Kapitel 12

Der nächste Tag zog sich schier unendlich in die Länge. An Schlaf war nicht zu denken, sodass Kyrana es gar nicht erst versuchte. Stattdessen schritt sie in ihrem abgedunkelten Zimmer auf und ab – Stunde um Stunde um Stunde. Immer wieder ging sie in Gedanken das kurze Gespräch mit Kelmar durch und versuchte, jedes einzelne Wort auf jede erdenkliche Art zu deuten. Womöglich hatte sie ihn falsch verstanden.

Oder etwas gehört, was ganz anders gemeint war. Vielleicht wünschte sie sich einfach viel zu sehr, ihn für sich zu haben und er hatte nur Mitleid. Immerhin war sie mit ihrem Geständnis, ihn zu lieben, regelrecht herausgeplatzt. Zweifel kamen auf, wuchsen – und wurden wieder verworfen. Konnte sie sich so sehr täuschen? Hatte sie nicht in seine Augen gesehen und dort nur wahre Gefühle gefunden?

Und dann dieser Kuss... Was sprach dagegen, dass sie nicht endlich einmal Glück haben sollte? Nichts! Alles würde gut werden. Oder etwa doch nicht? Je mehr sie grübelte und sich Fragen stellte, um diese sogleich zu beantworten und die Antworten sofort wieder zu verwerfen, umso unsicherer wurde sie. Als der Nachmittag sich dem Abend näherte, war sie nur mehr ein Nervenbündel. Doch galt es nun, sich und ihr kleines Reich auf Kelmars Besuch vorzubereiten.

Also verbannte sie entschlossen alle Vermutungen und Zweifel aus ihren Gedanken und widmete sich zunächst dem Zimmer. Peinlich genau räumte sie alles auf und strich Minutenlang die Decke auf ihrem Bett glatt. Dann eilte sie in den Keller des Anwesens, wo die Vorräte gelagert waren und deckte sich mit weißen Kerzen ein. Weiß war die Farbe der Unschuld. Diese Kerzen würden Kelmar das Wissen vermitteln, dass sie rein war wie ein unbeflecktes Laken.

Dass sie auf ihn gewartet hatte. Immer. Ihr ganzes Leben lang, bis heute. Ein Lächeln der Vorfreude lag auf Kyranas Lippen, als sie die Kerzen schließlich überall im Zimmer verteilt und angezündet hatte. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk – es würde ihm sicherlich gefallen. Das Flackern der Kerzen vermischte sich mit den züngelnden Flammen des Kamins und warf tanzende Schatten an Wände und Decke. Es war ein würdiger Rahmen für ein wichtiges Gespräch, so befand sie. Als die Sonne endlich vollends untergegangen war, öffnete sie die schweren Vorhänge und sah hinaus in die aufkommende Nacht.

Nicht mehr lange und Kelmar würde da sein. Grund genug, den wichtigsten Teil der Vorbereitungen in Angriff zu nehmen – die Kleiderfrage. Heute galt es, ganz besonders hübsch auszusehen. Es währte nicht lange und auf ihrem makellos glattgestrichenen Bett stapelten sich Roben und Kleider, Oberteile und Röcke. Kyrana stand davor und war ratlos. Noch nie hatte sie sich für ein Treffen mit einem Herrn angezogen und dementsprechend unsicher glitten ihre Augen über die Auswahl.

Auf keinen Fall wollte sie zu aufreizend erscheinen – eher neutral und unaufdringlich, denn immerhin wusste sie noch nicht, wie das Gespräch letztendlich verlaufen würde. Nicht auszudenken, wenn Kelmar kam, um ihr eine sanfte Abfuhr zu erteilen und sie sah aus, als wäre sie gewillt, ihn in ihr Bett zu nötigen. Ein nervöses Lachen entfuhr ihr bei der Vorstellung. Unauffällig und ein Wenig elegant, so wollte sie aussehen. Schließlich sollte er stolz auf sie sein.

Also entschied sie sich endlich für eine schlichte weiße Robe, hochgeschlossen und schmucklos. Die schmale Taille wurde von einem breiten, schwarzen Samtgürtel betont, dessen Bänder locker hinab fielen und auf Höhe der Knie endeten.

Auf Schuhwerk verzichtete sie, so wie sie es immer tat. Kelmar kannte sie nur barfuß und würde sich sicher wundern, wenn sie plötzlich in Schuhen daherkäme. Als Kyrana schließlich vor ihrem Spiegel stand und sich ihr Haar kämmte, war sie zufrieden mit ihrem Anblick. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich tatsächlich hübsch fand, so zart und zerbrechlich wie sich ihr Spiegelbild darbot.

Nun galt es nur noch, zu warten. Es war kein fester Zeitpunkt für Kelmars Besuch vereinbart, sodass er jeden Moment durch die Tür kommen konnte. Ein letzter Blick in die Runde zeigte, dass alles zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet war – also nahm sie in einem kleinen Sessel am Fenster Platz und legte die Hände im Schoß übereinander.

Sie saß noch nicht lange, als es klopfte. Ein freudiger Schimmer trat in ihre Augen und sie strich sich schnell noch einmal mit den Händen über ihre Robe. „Herein!“ Die Tür öffnete sich und Merian betrat das Zimmer. Verwundert hob er seine Augenbrauen, nachdem er sich umgesehen hatte. „Ich störe dich doch nicht bei...was auch immer?“, erkundigte er sich ein Wenig belustigt. „Ist heute ein besonderer Tag? Gibt es etwas zu feiern, von dem ich noch nichts weiß?“

Verlegen drehte Kyrana eines ihrer Gürtelbänder in den Fingern und schüttelte den Kopf. „Ich erwarte Besuch“, antwortete sie bemüht harmlos und gelassen, obwohl sie bereits wusste, dass Merian ihr die aufgesetzte Ruhe nicht glauben würde. „Besuch, so?“ Seine Augen nahmen eine Spur von Neugier an, denn sie hatte selten Gäste. Schon gar keine, für welche solch ein Aufwand betrieben wurde. Wieder schaute er umher und ließ den Blick auf ihr enden. „Ein heimlicher Verehrer?“ Er trat näher und lächelte sie an. „Hoffentlich ist er die Mühen wert.“

Kyrana versuchte gar nicht erst zu leugnen. Sie wusste, dass Merian sie sowieso durchschauen würde. Daher beeilte sie sich, sein Lächeln zu erwidern und zu nicken. „Ich bin schrecklich aufgeregt“, gestand sie dann leise – und das entsprach durchaus der Wahrheit. Auch wenn sie ihm auf gar keinen Fall sagen würde, wen sie erwartete, so war er doch genau der Richtige, sie in ihrer Nervosität zu beruhigen.

Merian überbrückte den Weg zum Fenster mit wenigen Schritten und ergriff sanft ihre Hand, um sie zu tätscheln. „Ich weiß zwar nicht, um wen es sich handelt – doch er müsste blind sein, wenn er nicht erkennen würde, wie wertvoll du bist“, sprach er ehrlich. „Ich wünsche dir eine vergnügliche Nacht.“ Mit diesen Worten entließ er ihre Hand zurück in ihren Schoß und wandte sich um, das Zimmer wieder zu verlassen. Sein Anliegen hatte Zeit bis zum nächsten Tag.

„Danke!“ Kyrana sah ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann rückte sie sich in ihrem Sessel zurecht, strich zum wiederholten Male die Robe glatt und wartete auf das Klopfen, welches Kelmars Ankunft ankündigen würde.

*

Vorwitzige Spuren von erstem Sonnenlicht wagten sich durch das Fenster und kündigten einen neuen Tag an. Die Kerzen waren bis zur Neige herunter gebrannt und im Kamin zeugte lediglich noch ein Häufchen Asche von dem Feuer der vergangenen Nacht.

Kyrana saß unverändert in ihrem Sessel, starr den Blick gen Tür gerichtet, die Finger in die dünnen Polster der Lehnen gegraben. Er war nicht gekommen...Er war nicht gekommen! Nicht einmal eine Nachricht hatte sie erreicht, dass Kelmar verhindert wäre. Dass ihr Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt verschoben sei.

Nichts – einfach gar nichts. Sie war ihm nicht einmal eine Absage wert gewesen. Diese bittere Erkenntnis veranlasste sie schließlich, ihre schwer gewordenen Glieder zu strecken und sich zu erheben. Mechanisch schloss sie die Vorhänge an den Fenstern und stand kurz darauf mitten im Raum. Das Zimmer kam ihr plötzlich riesig vor, kalt und unpersönlich. Er war nicht gekommen und sie fühlte sich unendlich betrogen und einsam.

Wie sollte sie Kelmar je wieder in die Augen sehen? Oder er ihr? Diese Nacht des Wartens hatte alles verändert. In ihr war nur noch Leere. Keine Traurigkeit und keine Wut. Nur Leere. Ohne ihr Bild im Spiegel auch nur eines Blickes zu würdigen, trat sie davor und löste den Gürtel, zog die weiße Robe aus und ließ beides achtlos zu Boden fallen. Dann griff sie ein Nachtkleid und warf es sich über. Müdigkeit strömte auf sie ein, als hätte das lange Sitzen und Warten sie vollends zermürbt.

Er war nicht gekommen. Na und? Sie war Kummer gewöhnt. Und Einsamkeit. Ablehnung. Was hatte sie erwartet? Dass das Schicksal es einmal gut mit ihr meinen würde? Ihre blanken Füße nahmen ganz von selbst den Weg hinüber zum Bett auf, wo sie mit einem Schwung die peinlich glattgestrichene Decke beiseite fegte. Dann verkroch sie sich unter der Decke und zog sich jene bis weit über den Kopf hinauf.