Kapitel 10
Es war eine jener Nächte, in denen der Mond hell am Himmel stand. Keine Wolke trübte seinen Schein, sodass die Gassen Nocryas gut beleuchtet waren. Allerlei Menschen tummelten sich noch zu später Stunde auf dem Marktplatz, denn Fahrendes Volk hatte seine Wagen dort im Kreis aufgestellt und bot bunt gemischten Zeitvertreib an. Mehrere Lagerfeuer brannten, in deren flackerndem Schein verschiedenste Darbietungen zum Verweilen einluden.
Ein verwegen aussehender Bursche jonglierte mit brennenden Fackeln, während ein Stück weiter eine spärlich bekleidete Tänzerin ihren Leib im Takt geschlagener Trommeln bewegte. Um den Hals trug sie eine Schlange, die sich züngelnd ihrem Tanz anpasste. Weiter hinten warfen Kinder unter anfeuerndem Gejohle ihrer Eltern mit kleinen, festen Bällen auf gestapelte Tonkrüge.
Der findige Wirt der ansässigen Taverne indes, hatte eiligst Tische und Bänke herbeigeschafft und schenkte dort emsig Met und Wein an Zuschauer aus, deren Münzen heute besonders locker saßen. Kyrana stand am Rande der Wagenburg in den Schatten und beobachtete das Treiben schon eine ganze Weile. Zu ihrer Zeit als Mensch hatte sie solche Ansammlungen stets gemieden. Doch das waren andere Zeiten. Wer könnte sie heutzutage noch erschrecken oder gar vertreiben?
Die Bürger Nocryas ganz gewiss nicht... Gerade als sie näher heran treten wollte, wurde ihr Blick von einer Dame angezogen, welche beim Wirt auf einer der Bänke saß und mit mehreren Kerlen schäkerte.
Sie saß kerzengerade, als wäre das grobe Holz der Bank ein Thron. Ihre übereinandergeschlagenen Beine umschmeichelte ein blütenweißes, seidig schimmerndes Gewand und über ihren hellen Umhang floss eine Flut blonder Locken bis zu ihrer Hüfte hinab. Leises, glockenhelles Lachen drang von ihren Lippen zu Kyrana herüber, derweil sie scheinbar vertraulich eine Hand auf den Arm eines der Burschen bettete. Niobe, Kelmars Gemahlin.
Kyrana verharrte und hob in wahrem Erstaunen eine weiße Augenbraue. Sie kannte Niobe nur wenig, hatte kaum je ein Wort mit ihr gewechselt. Jedoch war jene stets in sich gekehrt und traurig erschienen, wann immer sie ihr begegnete. Das Bild, was sich ihr hier gerade bot, stand in krassem Gegensatz dazu, sodass sie neugierig wurde. Womöglich könnte sie die unliebsame Konkurrentin dabei ertappen, wie sie Kelmar hinterging. Und das würde vielleicht eine bedeutende Wende in ihrem eigenen Leben bringen!
Mit einer entschlossenen Bewegung hob sie also die Kapuze ihres schwarzen Umhanges und legte sie über den Kopf, ließ das verräterisch weiße Haar darunter verschwinden und näherte sich dann lautlos auf blanken Sohlen dem Tisch etwas an. Gerade so, dass sie sich unauffällig an einen der Wagen anlehnen und lauschen konnte. Gesprächsfetzen waren zu vernehmen. Niobe schien sich als reiche Besitzerin eines Palastes am Rande der Stadt auszugeben, welche gerade in der Langeweile ihres Oberschichtmüßigganges zu versinken drohte.
Kyrana presste die Lippen zusammen, als einer der umsitzenden Kerle ohne große Scheu seine Hand auf den Oberschenkel von Kelmars Gattin legte. Wie konnte jene sich das gefallen lassen? Mehr noch. Wie konnte sie lachen und dem Burschen gar einen Kuss auf seine Wange geben?
Wie konnte sie sich erheben, sanft seine vorwitzige Hand ergreifen und ihn mit einem vielversprechenden Lächeln auf den Lippen abseits ziehen – einer Häuserecke entgegen? Wie konnte sie nur?! Kyrana zog ihre Kapuze weiter in die Stirn, senkte den Kopf und folgte den beiden in einigem Abstand. Am Rande des Hauses blieb sie stehen und spähte vorsichtig um die Ecke. Niobes helles Lachen drang zu ihr hinüber und sie wurde Zeuge, wie jene den Burschen gegen die Hauswand drängte, um sich sogleich seiner fordernden Umarmung zu überlassen.
Ohne sich zu rühren, stand Kyrana an Ort und Stelle, sah dem stürmischen Treiben eine scheinbar endlose Zeit lang zu, bis schmatzende Geräusche sie begreifen ließen, was wirklich vor sich ging. Kelmars Gemahlin stillte ihren Durst... Nur wenig später kündete ein leises Knacken davon, dass des Bursche Genick gebrochen war – und er sackte an der Wand entlang leblos zu Boden. Niobe entnahm ihrem Umhang ein weißes Tuch und tupfte sich seelenruhig die Lippen ab.
Dann wandte sie sich herum und ihre klaren Augen blickten eisig zu Kyrana hinüber. „Euer Duft eilt Euch voraus..., sprach sie mit leiser, kühler Stimme. „Weshalb verfolgt Ihr mein Tun?“ Ein kaltes, knappes Lachen folgte, während sie näher heran trat. „Dachtet Ihr, Ihr könntet meinem Gemahl Kunde bringen, ich vergnüge mich in fremden Betten?“. Sie zuckte die Schultern, während sie an Kyrana vorbei schritt und den Weg gen Wald einschlug. „Und wenn schon...“
Verblüfft nahm Kyrana die Verfolgung auf, denn schließlich hatten sie denselben Heimweg. Dabei warf sie dem toten Mann noch einen Blick zu. „Solltet Ihr ihn nicht verscharren oder verstecken? Es wäre unklug, ihn einfach dort liegenzulassen.“
Doch Niobe schien das anders zu sehen; sie winkte ab. „Mag sich um ihn kümmern wer will...“ Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie voran, mit wiegenden Hüften, anmutig wie eine Katze. Schweigend folgte Kyrana ihr. Sie fragte sich, was die Obersten wohl von solch unvorsichtigem Tun halten würden. Schließlich war es eines der höchsten Gesetze, die Geheimnisse der Nachtwesen zu bewahren – was auch ihre ganz eigene Art der Nahrungsaufnahme mit einschloss. Kein Opfer wurde am Leben gelassen und sorgfältigst beiseite geschafft. Keine Zeugen und keine Leichen, welche etwas verraten könnten.
Mit ihren Gedanken beschäftigt, folgte sie Niobe Schritt um Schritt, tiefer in die Wälder hinein und den Weg hinauf, der zu den Anwesen führte. Längst hatte das Schweigen zwischen ihnen den ersten Moment der Peinlichkeit hinter sich gelassen und dauerte wie selbstverständlich fort. Kyrana fragte sich, weshalb Niobes Verhalten so seltsam erschien. Einerseits war es ihr immer so vorgekommen, als sei jene still und traurig, ganz so wie am ersten Abend, als sie sie sah – damals in Kelmars Kaminzimmer. Andererseits hatte sie heute eine gänzlich andere Frau erlebt. Zuerst fast fröhlich und sorglos, dann kalt wie sprödes Eis.
Im Schein des Mondes ließ sie den Blick über Niobes Rückansicht wandern. Kein Zweifel, jene war eine Außenseiterin in den Reihen der Nachtwesen. Und wer wusste besser, was es heißt, ein Außenseiter zu sein, als sie selbst? Plötzliches Mitleid mit der Anderen ließ Kyrana ihre Schritte beschleunigen und zu jener aufschließen. „Ihr seid nicht glücklich oder?“, durchbrach sie leise die Stille und musterte fragend Niobes Profil. „Weshalb nicht? Kelmar ist doch ein so wundervoller Mann. Und Euch wurde die Ehre ewigen Lebens zuteil. Wie könnt Ihr da unglücklich sein?“
Die Antwort war Schweigen. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, verfolgte Niobe weiter ihren Weg und verhielt erst vor der Pforte von Merians Anwesen ihre Schritte. Sehr langsam wandte sie sich Kyrana zu und musterte sie kühl. „Langweilt mich nicht mit Gesprächen über Angelegenheiten, welche Euch nichts angehen, Werteste“ sprach sie knapp.
Dann legte sie die Kapuze ihres Umhanges über ihr blondes Lockenmeer, wandte sich abrupt ab und schritt davon, ohne sich noch einmal umzublicken. Kyrana sah ihr nach und fragte sich zum wiederholten Male, was Kelmar wohl an Niobe faszinierte. Er war so charmant, warmherzig und freundlich – das genaue Gegenteil dieser kalten Person. Eines Tages würde sie ihn danach fragen, um vielleicht zu begreifen...