides dem Herzog.

Mit finsterem Blick tauchte Gottfried den Federkiel ins Tintenfaß und schrieb trotzig seinen Namen. Dann reichte er Dokument und Feder seinem Bruder und sagte: »Setz deinen Namen unter meinen, lieber Bruder, und wir wollen uns daran erinnern, daß wir hierhergekommen sind, um die Ungläubigen zu bekämpfen und nicht unsere Freunde.«

Beim letzten Wort schnaufte Balduin verächtlich, aber er unterschrieb und gab anschließend dem Kaiser das Dokument voller Zorn zurück. Alexios begutachtete die Unterschriften; dann reichte er das Dokument dem Drungarios zur Aufbewahrung.

»Der versprochene Proviant wird euch sofort zukommen«, informierte der Kaiser die beiden Fürsten. »In wenigen Tagen erwarten wir die Ankunft von Fürst Bohemund von Tarent, der ebenfalls den Treueid unterzeichnen wird. Wenn diese Formalität erledigt ist, werden wir uns alle gemeinsam treffen, um die Einzelheiten der Verschiffung eurer Männer, Pferde und Versorgungsgüter über den Bosporus zu besprechen.« Er hielt kurz inne, um den beiden Gelegenheit zu geben, die Bedeutung seiner Worte zu begreifen; dann fahr er fort: »Da ihr nicht mehr lange in Konstantinopel weilen werdet, wünschen Wir, daß ihr Gelegenheit bekommt, die Schönheit und die Schätze der Stadt zu bewundern. Daher haben Wir angeordnet, daß man euch und eure Männer zu den schönsten Orten führen soll.«

»Ihr seid sehr freundlich, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Gottfried und akzeptierte die Einladung als Friedensangebot. »Nichts würde uns mehr gefallen.«

Balduin runzelte die Stirn, doch dieses eine Mal hielt er den Mund.

»Damit ihr in einer solch großen und unbekannten Stadt nicht zu Schaden kommt, werden Wir euch eine Eskorte Unserer eigenen Leibwache als Führer zur Verfügung stellen. So braucht ihr nicht zu befürchten, euch zu verirren.«

»Ihr seid sehr rücksichtsvoll«, sagte Gottfried. »Wir danken Euch und sind begierig darauf, Euren weisen Rat zu hören.«

Der Herzog verneigte sich, woraufhin der Kaiser ihnen Lebewohl wünschte und den Drungarios tön poimön, zwei Strategen und fünfzig Waräger abstellte, um die Auszahlung der Entschädigungen zu beaufsichtigen und die Edelleute anschließend durch die Stadt zu führen. Dann kehrte er in den Blachernenpalast zurück, um sich auf die Begegnung mit dem streitsüchtigen Sohn seines alten Feindes vorzubereiten: Bohemund von Tarent.

Die Siedlung in Inbhir Ness war weit größer, als Murdo erwartet hatte, und weit schäbiger. Dicht aneinander gedrängte Hütten mit steilen Rieddächern neigten sich über schmale Gehwege, welche die

Stadt in alle Richtungen durchzogen wie das Netz einer Spinne. Rauch von unzähligen Herdfeuern hing über dem Ort, so daß Inbhir Ness selbst bei strahlendstem Sonnenschein düster und wenig verlockend wirkte.

Die Flußmündung selbst war breit genug, doch nur eine Handvoll kleiner Boote und drei oder vier Schiffe lagen an ihren schlammigen Ufern. Abgesehen von dem Kloster auf den Hügeln hoch über der Förde wirkte der Ort alt, heruntergekommen und verlassen, was Murdo überraschte. Selbst im verschlafenen Kirkjuvagr herrschte mehr Geschäftigkeit als hier. Als er diesen Gedanken Peder gegenüber erwähnte, erwiderte der alte Seemann schlicht, er solle abwarten.

Sie fuhren durch einen gewundenen, engen Kanal in eine weitere, kleinere Förde, die bis weit ins Binnenland hineinreichte, und in einen kleinen Hafen, in dem es von Gefährten in allen möglichen Größen nur so wimmelte, daß selbst Peder Mühe hatte, das Boot ans Ufer zu bringen.

»Anlegen!« rief Murdo vom Bug her. »Anlegen!«

»O ja«, antwortete Peder. »Das werden wir auch - wenn ich denn einen geeigneten Platz finde.«

Die Reise war gut verlaufen. Sie hatten einen guten Wind gehabt, und die See war ruhig gewesen. Doch nach drei Tagen und zwei Nächten auf See war Murdo nicht mehr in der Stimmung zu warten; ihm war egal, wo sie anlegten, nur anlegen sollten sie. »Dort! Siehst du das?« Er deutete auf eine schmale, aber stabil aussehende Mole. »Leg dort an!«

Peder blickte in die angegebene Richtung und runzelte die Stirn, aber er tat, wie ihm geheißen und wendete das Boot. »Hol das Segel ein«, rief er, »und geh an die Riemen. Wir werden das letzte Stück rudern.«

Murdo machte sich sofort an die Arbeit, und kurz darauf glitten sie zwischen den größeren Schiffen hindurch Richtung Land. Das Boot war kaum an die Erdmole gestoßen, als Murdo bereits aufs Trockene sprang. Peder warf ihm das Tau zu, das Murdo an einem

für diesen Zweck bereitstehenden Baumstumpf befestigte.

»Renn nur los, Murdo, und sieh zu, daß du Orins Schiff findest«, sagte der alte Seemann und kletterte an Land. »Ich werde beim Boot bleiben.«

Murdo zögerte nicht, sondern rannte am Ufer entlang. Er umrundete die Bucht, musterte die Schiffe und versuchte, sich zu entscheiden, welches davon Herrn Orin gehören könnte. Schließlich erreichte er einen großen Platz, wo Hafen und Siedlung aufeinander trafen. Hierher wurden die Wagen und Karren der Händler bestellt, um ihre Waren abzuliefern, und hier trafen sich die Seeleute zum Reden und Trinken.

Ein Gasthof - der erste, den Murdo je gesehen hatte - erhob sich am Rand des schlammigen Platzes. Es handelte sich um ein niedriges, dunkles, verschachteltes Haus mit einem Berg von Fässern und Krügen vor dem Eingang. Als er den Gasthof erreichte, blieb Mur-do stehen und atmete den köstlichen Duft gebratenen Fleisches ein, der aus der weit geöffneten Tür hinauswehte. Bei dem Geruch lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und sein ausgehungerter Magen begann laut zu knurren. Während er den Blick noch immer über den Platz schweifen ließ, trat ein Mann mit Lederschürze aus dem Gasthof hinter ihm und griff nach einem der Krüge auf dem Fässerberg, nur wenige Schritte von Murdo entfernt.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Murdo in seinem freundlichsten Tonfall. Der Mann warf ihm einen kurzen Blick zu und machte sich wieder auf den Weg zurück in den Gasthof. »Ich suche das Schiff von Orin Breitfuß. Könnt Ihr mir sagen, welches das ist?«

Der Mann grunzte, drehte sich aber nicht um. »Bin ich jetzt schon der Hafenmeister?« knurrte er. »Mach, daß du wegkommst!«

Murdo wunderte sich über die unerklärliche Grobheit des Mannes, doch er dachte nicht länger darüber nach, sondern machte sich auf die Suche nach besagtem Hafenmeister. Er setzte seinen Weg um den Platz herum fort, musterte jeden, der an ihm vorüberkam, doch fand er niemanden, der wie der Meister dieses Hafens und seiner Geschäfte aussah.

Insgesamt, schätzte er, befanden sich hundert oder mehr Männer auf dem Platz. Einige hatten sich zu dritt oder zu viert zusammengeschlossen, manche auch in größeren Gruppen, doch die meisten gingen alleine ihren Geschäften nach. Doch ob sie sich nun unterhielten, miteinander tranken oder Gott weiß was machten, sie waren allesamt so mit sich selbst beschäftigt, daß sie Murdo keinerlei Aufmerksamkeit schenkten, der scheinbar untätig über den Platz schlenderte, aber auf jedes Wort hörte, das gesprochen wurde, in der Hoffnung, anhand des Akzents die Nordmänner zu finden.

Als er wieder das Ufer erreichte - das an dieser Stelle mit Holzbohlen gesichert war, damit auch größere Schiffe anlegen konnten -, entdeckte Murdo eine Gruppe von sieben großen Männer, die sich laut unterhielten und Bier aus einem großen Krug tranken. Hinter ihnen waren acht weitere damit beschäftigt, einen kleinen Berg von Kisten und Ballen auf ein schmales Langschiff zu laden. Der Kiel des Schiffes lief in einen hohen Bug und in ein ebenso hohes Heck aus, und der Bug war zu einem Drachenkopf mit roten Augen und leuchtendweißen Zähnen geformt.

Die arbeitenden und trinkenden Männer waren in Leder und Wolle gekleidet, und sie hatten die Haare hinter dem Kopf zusammengebunden. Murdo verlangsamte seinen Schritt, um sie besser hören zu können, und der singende Akzent bestätigte, was er bereits vermutet hatte: Nordmänner, ohne Zweifel.

Er blieb einen Augenblick lang stehen, um sich zu überlegen, wie er sich ihnen am besten nähern sollte, als ihn einer der Männer bemerkte - ein muskulöser, barbrüstiger Seemann mit langem Zopf. »Du da!« knurrte der Mann. »Findest du hier vielleicht irgend etwas komisch?«

Der Akzent des Mannes war so ausgeprägt, daß Murdo die Worte zwar verstand, doch erst einen Augenblick später wurde ihm bewußt, was sie bedeuteten. »Verzeihung?« murmelte er.

»Bist du taub oder was?« fragte ein anderer, und alle drehten sich zu Murdo um.

»Bitte«, sagte Murdo, nahm all seinen Mut zusammen und trat näher. »Ich suche nach dem Schiff von Orin Breitfaß. Könntet ihr mir vielleicht sagen, wo es liegt?«

Die Männer blickten einander an, schienen jedoch nicht antworten zu wollen. Murdo wollte die Frage gerade wiederholen, als hinter ihm eine dröhnende Stimme erscholl. »Wer fragt nach Orin Breitfuß?«

»Ich«, erwiderte Murdo rasch. »Ich selbst.«

Er drehte sich um und sah einen stämmigen, stiernackigen Nordmann mit Armen so dick wie Schinken, die aus einer ärmellosen Tunika aus ungefärbtem Leder ragten. Seine rostfarbenen Hosen bestanden aus Segeltuch; die Beine der Hose hatte er bis zum Rand der hohen Stiefel hochgekrempelt. Die Stiefel wiederum waren aus Schweinsleder genäht, das allerdings kaum bearbeitet worden war, denn man konnte noch immer die Borsten des Tieres erkennen. Eine große Börse hing an einem breiten Gürtel aus dem gleichen Material. Der Bart des Mannes war lang und dunkel, und wie die meisten Seefahrer, so hatte auch er das lange Haar zurückgebunden. Eine breite Silberkette zierte seinen Hals und ein schwerer Goldring den Zeigefinger seiner linken Hand.

Die Augen, die Murdo betrachteten, waren klar und scharf. Gute, gerade Zähne funkelten weiß, als der Neuankömmling zu wissen verlangte: »Was hast du mit Breitfuß zu schaffen?«

Um nicht zuviel zu verraten, antwortete Murdo vorsichtig: »Man sagt, Herr Orin segele nach Jerusalem.«

»O ja, er geht mit dem König auf Pilgerfahrt.« Der Mann musterte Murdo von Kopf bis Fuß und das auf eine Art, als würde er den Wert eines Zugochsen abschätzen und sei mit dem Angebot nicht zufrieden. »Was geht dich das an, Junge?«

Der Mann war offen, entschied Murdo, aber nicht boshaft. »Ich habe ebenfalls geschworen, ins Heilige Land zu ziehen«, verkündete er kühn. »Ich bin gekommen, um ihn um einen Platz auf seinem Schiff zu bitten. Ich kenne mich mit Schiffen aus, und ich kann arbeiten. Außerdem besitze ich auch ein wenig Silber; also könnte ich für die Fahrt auch bezahlen.«

»Was du nicht alles kannst!« erwiderte der Mann, dessen Laune sich ein wenig gebessert zu haben schien.

»Ich wäre Euch wirklich dankbar, wenn Ihr mir sagen könntet, wo ich Herrn Orin finden kann - oder zumindest sein Schiff.«

Der dunkelhaarige Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und er war ungewöhnlich groß und seine Schultern breit und kräftig. »Du suchst Herrn Orin? Nun, dann bist du zum richtigen Ort gekommen«, erklärte er, »aber du kommst zu spät. Er ist vor zwei Tagen mit der Morgenflut hinausgesegelt.«

Murdo verließ der Mut. Plötzlich kam ihm alles sinnlos vor. Er dankte dem Mann, drehte sich um und machte sich wieder auf den Weg zurück zur Mole, wo Peder auf ihn wartete.

»Pilger!« rief der Mann ihm hinterher. »Wieviel Silber?«

Murdo drehte sich langsam um. Er war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Was?«

»Du hast doch Silber«, sagte der Nordmann. »Wieviel?«

Unsicher, was er darauf antworten sollte, zögerte Murdo einen Augenblick lang. Der Seemann blickte ihn listig an und wartete auf eine Antwort. »Zehn - zehn Mark.«

»Bah!« sagte der Mann und winkte verächtlich ab. »Geh weg, du Lügner!«

»Nein, wartet!« protestierte Murdo. »Es ist wahr. Ich habe zehn Mark.«

»Laß sie mich sehen«, forderte ihn der Nordmann auf.

Wider besseres Wissen griff Murdo in sein Hemd und zog eine kleine Lederbörse hervor. Er wollte sie gerade öffnen, als der Nordmann sie ihm aus der Hand riß. »Laßt das!« schrie Murdo. »Gebt sie sofort wieder zurück!«

»Wenn wirklich zehn Mark da drin sind«, sagte der Seemann, »dann hast du nichts zu befürchten. Sind es aber mehr oder weniger, dann werde ich das Geld behalten und dir Lügner die Zunge herausschneiden.«

Innerlich vor Zorn kochend beobachtete Murdo, wie der Mann die Börse öffnete und den Inhalt in die Hand schüttete; dann zählte er die Münzen Stück für Stück in die Börse zurück.

»Zehn Mark«, bestätigte der Nordmann.

»Ich bin kein Lügner«, erklärte Murdo. »Und jetzt, gebt sie mir zurück.«

»Ich dachte, du wolltest nach Jerusalem«, sagte der Seemann, warf die Börse in die Höhe und fing sie wieder auf. »Zehn Mark genügen für die Fahrt.«

Wütend darüber, daß man ihn beraubt hatte, und angewidert von der Frechheit des Diebes erhob Murdo laut Protest.

»Bleib oder geh. Es ist deine Entscheidung, aber du mußt sie rasch treffen«, sagte der Nordmann. »Die Skidbladnir ist abfahrbereit, und die Gezeiten wechseln bald.«

Murdo betrachtete das Schiff: Es war ein gutes Schiff von der Art, wofür die Nordmänner berühmt waren - schlank und niedrig, leicht zu steuern und schnell; dreißig Krieger konnten darauf unterkommen. Von seinem Standpunkt aus konnte Murdo erkennen, daß viele Ruderbänke entfernt worden waren, um zusätzliche Ladung und eine mit Stoff überdachte Plattform hinter dem Mast unterbringen zu können.

Murdo traf eine Entscheidung. »Ich werde mit Euch gehen«, antwortete er. »Aber ich werde Euch nur fünf Mark geben.«

»Unmöglich«, erwiderte der Seemann. »Sieben, oder du bleibst hier.«

»Sechs«, konterte Murdo selbstbewußt.

Der Nordmann zögerte einen Augenblick lang und wog die Börse in seiner Hand.

»Die Flut zieht sich zurück, und Ihr legt ab«, erklärte Murdo. »Das ist das letzte Silber, das Ihr bis Jerusalem sehen werdet.«

»Du bist doch nicht so dumm, wie ich geglaubt habe«, sagte der Seemann und streckte die Hand aus. »Sechs Mark.«

Murdo ergriff die angebotene Hand. »Drei Mark jetzt und drei, wenn wir Jerusalem erreichen.«

»Abgemacht!« bestätigte der Nordmann. Er zählte drei Mark ab und warf die Börse zu Murdo zurück.

»Ich muß noch meine Sachen holen«, sagte Murdo. Rasch ließ er die Börse wieder im Hemd verschwinden und machte sich auf den Weg das Ufer hinunter.

»Einen Augenblick noch!« rief ihn der Seemann zurück. »Du wirst auf meinem Schiff segeln, und deshalb müssen wir vorher einiges klarstellen.«

»Also gut«, stimmte Murdo zu.

»Hör mir gut zu: Ich bin König Magnus' Mann, und ich werde mich seiner Flotte anschließen, sobald wir den Hafen verlassen haben. Wenn du mir Ärger bereitest, wird es mir ein Vergnügen sein, dich von oben bis unten aufzuschlitzen«, erklärte der Seemann und klopfte auf das Heft des Messers in seinem Gürtel. »Halt dich von allem Ärger fern, und du wirst in mir einen äußerst angenehmen Gefährten finden.« Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und fuhr fort: »Das ist es, was ich dir verspreche. Was versprichst du mir?«

»Ihr werdet niemals Grund haben, die Stimme gegen mich zu erheben, geschweige denn Eure Klinge«, erklärte Murdo ernst. »Ich werde Euch keinerlei Schwierigkeiten bereiten, und ich werde tun, was Ihr mir sagt. Das verspreche ich Euch.«

»Du bist schon in Ordnung, Junge!« Plötzlich grinste der riesige Mann, und Murdo fiel auf, daß dem Nordmann ein Schneidezahn fehlte und daß eine dünne, fast unsichtbare Narbe Lippen und Kinn durchschnitt, was seinem Lächeln einen seltsamen, doch freundlichen Ausdruck verlieh. Murdo erwiderte das Lächeln, und zum erstenmal seit vielen Tagen fühlte er sich wieder ein wenig besser.

»Ich bin Jon Reißzahn«, stellte sich der große Seemann vor und schlug Murdo mit einer riesigen Hand auf den Rücken, »und ich werde über dich wachen wie Odins Wolf.«

»Auch wenn Ihr mich Tag und Nacht beobachtet, werdet Ihr nichts finden, was Ihr nicht erwarten würdet«, erwiderte Murdo. »Ich beabsichtige, mich nützlich zu machen.«

»Dann fang gleich damit an«, sagte Jon Reißzahn, drehte sich zu den Männern am Ufer um und bellte Befehle. Dann wandte er sich

wieder an Murdo und forderte ihn auf: »Nun, sieh zu, daß du fertig wirst, Junge! Die Flut zieht sich zurück, und wir fahren mit ihr.«

Murdo rannte am Ufer entlang zu Peder, der auf dem Baumstumpf saß und ein Tau flocht. Er grüßte den alten Seemann und erklärte eilig: »Der König ist bereits abgesegelt, aber einer seiner Männer liegt noch immer im Hafen. Das Schiff heißt Skidbladnir, und der Kapitän hat zugestimmt, mich mitzunehmen.«

Peder nickte. »Das ist ein guter Name für ein Schiff. Wann segelt ihr?«

»Mit der Flut«, antwortete Murdo.

»Dann heißt es jetzt wohl Lebewohl«, erwiderte Peder und stand auf. Er kletterte die Mole hinunter, stieg ins Boot und holte das Bündel, das Murdo zurückgelassen hatte. »Hier«, sagte er und reichte Murdo das Bündel hoch. »Ich werde auch mit der Flut hinausfahren. Stoßt mich ab, Herr Murdo, dann bin ich weg.«

Murdo löste das Tau vom Stumpf, rollte es rasch zusammen und warf es ins Boot. Dann stieg er die Mole hinunter und drückte mit der Schulter gegen den Bug, während Peder sich an die Riemen setzte. Murdo rief ein letztes Lebewohl und schaute dem alten Seemann zu, wie dieser das Boot mit kräftigen Ruderschlägen in Fahrt brachte und wendete.

»Sag meiner Mutter, daß die Reise gut begonnen hat!« rief ihm Murdo hinterher. »Paß gut auf sie auf, Peder! Sieh zu, daß sie sich nicht zuviel zumutet!«

»O ja!« versprach der alte Seemann. »Keine Angst! Achte du nur auf dich selbst, mein Junge!«

»Das werde ich!« antwortete Murdo. Er wollte den Blick nicht von Peder und dem Boot abwenden, bis beide außer Sichtweite waren.

Ein lauter, schriller Pfiff aus der Richtung von Jon Reißzahns Schiff zwang ihn jedoch, sich von dem Anblick loszureißen, und so nahm er sein Bündel und rannte zu der wartenden Skidbladnir. Vier Ruderer saßen in dem Langboot an langen Riemen und stießen vom Ufer ab, noch während Murdo über die Reling kletterte.

Er nahm seinen Platz auf der Ruderbank ein und löste einen der

Ruderer ab. Rasch verfiel er in einen gleichmäßigen Rhythmus und beobachtete, wie Inbhir Ness langsam kleiner wurde, während das Schiff in die Flußmündung hinausglitt.

Einige Zeit später sah Murdo Peder erneut, als das Schiff das tiefere Wasser der Förde erreichte. Murdo rief über das Wasser, und er und der alte Seemann tauschten ein letztes Lebewohl aus, als das größere das kleinere Schiff überholte. Kurz daraufwendete die Skid-bladnir und segelte Richtung Osten die Küste entlang, während das Orkney-Boot einen nördlichen Kurs einschlug. Ein gelbbraunes Segel am Horizont war das letzte, was Murdo von dem kleinen Boot und seinem einsamen Insassen sah. Dann drehte er sich zu dem drachenförmigen Bug um und blickte aufs Meer hinaus, das ihn in unbekannte Länder tragen würde - der erste neue Anblick von vielen, die ihn in den nächsten Tagen erwarteten.

ohemund, hoch zu Roß auf seinem prächtigen graubraunen Hengst, hob die Hand und deutete auf das riesige Lager und die mächtigen Mauern, die darüber aufragten. »Schau, Tankred! So erscheint die Stadt auch in meiner Erinnerung.« Hinter den Mauern waren drei der sieben berühmten Hügel von Konstantinopel zu sehen, auf denen weiße Paläste im Licht der Mittagssonne funkelten. »Genau wie beim letztenmal, als ich sie gesehen habe.«

Tankred zügelte seine braune Stute und blickte auf die jubelnden Männer, die freudestrahlend auf die imposanten Mauern von Konstantinopel zueilten. »Wenn ich mich recht entsinne, war die

Belagerung deines Vaters nicht von Erfolg gekrönt«, erwiderte er trok-ken und mit lauter Stimme, um die Jubelrufe der Soldaten zu übertönen.

»Leider, nein. Er ist mit den elenden Venetianern in Streit geraten, die glauben, ihnen würde das Meer gehören. Zwar hat er sie in die Flucht geschlagen, doch das hat ihn seine halbe Flotte gekostet. Konstantinopel hat er dann im Frühling erreicht.« Bohemund hielt inne und dachte an die alten Zeiten zurück.

»Am Ende ist er dem Fieber erlegen, stimmt das?«

Bohemund nickte, ohne den Blick von den schimmernden Hügeln abzuwenden. »Im Lager ist das Fleckfieber ausgebrochen. Ich bin auch krank geworden und nach Hause zurückgekehrt, um mich zu erholen. Am Ende war der Herzog gezwungen, die Belagerung abzubrechen. Er ist kurz darauf gestorben.«

»Eine Schande«, bemerkte Tankred. »Besonders, da es so viel zu gewinnen gab.«

»Ja«, stimmte ihm Bohemund zu, »und jetzt bin ich zurückgekehrt, um mir zu holen, was er sich nicht holen konnte. Komm, laß uns sehen, was dieser Kaiser Alexios für ein Mann ist.«

Gottfried und Balduin ritten den Neuankömmlingen entgegen, um sie zu begrüßen und führten sie zu den Zelten, wo man ein kleines Festmahl vorbereitet und drei Fässer Wein angeschlagen hatte, damit die Reisenden den Staub der byzantinischen Hügel aus den Kehlen spülen konnten. Die Fürsten und Grafen und ihre Edelleute aßen und tranken und prahlten mit Geschichten von ihren Reisen. Die beiden gräflichen Brüder unterhielten ihre edlen Gäste auf die bestmögliche Art und übertrafen sich gegenseitig mit Erzählungen von den Wundern, die sie in den vergangenen zwei Tagen in der Stadt gesehen hatten.

»Ihr habt ja keine Vorstellung von dem Reichtum, der in dieser Stadt angehäuft ist«, versicherte ihnen Balduin. »Es ist weit mehr, als ihr euch vorstellen könnt.«

»Das ist wahr«, bestätigte Gottfried, »und wenn Konstantinopels Reichtümer euren Appetit wecken, dann denkt nur einmal daran,

was uns in Jerusalem erwartet.«

»Ich vermute, ihr habt Alexios bereits kennengelernt?« fragte Bo-hemund. O ja, erwiderten die Brüder voller Leidenschaft, sie hätten den Kaiser getroffen - zweimal: einmal in seinem Palast und einmal hier in eben diesem Lager. Sie kannten den Kaiser gut und achteten ihn sehr. »Erzählt mir von ihm«, forderte sie der Fürst von Tarent auf.

»Er ist ein hinterhältiger und verschlagener Hund«, erklärte Balduin im krassen Gegensatz zu den ersten Äußerungen seines Bruders. »Sein Reichtum ist unermeßlich, und doch verhält er sich selbst im Vergleich dazu wie ein armseliger Bettler. Er ist ein kleiner, schweinsäugiger Mann mit einer Haut wie ein Nubier.«

»Das mag ja sein, wie es will, aber er hat zugestimmt, uns mit Proviant zu versorgen«, stellte Gottfried wohlwollend klar. »Und das ist bei - wieviel? hunderttausend Mann und vierzigtausend Pferde? -, das ist kein leichtes Unterfangen. Er verlangt nichts dafür als Gegenleistung, außer daß man einen Treueid unterzeichnet, ihn als Kaiser anerkennt und zustimmt, alle eroberten Ländereien dem Reich zu übergeben.«

»Einen Treueid soll man unterzeichnen!« heulte Bohemund. »Bei meiner Seele, das werde ich nicht tun!«

Der Herzog zuckte mit den Schultern. »Das ist natürlich Eure Sache, Bohemund, mein lieber Freund. Aber die Vorteile, die man dadurch erhält, sind nicht unbeträchtlich.«

»Habt ihr beide ihn unterschrieben? Diesen Treueid, meine ich?«

»Das haben wir«, antwortete Gottfried, »und das bereitwillig.«

Balduin runzelte die Stirn, schwieg aber. Es gab keinen Grund, die unglückliche Rauferei auf dem Marktplatz zu erwähnen und den anschließenden Verlust von sechsundfünfzig Männern.

»Die Griechen sind berüchtigt für ihre verräterische Gesinnung«, bemerkte Bohemund. »Sicherlich steckt irgend etwas dahinter. Ich gehe lieber zum Teufel, bevor ich diesem schwarzen Hund von Kaiser den Treueid leiste.«

Gottfried funkelte Bohemund an, als wäre er es, der den Treueid verlangen würde, und nicht der Kaiser. Bohemund erwiderte den Blick.

»Es ist so heiß, und dabei haben wir erst April«, beschwerte sich Tankred und leerte seinen Becher. Dann streckte er die Hand mit dem Becher aus und befahl dem Mundschenk, ihn wieder zu füllen und dafür zu sorgen, daß der Krug nicht leer wurde. »Zumindest«, sagte er und hob den Becher an die Lippen, »ist der Wein des Kaisers besser als sein Ruf.«

Balduin und einige der Edelleute lachten und vertrieben so die Spannung, die in der Luft gelegen hatte.

»Die Falschheit der Griechen ist natürlich weithin bekannt«, schnaufte Gottfried gereizt. »Aber da wir höchstens noch ein, zwei Tage in Konstantinopel bleiben werden, sehe ich keinen Sinn darin, den Eid nicht zu unterzeichnen. Immerhin ist er der Kaiser.«

»Wir sind gerade erst angekommen«, erklärte Bohemund in herrischem Tonfall. »Ich habe nicht die Absicht, so bald wieder loszuziehen. Die Männer sind erschöpft, und die Pferde müssen sich ausruhen. Seit Avlona sind wir ohne Unterlaß marschiert. Es wird länger als nur ein, zwei Tage dauern, bis wir Weiterreisen können.«

»Der Kaiser entwirft in eben diesem Augenblick einen Plan, wie er uns helfen kann, die Armeen über den Bosporus zu bringen. Auf der anderen Seite, bei Pelekanon, richtet man bereits ein Lager für uns ein«, informierte Gottfried die Neuankömmlinge und freute sich, als Bohemund unwillkürlich zusammenzuckte. »Unserer beider Armeen warten nun schon seit Wochen, und unsere Männer sind mehr als bereit, sich ins Heilige Land aufzumachen.«

»Vielleicht«, schlug Balduin vor, »könntet ihr den Kaiser dazu überreden, euch bleiben zu lassen, bis Graf Raimund und Herzog Robert angekommen sind.«

»Ich wundere mich, daß sie nicht schon längst hier sind«, bemerkte Tankred. »Was zum Teufel kann sie aufgehalten haben?«

»Ah«, antwortete Gottfried, »wie ich gehört habe, haben sie auf Bitte des Papstes eine Weile in Rom verbracht. Offenbar verbietet sein Gesundheitszustand Urban, die Pilgerfahrt selbst zu unternehmen, obwohl er sie uns mit so glühenden Worten gepredigt hat. Also hat er einen Legaten ernannt, der den Kreuzzug an seiner Statt führen soll.«

Bohemund versteifte sich. »Kennen wir diesen Legaten?« fragte er mit leicht angespannt klingender Stimme.

»Nein«, gestand Gottfried. »Aber es heißt, er sei ein Kirchenmann -ein Bischof, glaube ich -, ehrenvoll und von allerbestem Ruf.«

»Nun«, erklärte Bohemund und entspannte sich wieder ein wenig, »solange er seine ehrenvolle Nase nicht in Angelegenheiten steckt, die ihn nichts angehen, habe ich nichts dagegen.« Er hob den Becher und rief: »Gott möge uns Erfolg bescheren, meine Herren!«

»Gott möge uns Erfolg bescheren!« erwiderten die versammelten Edelleute.

Dann tranken alle, und das Fest nahm fröhlich seinen Lauf - so fröhlich sogar, daß niemand etwas dagegen einzuwenden hatte, als ein Bote erschien und das sofortige Erscheinen Bohemunds vor dem Kaiser verlangte. Der Fürst gestattete, daß man ihn nur mit Tankred und acht seiner engsten Vertrauten an der Seite in den Bla-chernenpalast brachte.

Alexios empfing den Sohn seines ehemaligen Feindes im Salomonsaal des Blachernenpalastes, aus dem er vorher alle beweglichen Schätze und Möbelstücke hatte entfernen lassen. Was in der Eile nicht rausgeschafft werden konnte, war hinter den geschmackvollen, doch nicht übertrieben verzierten Wandteppichen aus Damast verborgen worden. Alexios wünschte, daß der Raum imposant, doch auch ein wenig asketisch wirkte, um die berüchtigte Gier seines Besuchers nicht zu wecken.

Für den Empfang legte der Kaiser sein prächtigstes Staatsgewand an, doch fügte er dem kaiserlichen Purpur noch Brustharnisch, Schwert, Dolch und Panzerhandschuhe hinzu: nicht die polierte Prunkrüstung, die er bei Feierlichkeiten trug, sondern die zerbeulte Kampfrüstung, mit der er in die Schlacht zu reiten pflegte. Ale-xios erinnerte sich und fürchtete Bohemunds außergewöhnliche Körpergröße, und er beabsichtigte, diesen Nachteil dadurch auszugleichen, daß er sich als Mann der Tat präsentierte. Aus demselben Grund befahl er auch, daß eine volle Abteilung Exkubiten in Kampfrüstungen anwesend sein sollte, die sie auf früheren Feldzügen getragen hatten. Auf diese Art und Weise wollte er den Gast daran erinnern, daß er als Kaiser auch Oberbefehlshaber einer Armee war und daß er durchaus Erfahrungen im Krieg gesammelt hatte.

So kam es, daß, als die beiden Neuankömmlinge und ihre Vasallen den Saal betraten, sie einen Kaiser vorfanden, der vor seinem Thron stand und den Eindruck erweckte, als wolle er sich im nächsten Augenblick auf sein Pferd schwingen und in die Schlacht reiten. Sein Verhalten ebenso wie seine Umgebung sprachen für einen Herrscher, der sich seiner Fähigkeiten durchaus bewußt war, seine Gefühle im Zaum halten konnte und wahre Macht ausübte.

Bohemund jedoch schien für Alexios' Schau unempfänglich zu sein. Stets der arrogante Normannenfürst, schlenderte er über den Marmorboden, stellte sich vor den Thron und blickte Gottes Stellvertreter auf Erden unverwandt in die Augen.

»So, Bohemund, du bist also zurückgekehrt«, sagte der Kaiser, unfähig, ein heuchlerisches Willkommen über die Lippen zu bringen. »Du hast dir ja schon immer gewünscht, in den Palast hineinzukommen; nach so langer Zeit scheint es, als hättest du endlich dein Ziel erreicht - anders als bei deinem letzten Besuch.«

Bohemunds Lächeln war breit und echt. »Seid gegrüßt, Alexios! Gott ist Euch wohlgesonnen, hoffe ich.« Er schaute sich um und bewunderte die üppige Architektur; selbst all seiner Schätze beraubt, war der Salomonsaal weit prächtiger als jede königliche Halle, die er bisher gesehen hatte. »Wenn ich bedenke«, sagte er in freundlichem Tonfall, »daß ich mit Freundschaft erreicht habe, was den Waffen nicht gelungen ist...«

»Du nennst dich Freund. Erkennen wir da etwa einen kleinen Gesinnungswandel?« spottete Alexios.

»Hier stehe ich vor Euch, mein Herr und Kaiser, Euer ergebener

Diener«, erwiderte Bohemund und breitete die Arme aus. Alexios bemerkte, wie groß diese Hände waren und wie kräftig diese Arme. »Ihr seht mich, wie ich bin.«

»Wir sehen dich in der Tat, Fürst Bohemund«, intonierte der Kaiser, »aber der Anblick löscht die Erinnerung an unsere letzte Begegnung nicht völlig aus.«

Noch während er die Worte sprach, versuchte Alexios abzuschätzen, ob und wenn ja, wie sehr sich der Mann wirklich verändert hatte. Die letzten zwölf Jahre hatten Roberts Sohn gutgetan. Aus dem großen, schlanken Jüngling war ein kräftiger Mann geworden; mit breiten Schultern und schmalen Hüften stand er auf langen, starken Beinen, und in seinen klaren blauen Augen zeigte sich nicht die geringste Spur von Sanftmut. Sowohl Kinn als auch Wangen waren glattrasiert, und im Gegensatz zu vielen anderen Franken trug er sein Haar nur schulterlang. Seine Bewegungen waren geschmeidig und voller Selbstvertrauen. Wäre nicht die unerträgliche Arroganz des Mannes gewesen, sein unbeugsamer Stolz und sein übertriebener Ehrgeiz, Alexios hätte in dem hochmütigen Fürsten tatsächlich einen Freund finden können.

»Aber das ist schon lange her, mein Herr und Kaiser«, erklärte Bo-hemund noch immer lächelnd. »Damals war ich nur ein Vasall im Dienste meines Vaters. Heute jedoch komme ich aus freien Stücken, um meiner Christenpflicht zu folgen, unseren gemeinsamen Feind zu vernichten und das Heilige Land unseres Herrn und Erlösers wieder in den Besitz von Gottes Gläubigen zu überführen.«

»Sei versichert, daß der Himmel bei dieser Aussicht jubiliert«, erwiderte Alexios und beschloß, möglichst schnell zum schwierigsten Teil der Audienz zu kommen. »Wir freuen uns stets, Männer mit solch edlen Zielen willkommen heißen und bei Uns aufnehmen zu dürfen. Aus diesem Grunde haben Wir ein kleines Geschenk vorbereiten lassen, um unseren freundschaftlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.« Er winkte dem Magister Officiorum, der daraufhin vortrat, ein lackiertes Tablett in der Hand, auf dem zwei goldene Schüsseln voller Rubine und Saphire standen.

Alexios gestattete seinen Gästen, die Gaben eine Weile zu bestaunen; dann nickte er Theodosius, dem Logotheten des Symponos, zu. Der Beamte brachte das Dokument mit dem Treueid, auf dem bereits Hugos, Gottfrieds und Balduins Namen zu finden waren. Der Kaiser erklärte: »Damit wir alle brüderlich vereint werden, und ihr die Vorteile Unserer neugewonnenen Freundschaft in vollen Zügen genießen könnt, müßt ihr euch nur noch den anderen Pilgern in der Anerkennung unserer kaiserlichen Souveränität anschließen.«

Um seine Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen und sich gleichzeitig das Wohlwollen des Kaisers zu sichern, sprach Tankred als erster. »Ich werde nur so lange zögern, wie es dauert, die Feder in die Tinte zu tauchen«, verkündete er und verneigte sich. Daraufhin entfaltete der Logothet das Pergament, legte es auf ein Schreibbrett mit Tinte und Feder und reichte das Ganze dem jungen Adeligen, der seine Unterschrift unter die Gottfrieds und Balduins setzte, während der Beamte das Brett festhielt.

»Eure Bereitwilligkeit beschämt mich, Tankred«, bemerkte Bo-hemund. »Aber ich werde meinen Namen so groß schreiben, daß mein Herr und Kaiser auf einen Blick sieht, wer es ist, der ihn in Freundschaft an seine Brust drückt.« Er griff nach der Feder, tauchte sie ins Tintenfaß und schrieb mit elegantem Schwung seinen Namen doppelt so groß wie die der anderen auf das Pergament. Dann steckte er die Feder wieder in ihre Halterung zurück und verneigte sich unterwürfig und noch immer lächelnd.

Der Kaiser, der nicht glauben konnte, wie leicht es gewesen war, Bohemund zur Unterschrift zu bewegen, sagte: »Komm, Niketas, überreiche Unseren verehrten Gästen die Geschenke.«

Tankred griff gierig nach der angebotenen Schüssel; das war die Reise nach Konstantinopel wirklich wert gewesen. Bohemund jedoch hob nicht einen Finger, sondern faltete die Hände vor der Brust und lächelte noch immer so wie seit dem Augenblick, da er vor den Thron getreten war. »Glaubt bitte nicht, daß ich Euer Geschenk nicht zu schätzen wüßte, mein Herr und Kaiser«, sagte er. »Wenn ich es ablehne, dann nicht aus Verachtung, sondern mehr aus Bescheidenheit.«

Alexios starrte den hochmütigen Fürsten an und versuchte sich vorzustellen, daß Bohemund sich tatsächlich einer Tugend verschrieben hatte - und dieser im besonderen. Sicherlich besaß er doch die gleichen unersättlichen Leidenschaften wie sein Vater, und der alte Robert Guiscard hatte in seinem ganzen Leben nie etwas abgelehnt.

»Hast du vielleicht ein anderes Geschenk im Sinn?« fragte der Kaiser schließlich.

»Ah, ins Schwarze getroffen, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Bo-hemund. »Wie es das Schicksal will, wird auf dieser Pilgerfahrt leider auch die Kunst des Kriegers zum Tragen kommen. Mehr als Gold wünsche ich mir den kaiserlichen Segen für den glücklichen Verlauf unseres Unterfangens.«

»Unseren Segen«, echote Alexios, der eine Falle roch, doch nicht wußte, welcher Art sie war. »Natürlich, Fürst Bohemund, Wir werden zu Gott beten, euch bei eurem Unternehmen beizustehen - euch hier und all jenen, die Gottes Willen erfüllen. An welche Form des Segens hast du gedacht?«

Bohemunds Lächeln wurde breiter, und er entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne. »An einfache Worte«, antwortete der Fürst. »Einen Titel nur.«

»Und welchen Titel hast du im Sinn?« fragte der Kaiser, der immer mißtrauischer wurde.

»Wenn Ihr schon so fragt, dann würde ich gerne Oberster Feldherr der kaiserlichen Armeen unter dem Kreuz werden.« Bohemund sprach in demütigem Tonfall, als wäre das, was er gefordert hatte, vollkommen ohne Bedeutung und ihm soeben erst in den Sinn gekommen.

Der Kaiser jedoch wußte sofort, worauf der Mann hinauswollte. »Du bist ein kühner Intrigant, Bohemund. Jeder Mann, der das bezweifelt, wird es sicherlich bereuen.«

Vorsichtig musterte der verschlagene Fürst den Kaiser. »Verweigert Ihr mir meinen Wunsch?«

»Das tun Wir nicht«, antwortete Alexios und wählte seine Worte mit Bedacht. Er wußte genau, wie gefährlich es war, sich Bohemund in diesem Augenblick zu verweigern; gleichzeitig konnte er dem Mann jedoch auch nicht den Oberbefehl über das Kreuzfahrerheer anvertrauen. »Im Gegenteil, mein kühner Fürst, es erscheint Uns sogar ein durchaus angemessener Rang zu sein. Tatsächlich können Wir uns keinen fähigeren Führer für die Pilgerschar vorstellen. Doch es tut Uns leid, daß wir deinem Wunsch im Augenblick nicht entsprechen können. Du wirst verstehen, daß es Uns unmöglich ist, einen Edelmann dem anderen vorzuziehen, bevor nicht alle eingetroffen sind. Trotzdem sind Wir glücklich, dir versichern zu können, daß Wir dir den gewünschten Titel sofort verleihen werden, wenn die Zeit gekommen ist.«

Sehr zur Erleichterung des Kaisers akzeptierte Bohemund diese Antwort. »Ich überlasse Euch diese Entscheidung, mein Herr und Kaiser. Wenn die Zeit reif ist, werdet Ihr mich bereit finden, die Verantwortung zu übernehmen.«

»Wir können diesen Tag kaum erwarten«, erklärte der Kaiser und hätte sich am liebsten selbst umarmt, weil es ihm gelungen war, den schwierigen Bohemund so leicht auf die Knie zu zwingen. »Bis dahin bitte ich dich, die Schüssel anzunehmen, als Symbol für all die Schätze, die jene erwarten, die fest im Glauben sind«, dann fügte er betont hinzu: »und in ihrer Treue!«

Murdo blickte den weißhaarigen Mönch vor sich finster an. Warum mußten es ausgerechnet Priester sein, fragte er sich, und noch dazu so neugierige? »Ich hatte gehofft, mit König Magnus nach Jerusalem ziehen zu können«, murmelte er undeutlich, »aber ich habe sein Schiff nicht rechtzeitig gefunden.« Der Gedanke, das Schiff mit Kirchenmännern teilen zu müssen, ließ ihn verzweifeln - und das den ganzen Weg bis nach Jerusalem!

»Wie außerordentlich!« bemerkte der größte der drei Mönche. Ein wenig älter als die anderen, schien er der Anführer der kleinen Gruppe zu sein. Sein lockiges weißes Haar war dicht und kurzgeschnitten, was den Eindruck erweckte, als trüge er ein Vlies auf dem Kopf.

»Außerordentlich!« stimmten die beiden anderen zu und musterten Murdo mit wohlwollendem Interesse, so daß er eine Gänsehaut bekam.

»Uns ist genau dasselbe widerfahren«, berichtete der große Mönch. »Es hat länger gedauert, Inbhir Ness zu erreichen, als wir geglaubt haben. Wir sind zu spät abgereist und haben die Flotte des Königs nicht mehr rechtzeitig erreicht.« Die drei fuhren fort, sich darüber zu streiten, wie knapp sie das Boot versäumt hatten - waren es ein, zwei, drei oder mehr Tage gewesen? Sie konnten sich nicht einigen; doch andererseits schienen sie auch nicht im geringsten an einer Einigung interessiert zu sein.

Ohne Zweifel, dachte Murdo mißvergnügt, waren dies die ungewöhnlichsten Kirchenmänner, die er jemals gesehen hatte: Sie trugen lange Gewänder aus ungefärbter Wolle mit zerrissenen, ver-dreckten Säumen; die über den Rücken herabhängenden Kapuzen reichten fast bis auf den Boden, und die Ärmel der Gewänder waren seltsam weit. Die drei Mönche liefen barfuß, ihre Finger waren schmutzig, und sie stanken so stark nach Lammfett, daß Murdo es selbst auf größere Entfernung riechen konnte.

An der Seite trugen sie große, abgewetzte Lederranzen, und obwohl sie sich bereits seit geraumer Zeit auf hoher See befanden, hielt jeder von ihnen noch immer einen langen Wanderstab aus jungem

Ebereschenholz in der Hand. Die Stirn der Mönche war von Ohr zu Ohr kahlrasiert mit Ausnahme eines schmalen Streifens unmittelbar über den Augenbrauen, was den Eindruck vermittelte, die Männer trügen eine Krone.

Trotz seiner Abneigung gegen Kirchenmänner konnte Murdo den Blick nicht von ihnen abwenden. Während er sie betrachtete, kam ihm der Gedanke, daß sie ihn an die alten Druiden erinnerten -an jene geheimnisvollen Gestalten, welche die Geschichten seiner Großmutter bevölkert hatten. »Die Druiden sind weise und mächtige Seher, Murdo, mein Junge«, hatte sie stets zu sagen gepflegt. »Sie wissen alles, was es zu wissen gibt, denn sie können durch den Schleier der Zeit hindurchsehen. Sie kennen die geheimen Wege, die über die Grenzen dieser Welt hinausfuhren, und so wie wir jederzeit nach Kirkjuvagr ziehen können, vermögen sie in der Anderswelt umherzustreifen.«

Sind das hier vielleicht Druiden, fragte sich Murdo. Aber dann bemerkte er die großen Holzkreuze, die sie an Lederbändern um den Hals trugen, und sagte sich, daß es sich bei den Männern womöglich doch um Priester handelte - allerdings von einer Art, die Murdo unbekannt war. Der erste Mönch war groß und langglied-rig; der zweite besaß ein auffallend schmales Gesicht und runde Schultern, und der dritte zeichnete sich durch geringe Körpergröße, gepaart mit einem beachtlichen Leibesumfang, aus. Aufgrund dieser Merkmale in Verbindung mit den schmutzigen, zerlumpten Kleidern, den unförmigen Holzkreuzen und den lächerlichen Wanderstäben wirkten sie auf Murdo - wenn das denn möglich war -noch widerwärtiger als die gewöhnlichen Kleriker, die er kannte und verachtete. Wäre ein Misthaufen in der Nähe gewesen, so hätte Mur-do sie frohen Herzens dort hineingestoßen.

Es war kurz nach Sonnenaufgang, und die Mannschaft schlief noch immer, mit Ausnahme des Steuermanns, eines dürren, grauhaarigen Kerls, der auf den Namen Gorm Weitseher hörte. Murdo war gerade erst aufgewacht und hatte sich von seinem Schlafplatz am Bug erhoben, als die drei aus dem Zelt hinter dem Mast getreten waren, wo sie allem Anschein nach ihren Rausch nach dem Genuß von zuviel Inbhir-Ness-Bier ausgeschlafen hatten. Anschließend waren sie von einer Seite des Schiffs zur anderen gehumpelt - und das nicht nur ein-, sondern dreimal -, wobei sie sich auf ihre langen Eschenholzstäbe gestützt und die Hände vor die Stirn gehoben hatten. Gleichzeitig hatten sie mit ihren hohen, dünnen Stimmen in einer Sprache gesungen, die Murdo nicht verstand.

Nachdem sie das Deck zum drittenmal überquert hatten, waren sie schließlich vor Murdo stehengeblieben, hatten ihn begrüßt und sich vorgestellt. Murdo hatte sie nicht zu Fragen ermutigt, doch den drei seltsamen Mönchen schien seine aufreizende Zurückhaltung egal zu sein.

»Vielleicht ist er unerwartet aufgehalten worden«, sagte der fette Mönch gerade. Er sprach Latein, allerdings mit einem merkwürdigen, singenden Akzent. »Das ist genau, was ich gesagt habe: >Er ist aufgehalten worden< - Hab' ich das nicht gesagt?«

»Und ich habe darauf geantwortet: >Ich fürchte, deine Hoffnung ist irregeleitet, Bruder.< Erinnerst du dich?« erwiderte der Dünne in ebenso seltsamem Tonfall. »Ruf dir bitte noch einmal ins Gedächtnis zurück, daß der Hafenmeister uns klar und deutlich erklärt hat, daß er schon dort gewesen sei.«

»Ah, aber es hat dort keinen Hafen gegeben«, bemerkte der Große; auch er sprach mit einem singenden Akzent, wenn auch ein wenig anders als seine Brüder. »Es sei denn, man betrachtet diese Anhäufung primitiver Holzstege an der Flußmündung als solchen.«

»Natürlich hat es dort keinen richtigen Hafen gegeben«, erwiderte der schmalgesichtige Mönch. »Ich habe von dem Ort gesprochen, der den guten Leuten von Inbhir Ness als Hafen dient.«

»Wenn Inbhir Ness keinen Hafen besitzt, dann gibt es dort auch keinen Hafenmeister«, meldete sich der große Mönch erneut zu Wort. »Ergo könnte der Mann, mit dem du gesprochen hast, nicht die notwendige Autorität besessen haben, um deine Frage zufriedenstellend zu beantworten.«

»Da könnte etwas dran sein«, gestand der fette Priester. »Und doch empfinde ich es als meine Pflicht, euch darauf hinzuweisen, daß die Autorität des Mannes nie zur Diskussion gestanden hat. Es war mehr eine Frage seines persönlichen Scharfsinns. Jeder Mann mit einigermaßen Verstand.«

Verblüfft darüber, daß die Priester sich an jedes einzelne Wort ihres dümmlichen Streits von vor zwei Tagen erinnerten, schüttelte Murdo ungläubig den Kopf. »Aber wie hätten wir sonst nach Jerusalem gelangen sollen?« fragte der Mönch mit den runden Schultern. »Das war doch die eigentliche Frage, die sich uns gestellt hat, Brüder.«

»In der Tat«, sinnierte der große Mönch. »Hätte der Allerhöchste in seiner göttlichen Gnade nicht persönlich eingegriffen, dann würden wir vermutlich noch immer nach der Antwort auf diese Frage suchen.«

»Wir hätten auch zu Fuß gehen können«, bot der schmalgesichtige Mönch als Wahlmöglichkeit an. »Schon viele berühmte Menschen haben in der Vergangenheit eine solche Reise zu Fuß unternommen - und das sehr zum Wohle ihrer Seele. Immerhin«, fügte er hinzu, »ist auch unser Herr Jesus Christus auf diese Art und Weise durchs Land gezogen.«

»Wahrlich, wahrlich, mein Bruder«, stimmte ihm der ältere Mönch freundlich zu. »Welch wahres Wort.«

»Ich hätte nicht das geringste dagegen einzuwenden gehabt«, meldete sich der Fette wieder zu Wort. »Ich möchte nur zu bedenken geben, daß Jerusalem - jedenfalls nach allem, was man so hört -beachtlich weit weg von den grünen Ufern unserer Heimat liegt. Deshalb könnte eine Reise zu Fuß weit länger dauern, als wir vielleicht erwarten. Vermutlich hätte der Kreuzzug sein Ziel bereits erreicht, bevor wir im Heiligen Land eintreffen würden.«

»O weh, ich fürchte, du hast recht«, seufzte der Dünne, von dieser Vorstellung entmutigt.

Murdo, der des unsinnigen Geplappers allmählich überdrüssig wurde, beschloß, daß diese Mönche harmlos waren, wenn auch ein wenig langweilig. Er wollte sie gerade ihrer sinnlosen Debatte überlassen, als der Fette sich zu ihm umdrehte und ihn wohlwollend angrinste. »Seht her, meine Brüder! Ich fürchte, wir haben uns gehen lassen. Unser junger Freund hier ist nicht an solch belanglosen Gedankenspielen interessiert.« Der Mönch nickte anerkennend ob Murdos Geduld. »Wie Ihr, so befinden auch wir uns auf Pilgerfahrt. Es war vereinbart, daß wir uns König Magnus' Flotte anschließen und mit ihm ins Heilige Land segeln sollten.« Er lächelte freundlich und fuhr in verschwörerischem Tonfall fort: »Wir sollen ihm für die Dauer der Pilgerfahrt als Berater dienen - aber natürlich nur in geistigen Belangen.«

»Meine Brüder«, mischte sich der große Mönch plötzlich wieder ein, »dies ist ein außerordentlich glückliches Zusammentreffen, welches gebührend gefeiert werden will. Der Herr, unser Gott hat uns diesen jungen Mann geschickt, auf daß er uns auf dieser Reise begleite. Darauf wollen wir einen trinken!«

»Bier!« schrie der fette Mönch. »Wir brauchen Bier!«

»Du sprichst mir aus dem Herzen«, bemerkte der große Kirchenmann. »Ja, ja. Nachdem du und Fionn uns etwas Bier geholt haben, wollen wir gemeinsam die wunderbare Vorsehung des Allmächtigen preisen.«

Die beiden Mönche trotteten an der Reling entlang zum Zelt zurück. Kurz darauf erschienen sie wieder, jeder mit zwei Krügen schaumigem braunem Biers in den Händen.

»Gott zum Gruß, tapferer Wanderer!« rief der große Mönch und drückte Murdo einen Krug in die Hand. »Möge der Herr des Krieges gut zu dir sein; möge der Herr des Friedens dich segnen; und möge der Herr der Gnade dir die Erfüllung deiner Wünsche gewähren.« Dann hob er den anderen Krug zum Toast und rief: »Sldin-te!«

»Sldinte!« echoten die anderen beiden Mönche und hoben ebenfalls ihre Krüge.

Murdo erkannte das Wort als Gälisch: eine Sprache, die noch in vielen der älteren Familien von Orkneyjar gesprochen wurde und die auch seine Mutter bisweilen verwendete, wann immer ihr andere Worte fehlten. Infolgedessen beherrschte Murdo sie gut genug, um sich verständlich machen zu können. »Sldinte mor!« erwiderte er, was die Kirchenmänner unwillkürlich lächeln und anerkennend nicken ließ.

»Ein Mann, der mit des Himmels eigener Sprache gesegnet ist!« erklärte der schmalgesichtige Mönch voller Leidenschaft. »Mein Name lautet Bruder Fionn mac Enda, zu Euren Diensten. Dürfte ich vielleicht fragen, wie man Euch ruft, mein Freund?«

»Ich bin Murdo Ranulfson von Dyrness auf Orkneyjar«, antwortete Murdo, richtete sich auf und straffte die Schultern, um sich dem Namen seines Vaters als würdig zu erweisen.

»Auf Euer Wohl, Murdo Ranulfson!« sagte der Mönch mit Namen Fionn, und alle drei hoben die Krüge an die Lippen und tranken geräuschvoll. Murdo folgte ihrem Beispiel, und einen Augenblick lang war jeder mit seinem Bier beschäftigt.

Als die Kirchenmänner die Krüge schließlich wieder absetzten, um Atem zu schöpfen, strahlte der Fette übers ganze Gesicht wie ein Cherub und verkündete: »Man nennt mich Emlyn ap Hygwyd, und ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Murdo Ranulfson. Ich hoffe, daß wir gute Freunde werden.«

Obwohl diese Aussicht angesichts der Feindschaft, die Murdo allen Kirchenmännern geschworen hatte, ausgesprochen unwahrscheinlich war, so hatte der rundliche Mönch doch mit solchem Ernst gesprochen, daß Murdo es nicht über sich brachte, ihm offen zu widersprechen.

»Wenn du gestattest, mein lieber Murdo«, fuhr Emlyn fort, »würde ich dir gerne unseren geschätzten Anführer vorstellen: Bruder Ronan mac Diarmuid.«

Demütig verneigte sich der große Mönch. »Führend nur an Jahren«, erwiderte er bescheiden, »nicht, wie ich dir versichern möchte, in Hingabe und Frömmigkeit unserem Herrn gegenüber.«

Murdo wiederholte die Namen der Mönche, woraufhin sie erneut tranken und anschließend das Bier als Gottesgabe priesen - was wiederum bedeutete, daß es ausgesprochen gottlos gewesen wäre, die

Krüge nicht rasch zu leeren, um sie wieder aufzufüllen. Dementsprechend tranken sie zügig, und Emlyn und Fionn eilten davon, um neues Bier zu holen. Abermals kehrten sie rasch wieder zurück und lobten lautstark das Können und die Großzügigkeit des Bierbrauers.

Nachdem sie auch die zweiten Krüge mit kräftigen Schlucken geleert hatten, sagte Ronan: »Nun denn, wenn ich es wagen darf, so würde ich gerne meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, daß ein Mann in deinem zarten Alter alleine eine solche Pilgerfahrt unternimmt. Soviel Frömmigkeit und Eifer sind zwar sehr lobenswert, dennoch ist es erstaunlich.«

»Auf Orkneyjar haben viele das Kreuz genommen«, erklärte ihm Murdo rasch. »Mein Vater und meine Brüder sind bereits vor mir gegangen. Sie reisen gemeinsam mit Herzog Robert von der Normandie und vielen anderen Edelleuten. Ich will mich ihnen anschließen.«

»Ah, ja«, bemerkte der Mönch, als hätte Murdo ihm die Lösung eines uralten Rätsels verraten.

»Außerordentlich!« erklärten die beiden anderen.

Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, wechselte Murdo rasch das Thema. »Wie kommt es, daß ihr König Magnus folgt?«

»Wie es das Schicksal will«, antwortete Ronan, »liegt unsere Abtei auf dem Land, das Malcolm, Hochkönig der Skoten, vor einigen Jahren an König Magnus gegeben hat - nahe Thorsa. Kennst du es?«

Bevor Murdo etwas darauf erwidern konnte, mischte sich Fionn ein. »Als wir erfahren haben, daß der gute König das Kreuz genommen hat, haben wir darum gebeten, unseren Herrscher und Wohltäter auf der Pilgerfahrt ins Heilige Land begleiten zu dürfen.«

»Unser Bischof ist unserer Bitte gnädig nachgekommen«, erklärte Emlyn, »und anschließend hat man dafür gesorgt, daß wir uns König Magnus auf dem Weg nach Jerusalem anschließen können. Ich kann nur vermuten, daß irgendein unglücklicher Umstand dazwischengekommen sein muß; andernfalls wäre er sicherlich nicht ohne uns abgesegelt.«

»Wir sollten«, führte Ronan die Geschichte fort, »den König in allen Dingen beraten, die das Heilige Land und seine Umgebung betreffen; aber alle kriegerischen Fragen hätten wir natürlich dem König und seinem Gefolge überlassen.«

»Ich habe noch nie im Leben ein Schwert berührt«, verkündete Bruder Emlyn fröhlich. »Ich würde mir sicherlich eher selbst den Fuß abhacken, bevor ich auch nur auf einen Steinwurf an einen Sarazenen herangehen würde.«

»Das würde er in der Tat«, bestätigte Fionn. »Das würden wir alle. Wir besitzen nicht die geringste kriegerische Neigung.«

Murdo betrachtete diese Erklärung als armseliges Eingeständnis von Schwäche. Würde er unter einem solchen Makel leiden, wäre er sicherlich nicht so dumm, es irgendeiner Seele anzuvertrauen; auf jeden Fall aber würde er nicht damit prahlen wie diese geistig minderbemittelten Kirchenmänner - sie schienen sich sogar noch darüber zu freuen.

»Nun, ich vermute, daß der König bereits genug Kriegsleute in seinem Gefolge hat. Ohne Zweifel braucht er auch Priester«, erklärte Murdo, obwohl ihm ein Rätsel war, was man mit drei solch geschwätzigen Mönchen anfangen sollte - besonders, da seiner Meinung nach schon ein Priester einer zuviel war.

Dennoch hatte die Erwähnung von König Malcolm sein Interesse geweckt. Daß diese Mönche auf irgendeine Art und Weise mit der Familie seiner Mutter in Verbindung standen, faszinierte ihn. Was, fragte er sich, hatte der Hochkönig der Skoten mit dem König von Norwegen zu tun? Und warum sollte einer der beiden Ländereien an diese merkwürdige Sorte Priester vergeben? Offenbar steckte weit mehr dahinter, als es den Anschein hatte, und Murdo beschloß, es herauszufinden.

Die Sonne war ein kranker gelber Feuerball unmittelbar über dem Mast des Schiffes, als vor dem Bug der Skidbladnir die zerklüftete

Küste einer Halbinsel auftauchte, die von den dort lebenden Angeln Andredeswald genannt wurde. »Dort werden wir anlegen, um uns mit Vorräten zu versorgen«, verkündete Jon Reißzahn.

Seit Tagen hatten sie sonniges Wetter und guter Wind begleitet, der das schlanke Schiff die Ostküste entlang über die ruhige See getrieben und Mannschaft und Passagiere rasch nach Süden geführt hatte. Von Zeit zu Zeit waren sie an Land gegangen, um ihre Wasserschläuche und Vorratsfässer aufzufüllen, doch nie hatten sie sich längere Zeit irgendwo aufgehalten, sondern waren stets sofort weitergezogen. Murdo, der begierig war, endlich das Heilige Land zu erreichen, gefiel es nicht, erneut anzuhalten - und das, zumal sich offenbar noch ausreichend Vorräte an Bord befanden.

Doch Jon wollte es nicht anders, und so wendeten sie Richtung Ufer. »Dofras ist der letzte gute Markt diesseits der Straße«, erklärte er. »Ich weiß nicht, wann wir das nächste Mal Gelegenheit haben werden, Proviant aufzunehmen. Es ist besser, wir decken uns jetzt mit allem Notwendigen ein.«

Die Mönche stimmten ihm zu. »Es könnte eine lange Reise werden«, bemerkte Emlyn zu Murdo.

»Wie lange?« fragte Murdo mißtrauisch.

»Ein Jahr, vielleicht auch länger - oder zumindest hat man mir das erzählt«, antwortete der Priester.

»Ein Jahr?« Kein Ort der Welt konnte so weit entfernt sein, als daß man ihn erst in einem Jahr erreichen konnte. Murdo war davon ausgegangen, daß die Reise höchstens noch ein paar Wochen dauern würde.

»O ja«, bestätigte Fionn. »Wenn wir den Winter über irgendwo ankern müssen, könnte es sogar noch länger dauern.«

Diese Kunde versetzte Murdo in eine derart düstere Stimmung, daß er jegliches Interesse daran verlor, in die Stadt zu gehen. Sofort nachdem das Schiff am Ufer angelegt hatte, huschten die Mönche in Richtung Markt davon, um die benötigten Vorräte zu besorgen. Jon, der ebenfalls keine Lust verspürte, die Siedlung zu besuchen, gestattete seinen Männern an Land zu gehen und sich ein wenig zu vergnügen. »Ich werde hierbleiben und aufs Schiff aufpassen«, sagte er ihnen. »Geht nur ohne mich, aber versucht, euch nicht allzu sehr zu betrinken.« Dann wandte er sich an Murdo und riet ihm: »Du solltest auch gehen. Wir werden für lange Zeit keinen vertrauten Ort mehr sehen oder anständiges Bier bekommen.«

»Ich habe den letzten vertrauten Ort schon lange hinter mir gelassen«, erklärte Murdo. »Und da ich auch keine Lust habe, hier ein Bier zu trinken, werde ich bei Euch bleiben.«

Jon zuckte mit den Schultern und begann eine gründliche Überprüfung seines Schiffes. Vom Bug bis zum Heck suchte er das Fahrzeug ab und hielt Ausschau nach allem, was auf einen Schaden hindeuten könnte. Da er am Rumpf nichts Auffälliges entdeckte, wandte er sich dem Mast und der Takelage zu.

Währenddessen kletterte Murdo über die Reling und watete ans Ufer. Der Strand war breit und flach, und die Siedlung lag ein gutes Stück vom Ufer entfernt im Schutze hoch aufragender weißer Klippen.

Eine Weile wanderte Murdo durch den Sand, während Jon Reißzahn die Außenseite der Skidbladnir auf Schwachstellen untersuchte. Dann und wann holte der große Nordmann tief Luft und tauchte am Rumpf des Schiffes hinunter, um die Planken auch unter der Wasserlinie auf Schäden zu überprüfen; meist jedoch erschien er nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder an der Oberfläche.

Murdo setzte sich auf einen kleinen Felsen, von wo aus er Jon beobachten konnte, dessen Vorsichtsmaßnahmen er durchaus zu würdigen wußte. Rasch hatte er die seemännischen Fähigkeiten des Nordmanns und seiner Mannschaft schätzen gelernt. Die Männer arbeiteten gut zusammen; nur selten kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Jeder schien im voraus zu ahnen, was der andere von ihm erwartete, und so hatte Jon nur selten Grund, Befehle zu erteilen oder tadelnd die Stimme zu erheben. Murdo kannte sich gut genug in der Seefahrt aus, um zu wissen, daß sie bei weitem nicht so einfach war, wie es den Anschein hatte, wenn man Jon Reißzahn und seine Männer beobachtete. Er schloß daraus, daß Erfahrung der Grund für dieses hervorragende Zusammenspiel war; vermutlich segelte diese Mannschaft schon seit Jahren gemeinsam auf einem Schiff.

Der erste Abendstern erschien gerade am Himmel, als die Mönche und Seeleute wieder zurückkehrten. Sie wankten über den Strand und schleppten große Bierfässer, Getreidesäcke und noch manch anderen Packen heran, einschließlich einer ganzen geräucherten Schweinehälfte. Die Mönche hatten eine geradezu unglaubliche Menge an gewöhnlichen Nahrungsmitteln erworben - so viel sogar, daß Jon Reißzahn sich beschwerte, das Schiff würde bei all der Ladung viel zu tief im Wasser liegen und bei der ersten Welle untergehen.

Als Antwort darauf zuckten die Mönche jedoch lediglich mit den Schultern und erklärten, auf dem Markt habe es so viele Köstlichkeiten gegeben, daß sie einfach nicht hätten widerstehen können. Offenbar gehörte Selbstbeherrschung in den Augen dieser seltsamen Priester nicht zu den geistlichen Tugenden, sagte sich Murdo.

Aber wie auch immer: Die Vorräte wurden rasch verstaut, und nach einem trüben, langweiligen Tag am Ufer brannte Murdo darauf, das Segel wieder im Wind und den Drachenbug durch die Wellen pflügen zu sehen. Doch Jon Reißzahn steuerte auf eine gemütliche kleine Bucht nicht weit von der Siedlung zu, wo er für die Nacht Anker warf. »Hiernach werden wir tagelang kein Land mehr sehen«, entgegnete er, nachdem Murdo seiner Enttäuschung Ausdruck verliehen hatte. »Heute nacht werden wir noch einmal auf fester Erde schlafen. Genieße es, solange du noch kannst.«

Die Mönche schienen überaus erfreut zu sein, eine Nacht an Land verbringen zu dürfen, und alsbald machten sie sich daran, ein Feuer zu entfachen und das Abendessen zuzubereiten. Trotz seines anfänglichen Ärgers über den Landaufenthalt empfand Murdo das warme Abendessen als willkommene Abwechslung. Hungrig schaute er zu, während die Kirchenmänner ihre Vorräte auspackten und sich an die Arbeit machten, wobei sie mit dem Geschick eines königlichen Leibkochs zu Werke gingen. Die Seeleute waren erstaunt über die gekonnte Art, wie die Mönche das Essen bereiteten. Nachdem man das Schiff für die Nacht gesichert hatte, versammelte sich die ganze Mannschaft ums Lagerfeuer und verfolgte mit wachsender Bewunderung die erstaunliche Vorstellung der Kirchenmänner.

Verschiedene Zutaten wurden aus unterschiedlichen Päckchen hervorgezaubert und von geschickten Händen in Topf, Pfanne und auf Bratspieße verteilt. Die drei Mönche arbeiteten ausgesprochen effektiv, sprachen selten miteinander und führten Messer und Löffel mit der atemberaubenden Geschicklichkeit eines Jahrmarktgauklers. Die wachsende Achtung der Zuschauer für das Können der Mönche wurde noch von dem hervorragenden Bier verstärkt, das die drei Kirchenmänner verteilten - »um den inneren Menschen wieder zu stärken«, wie Bruder Emlyn erklärte.

Die Mönche bereiteten genug Speisen für hundert faßkranke Pilger zu: Erbspudding, frisches Gerstenbrot und in Milch gekochten Räucherfisch mit Butter und Zwiebeln. Über dem Feuer rösteten sie schmale Streifen Schweinefleisch, die sie von Zeit zu Zeit mit frischen Kräutern einrieben, und zu guter Letzt backten sie noch Äpfel in einem Sud aus Sahne und Honig.

Es handelte sich um gewöhnliche Speisen, doch kunstvoll zubereitet, und nach einer Schüssel Erbspudding und zwei Scheiben Schweinefleisch entdeckte Murdo eine Seite des Klosterlebens, die ihm bislang verborgen gewesen war. Priester erschienen ihm noch immer als Fluch und Plage - hinterlistig wie Schlangen und ebenso giftig -, aber diese drei Mönche hier gehörten offenkundig einer Art von Kirchenmännern an, von der er noch nie etwas gehört hatte. Er fragte sich, ob sie wohl noch mehr ungewöhnliche Talente besaßen.

Die Seeleute waren ebenfalls beeindruckt. Jon Reißzahn konnte sich nicht zurückhalten zu fragen: »Eßt ihr immer so gut in eurem Kloster?«

»Wir befinden uns auf Pilgerfahrt«, antwortete Ronan fröhlich. »Das Fasten ist Pilgern verboten.«

Als schließlich die letzte Schüssel saubergeleckt und der letzte Knochen weggeworfen worden war, stand der Mond hoch am Himmel, und die Sterne spiegelten sich auf dem glatten Wasser der kleinen Bucht. Fionn legte noch etwas Holz aufs Feuer; dann begannen die guten Brüder ein Streitgespräch über die Frage, ob die Seele eines Sünders schwerer sei als die eines Heiligen - schließlich habe erstere ja die Last ihrer Missetaten zu tragen. Es war ein gutwillig geführter Streit, und Murdo folgte den Reden der melodischen Stimmen, so gut er konnte, bis er, satt gegessen und zufrieden, derart müde wurde, daß er die Augen kaum noch aufhalten konnte. Er wickelte sich in seinen Umhang, und kurz darauf war er mit dem angenehmen Murmeln der Mönche im Ohr eingeschlafen und träumte von Ragna.

Am nächsten Morgen wurde Murdo noch vor Sonnenaufgang geweckt, indem ihm jemand einen Becher kalten Wassers ins Gesicht schüttete. Prustend sprang Murdo auf und schwang die Fäuste. »Immer mit der Ruhe«, sagte Jon, »und ich dachte, du seist begierig darauf, aufzubrechen.«

Murdo wischte sich das Wasser aus den Augen, und mit einem Knurren auf den Lippen gesellte er sich zu den anderen und half ihnen, die Wasserschläuche zu füllen. In der Zwischenzeit verstauten die gähnenden, sich kratzenden Mönche ihr Kochgeschirr, und kurze Zeit später gingen alle wieder an Bord, und die Seeleute ruderten das Schiff aufs offene Meer hinaus.

Murdo machte es sich mittschiffs zwischen den Getreidesäcken bequem und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Mast. Er beobachtete, wie der Morgennebel über das Wasser wanderte und lauschte den Rufen der Vögel am Ufer. Anschließend mußte er wohl wieder eingeschlafen sein, denn das nächste, woran er sich erinnerte, war, daß er übers Deck rollte.

Verschlafen rappelte sich Murdo auf, griff nach der Reling und blickte zu den wolkenverhangenen grünen Hügeln, die inzwischen weit entfernt waren. Vor ihm lag das weite, offene Meer. Plötzlich blähte ein kräftiger Windstoß das Segel, und der Bug schnitt durch die Wellen, als Jon Reißzahn das Steuer herumriß und das Schiff auf einen neuen Kurs in den Wind brachte.

Eine plötzliche Erregung überkam Murdo. Irgendwo dort draußen waren sein Vater und seine Brüder, jenseits der grauen weiten See, und kämpften gegen die heimtückischen Sarazenen, und er, Mur-do, würde sie finden und wieder zurückbringen. Es würde geschehen; es mußte geschehen. Er würde dafür sorgen, daß es geschah.

An den Papst und seine unzähligen Lakaien verschwendete er kaum einen Gedanken, ebenso wie an die heilige Pflicht zur Pilgerfahrt. Ob der Kreuzzug gelang oder nicht, war Murdo gleichgültig; nichts hätte ihn weniger interessieren können. Sein Herz war nur von einem einzigen Wunsch erfüllt: den Besitz der Familie wieder zurückzugewinnen. Sein Leben, seine Zukunft, sein Glück mit Rag-na - alles hing von der Befreiung Hrafnbus ab. Und das bedeutete ihm mehr als alles Gold der Welt - und sicherlich weit mehr als der sinnlose Schutz einer Handvoll Kirchen und einiger verstaubter Reliquien, die niemand je zu Gesicht bekommen hatte.

»Du schaust recht finster drein für einen jungen Mann«, bemerkte Emlyn mit fröhlicher Stimme.

Murdo drehte sich um und beobachtete, wie der Mönch sich mit dem Rücken gegen die Reling lehnte. »Ich habe nachgedacht.« Er veränderte seine Position zwischen den Getreidesäcken, um den freundlichen Priester genauer betrachten zu können.

»Über den Kreuzzug, nicht wahr?«

Murdo hörte das Wort, doch einen Augenblick lang war er in Gedanken so weit entfernt, daß er nicht wußte, wovon der Kirchenmann sprach. »Nein, daran nicht«, antwortete er schließlich. »Ich habe über meinen Hof nachgedacht - über mein Zuhause meine ich.«

»Womöglich wünschst du dir, du hättest dein Zuhause nie verlassen?« vermutete der Mönch. »Ah, fy enaid«, seufzte er wehmütig. »Auch mich überkommt bisweilen die Sehnsucht, wenn ich an meine Heimat im gesegneten Dyfed denke.«

Murdo hatte noch nie von einem Ort dieses Namens gehört, und das sagte er auch.

»Du hast noch nie von Dyfed gehört?« rief Emlyn entsetzt. »Dabei ist es doch der schönste Platz auf Erden. Gott der Herr hat dieses wundervolle Land mit all seinen Gaben gesegnet, und unter dem weiten Himmelszelt gibt es niemanden, der glücklicher wäre als die Menschen von Dyfed. Wie sollten sie auch nicht glücklich sein? Das Land ist reich an Flüssen, Seen und Quellen aller Art, und alle sind sie voll frischen Wassers, mit dem man seinen Durst genußvoll stillen und aus dem man das beste Bier der Welt brauen kann.

Wahrlich, ich sage dir, das Wetter in Dyfed ist niemals rauh, und der Wind streicht so sanft über das Land hinweg wie der Atem einer Mutter über die Wange des geliebten Kindes. Die Luft ist stets warm und der Himmel so blau wie Lercheneier. Nie drohen Sturmwolken am Horizont, und nie verhüllen sie die strahlende Sonne, denn es regnet nur in der Nacht und auch dann nur sanft, um dem Land das nötige Wasser zu spenden. So wächst und gedeiht in Dyfed alles im Überfluß; wo man auch sät, man wird reiche Ernte einfahren. Überall ist das Gras grün und saftig, so daß das Vieh auf den Weiden wohlgenährt und rund ist.«

Der verzückte Mönch schluckte vernehmlich, bevor er fortfahr, seine phantastische Heimat zu preisen. »Die Frauen von Dyfed sind der Inbegriff der Schönheit, und die Männer sind allesamt Barden und Krieger zugleich. Alle leben in Frieden und Harmonie miteinander; nie erhebt jemand die Stimme im Zorn. Die Männer verbringen ihre Tage damit, Lieder zu schreiben, um die sie selbst die Engel beneiden. Tatsächlich kommt es nicht selten vor, daß ein Barde vor seinem Herrn singt und noch in derselben Nacht ins Paradies gerufen wird, um den himmlischen Chören seine gesegneten Verse zu lehren.

Der Reichtum, den andere Völker so heiß begehren, wird von den Kymren verachtet. Gold und Silber sind nur für unsere Handwerker verlockend, die sich von ihnen versucht fühlen, ihr Werkzeug aufzunehmen, um ihre meisterliche Kunst auszuüben. Der Schmuck, den sie anfertigen, ziert die Hälse und Finger von Königen; selbst die Kinder besitzen bereits die Fähigkeit, prachtvolles Geschmeide zu fertigen. Und ... und.«

Überwältigt von der Erinnerung fiel Emlyn in verzücktes Schweigen. Murdo musterte den Mann, und dachte erneut, wie seltsam diese Mönche waren. Waren sie wirklich Männer der Kirche, wie sie behaupteten? Falls ja, dann unterschied sich die Kirche, der sie dienten, deutlich von jener, die Murdo kannte.

»So wie du es beschreibst, scheint es sich in der Tat um ein sehr bemerkenswertes Land zu handeln«, sagte Murdo.

Emlyn nickte feierlich. »Ich spreche die Wahrheit: Nachdem Eden für Adams Volk verloren war, hat der Schöpfer in seiner Gnade ihm Ynys Prydein geschenkt, und Dyfed ist der schönste Fleck auf unserer geliebten Insel.«

»Wenn das wirklich so ist, dann frage ich mich, warum überhaupt je jemand dieses Land verläßt.«

»Oh, genau darin liegt unser Leid begründet«, antwortete der Mönch und schüttelte traurig den Kopf. »Denn die Kymren - so sie auch von unserem göttlichen Wohltäter mit den reichsten Gaben bedacht worden sind - leben auch in der ständigen Furcht, die Menschen anderer Gefilde könnten aus Neid über sie herfallen und ihnen das Herz ihres Glücks herausreißen. Daher hat der Herr sie mit dem unwiderstehlichen taithchwant ausgestattet, auf daß sie vor lauter Freude über ihre herrliche Heimat nicht zu stolz werden.«

Emlyn sprach mit solch tief empfundener Sehnsucht, daß Mur-do zutiefst berührt war. »Was ist dieses ta...taith...?«

»Taithchwant«, wiederholte der Mönch. »Oh, es ist weniger ein Leiden, als vielmehr eine unerträgliche Last. Es ist eine Art Wanderlust, doch stärker noch als jedes Sehnen gewöhnlicher Sterblicher. Es ist eine nagende Ungewißheit, die einen Mann über die Grenzen des Paradieses hinaustreibt, um zu sehen, was sich hinter dem nächsten Hügel verbirgt; um zu entdecken, wo der Fluß endet oder wohin die Straße führt. Sicherlich gibt es kein stärkeres Gefühl, und nur eines läßt sich damit vergleichen.«

»Und was ist das?« fragte Murdo, der immer mehr von der Aufrichtigkeit des Mönches eingenommen war.

»Das ist das hiraeth«, antwortete der Mönch, »das Heimweh, das schmerzhafte Verlangen nach den grünen Hügeln unserer Heimat, eine unvergleichliche Sehnsucht nach dem Klang vertrauter Stimmen; ein gieriger Hunger, der nur von Speisen befriedigt werden kann, die auf dem Herd der Mutter zubereitet worden sind. Ach, das hi-raeth ist ein quälendes Sehnen, so stark, daß es einem Mann die Tränen in die Augen treibt und ihn alles andere vergessen läßt - einschließlich des Lebens selbst.«

Er seufzte. »Verstehst du mich jetzt? Wir sind für immer gefangen zwischen den zwei stärksten Gefühlen, die ein Mensch empfinden kann, und so kommt es, daß wir niemals lange an einem Ort glücklich sein können.«

Murdo bestätigte, daß dies in der Tat ein großes Unglück sei, woraufhin der Mönch lächelte und sagte: »Gott ist gut. Er hat uns zu seinen Abgesandten berufen und uns mit allem Notwendigen ausgestattet, um sein reines, strahlendes Licht in eine Welt voller Dunkelheit zu tragen. Wir sind die Cele De«, verkündete er stolz, »Diener des himmlischen Hochkönigs, der uns seine Gnade geschenkt hat.« Emlyn beugte sich zu Murdo hinab, als wolle er ihm ein Geheimnis anvertrauen; dementsprechend senkte er auch die Stimme. »Höre meine Worte: Wir sind die Hüter des Heiligen Lichts und die Wächter des Wahren Weges.«

W aimund von Saint-Gilles, Graf von Toulouse und der Provento V ce, traf einen Tag vor dem geplanten Aufbruch von Bohemunds Armee in Konstantinopel ein.

Nach der Überwinterung in Rom, wo sich ihm der päpstliche Legat, der Bischof von Le Puy, angeschlossen hatte, hatte der Graf das adriatische Meer überquert und war mit seinem Heer nahe Dyrr-hachion gelandet. Dann, angetrieben von dem ungeduldigen byzantinischen Statthalter, hatten Graf und Bischof den langen, unbequemen Marsch über die Berge Makedoniens in Angriff genommen.

Die Reise war angenehm ereignislos verlaufen; nur gelegentlich hatte die Disziplin der Männer ein wenig zu wünschen übriggelassen. Meist hatte es sich dabei um unglückliche Mißverständnisse gehandelt, die in der Plünderung und Zerstörung einiger byzantinischer Städte geendet hatten, und einmal war Bischof Adhemar kurzfristig von den Petschenegen festgesetzt worden, die der Kaiser geschickt hatte, um das Heer zu seinem Ziel zu geleiten. Nichtsdestotrotz waren die Kämpfer zwar erschöpft, aber guter Dinge und begierig darauf, die Wunder Konstantinopels zu sehen.

Als sie die Hauptstadt erreichten, trafen die Neuankömmlinge auf die Armeen Bohemunds und Tankreds, die vor der Westmauer ihr Lager aufgeschlagen hatten: eine gewaltige Zeltstadt erstreckte sich wie ein bunter Flickenteppich über die gesamte westliche Ebene. Die ersten Reihen der ungeordnet hausenden Heerschar erblickten die sich nähernden Kameraden und eilten voll ausgelassener Freude auf sie zu. Unfähig, Ritter und Fußvolk im Zaum zu halten, gestatteten ihnen die Fürsten, sich zu ihren Mitpilgern zu gesellen, damit sie gemeinsam den erfolgreichen Abschluß des ersten Teils der Pilgerfahrt feiern konnten.

Nachdem sie ihre Diener angewiesen hatten, die fürstlichen Zelte aufzuschlagen und das Lager zu bereiten, ritten Raimund und Adhemar zu Bohemunds Enklave. Dort wurden sie von den Edelleuten aus dem Gefolge des Fürsten empfangen, die sie in Abwesenheit ihres Herrn willkommen hießen.

»Bohemund ist nicht hier?« fragte Raimund. »Drei Monate lang haben wir ununterbrochen im Sattel gesessen. Wir kommen vom Papst höchstpersönlich.«

»Mit allem Respekt, Herr«, erwiderte einer der Ritter, »wir haben nicht gewußt, daß Ihr heute eintreffen würdet.« Der Ritter, ein Verwandter Bohemunds mit Namen Reinhold von Salerno, deutete auf das Zelt des Fürsten. »Dennoch erwartet Euch ein Becher Wein. Wir werden gemeinsam trinken, während.«

»Wo ist Bohemund?« unterbrach ihn Adhemar und runzelte die Stirn ob der gedankenlosen Nachlässigkeit des Fürsten.

»Er berät sich mit dem Kaiser, mein Herr Bischof«, antwortete Reinhold. »Der Fürst und seine Familie speisen heute zusammen mit Tankred und einigen anderen im Palast. Vor heute abend werden sie nicht zurückerwartet. Aber bitte, wartet hier und ruht Euch aus, bis Euer Lager aufgeschlagen ist.«

Verärgert über die glanzlose Begrüßung schnaufte Raimund verächtlich. »Wir werden uns erst ausruhen, nachdem wir siegreich durch die Tore von Jerusalem geritten sind - vorher nicht.«

»Hat sich etwa unser Herr Jesus Christus ausgeruht, als das Heil der Welt in Gefahr war?« verlangte Adhemar in scharfem Ton zu wissen.

»Bitte, verzeiht mir, meine Herren«, erwiderte Reinhold steif. »Ich scheine Eure höchst edlen Gefühle verletzt zu haben. Ich versichere Euch jedoch, daß es lediglich in meiner Absicht lag, Euch willkommen zu heißen.«

»Wir sehen, was der Fürst unter Willkommen versteht«, erklärte der Bischof. »Wir werden in unser Lager zurückkehren und Euch nicht länger belästigen.«

Mit diesen Worten machten sie wieder kehrt und ritten zu ihren Zelten zurück, die inzwischen ein wenig südöstlich von Bohemunds Lager aufgeschlagen worden waren. Bei ihrer Ankunft erwartete sie eine kaiserliche Abordnung, die sie unverzüglich zum Palast geleiten sollte.

Die Armeen von Hugo, Gottfried und Balduin waren endlich über den Bosporus gebracht worden, und Alexios war entschlossen, dafür zu sorgen, daß auch diese letzten Pilger so rasch wie möglich weiterzogen. Dementsprechend verschwendete er keine Sekunde, um auch bei Raimund dieselbe Taktik anzuwenden, die sich bereits bei Bohemund und Tankred bewährt hatte: Er bot dem Grafen von Toulouse teure Geschenke und Proviant für seine Männer an und versprach ihm die Kosten für die Überfahrt über den Bosporus zu übernehmen - als Gegenleistung für Raimunds und Adhemars Unterschrift unter dem Treueid.

Aber wo der unvorhersehbare Fürst von Tarent so bemerkenswert entgegenkommend und vernünftig gewesen war, legte der fromme Graf von Toulouse und der Provence eine Engstirnigkeit und Sturheit an den Tag, wie man sie ansonsten nur mit grauen, vierbeinigen Lasttieren in Verbindung brachte, und weigerte sich offen, jede Art von Dokument zu unterzeichnen, das seine ihm vom Papst gewährte Autorität in Frage stellte.

»Als der erste Edelmann, der das Kreuz genommen hat«, erklärte Raimund, »bin ich damit geehrt worden, meine Vollmacht aus den Händen von Papst Urban selbst zu erhalten. Daher muß ich respektvoll den Eid verweigern, den abzulegen Ihr mir vorschlagt.«

Bischof Adhemar, der Legat des Papstes, nickte weise und lächelte selbstgerecht. »Der Eid, den Ihr fordert, Kaiser Alexios, ist vollkommen unnötig«, erklärte er großmütig. »Ein Edelmann, der sich dem Kreuz unseres Erlösers verschworen hat, ist nicht länger irdischen Herrschern verantwortlich, sondern nur noch unserem Herrn und Gott allein.«

Beinahe sprachlos vor Zorn und Bestürzung und der unnachgiebigen Arroganz der Kreuzfahrer allmählich überdrüssig blickte Alexios von seinem Thron auf die aufsässigen Fürsten herab. Umgeben von seinem Drungarios tön poimön, zwei Beratern und einer Abteilung Warägern und ausgewählter Exkubiten bot der Kaiser der gesamten Christenheit auf seinem goldenen Thron einen imposanten Anblick. Dennoch gab sich Raimund vollkommen ungerührt.

»Sollen Wir das etwa so verstehen«, intonierte der Kaiser, »daß diese >Vollmacht< euch davon abhält, die Autorität des kaiserlichen Throns anzuerkennen?«

»In keinster Weise, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Raimund in freundlichem Tonfall. »Ich erkenne Eure Autorität in allen Fragen an, mit einer Ausnahme: der Führung der Pilgerfahrt. Wie ich Euch bereits gesagt habe, ist mir diese Ehre von Seiner Heiligkeit Papst Urban höchstpersönlich übertragen worden.«

»Wir müssen dich daran erinnern, Graf Raimund, daß auch Bischof Urban sein Amt nur dank Unserer Duldung innehat«, erwiderte der Kaiser und wandte sich von Raimund an Bischof Adhe-mar. »Alle Autorität des Patriarchen von Rom hat ihren Ursprung in diesem Thron. Daher widerspricht der Eid, den Wir von euch verlangen, weder der Vollmacht, die man euch verliehen hat, noch untergräbt er eure Autorität.«

Raimund, hager und groß, starrte unverwandt geradeaus, das Gesicht hart und ausdruckslos. »Wie dem auch sein mag, man erzählt sich im Lager, daß der Kaiser Bohemund von Tarent in einen hohen Rang erhoben habe. Man sagt, er solle Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Armeen unter dem Kreuz werden.«

Endlich, dachte Alexios und seufzte innerlich. Das ist also der wahre Grund, warum der Fürst sich in seinem Stolz verletzt fühlt: Er ist eifersüchtig auf Bohemund.

»Selbst auf die Gefahr hin, den Zorn des Kaisers zu erregen«, bemerkte Adhemar, »möchte ich darauf hinweisen, daß der Fürst von Tarent weder den Auftrag noch den Segen Seiner Heiligkeit besitzt. Beides hat der Papst ausschließlich dem Grafen Raimund gewährt, und ich, der päpstliche Legat, habe die Autorität verliehen bekommen, in Fragen.«

»Diese Gerüchte, von denen ihr sprecht«, unterbrach Alexios die Ausführungen Adhemars, »gründen sich einzig und allein auf Bo-hemunds Ehrgeiz. Zwar entspricht es der Wahrheit, daß er um eine solche Stellung ersucht hat, doch Wir können dir versichern, Graf Raimund, daß Wir dem Wunsch nicht entsprochen haben.«

»Wie dem auch sein mag«, erklärte Raimund stur, »der Kreuzzug braucht einen Anführer. Da ich von jenem auserwählt worden bin, der als erster den Plan zu diesem heiligen Unterfangen ersonnen hat, sehe ich keinen Grund, die Autorität aufzugeben, die man mir verliehen hat.« Als er sah, daß dem Kaiser langsam das Blut in die Wangen stieg, beschloß der stolze Graf seine Erklärung ein wenig abzumildern. »Aber natürlich«, fügte er eilig hinzu, »könnte der Kaiser mich als seinen treuesten Vasallen betrachten, sollte er sich dazu entschließen, den Kreuzzug persönlich ins Heilige Land zu führen.«

»Unglücklicherweise beginnt dieses noble Unterfangen zu einem Zeitpunkt, der meine Teilnahme unmöglich macht«, erwiderte Ale-xios streng. »Da im Augenblick dringende Reichsangelegenheiten Unserer Aufmerksamkeit bedürfen, können Wir den Kreuzzug leider nicht persönlich anführen, so sehr Wir Uns das auch wünschen würden.«

»Dann bleibt mir keine andere Wahl«, sagte Raimund in einem Tonfall, als ergebe er sich schweren Herzens dem Unvermeidlichen. »Ich muß dem Befehl des Papstes gehorchen und die Führerschaft auf mich nehmen, mit der er mich beauftragt hat.«

Adhemars Lächeln wurde immer breiter. Er steckte die Hände in die weiten Ärmel seines Bischofsgewandes und hätte sich fast vor Wohlgefühl geschüttelt.

»Oh, Wir glauben, du bist da etwas voreilig, mein lieber Graf von Toulouse«, bemerkte Alexios. Langsam stand er auf und griff nach dem Pergament mit dem Treueid und den Unterschriften seiner vorherigen Gäste. »Vielleicht können Wir dir doch noch die ein oder andere Alternative aufzeigen. Hör zu: Schwöre Uns die Treue als deinem rechtmäßigen Souverän, oder halte weiter am Papst fest, und der Kreuzzug ist hier für dich zu Ende. Der Bischof von Rom dient diesem Thron, nicht umgekehrt, und Wir werden Unsere Autorität gegenüber allen wahren, die in seinem Schatten einherziehen. Führe den Kreuzzug, wenn du denn unbedingt willst, aber du wirst das nur aufgrund Unserer Gnade tun und mit Unserer Erlaubnis.«

Aus lauter Sturheit versteifte sich der ohnehin schon steife Raimund noch mehr. Der Kaiser sah, daß er die Angelegenheit weit genug getrieben hatte, und beschloß, dem starrköpfigen Grafen Gelegenheit zu geben, über das Angebot nachzudenken. »Morgen«, sagte Alexios, »werden die Armeen Bohemunds und Tankreds von der kaiserlichen Flotte über den Bosporus gebracht werden, um sich in Pelekanon den Heeren Hugos und Gottfrieds anzuschließen und anschließend den Marsch nach Jerusalem fortzusetzen.«

Er hielt kurz inne und blickte dem Grafen von Toulouse streng in die Augen. »Du jedoch wirst hierbleiben.«

»Wie lange werde ich warten müssen, mein Herr und Kaiser?«

Wurde der sture Ritter bereits weich? »Das hängt von dir ab«, antwortete Alexios. »Unterzeichne den Eid, und du wirst dich den anderen ohne weitere Verzögerung anschließen können. Verweigere dich deinem Kaiser, und du wirst warten. Denn ohne deine Unterschrift unter diesem Pergament« - er tippte mit dem Finger auf das Schriftstück - »wird man dir nicht gestatten, auch nur einen Schritt jenseits der Mauern dieser Stadt zu tun. Als Folge davon wird auch jede Autorität, die du jetzt vielleicht besitzt, einem anderen zufallen.«

Alexios entließ seine Gäste, die daraufhin sofort in ihr Lager zurückgebracht wurden, um über die Worte des Kaisers nachzudenken.

Nachdem sich die Türen des Salomonsaals wieder geschlossen hatten, trat der Oberbefehlshaber der Flotte an seinen Verwandten heran und fragte: »Glaubt Ihr, daß er unterzeichnen wird?«

»Wer weiß das schon?« antwortete der Kaiser. »Wir haben in unserer Zeit schon viele sture Menschen getroffen, Dalassenos, aber keinen hochmütigeren als Raimund von Toulouse. Er ist ein willensstarker Mann, der glaubt, Gott habe ihn auserkoren, diesen armseligen Heerhaufen zu Ruhm und Ehre zu führen. Er betrachtet es als hohe Ehre und wacht eifersüchtig über dieses vermeintliche Vorrecht.«

»Und nun fürchtet er, es zu verlieren«, sinnierte Dalassenos. »Das war sehr klug von Euch, Basileus.«

»Vielleicht«, stimmte ihm Alexios vorsichtig zu. »Wir werden sehen, was stärker ist: seine Furcht oder seine Eifersucht.«

cht Tage lang hielt Graf Raimund von Toulouse an seinem Entschluß fest und weigerte sich, seine Unterschrift unter den Eid zu setzen, den der Kaiser von ihm verlangte. Statt dessen schaute er zu, wie die großen Transportschiffe der kaiserlichen Flotte endlos die dunklen Wasser des Bosporus durchpflügten, um die Armeen Bohemunds und Tankreds auf die andere Seite nach Pelekanon überzusetzen. Gleichzeitig liefen ständig Handelsschiffe in den Hafen der Hauptstadt ein, die Getreide, Öl, Wein, Vieh und andere Nahrungsmittel für die Kreuzfahrer brachten. Vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein herrschte auf der engen Wasserstraße ein einziges Chaos. Bisweilen befanden sich so viele Schiffe und Boote auf dem Wasser, daß der Graf glaubte, ein Ritter hätte ohne Mühe über die Decks hinweg auf die andere Seite galoppieren können.

Tag für Tag strömten Tausende von Pilgern mit Pferden und Karren von den Hügeln zu den Anlegestellen am Goldenen Horn hinab. Die Pferde wurden stets als erste an Bord gebracht - eine mühselige Arbeit, welche die ohnehin schon langwierige Operation noch weiter verlangsamte -, und wenn die Tiere sicher untergebracht waren, nahm man die Karren und Wagen auseinander, um sie einfacher auf den Schiffen verstauen zu können, und zu guter Letzt verlud man die eigentliche Ausrüstung. Erst wenn auf einem Schiff kein Stauraum mehr vorhanden war, gestattete man Menschen, an Bord zu kommen - Ritter und Fußvolk zuerst, dann die anderen Pilger: Priester und andere Kirchenleute sowie die Frauen, Kinder und Diener der Kreuzfahrer.

Voll beladen konnte ein kaiserliches Transportschiff bis zu fünfzig Pferde, zwanzig Wagen und drei- bis vierhundert Menschen tragen. Der Kaiser hatte elf dieser großen Schiffe für die Operation bereitgestellt, und jedes dieser Schiffe konnte zweimal am Tag übersetzen. So kam es, daß die Zahl der Pilger am Ufer täglich kleiner wurde, während Graf Raimund und Bischof Adhemar tatenlos zuschauen mußten, und nach acht Tagen ging die Sonne schließlich über verlassenen Anlegestellen unter.

Am neunten Tag traf Robert, Herzog von der Normandie und Bruder des Wilhelm Rufas, des Königs von England, in Konstantinopel ein, in Begleitung seines Vetters, des Grafen Robert von Flandern, und seines Schwagers, des Grafen Stephan von Blois. Ihre vereinigte Streitmacht zählte mehr als vierzigtausend Mann, einschließlich einer kleinen Einheit, die von einem streitlustigen Kirchenmann geführt wurde, dem Bischof Odo von Bayeux.

Abgesehen von einigen Schwierigkeiten bei der Überquerung des adriatischen Meeres, die den unglücklichen Tod von vierhundert Mann zur Folge gehabt hatten, hatte sich die Reise nach Konstantinopel als ausgesprochen zufriedenstellender Beginn der Pilgerfahrt erwiesen, und die Neuankömmlinge waren begierig darauf, den Bosporus zu überqueren und dem gottlosen Feind entgegenzutreten. Wie die anderen vor ihnen, so wurden auch diese lateinischen Fürsten sofort zu einer Audienz vor den Kaiser befohlen. Anders jedoch als ihre Vorgänger schworen sie Alexios bereitwillig die Treue und versprachen, alles Land und alle Reliquien der kaiserlichen Herrschaft zu überantworten, die sie auf der Kreuzfahrt erobern würden.

Daß der Eid so rasch unterschrieben wurde, war in erster Linie Graf Stephan zu verdanken, der aufgrund seiner Selbstlosigkeit und Frömmigkeit hohes Ansehen unter den Römern genoß. Nachdem der Kaiser erst einmal herausgefunden hatte, wie hoch die Pilger den Grafen schätzten, verschwendete er keine Zeit und betraute den jungen Fürsten mit der Aufgabe, Raimund dazu zu bewegen, sich ebenfalls der kaiserlichen Autorität zu unterwerfen.

Der Graf von Blois hatte kaum die Feder wieder abgelegt, mit der er den Eid unterschrieben hatte, als der Kaiser bereits verkündete, wie sehr es ihn freue, daß diese Formalität so rasch erledigt worden sei und daß man nun dazu übergehen würde, Proviant unter den hungrigen Truppen der Neuankömmlinge zu verteilen; anschließend würde man sie dann ohne weitere Verzögerung nach Pe-lekanon übersetzen, wo sie auf die anderen Pilger treffen würden. Erleichtert und dankbar verlieh Herzog Robert seinem Wunsch Ausdruck, die Pilgerfahrt so rasch wie möglich wiederaufzunehmen, woraufhin der Kaiser bemerkte, daß der Graf von Toulouse sich unglücklicherweise nicht dem Kreuzzug anschließen könne.

Die lateinischen Fürsten blickten einander verwundert an. Graf Raimunds Heer war das größte und bestausgerüstetste der Kreuzfahrerheere, und sie zählten auf seine Führerschaft. »Aber, mein Herr und Kaiser, warum sollte Raimund zurückbleiben?« verlangte Stephan respektvoll zu wissen.

»Wir können nur vermuten, daß euer Freund beschlossen hat, den Kreuzzug aufzugeben«, antwortete Alexios.

»Wirklich?« fragte Robert Graf von Flandern.

»Zumindest scheint es so.«

»Verzeiht mir, mein Herr und Kaiser«, sagte der Herzog von der Normandie, »aber es fällt mir schwer, dies zu glauben. Es ist weithin bekannt, wie sehr der Graf von Toulouse auf diese Pilgerfahrt brennt. Tatsächlich steht seine Armee sogar in eben diesem Augenblick zum Abmarsch bereit. Es muß eine andere Erklärung geben. Ohne Zweifel ist irgend jemandem ein Fehler unterlaufen.«

»Niemandem ist ein Fehler unterlaufen«, versicherte ihm der Kaiser. »Das einzige, was ihn am Aufbruch hindert, ist der Eid, den ihr soeben unterzeichnet habt. Graf Raimund befindet sich nunmehr seit neun Tagen in Konstantinopel; jeden Tag haben Wir ihm das Dokument vorlegen lassen, und jeden Tag hat er sich geweigert, es zu unterzeichnen.« Alexios' Tonfall wurde hart. »Da er nicht ins Heilige Land Weiterreisen kann, solange das Dokument nicht unterzeichnet ist, können Wir daraus nur schließen, daß er beschlossen hat, den Kreuzzug zu verlassen.«

Stephan runzelte besorgt die Stirn und nickte verständnisvoll. »Ich glaube, ich verstehe allmählich«, sagte er. »Vielleicht würde der Kaiser mir etwas Zeit gewähren, um Raimund umzustimmen. Mit Eurer Zustimmung, mein Herr und Kaiser, werde ich die Angelegenheit mit ihm besprechen.«

»Selbstverständlich. Sprich mit ihm«, sagte Alexios im Tonfall eines Mannes, der nicht mehr weiter wußte. »Wir beten zu Gott, daß du Erfolg haben wirst, und zwar rasch. Am Tag nach Ostern wird die Flotte damit beginnen, eure Truppen über den Bosporus zu transportieren, und bevor auch nur einem Soldaten die Überfahrt gestattet werden wird, muß der Eid unterzeichnet sein.«

»Aber Ostern ist bereits morgen!« stöhnte Stephan.

»Das stimmt«, bestätigte der Kaiser. »Wie ich sehe, beginnst du tatsächlich zu verstehen.«

»Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, mein Herr und Kaiser, dann werde ich ohne Verzögerung zu ihm eilen, um mit ihm zu sprechen.«

Bei Sonnenaufgang des zehnten Tages nach Raimunds Ankunft in Konstantinopel durchbrach das Läuten der Kirchenglocken die frühmorgendliche Stille und kündigte den Beginn der Osterfeierlichkeiten an. Die westlichen Edelleute und ihre Familien - denn alle außer Stephan hatten ihre Gemahlinnen und Kinder mitgebracht - waren eingeladen worden, die Ostermesse gemeinsam mit dem Kaiser und der Kaiserin auf der Galerie der Hagia Sophia zu feiern. Dort, inmitten der mit Gold beschlagenen Ikonen der heiligen Sophia und den prächtigen Mosaiken, die den auferstandenen Christus zeigten, konnten die Besucher die Pracht erahnen, die zu bewahren sie geschworen hatten. Nach dem Gottesdienst führte man die Pilger zurück in ihre trostlosen Lager, um über die Größe dessen nachzudenken, was sie gesehen hatten, während der Kaiser und seine Familie in den Palast zurückkehrten, wo sie den Rest des Tages feiern und beten würden.

Früh am nächsten Morgen begann die kaiserliche Flotte damit, die Armeen der Normandie und Flanderns über den Bosporus zu transportieren, wo sie sich den Streitkräften Hugos, Gottfrieds und Bohemunds anschließen sollten. Zehn Tage lang fuhren die mächtigen Schiffe über die enge Wasserstraße so stetig und kraftvoll wie die Flut. Ohne Unterbrechung wurde Ladung an Bord genommen, gelöscht und Kreuzfahrer mitsamt ihrem Kriegsgerät über den Bosporus verschifft; doch noch immer verweigerte der stolze Graf von Toulouse den Eid.

Nachdem das letzte Pferd und der letzte Mann über den Bosporus gebracht worden waren, gab der Kaiser den Befehl, die Flotte vom Ufer abzuziehen und in die Mitte der Wasserstraße zu verlegen, damit die erregten Franken nicht in Versuchung gerieten, die Schiffe mit Gewalt unter ihre Kontrolle zu bringen. Allerdings befahl er dem Flotten-Drungarios, die Schiffe in Sichtweite ankern zu lassen, um den sturen Raimund und seinen willfährigen Bischof stetig daran zu erinnern, wie wenig zwischen ihnen und ihrem Ziel - nämlich der Abreise - lag und wie rasch sie wieder auf dem Weg sein könnten.

Graf Stephan hatte seine Truppen mit den anderen vorausgeschickt und war zurückgeblieben, um dem Kaiser dabei zu helfen, den hochmütigen Raimund zu überreden: Er riet, lockte und appellierte ohne Unterlaß, und schließlich war ihm aufgrund seines gutmütigen Wesens Erfolg beschert, und es gelang ihm, den starrköpfigen Grafen von Toulouse zu erweichen. So kam es, daß drei Tage, nachdem das letzte Schiff den Bosporus überquert hatte, Raimund von Toulouse und Bischof Adhemar im Blachernenpalast erschienen und um eine Audienz beim Kaiser nachsuchten.

Gnädig ließ ihnen Alexios mitteilen, er würde sie so bald wie möglich empfangen; dann widmete er sich wieder gelassen den üblichen Tagesgeschäften: Er inspizierte die Palastwache und wanderte durch die kaiserlichen Ställe. Kurz blieb er beim Stallmeister stehen und beobachtete, wie dieser mit den Jährlingen verschiedene Gangarten trainierte. Anschließend nahm er an einer Messe teil, traf sich mit dem Magister Officiorum und den Quaestoren, um die kaiserlichen Pflichten für die folgende Woche zu besprechen, und aß schließlich zu Mittag. Nach dem Essen genoß er ein seltenes Nik-kerchen im Garten, und danach unterzeichnete er eine Reihe von Dokumenten die Beförderungen verdienter Offiziere betreffend und die daraus resultierenden Erhöhungen ihres Einkommens. Dazwischen hatte er dem Flotten-Drungarios den Befehl gegeben, die Truppenschiffe zum Eleutherios-Hafen zu verlegen, um den Kreuzfahrern den Eindruck zu vermitteln, die Flotte würde abrücken.

Nachdem Alexios all diese Pflichten erledigt hatte, rief er seinen Magister Officiorum zu sich, und da er nicht wußte, was er noch tun sollte, fragte er den Mann, ob er vielleicht irgend etwas vergessen habe. »Wenn Ihr gestattet, Basileus«, antwortete der Magister, »möchte ich darauf hinweisen, daß die lateinischen Fürsten noch immer darauf warten, vom Kaiser empfangen zu werden. Sie warten in eben diesem Augenblick im Vestibulum.«

»Ah, ja«, bemerkte Alexios gutgelaunt. »Haben sie lange gewartet?«

»Angemessen lange. Sie sind heute morgen eingetroffen.«

»Nun denn. Falls es nichts anderes mehr zu tun gibt, dann bitte sie herein. Wir werden sie jetzt empfangen.«

»Wie Ihr befehlt, Basileus.« Der Magister entfernte sich und bedeutete den Wachen, die Tür zu öffnen. Wenige Augenblicke später führte der Beamte zwei nervöse und unglückliche Edelleute und einen zornigen Bischof in den Saal.

Alexios begrüßte sie freundlich, als sie vor seinem Thron stehenblieben, und fragte sie, warum sie gekommen seien. Die beiden Fürsten blickten einander an; dann nickte Stephan, und Raimund antwortete: »Ich bin gekommen, um Euch die Treue zu schwören, mein Herr und Kaiser.«

»Das ist ja schön und gut«, erwiderte der Kaiser, »aber Wir fürchten, da kommst du zu spät.«

»Zu spät?« fragte Raimund und warf Stephan einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Verzeiht mir, mein Herr und Kaiser«, meldete sich Stephan zu Wort. »Aber ich habe geglaubt, man würde uns gestatten, die Pil-gerfahrt gemeinsam fortzusetzen, wenn es mir gelänge, Graf Raimund zur Unterzeichnung des Treueids zu überreden.«

»Dem ist auch so«, bestätigte der Kaiser. »Aber wie du dich vielleicht erinnerst, haben Wir gesagt, der Eid müsse unterzeichnet sein, bevor die Schiffe den Transport eingestellt haben.« An den Magister Officiorum gewandt, fragte der Kaiser: »Verhält es sich nicht so, wie Wir gesagt haben, Magister?«

Der Magister konsultierte die Wachstafel, auf der er alle offiziellen Verlautbarungen festzuhalten pflegte; dann erwiderte er: »Es verhält sich so, Basileus. Das ist genau, was Ihr gesagt habt.«

»Es tut Uns leid«, erklärte Alexios gelassen. »Wärt ihr doch nur früher zu Uns gekommen.«

»Wir haben den ganzen Tag lang gewartet!« schrie Bischof Adhemar, der sich nicht länger beherrschen konnte. »Das ist unerträglich!«

Alexios' Gesicht verhärtete sich. »Und doch werdet ihr es ertragen müssen. Graf Raimund hatte genug Zeit, um seine Meinung zu ändern. Oder habt ihr vielleicht geglaubt, die ganze Welt warte nur auf eure Entscheidung? Ich versichere euch: Die Welt wartet auf niemanden.«

»Ich bin bereit, den Treueid auf der Stelle abzulegen«, erklärte Raimund, dem das Blut in die Wangen stieg.

»Und Wir sagen dir, es ist zu spät.«

»Zu spät!« knurrte Raimund.

»Die Schiffe werden andernorts gebraucht. Um der Kreuzfahrt zu helfen, haben wir den Schutz unserer Provinzen vernachlässigt, doch dieser Zustand kann nicht ewig andauern.« Der Kaiser blickte den drei Männern vor ihm gelassen in die Augen. »Die Schiffe müssen instand gesetzt und für eine neue Aufgabe ausgerüstet werden. Jede weitere Verzögerung wäre zu kostspielig, als daß es sich lohnen würde, auch nur darüber nachzudenken.«

Sprachlos vor Wut und Enttäuschung blickte Raimund verbittert zum Kaiser empor. Adhemar holte Luft, um erneut das Wort zu ergreifen, doch der ruhige Stephan kam ihm zuvor.

»Wenn Ihr gestattet, mein Herr und Kaiser«, sagte Stephan rasch, »dann würde ich Euch gerne einen möglichen Ausweg aus dieser Situation vorschlagen.«

»Wenn du einen solchen Ausweg kennst«, erwiderte der Kaiser, »dann hören Wir dir gerne zu.«

»Falls man die Abfahrt der kaiserlichen Flotte noch um ein paar Tage verschieben könnte, könnten wir die Schiffe vielleicht anheuern, um unsere Armeen über den Bosporus zu bringen. Wir wären bereit, in Gold zu zahlen.«

Der Kaiser runzelte die Stirn. »Wir besitzen Gold genug. Uns mangelt es an Schiffen, um die kaiserlichen Gewässer zu sichern.« Er starrte auf die Lateiner herab und trommelte mit den Fingern auf der Armlehne seines Throns. »Aber das bringt mich auf einen anderen Gedanken«, fuhr Alexios langsam fort, als denke er nun zum erstenmal darüber nach.

»Ja, mein Herr und Kaiser?«

»Uns ist aufgefallen, daß Wir Unser Versprechen erfüllt haben, die Pilger zu versorgen und durch Unser Gebiet Richtung Heiliges Land zu geleiten, und all das haben Wir aus Unserer eigenen Tasche bezahlt. Und Wir haben es gern getan, dient es doch der Befreiung des Heiligen Landes und der Rückführung gestohlener Ländereien in die Obhut des Reiches.«

»Mit Gottes Hilfe«, erklärte Bischof Adhemar, »werden wir siegreich sein.«

»Wir beten für euren Sieg, mein Herr Bischof«, erwiderte der Kaiser. »Eingedenk dessen erscheint es Uns nur gerecht, euch einen kaiserlichen Abgesandten zur Seite zu stellen, der euch in allen Fragen beraten wird, welche die Wiedereingliederung verlorener Gebiete in den Reichsverbund betreffen.«

Stephan verstand sofort, was der Kaiser ihnen anbot, und bevor die anderen etwas darauf erwidern konnten, stimmte er freudig zu. »Natürlich würden wir einen kaiserlichen Abgesandten in unseren Reihen jederzeit willkommen heißen, der uns in allen Fragen mit Rat und Tat zur Seite steht, welche die Interessen des Reiches betreffen, als Gegenleistung für den Einsatz der kaiserlichen Flotte. Ich

schäme mich, daß mir das nicht selbst eingefallen ist.«

Raimund versteifte sich. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, daß ein kaiserliches Faktotum seine Nase in die Angelegenheiten der Kreuzfahrer stecken sollte.

»Gut.« Alexios winkte den Magister heran. »Wir nehmen euer Angebot an, die Überfahrt zu bezahlen und einen kaiserlichen Abgesandten in eure Reihen aufzunehmen.« Der Kaiser nahm das Dokument mit dem Treueid von dem Beamten entgegen, das alle anderen Kreuzfahrer bereits unterzeichnet hatten, und reichte es Raimund.

Der widerspenstige Graf hielt das Dokument in Händen, machte jedoch keinerlei Anstalten, es zu entfalten. Statt dessen blickte er hilflos zu Stephan.

»Mein Herr und Kaiser«, begann der Graf von Blois zögernd, »ich wollte Euch gerade vorschlagen, daß man Graf Raimund gestatten sollte, einen Eid nach seinen eigenen Vorstellungen abzulegen.«

Alexios starrte die beiden Fürsten an. Kannte ihre Unverschämtheit denn überhaupt keine Grenzen? Schließlich sagte er: »Eigentlich sollten Wir euch in Ketten binden und in den Bosporus werfen lassen; aber Wir sind neugierig zu erfahren, warum du glaubst, Raimund sollte diese besondere Gunst gewährt werden«, mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter, »wenn alle anderen Fürsten einschließlich deiner selbst die Weisheit Unseres Ansinnens eingesehen haben. Erleuchte Uns, wenn du kannst.«

Nervös trat Stephan von einem Fuß auf den anderen. »Der Vorschlag liegt in der herausragenden Stellung begründet, die Graf Raimund als Führer der Pilger genießt. Bitte, gestattet mir, für ihn zu sprechen. Graf Raimund hat das Gefühl, seinen Eid vor dem Papst zu verraten, sollte er jetzt dem kaiserlichen Thron die Treue schwören.«

»Das haben Wir bereits gehört.« Alexios wischte den Einwand mit einer barschen Geste beiseite.

»Daher«, fuhr Stephan eilig fort, »habe ich angeregt, daß der Graf von Toulouse vielleicht das gleiche Versprechen ablegen könnte, mit

dem seine Landsleute Höhergestellten Gefolgschaft geloben.«

Der Kaiser der gesamten Christenheit und Nachfolger der Apostel runzelte die Stirn, während er die verschiedenen Möglichkeiten abwog, die ihm nun blieben. Würde er den lästigen Grafen fortschicken, würde das nur weiteren Ärger für das Reich bedeuten -die Pilger hatten auf dem Marsch hierher bereits mehr als zweitausend Bürger getötet, bevor die Petschenegen dem Morden Einhalt geboten hatten. Andererseits würde das Problem sich vielleicht von selbst lösen, wenn man Raimund und seinem marodierenden Pilgermob gestatten würde weiterzuziehen - zumindest für kurze Zeit oder vielleicht auch für immer, wenn die Seldschuken sie schlagen würden, was sehr wahrscheinlich war.

Sollten die Kreuzfahrer jedoch aufgrund irgendeines Wunders siegreich sein, wäre die Vernichtung der Seldschukenpest den Preis wert -auch wenn, so sinnierte Alexios düster, diese Möglichkeit angesichts der zerlumpten Haufen, die er in den vergangenen Wochen gesehen hatte, weiter entfernt war denn je. Im Augenblick schien ihm nichts anderes übrigzubleiben, als das Beste aus einem zunehmend schlechten Handel zu machen.

Der Kaiser betrachtete den großen, hageren Edelmann vor ihm. Sein harter, entschlossener Blick verriet, daß er sich noch nie freiwillig jemandem unterworfen und daß er sicherlich nicht die Absicht hatte, jetzt damit zu beginnen. So stellte Stephans Vorschlag das Maximum dessen dar, was der Kaiser bei dem stolzen und prinzipientreuen Grafen von Toulouse und der Provence erreichen konnte. Im Tonfall erschöpfter Schicksalsergebenheit nahm Alexios das Angebot an. »Was ist das für ein Gelübde, das seine Landleute ablegen?« fragte er und wünschte sich nichts sehnlicher, als diese Pilger ein für allemal loszuwerden.

»Wenn Ihr erlaubt, mein Herr und Kaiser«, meldete sich Raimund zu Wort und rezitierte ein wortreiches Gelübde, das darauf hinauslief, daß er versprach, den Kaiser zu ehren, sein Leben und seinen Rang zu respektieren und ihm niemals zu schaden oder ihn zu verletzen, sei es durch Worte oder durch Taten seitens des wackeren Grafen

Raimund von Toulouse.

»Gelobst du auch die Rechte des Kaisers in allen Fragen zu ehren, welche die Rückführung von Land, Schätzen und Reliquien betreffen, die rechtmäßig dem Reich gehören?« verlangte Alexios zu wissen, nachdem der Graf geendet hatte.

»Das gelobe ich ebenfalls«, antwortete Raimund ernst.

»Und gelobst du dies beim ewigen Glück deiner Seele, das du verwirken wirst, solltest du dieses Versprechen brechen?«

Bischof Adhemar öffnete den Mund, um gegen diese Frage zu protestieren, doch Stephan hielt ihn davon ab, indem er den Arm des unangenehmen Kirchenmannes packte und kräftig zudrückte.

»So gelobe ich nach bestem Wissen und Gewissen, mein Herr und Kaiser«, antwortete Raimund bereitwillig und ohne Hinterlist.

»Dann akzeptieren Wir dein Gelübde als Ersatz für den Eid, den alle anderen christlichen Fürsten geschworen haben«, sagte der Kaiser, der sich den tadelnden Nebensatz nicht hatte versagen können. »Geht jetzt, und sammelt eure Männer. Wir werden den Flotten-Drungarios darüber in Kenntnis setzen, daß der Transport eures Heeres augenblicklich beginnen soll. Die Kosten betragen 20 Goldmark pro Schiff und Tag. Ihr werdet das Geld an die kaiserliche Schatzkammer abführen. Des weiteren werden Wir eine Abteilung Unsterblicher abstellen, die unter dem Kommando des Strategen Ta-tikios Unsere Interessen auf der Pilgerfahrt vertreten wird. Ihr werdet Unseren Abgesandten so ehrerbietig behandeln wie den Kaiser selbst. Habt ihr das verstanden?«

»Voll und ganz, mein Herr und Kaiser«, antwortete Raimund erleichtert darüber, daß die Angelegenheit endlich zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt war.

»Dann wünschen Wir euch Gottes Segen und einen raschen Sieg über unseren gemeinsamen Feind«, sagte Alexios. »Zieht hin in Unserer Huld.«

»Pax vobiscum«, intonierten die lateinischen Fürsten.

Bevor sie sich vom Thron entfernten, sagte der Kaiser: »Laßt Uns euch noch eine letzte Warnung mit auf den Weg geben.«

»Selbstverständlich, mein Herr und Kaiser«, erwiderte Stephan glücklich. »Euer Rat ist uns stets willkommen.«

»Die Seldschuken sind hervorragende Kämpfer, und sie kennen keine Furcht«, erklärte Alexios, wieder ganz der listige Feldherr. »Sie kämpfen mit Bögen von den Rücken ihrer Pferde. Immer wieder werden sie Angriffe vortäuschen, um euch mit ihren endlosen Pfeilsalven zu zermürben. Sie werden sich niemals einem direkten Kampf stellen. Laßt euch jedoch nicht dazu verleiten, dies für Feigheit zu halten, denn damit hat es nichts zu tun. Diese Taktik liegt ihnen einfach im Blut.

Daher raten Wir euch, augenblicklich gegen sie vorzurücken, wenn ihr angriffen werdet. Zwingt ihnen den Kampf Mann gegen Mann auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich eher zurückziehen, als sich euch zu stellen. Sollten sie fliehen, dann dürft ihr sie jedoch auf keinen Fall verfolgen; ihre Pferde sind schneller als eure, so daß sie euch mit Leichtigkeit abhängen können. Auf gar keinen Fall dürft ihr zulassen, daß eure Berittenen vom Fußvolk getrennt werden. Die arabischen Völker sind allesamt geschickte Reiter, und sie können ihre Reihen in kürzester Zeit neu formieren. Nichts liegt ihnen besser, als sich überraschend den Verfolgern wieder entgegenzuwerfen oder die Reiter zu umgehen, um sich über das ungeschützte Fußvolk herzumachen. Außerdem sind sie Meister des Hinterhalts und der Täuschung.«

Er betrachtete die Franken vor ihm, und als er sah, daß seine Worte nur wenig Wirkung zeigten, schloß er seine Erklärung mit den Worten ab: »Wir raten euch, diese Worte nicht zu vergessen. Nur List kann die Seldschuken besiegen, nicht Tapferkeit.«

Raimund verzog verächtlich das Gesicht. »Wir hören Euren Rat, und wir danken Euch dafür; aber bei allem Respekt, mein Herr und Kaiser«, erwiderte er, »die Sarazenen werden den Stahl der Kreuzfahrer schon bald fürchten lernen. Mit Gott und der Wahrheit auf unserer Seite benötigen wir keine List.«

»Dann geht mit Gott, meine Freunde.« Der Kaiser entließ sie und blickte ihnen hinterher, während sie sich vom Thron zurückzogen.

Nachdem die beiden Fürsten und der Bischof gegangen waren, drehte sich Alexios zu seinem Verwandten um und fragte: »Was denkst du, Vetter?«

»Ich denke, daß die kaiserliche Schatzkammer schon bald von Pilgergold überquellen wird«, antwortete Dalassenos. »Aber warum habt Ihr die Schiffe fortgeschickt, nur um sie jetzt gegen Geld wieder zurückkehren zu lassen? Ich kann nicht glauben, daß Ihr nur die Transportkosten sparen wolltet.«

»Ach das«, erwiderte der Kaiser ein wenig überrascht. »Ich wollte ihnen nur unsere Macht demonstrieren und ihnen vor Augen führen, wie sehr sie vom Reich abhängig sind. Ob es ihnen nun gefällt oder nicht, sie sind auf uns angewiesen, wenn sie Jerusalem erobern wollen.«

»Ich verstehe«, erklärte der Drungarios. »Ich dachte, Ihr hättet aus einem anderen Grund so gehandelt: damit sie Euch ihr Gold geben, bevor es von den Seldschuken geplündert wird.«

»Du schätzt ihre Erfolgsaussichten offensichtlich sehr gering ein.«

»Ich bin im Gegenteil sehr optimistisch, Basileus«, versicherte ihm der Drungarios. »Wie sie es überhaupt bis hierher geschafft haben, ist mir ein Mysterium. Aber nach allem zu urteilen, was ich bis jetzt von den Seldschuken gesehen habe, werden diese Pilger nie einen Fuß nach Jerusalem hineinsetzen. Es ist, wie Ihr gesagt habt: Wenn Tapferkeit alleine reichen würde, dann hätten wir die Ungläubigen schon längst wieder vertrieben.«

Nachdenklich faltete Alexios die Hände und starrte nach vorne, als schaue er in eine dunkle, schreckliche Zukunft.

»Diese Männer - diese Heerführer - wissen nichts von dem, was sie erwartet«, erklärte der Drungarios. »Sie kennen das Land nicht; sie haben keinerlei Vorstellung von den Entfernungen oder der Art des Geländes. Es mangelt ihnen an jeglichem Verständnis für die Sarazenen. Keiner von ihnen hat je auch nur einen Seldschuken gesehen, geschweige denn gegen eine Armee von ihnen gekämpft. Zu behaupten, daß sie Jerusalem niemals erreichen werden, ist mehr als nur eine vage Vermutung. Da es ihnen nicht nur an Wissen, sondern auch an Ausrüstung und Nachschub mangelt, wage ich zu behaupten, daß die meisten von ihnen noch nicht einmal Antiochia sehen werden.«

»Ja«, stimmte ihm Alexios zu, »und das ist eine Schande. Ich bemitleide die einfachen Soldaten. Wie immer werden sie es sein, die für die Dummheit ihrer Führer bezahlen müssen, und der Preis wird in der Tat schrecklich sein.« Er hielt kurz inne, als hätte er Mühe, sich das ganze Ausmaß der bevorstehenden Katastrophe vorzustellen. »Und doch«, fuhr er einen Augenblick später fort, drehte sich wieder um und blickte zu Dalassenos. »Und doch besitzen sie trotz all ihrer Unzulänglichkeiten einen unberechenbaren Vorteil.«

»Und der wäre, Basileus?«

»Glauben«, antwortete der Kaiser. »Sie glauben, von Gott auserwählt worden zu sein, das Heilige Land und Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien.«

»Ein Glaube, der in Unwissenheit wurzelt«, bemerkte der Drun-garios. »Solche Art von Glauben ist nichts weiter als Dummheit.«

»Du vergißt, Dalassenos«, tadelte ihn der Kaiser, »daß Gott niemals auf die Weisheit der Menschen baut. Diese unwissenden und überheblichen Männer sind zutiefst davon überzeugt, erreichen zu können, wozu sie aufgebrochen sind. Ich frage dich, Vetter: Welche Weisheit vermag gegen solch erhabene Dummheit standzuhalten?«

Dalassenos nickte zustimmend. »Unglücklicherweise ist es weder Weisheit noch Torheit, der sie sich auf dem Schlachtfeld entgegenstellen müssen - es ist die versammelte Macht von Sultan Arslan und den Seldschuken-Emiren. Gott stehe ihnen bei.«

»Amen«, erwiderte Alexios. »Er ist der einzige, der ihnen jetzt noch helfen kann.«

Son Reißzahn sprach oft über das Wetter. Alle zwei, drei Wochen bezeichnete er es sogar als Wunder. Es sei, so erklärte er, das beste Segelwetter, das er seit sieben Jahren erlebt habe - nein, seit zweimal sieben Jahren. Die Tage waren schön und lang und der Wind frisch und angenehm. »Das ist ein gutes Omen«, pflegte der große Nordmann häufig zu bemerken. »Wir werden ein Vermögen in Jerusalem machen.«

Dieses >Vermögen< war ein weiterer Punkt, auf den Jon immer wieder zu sprechen kam. Zuerst nahm Murdo diese Bemerkungen als Zeichen, daß sie sich ihrem Ziel allmählich näherten. Jeden Tag wartete er darauf, daß einer der Seeleute lauthals verkündete, Jerusalem sei in Sicht, und jeder Tag endete damit, daß Murdo seine Augen an einem weiteren namenlosen Ufer an einer fremden Küste schloß. Doch obwohl er täglich enttäuscht wurde, erwachte Murdo jeden Morgen in der Hoffnung, heute sei der Tag, an dem das Heilige Land am Horizont erscheinen würde. Es konnte doch nicht mehr allzu weit entfernt sein, oder?

Aber als aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate wurden und Jerusalem noch immer nicht am Horizont auftauchte, begann Mur-do allmählich zu glauben, daß die Reise tatsächlich länger dauern würde, als er erwartet hatte. Gleichzeitig hielten alle an Bord Ausschau nach König Magnus' Flotte.

Die Schiffe des Königs tauchten jedoch ebensowenig auf wie Jerusalem. Zwar erschien von Zeit zu Zeit das ein oder andere Segel am Horizont, doch von der Flotte keine Spur. »Es sind fünfzehn Schiffe«, erklärte Jon. »Fünfzehn Schiffe können nicht so schnell

segeln wie ein einzelnes. Wir werden sie schon finden.«

Die ganze Zeit über wurden das Wetter und das Wasser immer wärmer. Die graugrüne See des Nordens wich den grünblauen Wassern des Südens, und aus Frühling wurde Sommer und schließlich Herbst, während die Skidbladnir an fremden Küsten entlangfuhr. Sie passierten die Normandie und das Frankenland und dann Orte, von denen Murdo noch nie etwas gehört hatte: Navarra, León und Kastilien, Portugal - und so ging es immer weiter Richtung Süden.

Im Laufe der Reise entwickelte sich das tägliche Leben an Bord zur Gewohnheit, und nur gelegentlich bot sich den Reisenden die eine oder andere kleine Abwechslung. Die Art und Weise, wie die Seeleute die viele freie Zeit verbrachten - vor allem mit Geschichtenerzählen - verriet Murdo, daß Jon und seine Leute an derart lange Reisen in fremden, feindlichen Gewässern gewöhnt waren. Mur-do lauschte ihren Gesprächen und lernte seine Mitpilger auf diese Art immer besser kennen.

Obwohl es sich bei der Besatzung bis auf den letzten Mann um Nordmänner handelte, erfuhr Murdo bald, daß alle schon seit Jahren keinen Fuß mehr in ihre Heimat gesetzt hatten. Fünf hatten in Irland gelebt: Fafnir, Sturli, Raefil, Nial und Oski; drei in Schottland: Olaf, Ymir und Digri; und zwei hatten die letzten Jahre in England und im Frankenland verbracht: Amund und Arnor. Sie alle, Jon Reißzahn eingeschlossen, hatten König Magnus auf verschiedenen Fahrten begleitet, und sie sprachen gut von ihm. Murdo war beeindruckt, wie groß der Respekt war, den die Männer ihrem König entgegenbrachten - selbst in seiner Abwesenheit.

Auch durchschaute er allmählich das komplizierte Netzwerk aus Verpflichtungen, das die Männer aneinander und ans Schiff band, welches sie für das beste in der gesamten königlichen Flotte hielten. Die Skidbladnir, so fand Murdo bald heraus, gehörte nicht Magnus, sondern Jon Reißzahn, der sie dem König unter der Voraussetzung für die Pilgerfahrt zur Verfügung gestellt hatte, alle Beute behalten zu dürfen, die sie unterwegs machen würden. Die Mannschaft und ihr Führer waren keine Vasallen; sie waren Reisige, die

Magnus nur für die Dauer der Pilgerfahrt die Treue geschworen hatten.

Nachdem die Nordmänner herausgefunden hatten, daß dies Murdos erste Reise außerhalb der heimischen Gewässer war, begannen sie, ihm alles beizubringen, was sie über die Seefahrt wußten. Sie lehrten ihn, wie man ein Langschiff steuerte, wie man das Segel auftakelte und welche Sterne sich besonders zur Navigation eigneten. Und als Murdo sich als gelehriger Schüler erwies, gingen sie dazu über, ihn auch in anderen Dingen zu unterweisen: wie man auf zehn verschiedene Arten Fische fing; wie man Zeichen auf dem Wasser deutete, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen; wie man das Wetter anhand des Geruchs der Luft voraussagen konnte und wie er seine helle Haut vor der gleißend hellen Sonne schützen konnte.

Unglücklicherweise erteilten sie ihm diese letzte Lektion erst, nachdem Murdo ein Nickerchen unter der heißen Sonne des Südens gemacht hatte. Als er erwachte, war ihm lediglich übel, doch am Abend litt er Todesqualen. Er hatte das Gefühl, als hätte jemand glühende Kohlen über seine Schultern und seinen Rücken geschüttet. Er konnte noch nicht einmal seine eigene Kleidung ertragen, und bei jeder noch so kleinen Bewegung brach der Schmerz in Wellen über ihn herein.

Nachdem die Seeleute sich ausreichend über seine Not amüsiert hatten, bekamen sie Mitleid mit ihm und zeigten Murdo, wie er dem Sonnenbrand mit einer Paste aus Seetang beikommen und wie er sich anschließend vor weiteren Verbrennungen schützen konnte, bis sich seine Haut an die Sonne gewöhnt hatte.

Selten weit entfernt von der Küste, gingen sie so häufig wie notwendig an Land, um Wasser aufzunehmen. Aber nur vereinzelt schlugen sie am Ufer ihr Lager auf; meist zogen sie es vor, über Nacht in einer geschützten Bucht zu ankern. Die wenigen Male, da sie doch an Land schliefen, sorgte Jon Reißzahn dafür, daß sie möglichst weit von menschlichen Siedlungen entfernt ans Ufer gingen - er sagte, er traue den Bewohnern fremder Länder nicht. Einmal jedoch, als sie um Frischwasser zu holen an Land gingen, fanden sie sich in unmittelbarer Nähe eines kleinen Weilers wieder. Nach Sonnenuntergang zogen ein paar Männer noch einmal los, um Feuerholz zu sammeln und kehrten kurz darauf mit drei Schafen und einer Handvoll Gänseeier zurück.