Kapitel 6

"Seht, die Hexe! Dort geht sie, nehmt euch in Acht!" Deutlich konnte Kyrana die Worte verstehen. Und sie wusste ohne hin zu sehen, dass die jungen Burschen von ihr sprachen. Den Kopf hoch erhoben und die Augen auf die Gesichter der beiden Jünglinge gerichtet, ging sie weiter. Schweigend. Wie schon seit ihrer Kindheit, sahen die Bewohner Nocryas nicht ihr freundliches Wesen oder die liebenswerte Schüchternheit, welche sie auszeichnete.

Nein, sie sahen die weißen Haare und wichen misstrauisch dem Blick ihrer roten Augen aus. Und es war noch schlimmer gekommen. Kyranas Versuche, die düstere Magie zu erlernen und zu beherrschen, waren den aufmerksamen Blicken mancher nicht verborgen geblieben. Jemand hatte sie beobachtet auf jener Lichtung im Wald, wo sie oft im Glanz der untergehenden Sonne ihre Fähigkeiten erprobte.

Mittlerweile haftete ihr der Ruf an, eine schwarze Hexe zu sein. Man rief heimlich die Götter an, sich vor ihr zu schützen, sobald sie in der Stadt auftauchte. Und manch wagemutiger Jüngling spuckte sogar vor ihr auf den Boden, sobald sie seinen Weg kreuzte. Vedyn und Jara war es nicht gelungen, ihre Tochter von den Wegen der Magie abzubringen und so hatten sie schließlich aufgegeben.

Sie beschränkten sich darauf, ihr einziges Kind in Liebe und Verständnis einzuhüllen, wie in einen warmen Umhang. Doch war Kyrana ihnen längst entglitten. Selbst von Kelmar hielt sie sich fern, obwohl er stets ihre Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte beherrschte. Sein Anwesen in den westlichen Hügeln hatte sie nicht mehr aufgesucht, aus Angst, er könnte bemerken, dass sie nicht auf seine Worte gehört hatte.

Wie sehr hatte er sich doch geirrt! Die Magie schadete ihr nicht. Jetzt nicht mehr. Zu Anfang vielleicht. Aber, aller Anfang war ja bekanntlich schwer. Das ledergebundene Buch hatte ihr nach und nach seine Geheimnisse enthüllt. Und trotz einiger 'Unfälle' war es ihr gelungen, die Magie unter ihre Kontrolle zu bringen. Es faszinierte sie, Herrscherin über den Tod zu sein. Es half ihr, sich nicht mehr so verlassen zu fühlen und erfüllte sie von den Zehen bis zu den Haarspitzen mit glühendem Leben.

Sie hatte sich angewöhnt, kein Schuhwerk mehr zu tragen, weil sie es liebte, wie die Gräser unter ihren nackten Füßen eine bräunliche Färbung annahmen. Ein Zeichen dafür, dass die Macht der todbringenden Magie inzwischen fest in ihrem Körper verankert war. Kaum sichtbar noch, aber vorhanden. Manchmal machte sie sich einen kleinen Spaß daraus, jemanden an der Schulter zu berühren. Die erschrockenen Gesichter der Leute in diesem Moment gaben ihr Genugtuung für jedes beleidigende Wort, welches sie hatte ertragen müssen. Kyrana blickte in die entsetzt aufgerissenen Augen und wusste, was jene fühlten:

Schwäche und die Ahnung über einen bevorstehenden Tod. Sie selbst war stark in diesen Augenblicken und sie genoss es. Längst brauchte sie die Formeln der Magie nicht mehr laut zu sprechen. Es genügte, wenn sie sich konzentrierte und fest daran dachte. Der Zauber war stets in ihr und schlummerte nur, bis sie ihn zum Leben erweckte. Sie war eine Hexe, ja. Und sie war stolz darauf.

*

Es war der Tag ihres zwanzigsten Wiegenfestes. Schon bei den ersten Sonnenstrahlen erhob sich Kyrana und legte eines ihrer schwarzen Gewänder an. Sie trug nur noch Schwarz. Weil es ihre geheimnisvolle Ausstrahlung unterstrich, wie sie fand. Wenn sie schon besonders sein sollte, dann richtig. Lange bürstete sie ihr Haar, welches ihr mittlerweile silbern bis zu den Hüften fiel. Dann warf sie sich Kelmars Umhang über die Schultern und schlich sich durch die Hintertür aus dem Haus.

Die Morgenluft duftete erfrischend nach taubedeckten Blüten und frischem Gras, als sie ihre nackten Füße in Richtung des Waldrandes lenkte. "Akash!" rief sie und blieb stehen. Leises Vogelgezwitscher begrüßte sie aus den Baumkronen und übertönte die geschmeidigen Schritte des weißen Wolfes, als er sich ihr näherte. Seine feuchte Schnauze stupste in ihre Hand und schwarze Augen sahen sie an. Sanft strich Kyrana durch das dichte Fell und lächelte. "Guten Morgen, mein Schöner."

Anmutig ließ sie sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder und genoss es, wie das mächtige Tier sich neben ihr auf den Waldboden setzte und seinen Kopf auf ihren Schoß bettete. Funkelnde Sonnenstrahlen brachen sich in seinen Augen, als er sie unverwandt ansah, als verstünde er jedes Wort, das sie an ihn richtete. "Ich habe gar nicht viel Zeit, weißt du?" Sprach sie leise. "Heute ist mein Wiegenfest und Mutter wartet sicherlich schon mit dem Frühstück.

Vater ist gestern mit dem Karren in die Stadt gefahren und noch immer nicht zurückgekehrt." Sie seufzte leise. Dies würde das erste Wiegenfest ohne ihren Vater sein. Ein seltsames und trauriges Gefühl. Schnell fuhr sie erneut mit der Hand über den Kopf des Wolfes. "Vielleicht darf ich ja am heutigen Abend etwas von Mutters Beerenwein trinken. Es wäre das erste Mal, aber nun bin ich ja schließlich erwachsen!

Gegen Sonnenhochstand werde ich hierher zurückkehren. Dann machen wir beide einen Ausflug zu unserer Lichtung, hörst du?" Sie nickte dem Wolf zu und schob sachte seinen Kopf von ihren Beinen. "Nun muss ich gehen, Akash. Achte auf dich!" Eilig trat sie den Rückweg an und erreichte schon bald wieder die Hintertür des Häuschens. Dort sah sie sich noch einmal um. Unverändert verharrte der Wolf am Waldrand und sah ihr nach.

*

Als sie die Küche betrat, war der Tisch ungedeckt und es grüßte sie auch nicht die liebevolle Stimme ihrer Mutter. Stattdessen, saß diese auf einem der Holzstühle und weinte. In der zitternden Rechten hielt sie ein zerknülltes Pergament. "Mutter?" Erschrocken blieb Kyrana stehen. Hilflosigkeit und Angst machten sich in ihr breit. "Was...ist denn geschehen?"

Die bebende Hand Jaras hielt das Papier in ihre Richtung. Ein gequältes Schluchzen kam, einer Antwort gleich, über ihre Lippen. Langsam setzte Kyrana sich hin und las die wenigen Zeilen. In knappen Worten teilte der Hauptmann der Wachen mit, dass man Vedyns Karren völlig zerstört im Wald gefunden hatte.

Er selbst war tot, erschlagen, wahrscheinlich von Wegelagerern. Man bat, dass Jara bis zum nächsten Morgengrauen den Leichnam ihres Gemahls abholen möge, um ihn zu bestatten. "Vater..." Kyranas Mund wurde trocken und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet, als er am Tag zuvor nach Nocrya aufgebrochen war. Niemals würde sie dies nachholen können. Starr saß sie auf ihrem Stuhl und sah auf das Pergament. Las wieder und wieder die nüchternen Lettern, als würde es ihr helfen, zu begreifen.

Das bitterliche Schluchzen ihrer Mutter ließ sie schließlich aufstehen und diese in die Arme nehmen. Zart strich sie über Jaras Haar. Ihre Mutter weinte nie. Zumindest war dies das erste Mal, dass sie es sah. Unablässig rollten Tränen über Kyranas Wangen, während sie verzweifelt nach tröstenden Worten suchte. Doch, es gab nichts zu sagen. Nichts, was den Schmerz lindern würde.

So hielten sie sich umfangen und ließen der Trauer freien Lauf. Kein Wiegenfest würde mehr sein wie vorher. Stets würde sie an den Tod ihres Vaters erinnert werden, wenn sie an einem dieser besonderen Tage des Morgens die Augen aufschlug. Keine Gabe würde sie mehr über den Verlust hinweg trösten können. Und das gemütliche Häuschen würde zukünftig kein Zuhause mehr sein.

In jedem Winkel lauerte die Erinnerung, um immer genau dann hervor zu springen, wenn es schien, dass die schweren Tage leichter werden würden. Vedyn war beerdigt worden. Kyrana und ihre Mutter fühlten sich in einer Starre gefangen, aus der es scheinbar kein Entrinnen gab. Mechanisch brachten sie Tage und Nächte hinter sich, verrichteten anfallende Aufgaben und sprachen miteinander. Doch die Lücke in ihren Herzen ließ sich nicht schließen.

Vor allem Jara litt sehr. Sie aß kaum, schlief kaum und ihre Haare ergrauten zusehends. Manchmal saß sie stundenlang in einem Sessel, hielt ein Hemd Vedyns in den Händen und starrte vor sich hin. Kyrana sah die Veränderung ihrer unglücklichen Mutter mit Sorge. Hilflos versuchte sie, stark zu sein, Jara zu helfen. Doch alles, was sie erntete, war ein mattes Lächeln und ein Blick aus glanzlosen Augen. Die wärmende Geborgenheit war aus dem kleinen Haus verbannt und hatte grauer Traurigkeit Platz gemacht.

Lähmend legte sie sich auf jeden Moment der Tage und Nächte. Ein Bote Kelmars, welcher anklopfte mit der Frage, aus welchen Gründen Jara nicht erschien, um ihrer Pflicht in der Bibliothek nachzukommen, musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Jara öffnete ihm nicht einmal die Tür und brachte Kyrana mit einer einzigen Handbewegung zum Schweigen, als diese auf das Klopfen antworten wollte.

Das ledergebundene Buch staubte auf dem Tischchen neben Kyranas Bett langsam zu, ohne dass sie es auch nur einmal in die Hände nahm. Nichts war mehr wichtig. Nur noch die Zähigkeit, mit deren Hilfe sie ihre Mutter von einem Tag zum nächsten brachte. Dann, kurz vor Vollendung von Kyranas einundzwanzigstem Lebensjahr, lag

Jara eines Morgens still in ihrem Bett. Ihre Augen waren geschlossen, um sich nie wieder zu öffnen. Die Götter hatten ein Einsehen mit ihrem Leid und holten sie in ihr ewiges Reich. Man bettete sie zur letzten Ruhe an der Seite ihres geliebten Gemahls.

*

Kyrana war nun alleine mit sich und ihrer Trauer. Niemand stand ihr zur Seite. Im Gegenteil, man höhnte hinter vorgehaltener Hand, dass die Hexe nun bekommen hatte, was sie längst verdiente. Doch, es kümmerte sie nicht. Nichts kümmerte sie mehr. Sie hatte die einzigen beiden Menschen verloren, welche ihr etwas bedeuteten.

Und ihr Herz wurde hart in seiner Einsamkeit. Nur noch Akash war nun an ihrer Seite. Er hatte sich tatsächlich aus den Tiefen der Wälder herausgewagt und stand eines Nachts vor der Eingangstür. Von da an fristeten die junge Frau und der weiße Wolf gemeinsam ihr Dasein in dem abgelegenen Häuschen und gelangten immer mehr zu geheimnisvoller Berühmtheit unter den Stadtbewohnern.