Kapitel 8

Eulenrufe weckten sie auf. Es klang so laut an ihre Ohren, als säße sie mitten in einem Nest. Mit geschlossenen Augen und matten, schweren Gliedern lauschte sie. Wo war sie und was war geschehen? Keinerlei Erinnerungen wollten sich einstellen; ihr Kopf schien vollkommen leer zu sein. Vorsichtig rührte sie einen ihrer Finger und spürte sofort, dass es sie Unmengen an Kraft kostete. Ihr Mund war ausgedorrt und fühlte sich an, als habe sie Metall gelutscht.

Durst... Ein leises Ächzen entwich ihr und hallte sogleich in ihrem Kopf wider. Unter sich spürte sie einen harten Untergrund, welcher üppig nach Gras duftete. Lag sie auf einer Wiese? Und falls ja, wie war sie hierher gekommen? Ein träges Tasten mit kraftloser Hand bestätigte ihre Vermutung. „Wo...?“ Es war lediglich ein Krächzen, doch eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Der Garten. Erinnerst du dich?“

Sie kannte die Stimme, doch ihr gelähmter Verstand weigerte sich, jene einem Gesicht zuzuordnen. „Vater?“ Wahrscheinlich befand sie sich im Reich der Götter und traf dort gerade auf ihre verstorbenen Eltern... „Mutter?“ Eine starke Hand umschloss ihre steifen Finger und drückte sie sachte. „Willkommen zurück, Kyrana“, erklang es durch den Schleier der Eulenrufe. „Öffne die Augen und sieh dich um.“

Ihre Lider flatterten und waren schwer wie Blei, doch trotzdem versuchte sie, der Aufforderung Folge zu leisten. Jemand saß neben ihr und hielt ihre Hand. Es war ein Mann – aber nicht ihr Vater. „Merian...“ Nur sehr langsam tröpfelte es über ihre Lippen. „Bin ich tot?“ Mit einem leisen Lachen betrachtete er sie für einen Moment aus milden Augen. Dann antwortete er: „Man könnte sagen, es ist Ansichtssache. Leben und Tod sind miteinander verknüpft. Erinnerst du dich?“

Mit ruhiger Bewegung zog er das Amulett aus ihrem Halsausschnitt und schloss ihre kraftlosen Finger darum. Erschrocken zuckte sie zusammen, als habe sie sich daran verbrannt. „Es...fühlt sich ganz warm an.“ „Das ist das Leben“, gab er beruhigend zurück und bedachte sie erneut mit einem Lächeln. „Ich habe dich dem Tod entrissen, indem ich dir mein Lebenselixier gab.“ Kyranas Hirn arbeitete viel zu langsam, als dass die auch nur ein einziges Wort verstand. Dennoch nickte sie und versuchte, sich unter leisem Stöhnen aufzurichten. Als sie schließlich saß und sich umsah, weiteten sich ihre Augen erstaunt.

„Es ist Tag geworden. Wie...lange habe ich...geschlafen?“ „Ich nehme an, wohl etwas weniger als eine Stunde“, entgegnete Merian trocken. „Es erscheint dir nur so, als wäre es Tag. Deine Sinne sind schärfer als zuvor. Du siehst um ein Vielfaches besser. Und hörst du die Eule? Sie sitzt dort hinten auf einem Baum.“ Ungläubig suchte ihr Blick den Rand des Gartens ab, fand schließlich den Uhu und blieb an jenem haften. Ein verwirrtes Kopfschütteln folgte, welches augenblicklich neuen Schwindel aufkommen ließ. „Es ist unglaublich.“ Was war bloß mit ihr geschehen? Lebenselixier...

Ihre Augen rissen sich von der Eule los und richteten sich auf Merian, als Bruchstücke einer Erinnerung zurückkamen. „Du hast mich gebissen!“ Er nickte sonderbar ernst. „In der Tat, so ist es. Ich musste dein altes Leben aus dir heraussaugen, um dir dieses neue, bessere Dasein geben zu können. Komm.“ Mit diesen Worten hielt er ihr die Hand hin, auf dass sie aufstehen möge. „Nun werden wir dafür sorgen, dass du wieder zu Kräften kommst.“

*

Als sie zurück in das Kaminzimmer traten, sahen ihnen die Anwesenden erwartungsvoll entgegen. Die Stimmung schien sich verändert zu haben – zumindest erschien es Kyrana so. Sie nahm es wahr, obwohl sie sich immer noch schwach und elend fühlte. „Kelmar...“ Eben jener trat ihnen bereits entgegen und löste ihre verkrampfte Hand aus Merians Armbeuge. Dann führte er sie zu einem Sessel, welchen eine junge Dame mit schwarzen Augen und ebensolchen Haaren fürsorglich zurecht schob. Mit einem erleichterten Ächzen ließ sie sich in die weichen Polster sinken und wagte dann einen Blick in die vielen fremden Gesichter.

„Mir ist so kalt“, flüsterte sie Kelmar zu und er nickte. „Es wird dir gleich besser gehen. Ich verspreche es.“ Als wäre dies ihr Stichwort gewesen, trat Niobe, seine Gemahlin, heran und reichte auf einem silbernen Tablett hohe, schmale Kelche herum. Ihre klaren Augen verweilten dabei für einen Moment forschend auf Kyranas Antlitz, ehe sie auch ihr einen Kelch in die Hand gab. Dann zog sie sich wieder zu den anderen Besuchern zurück. Kelmar räusperte sich und abwartende Stille legte sich über den Raum. Sachte erhob er seinen Kelch und sprach mit warmer Stimme: „Heißen wir Kyrana Yiory in unseren Reihen willkommen! Sie hat das Elend ihres menschlichen

Daseins abgestreift und gibt uns die Ehre, von heute an als eine der Unseren in diesem Anwesen zu verweilen. Möge die Nacht mit ihr sein.“Zustimmendes Gemurmel wurde laut und man trank auf ihr Wohl. Sie selbst zögerte, denn der Inhalt ihres Kelches verströmte einen penetranten Geruch nach Metall. Gerade wollte sie das Wort erheben, um sich zu erkundigen, was genau ihr da kredenzt wurde, als sich Merian von hinten zu ihrem Ohr hinab beugte. „Trink“, raunte er ihr zu. „Denk nicht, sondern leere deinen Kelch.“

Gehorsam tat sie wie ihr geheißen. Und schon die ersten samtigen Schlucke ließen sie erstaunt die Augen aufreißen. Es fühlte sich an, als würde Wärme in sie eindringen und jede Faser ihres Körpers erfüllen. Die Schwäche und das Unwohlsein schwanden und machten einer inneren Kraft Platz, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Gierig trank sie ohne abzulassen, bis der Kelch leer war. Dann erst sah sie auf – mitten hinein in Kelmars lächelndes Gesicht. „Es gefällt dir“, sprach er mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme und nickte. „Ich wusste es.“ Dann löste er den Kelch aus ihrem Griff, stellte ihn auf den Tisch und deutete auf einige Anwesende, welche in erster Reihe neben ihm standen.

„Nun, da du wieder bei Kräften bist, möchte ich dir die Obersten vorstellen. Merian kennst du bereits. Er gebietet über das Feuer und ist ein Meister des Gestaltwandels. Näheres wirst du später noch von ihm erfahren“ Unruhig rutschte Kyrana hin und her. Die neu gewonnene Lebenskraft tobte in ihr wie ein Sturm und verlangte danach, sich zu entfalten. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hinausgerannt – einfach nur gerannt, gerannt, gerannt, um zu sehen, ob sie wohl irgendwann müde werden würde.

Doch Kelmars fester Blick bannte sie in ihren Sessel und forderte alle Aufmerksamkeit. „Die junge Dame dort ist Lynn Valoth, Erste des dritten Hauses.“ Er wies auf die Frau, die den Sessel heran geschoben hatte. „Ihre Fähigkeit ist die Gedankenkontrolle. Kein Wesen ist vor ihren Manipulationen sicher. Also nimm dich vor ihr in Acht.“ Er zwinkerte Kyrana zu und wandte sich sodann einer zarten, blonden Schönheit zu, welche neben Lynn stand. „Dies ist Alyiena Wryl, unsere Heilerin und Oberste des vierten Hauses. Sie hat es zu wahrer Vollendung gebracht, Portale zu weben, die es uns erlauben, an andere Orte zu reisen.“

Eine kleine Pause entstand, in der sich Kyrana beeilte zu nicken, damit Kelmar wusste, sie lauschte aufmerksam. Und schon fuhr er fort: „Zuletzt stelle ich dir Kayo Zaroy vor.“ Er winkte einen drahtigen Mann mit langem, braunem Haar, stechend grünen Augen und harten Gesichtszügen näher heran. „Er ist Erster des fünften Hauses und wahrer Meister im Umgang mit Klingen aller Art.“

Wieder nickte sie, auch wenn besagter Klingenmeister ihr ziemlich unsympathisch war. „Darf ich jetzt hinausgehen?“ Kaum dass die Worte gesagt waren, biss sie sich auf die Lippen und zog den Kopf ein. Fast fühlte sie sich wieder in ihre Kindertage zurück versetzt. Doch kein Unmut zeigte sich in Kelmars Antlitz, im Gegenteil. Sein Lachen erfüllte den Raum, indes er nickte und auf sie zu trat, um ihr die Hand zu reichen. „Ich werde dich begleiten. Sehen wir, was das neue Leben Schönes zu bieten hat.“

*

Selig die Hand in Seine gebettet, so schritt Kyrana wenig später neben Kelmar durch den Garten von Merians Anwesen. Noch immer war es Nacht und die Eule entließ ab und an einen Ruf in die Stille. Sie hätte so viele Fragen zu stellen, doch keine davon war es wert, diesen Augenblick des Glücks zu zerstören. Es fühlte sich beinahe an, als wäre sie seine Gefährtin, die Gemahlin an seiner Seite.

Natürlich war der Gedanke unwirklich – aber doch so beflügelnd, dass sie hätte tanzen und singen können. Er war von Kindesbeinen an die Liebe ihres Lebens und würde es wohl immer sein. Dabei war es gar nicht wichtig, was er für sie empfand... Denn eigentlich hatte sie sich schon damit abgefunden, dass er einer Anderen gehörte und in ihr wohl nie mehr als eine Schülerin, Schwester oder Freundin sehen würde.

Doch träumen war erlaubt! Und sie beherrschte das Träumen in Vollendung. „Sieh doch nur, deine Augen.“ Kelmar blieb stehen, ergriff auch ihre zweite Hand und zog sie sanft näher an sich heran, um sie anzuschauen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, das sie in ihrer Euphorie als zärtlich empfand. „Sie haben ihre rote Farbe verloren und muten an wie reinstes Glas“, fuhr er leise fort. „Du bist wunderschön, Kyrana. Das neue Leben steht dir gut.“

Er löste eine Hand und bettete sie an ihre Wange, strich weich mit dem Daumen über ihre seidige Haut – und hauchte einen Kuss auf ihren Mundwinkel. Dann sah er wieder in ihre Augen und flüsterte: „Es war richtig, dich zu erwählen. Ich bin stolz auf dich.“ Würde in diesem Augenblick ein Blitz vom Himmel züngeln und sie erschlagen, sie würde glücklich sterben. In gebannter Atemlosigkeit lauschte sie jedem seiner Worte, spürte seine Lippen noch, als er sich längst wieder entfernt hatte. „Kelmar...“, hob sie mit bebender Stimme an, um ihm endlich ihre Gefühle zu offenbaren.

Er würde seine Gemahlin verlassen, um mit ihr zusammen zu sein, bei ihr, ewig...Doch sein Finger verschloss sachte ihre Lippen. Er lächelte und nickte leicht. „Ich weiß...“ Dann ergriff er wieder ihre Hand und wandte sich herum, den Weg zurück zum Haus aufzunehmen. „Es gibt jetzt für dich vieles zu lernen“, sprach er dabei zu ihr – und überbrückte damit gekonnt jenen winzigen Moment der Verlegenheit. „Merian wird dir zur Seite stehen und dir alles erklären. Er ist ein guter und geduldiger Lehrmeister.“

Sie nickte ganz automatisch und bemühte sich redlich, den Blick stur auf den Weg zu richten. Ihn bloß nicht anzusehen, damit er nicht in ihren Augen ihre Verwirrung und Verletztheit sehen konnte. Merian. Natürlich. Wer sonst?...

„Du wirst Gefallen an deinen neuen Fähigkeiten finden“, fuhr Kelmar unbeirrt fort. „Und ich...“ Er verstummte, bis sie die Eingangspforte erreicht hatten und Kyrana endlich den Blick zu ihm hob. „Ich werde dich in der Schattenmagie unterweisen. Denn ich weiß, dass dir das eine Herzensangelegenheit ist, kleine Hexe.“