Kapitel 11
Die Gelegenheit dazu ergab sich schon in der darauffolgenden Nacht. Ein Wandlungsritual stand bevor, zu dessen Festlichkeit Kyrana in Lynns Haus geladen war. Diesmal würde sie als Gast dabei sein, um das zukünftige Nachtwesen in seinem neuen Dasein zu begrüßen. Kaum dass die Sonne am Horizont versunken war, machte sie sich in Begleitung Merians auf den Weg. Es war nicht weit bis zu Lynns Anwesen, doch sie ließen sich Zeit.
Nebeneinander schlenderten sie den Weg hinauf, wobei ihnen wohl Beiden die gleichen Gedanken innewohnten. „Es ist lange her. Sehr lange.“ Merians Stimme nahm einen wohlwollenden Klang an und er warf ihr einen warmen Blick zu. „Damals dachte ich nicht, dass du dich so wunderbar in unsere Reihen einfügen würdest. Obwohl Kelmar immer schon fest von dir überzeugt war.“ Kyrana musste lächeln. „Ich war entsetzlich aufgeregt und befürchtete schon, du könntest mir in deinem Schlafgemach Gewalt antun.“ Heute kam ihr jener Gedanke geradezu absurd vor.
Merian hob erstaunt eine Augenbraue und schien diese Information zunächst einmal verarbeiten zu müssen. Dann lachte er beinahe vergnügt auf und zwinkerte ihr zu. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich es vielleicht sogar drauf ankommen lassen“, scherzte er gutgelaunt. Und fuhr dann fort: “Ich für meinen Teil befand dich als schwierig und nicht geeignet. Was nicht zuletzt an der Art unseres allerersten Zusammentreffens gelegen haben mag.“
Sie erinnerte sich an ihren nächtlichen Einbruch in Kelmars Bibliothek. Es war so lange her, doch jetzt erschien es ihr, als sei es gestern gewesen. „Damals war ich noch ein Kind!“, gab sie entschuldigend zurück.
„Und recht forsch obendrein.“ Merian blieb stehen und wandte sich ihr zu, ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. „Kyrana, du sollst wissen, dass ich stolz bin, dich in mein Haus geschaffen zu haben“, sprach er, wieder ernst geworden. Seine schwarzen Augen suchten ihren Blick und hielten ihn fest. „Kelmar hat eine weise Entscheidung getroffen, dich erwählt zu haben. Du bist eine Bereicherung für uns.“
Verlegen erwiderte sie seinen Blick und seinen Händedruck. In den vielen letzten Jahren hatte sie erkannt, dass er nicht streng und kalt, sondern nur zurückhaltend war. Mittlerweile wusste sie, dass seine kurz angebundene Art nicht Ablehnung, sondern Reserviertheit bedeutete. Doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und wusste, mit ihm umzugehen. „Du warst mir von Anfang an ein guter Lehrmeister und Beschützer. Ich schätze dich sehr.“ Sie lächelte zu ihm hinauf und er nickte.
Dann wanderten sie weiter den Weg entlang, Hand in Hand und in schweigender Eintracht. Es war alles gesagt – mehr Worte waren nicht nötig.
*
Lynns Anwesen konnte ruhigen Gewissens als gruselig beschrieben werden. Sie hatte eine Vorliebe für Totenköpfe und düstere, schwere Stoffe, mit welchen die Innenräume großzügig dekoriert waren. Große, schwarz umflorte Spiegel zierten die Wände und ließen sie noch tiefer und finsterer erscheinen. Überall standen metallene Schalen, in welchen grünlich flackernde Magiefeuer brannten.
Als Einzigste der fünf Obersten ließ sie es sich nicht nehmen, in einem Sarg zu schlafen, der anstelle eines bequemen Bettes in ihrem Schlafzimmer stand. Ganz im Sinne der alten Traditionen vergangener Generationen.
Das Kaminzimmer war ein eher kleiner Raum, in welchem zuerst ein brokat-bezogener Diwan ins Auge stach. Als Kyrana und Merian eintraten, saß auf eben jenem ein verängstigt drein blickender junger Mann und starrte in einen Handspiegel, welchen ihm Lynn vor sein Gesicht hielt. „Sieh in dieses Fenster, Mensch“, intonierte sie mit gleichbleibend monotoner Stimme. „Sieh in dein zukünftiges Leben, finde dein neues Sein, zerreiße deine jämmerliche Seele und knüpfe sie neu auf einer höheren Ebene...unserer Ebene.“ Die bereits anwesenden Gäste murmelten Beifall.
Nur schwer konnte Kyrana sich von diesem eigentümlich anmutenden Anblick losreißen, um hinter Merian daran vorbei und in eine hintere Ecke des Zimmers zu huschen. Es war das erste Mal, dass sie zu einer Wandlung geladen war – ein Zeichen, dass sie nun voll und ganz als Mitglied in den Reihen der Nachtwesen anerkannt wurde. Erstaunt stellte sie fest, dass das Ritual wohl keinen festen Regeln folgte. Es schien ein jedes Mal anders zu verlaufen. Merian gab ihr einen silbernen Kelch mit Lebenselixier in die Hand und bedeutete ihr dann mit kurzem Blick, aufmerksam zuzuschauen.
Der junge Mensch stammelte und stotterte. Ganz offensichtlich war er verstört und wusste nicht, wie ihm geschah. Kyrana fragte sich, was wohl das Besondere an ihm sein mochte, das Kelmar dazu bewogen hatte, ausgerechnet ihn zu erwählen. Wie gebannt sah er in den Spiegel und murmelte abgehackte Sätze von 'Vorsehung' und 'Zukunft'. Dabei suchten seine Hände rastlos auf dem Diwan nach etwas, woran er sich festhalten könnte.
Plötzlich unterbrach eine herrische Handbewegung Lynns seinen zähen Redefluss – und augenblicklich wurde es still im Raum. Keiner der Anwesenden gab mehr einen Laut von sich, als sie sich vorbeugte und ihren seelenlosen Blick in Seinen tauchte.
„Du wirst es erkennen, Mensch...“, raunte sie ihm zu, ehe sie blitzschnell ihre Fänge in seinen Hals schlug. Der junge Mann saß steif und starr, halb unter ihr begraben, und starrte entsetzt in die Tiefe des Zimmers. Seine suchenden Hände in den Stoff des Diwans gekrallt, schien er mit seinem Leben abgeschlossen zu haben. Irgendwann fingen seine Lider an zu flattern und er sackte mit einem Stöhnen in sich zusammen.
Mit erstaunlich sanfter Bewegung bettete Lynn ihn auf den Diwan und griff nach einem fein gearbeiteten silbernen Dolch, welcher auf einem kleinen Tisch lag. Der Schnitt in ihre Hand war nicht tief, entließ jedoch einige dunkelrote Tropfen ihres Lebenssaftes, welche sie auf des Jünglings halb geöffnete Lippen rieseln ließ. Dann erhob sie sich und sah in die Runde der umstehenden Gäste. „Es ist vollbracht.“
*
Die Zeit bis zu dem Erwachen des neu geschaffenen Nachtwesens wollte Kyrana im Garten des Anwesens abwarten – mit sich und ihren Gedanken alleine. Das gerade Erlebte wollte durchdacht und verarbeitet werden. So saß sie nun in Lynns Gartenpavillon auf einer steinernen Bank und drehte ihren Kelch in den Händen. Der junge Mann tat ihr nicht leid, nicht im Geringsten.
Und doch sah sie ununterbrochen seine panisch aufgerissenen Augen vor sich. Genau wie sie selbst seinerzeit wusste er nicht, was auf ihn zukam und Lynns geheimnisvolles Gerede hatte ihn mehr verwirrt, als beruhigt. „Kleine Hexe, hier bist du.“ Kelmars Stimme riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie aufblicken. „Ich habe dich gesucht. Fühlst du dich nicht wohl?“
Er klang besorgt, sodass sie schnell mit einem Kopfschütteln lächelte und ihm winkte, sich doch neben sie zu setzen. „Ich dachte nur über meine eigene Wandlung nach. Und darüber, wie viel Angst man doch unnötigerweise hat“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Er nahm neben ihr Platz und sah forschend in ihr Gesicht. „Hat es dir je leid getan, Kyrana?“,erkundigte er sich schließlich. „Du kannst es mir ruhig sagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich es höre...“
„Nein, nein, im Gegenteil!“, gab sie eilig zurück. Wie kam er denn nur auf solche Gedanken? „Es war das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist.“ Schnell legte sie eine Hand auf seinen Arm, um ihn zu beruhigen. „Du weißt doch, dass ich in meinem menschlichen Leben unglücklich war. Niemand mochte mich leiden; ich war so oft einsam und fragte mich, wozu ich überhaupt gut bin. Aber du hast...“ Verlegen verstummte sie und senkte den Blick in ihren Kelch.
Sanft umschlossen Kelmars Finger ihre Hand und seine Stimme kam einen Flüstern gleich: „Sieh mich an, kleine Hexe“, bat er. „Ich habe deine besondere Schönheit erkannt, deine innere Stärke und deinen unbändigen Willen, mit der finsteren Magie Eins zu werden. Ist es nicht so?“ Kyrana nickte und sah zurück in seine Augen. Es lag soviel Güte und Freundlichkeit darin, dass sie schlucken musste. Jetzt, jetzt würde sie es ihm sagen – keine Gelegenheit könnte besser sein, als dieses Zusammentreffen in einem romantischen Pavillon.
Er hatte sie gesucht. Weil er sich um sie sorgt. Grund genug, ihm endlich, nach all den Jahrzehnten ihre bedingungslose Liebe zu gestehen. „Ich...“, hob sie an und musste sich räuspern, weil ihre Stimme so zitterte. „Ich...“ „Ja? Du?“ Die gespannte Erwartung in Kelmars Augen sprang ihr förmlich entgegen und ließ ihren Mut sinken.
Vielleicht war es doch kein so guter Gedanke, ihm jetzt und hier... „Ich habe mich gefragt, ob du mit Niobe glücklich bist. Sie wirkt immer so traurig und abweisend“, hörte sie sich schließlich sagen. Und biss sich sogleich auf die Lippen. Kelmars Blick verfinsterte sich augenblicklich und der Griff um ihre Hand wurde fester. Ein Schweigen folgte, in dessen Verlauf hunderte Gedanken durch ihren Kopf schwirrten, denn sie wusste nicht, was dieser Ausdruck in seinen Augen zu bedeuten hatte. Wie konnte sie auch so dämlich sein, sich in seine Angelegenheiten einzumischen?
Es ging sie überhaupt nichts an, ob er mit seiner Gemahlin glücklich war – oder jene mit ihm. Gerade wollte sie etwas Beschwichtigendes, Entschuldigendes nachschieben, als er wieder die Stimme erhob. „Es war ein Fehler sie zu ehelichen, sie zu wandeln.“ Unverwandt haftete sein Blick in Ihrem und nahm wieder die gewohnte Milde an. „Ich wollte sie unbedingt...“, sprach er leiser weiter. „Ich wollte sie ganz für mich. Für immer. Sie war so wunderschön und lebensfroh, als sie noch ein Mensch war. Sie lachte so, dass die Sonne aufzugehen schien und die kalte Nacht wärmer wurde. Doch jetzt... Es war ein Fehler.“
Seine letzten Worte klangen so bitter und tief verletzt, dass Kyrana die Liebeserklärung an Niobe davor gänzlich vergaß. Sie stellte ihren Kelch neben der Bank auf den Boden und rückte näher zu ihm heran. „Du konntest es nicht wissen, wie alles kommen würde. Ich liebe dich.“ Es floss über ihre Lippen, noch ehe sie es aufhalten konnte. Erschrocken über sich selbst schlug sie eine Hand vor den Mund und starrte Kelmar an. Jetzt würde er lachen oder aufstehen und weggehen. Und es würde ihr ganz Recht geschehen!
Doch nichts dergleichen passierte. Nach einer ganzen Weile ergriff er auch diese Hand und hielt nun ihre beiden Hände mit Seinen umschlossen. „Mit dir wäre ich glücklich; das weiß ich heute“, gestand er leise. „Seinerzeit war ich geblendet und konnte nicht erkennen, wo die wahre Liebe meines Lebens wartete. Du warst immer da – auch damals schon...“ Sein Blick in ihre Augen stand voller unausgesprochener Worte und das folgende Kopfschütteln schien, als wollte er damit alles Gewesene von sich abschütteln. „Verzeih mir.“
„Nicht doch! Du musst dich nicht entschuldigen, Kelmar.“ Sie erwiderte seinen Blick mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen. Noch konnte sie ihr Glück kaum fassen. Er bereute seinen Bund mit Niobe und wäre stattdessen lieber mit ihr zusammen. Das war viel, viel mehr, als sie sich je erhofft hatte. „Es ist noch nicht zu spät, weißt du?“, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, als gelte es, ein süßes Geheimnis zu wahren. „Wir haben noch so viel Zeit vor uns. Ein ewiges Leben. Vielleicht...“ Der Mut verließ sie und neue Zweifel kamen in ihr auf. Womöglich hatte er vor, an seiner Ehe festzuhalten, weil er hoffte, es würde sich alles zum Guten wenden. Fragend sah sie ihn an.
Kelmar entließ ihre Hände aus seinem Griff und rahmte stattdessen sanft ihr Gesicht. Sein tiefer Blick in ihre Augen ließ alle Bedenken verpuffen und sich in Nichts auflösen. In unendlicher Zärtlichkeit berührten seine Lippen die Ihren. Kyrana schloss ihre Augen und erwiderte seinen Kuss zuerst zaghaft, dann voller Hingabe. Wohlige Schauer tanzten über ihren Rücken und schienen sie einzuhüllen wie ein weicher Schleier. Sie war glücklich. Wie von selbst wanderten ihre Hände Kelmars Arme entlang und verschlangen sich in seinem Nacken. Würde dieser Kuss doch niemals enden, jetzt, da sie endlich am Ziel all ihrer Wünsche angelangt war.
Doch schließlich löste sich Kelmar von ihren Lippen und flüsterte: „Wir müssen wieder hineingehen, kleine Hexe. Sonst wird man uns vermissen.“ Kyrana nickte träge. Es war ihr, als würde sie gerade aus einem tiefen Traum erwachen, den sie eigentlich bis ans Ende ihrer Tage weiter träumen wollte. „Ja...“ Ihre Stimme klang belegt und ihre Beine fühlten sich schwach an, als sie sich erhob und ihre Hand in Seine schlüpfen ließ.
„Morgen...“ Langsam, als wollte er jeden Schritt hinauszögern, ging Kelmar dicht neben ihr her, dem Haus entgegen. „Morgen Abend werde ich dich besuchen, dann werden wir Pläne für die Zukunft schmieden.“ Sie nickte stumm, mit strahlenden Augen und drückte seine Hand. Nur wenig später betraten sie wieder das Kaminzimmer. Der junge Mann war inzwischen aus seinem Todesschlaf erwacht und Lynn hieß ihn gerade in den ihrigen Reihen willkommen.
Schnell huschte Kyrana an den anderen Gästen vorbei und nahm sich einen neuen Kelch mit Lebenssaft. Dabei vermied sie es strikt, in Niobes Richtung zu sehen, in welche Kelmar sich begeben hatte. Dem prüfenden Blick Merians begegnete sie mit einem strahlenden Lächeln – sodass er ihr schließlich zunickte und sich dann wieder den Geschehnissen um den Diwan zuwandte.
Morgen...!