KAPITEL 34
Stephen hustete noch einmal, woraufhin Rachel einen Anflug von Unbehagen spürte. Was, wenn der Junge krank wurde? Wirklich krank?
DeVontay hatte ein paar zusätzliche Matratzen in eines der Schlafzimmer im Obergeschoss geschleppt, das einem der toten Jungs gehört hatte. Dann war er nach draußen gegangen, um nach einer Schaufel zu suchen, denn, so hatte er gesagt, er wollte der Familie im Gegenzug für ihre Gastfreundschaft zu einem anständigen Begräbnis verhelfen. Stephen nahm ihm das nicht ab und Rachel fragte sich, ob DeVontay die Leichen einfach wie Holzplanken in einer der Stallboxen in der Scheune stapeln würde.
Stephen lag in Bettdecken eingehüllt auf dem Bett des toten Jungen und starrte die Zimmerdecke an. Rachel hatte eine Öllampe gefunden, deren sanfter, tänzelnder Schein gespensterhafte Schatten an die Decke warf.
»Wird der Geist des Jungen zurückkommen?«, fragte Stephen. »Wird er böse sein, weil ich mit seiner Eisenbahn gespielt habe?«
Rachel wischte Stephens ungleichmäßigen Pony aus seiner Stirn und prüfte dabei beiläufig seine Temperatur. »Natürlich nicht. Er ist im Himmel und spielt dort mit nagelneuem Spielzeug.«
»Ist seine Familie auch dort?«
»Ich bin mir sicher, sie sind es, Liebling.«
»Hat er einen Hund?«
»Es wäre kein Himmel ohne einen Hund, oder?« Rachel blickte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit, die sich über den Wald gelegt hatte. DeVontay hatte die Pistole bei ihr zurückgelassen und versprochen, dass sie morgen mit dem Gewehr Schießübungen machen würden.
Sie hatten sich stillschweigend darauf geeinigt, dass sie vorerst in diesem Farmhaus bleiben würden. Rachel freute sich auf das, was der Gemüsegarten ihnen bieten würde, und auf die Speisen, die sie zubereiten konnte. DeVontay war der Ansicht, dass das Haus im Notfall leicht zu verteidigen sein würde. »Gute Sichtlinien«, hatte er so gesagt, als ob es nicht bedeutete, dass es reichlich Zeit gab zu schießen, falls sich jemand nähern würde.
»Mir fehlt meine Mami«, sagte Stephen, während er auf die Schatten starrte, die auf der weißen Decke flackerten und tanzten.
»Es wäre auch kein Himmel ohne eine Mami«, sagte Rachel. Sie lächelte. Stephen hustete erneut und etwas in seiner Brust rasselte.
Nur der Scheunenstaub.
»Morgen werden wir Äpfel pflücken gehen«, sagte sie. »Und vielleicht im Bach plantschen. Ich hab ein kleines Boot im Schrank gesehen. Glaubst du, dass dir das Spaß machen wird?«
Stephen nickte und hustete noch einmal.
Rachel dachte an die drei in der Scheune hängenden Leichen. Sie fragte sich, ob der Farmer seine Schweine dort aufgehängt, sie gehäutet und für die Haltbarmachung gesalzen hatte.
Wie lange hatte das Danach den Farmer gequält? Wie oft hatte er seinen Kindern gesagt, dass alles gut werden würde? Wie schwer war es für ihn gewesen, seine Frau zu erschießen, nachdem sie sich verändert hatte?
Stephen hustete erneut, einmal, zweimal.
Welcher Mut dazu notwendig gewesen sein musste. Der Farmer musste wirklich fest an ein besseres Leben geglaubt haben, an eine bessere Welt, die sie erwartete. Vom Glauben zur Tat, von der Liebe zur Bestimmung.
Sie kramte in ihrem Rucksack und fand es. »Wie fühlst du dich jetzt, Stephen?«
Er rieb sich die Augen. »Schläfrig. Und müde.«
Sie war ebenfalls müde.
Sie würde ihm sagen, dass er an seine Mutter denken sollte, die auf ihn wartete. Oder würde ihm das Angst machen? Was, wenn er sich seine Mutter so vorstellte, wie sie im Hotel gewesen war, auf dem Bett liegend mit Fliegen, die um ihren Mund herumschwirrten? Was, wenn dieser Gestank mit ihm ins nächste Danach ging?
Sie erinnerte sich an die Anweisungen des Apothekers. Zuerst das Antiemetikum, um zu verhindern, dass er sich übergibt. Und dann das Nembutal.
Ein Glas mit reinem, gefiltertem Wasser aus dem Bach stand auf dem Tisch neben dem Bett. Bei seiner geringen Körpergröße würden drei Pillen wahrscheinlich genügen.
Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Lieber Gott, ist das barmherzig?
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie, wie sich die Frage im tiefen Vakuum des endlosen, leeren Raums verlor. Ein Telefongespräch mit niemandem am anderen Ende der Leitung.
Sie hatte noch nie in ihrem Leben so große Angst gehabt.
»Hier, Liebling, ich hab was gegen deinen Husten«, sagte sie, wobei es ihr irgendwie gelang, das Beben ihrer Stimme unter Kontrolle zu halten. Ihre Finger zitterten, als sie das Pillenfläschchen öffnete.
»Wo ist DeVontay?«, fragte er.
»Er wird gleich hier sein. Schluck das, Liebling.«
Sie gab ihm das Antiemetikum, das er mit einer Grimasse hinunterschluckte. »Igitt. Das ist eklig.«
»Trink.« Sie gab ihm das Wasserglas und er trank.
Sie wollte ihm gerade drei der Pillen geben, als sie in sein Gesicht blickte in der Hoffnung, dort irgendein Zeichen von Frieden und Ergebenheit zu finden. Stattdessen sah sie Chelseas Begräbnisgesicht, die blasse und gepuderte Puppenhaut mit Augen, die für immer geschlossen waren.
Sie ballte die Faust um die Pillen, dann warf sie sie in eine Ecke des Zimmers, wo sie über den Hartholzboden kullerten.
»Du hast Recht«, sagte sie. »Medizin ist eklig.«
Unten wurde eine Tür zugeschlagen und DeVontay rief die Treppe hoch.
»Wie lange werde ich hier im Bett des Jungen schlafen?«, fragte Stephen, der nun schon sehr schläfrig war.
»Ein paar Tage«, sagte sie. »Und dann gehen wir in die Berge, wo wir in Sicherheit sein werden.«
»Ich dachte, wir gehen nach Mi’sippi.«
»Das werden wir«, antwortete sie. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
ENDE
Die weiteren Bände der DANACH-Reihe:
Prequel: Danach: Morgengrauen (Sommer 2014)
Band #2: Danach: Das Echo
Band #3: Danach: Meilenstein 291