KAPITEL 8

 

Marina weinte.

Nicht laut und offen, was ihm Sorgen bereitet hätte. Sie waren in Sicherheit, davon war er überzeugt, so sicher, wie man in diesen Tagen überhaupt nur sein konnte. Und doch irritierte ihn Marinas Schniefen und leises Wimmern. Allerdings durfte er es sich nicht anmerken lassen, weil Rosa kurz davor stand, zusammenzubrechen.

Jorge Jiminez ließ sein Gesicht zu einer Maske werden. Den gleichen Ausdruck hatte er zur Schau gestellt, wenn ihm sein Boss, Mr. Wilcox, befohlen hatte, Lamamist in den Blumengarten zu schaufeln. Jorge mochte die Lamas, auch wenn ihm gelegentlich mal eines ins Gesicht spuckte. Er mochte sie sehr viel mehr als Mr. Wilcox.

Er mochte sogar ihre Scheiße lieber als Mr. Wilcox.

Aber nun war der Gringo tot, ebenso wie die sechzehn Lamas. Jorge war draußen gewesen, als sich der Blitz ereignet hatte, seinen breitkrempigen Hut hatte er tief über die Augen gezogen gehabt. Die Lamas waren unmittelbar danach zusammengebrochen, wie auch Barkley, der lärmende Bordercollie, der unaufhörlich die anderen Tiere belästigt hatte. Die Hühner hingegen hatten ihr Gescharre und Picken kaum unterbrochen, weshalb Jorge gedacht hatte, dass es sich um eine seltsame Art von Schusswaffe gehandelt haben musste, auch wenn er nicht wusste, wie eine Waffe so viele Tiere auf einmal töten konnte, ohne ein Geräusch zu machen.

Aber dann sprangen seine Gedanken zu Rosa und Marina und er ließ die Schaufel fallen, um zu dem winzigen Wohnwagen zu rennen, der sich am Rand des Grundstücks befand, hinter einem Dickicht von Douglasfichten, damit er von Mr. Wilcox’ Haus aus nicht zu sehen war. Seine Frau und seine Tochter hatten den Lichtblitz nicht bemerkt. Rosa nähte gerade einen Flicken auf das Knie einer Jeans und Marina lag auf dem Boden, wo sie ihr großes Prinzessinnen-Buch ausmalte.

Das war vor mehr als einer Woche gewesen.

Vor zwei Tagen waren sie in das Haus von Mr. Wilcox gezogen und obwohl Jorge instinktiv wusste, dass sie dort sicherer waren, war ihm nicht klar, worin die Gefahr überhaupt bestand. Denn schließlich schienen alle anderen tot zu sein.

»Vielleicht sollten wir in die Stadt gehen, nachsehen«, sagte Rosa. Sie saß an dem edlen Eichentisch und fühlte sich sichtlich unwohl. In der Hand hielt sie ein Glas Wasser, als ob sie Angst davor hätte, Spuren auf dem Lack zu hinterlassen, wenn sie es absetzte.

»Ich hab dir gesagt, der Laster funktioniert nicht«, sagte er, als ob er einem Kind etwas erklären würde. »Ebenso wenig wie das Auto und das Motorrad. Alles ist tot

Er hatte das letzte Wort nicht mit so viel Wut aussprechen wollen. Er hatte es überhaupt nicht aussprechen wollen. So ein Wort brachte Unglück in Zeiten wie diesen.

»Was ist, wenn wir laufen?«

»Wir würden einen Tag brauchen. Marina kann nicht so weit laufen, also müssten wir sie abwechselnd tragen.«

»Ich kann sehr wohl so weit laufen«, sagte Marina mit sich überschlagender Stimme. »Ich bin kein Baby mehr.«

Ihr Englisch war sehr gut, besser als das von Rosa und fast so gut wie sein eigenes. Jorge hatte Sprachstunden am Community College besucht, weil er sicher war, dass er Baja California niemals wiedersehen würde. Obwohl die Silberminen von La Paz einen angemessenen Lohn von zweihundert Pesos pro Tag bezahlt hatten, waren es die Vereinigten Staaten, die den Reichtum boten, den ein Mann brauchte, um eine Familie zu unterhalten. Wie viele seiner umherziehenden Landsleute hatte er geplant gehabt, hier für ein oder zwei Jahre zu arbeiten und dann in die Heimat zurückzukehren. Aber es gab immer eine Rechnung, die zuerst bezahlt werden musste, oder Papierkram oder juristische Hindernisse.

Glücklicherweise hatte ihm Mr. Wilcox eine Ganzjahresstellung angeboten. Im Frühling gab es Gartenarbeit, im Sommer mähten die Männer das Gras bei verschiedenen geschlossenen Wohnanlagen, die der Boss hatte bauen lassen, im Herbst machten sie das Heu und bereiteten sich auf das Weihnachtsbaumfällen vor. Im Winter verteilte Mr. Wilcox eine Liste mit Reparaturarbeiten auf seinem Besitz, der, wie ihn Jorge einmal hatte prahlen hören, »neun hunnert Morgen Berghimmel im Osten Tennessees« umfasste. Das ganze Jahr über gab es das Mistschaufeln: Hühnermist, Lamamist, Schweinemist, Pferdemist und, einmal, als die Klärgrube verstopft war, Menschenmist.

In dieser Woche hatte es kein Schaufeln gegeben. Wenn man vom Graben der Gräber absah.

»Nein, du bist kein Baby mehr«, sagte er zu Marina.

»Vielleicht gehen wir zum Haus vom Nachbarn«, sagte Rosa und blickte aus dem Fenster.

Der nächste Nachbar war eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, auch mit einer Neunjährigen. Jorge hatte keine Angst vor der Entfernung. Er hatte Angst vor dem, was sie vorfinden würden, wenn sie ankamen.

Vielleicht würden sie auf noch mehr Menschen stoßen wie Mr. Wilcox, der mit ausdruckslosem Gesicht und weit aufgerissenen Augen vor sich hingestarrt hatte, als ob ihn der Blitz für immer geblendet hätte. Oder solche wie die Familie Detoro im Wohnwagen neben ihrem eigenen: Alejandro und Sergio tot auf dem Boden und die Mutter Nima tot auf der Couch. Jorge hatte Fernando Detoro in der Scheune gefunden, zusammengebrochen über dem Motor des Traktors, mit von Schmiere geschwärzten Händen. Jorge dachte, dass Rosa und Marina vielleicht überlebt hatten, weil sie im Wohnwagen gewesen waren, dass ihr Glück gewesen war, nicht im Freien gewesen zu sein, aber das hatte die Familie Detoro auch nicht gerettet.

»Ich denke nicht, dass wir gehen sollten«, sagte er. »Wir haben hier alles, was wir brauchen.«

»Aber wir wissen nicht–«

»Sí. Wir wissen nicht. Deshalb bleiben wir.«

Bevor Marina geboren wurde, hatten sie immer nur Spanisch gesprochen, wenn sie zusammen waren, aber Jorge wollte eine amerikanische Tochter. Sie würde durch ihre Hautfarbe genug Probleme haben, auch wenn die hellhäutigeren Mädchen bestimmt auf ihr glattes schwarzes Haar und ihre funkelnden Augen neidisch sein würden. Nicht, dass es jetzt noch viele hellhäutige Mädchen gab, wegen denen man sich Sorgen machen musste.

Jorge ging durch das Wohnzimmer und zog die dicken Samtvorhänge zurück. Für einen Junggesellen hatte Mr. Wilcox sehr viel Aufwand mit der Einrichtung seines Hauses betrieben. Der Rasen vor dem Haus fing langsam an, ungepflegt auszusehen, und Jorge musste dem Drang widerstehen, ihn zu mähen.

Draußen bewegte sich nichts, abgesehen von ein paar Krähen, die auf dem weißen Zaun saßen. Die Krähen würden die neue Lage genießen. Jede Menge Fleisch, das man ergattern konnte.

Jorge setzte sich auf die Couch und starrte den Flachbildfernseher an. Seine Größe war absurd, genau wie die großzügige Einrichtung und die vielen Geräte in Mr. Wilcox’ Haus. Nun spottete der leere Bildschirm über all die Dinge, die sich einmal auf ihm abgespielt hatten.

»Ich sollte es noch einmal mit dem Traktor versuchen«, schlug er vor. »Wenn irgendwas läuft, dann der Traktor.«

Rosa stellte seine mangelnde Logik nicht in Frage. Obwohl sie in einer patriarchalischen Gesellschaft aufgewachsen waren, ermutigte Jorge sie, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Er schätzte ihre Klugheit. Doch nun war sie verängstigt und ihre Angst hemmte ihre Klugheit.

»Wir werden allein sein«, sagte Rosa. Marina blickte von ihrer Zeichnung auf.

Jorge warf einen Blick in Richtung Speisekammer, wo er eine geladene Schrotflinte an die Regale mit Wein, Gewürzen und Konservendosen gelehnt hatte. »Ihr seid nicht allein.«

»Beeil dich, Daddy«, sagte Marina.

»Das werde ich, tomatilla«, antwortete er, ihren Kleinkindspitznamen »kleine Tomate« gebrauchend. »Du wirst deiner Mama gehorchen, nicht wahr?«

Marina lächelte, nickte und wandte sich dann wieder ihrer Zeichnung zu. Jorge fragte sich, ob sie jemals wieder zur Schule gehen würde oder jemals das normale amerikanische Leben führen würde, das er sich für sie gewünscht hatte.

Er schob den Türriegel zurück und hielt in der Eingangstür inne. Er war sich nicht sicher, ob er Angst haben sollte. Er wusste nicht genug, um Angst zu haben.

Er wollte sich keine Waffe aus der Kammer holen, weil er dadurch Marina Furcht einjagen würde. Also schnallte er sich seinen Arbeitsgürtel um, als ob er Unkraut jäten ginge. Die Machete hing wie immer an seinem Gürtel.

»Schließ hinter mir ab«, sagte er zu Rosa, bevor er sich nach draußen begab.

Es war ein sonniger Tag. Das Sonnenlicht wirkte aufgrund der Zeit, die er drinnen verbracht hatte, noch greller. Er stand auf der Veranda und blickte durch die hohen, weißen Säulen. Vögel zwitscherten in den Bäumen, aber ihr Zirpen und Pfeifen breitete sich über die umliegenden Wälder aus, gespenstisch dünn für den späten August.

Also sind nicht alle Vögel gestorben.

Die Bäume waren reglos und die Weiden leer. Der Mais bewegte sich leicht im Garten, die Rispen hatten gerade begonnen, eine goldene Farbe anzunehmen. Was auch immer Menschen und Tiere getötet hatte, es schien keine Auswirkungen auf die Pflanzen zu haben.

Jorge trat von der Veranda und ging an Mr. Wilcox’ silbernem Geländewagen vorbei. Das Auto hatte wahrscheinlich zwei Jahreslöhne von Jorge gekostet, aber nun war es wertlos. Jorge hatte den Schlüssel in Mr. Wilcox’ Hose gefunden, als er die Leiche untersucht hatte, aber der Motor hatte sich nicht anwerfen lassen.

Jorge war kein so ein begabter Mechaniker wie Fernando Detoro, aber er war davon überzeugt, dass das, was Fernando getötet hatte, auch die Motoren zum Schweigen gebracht hatte.

Er blickte die Straße entlang, während er seinen Weg zur Scheune fortsetzte. Mr. Wilcox hatte oft Besuch aus der Stadt gehabt, fette Männer mit Krawatten, die niemals auch nur einen Fuß in die Felder setzten. Rosa sagte, dass es sich um Bankiers und Anwälte handelte, die das Geld von Mr. Wilcox nutzten, um daraus ohne Arbeit noch mehr Geld zu machen. Jorge wollte, dass sich Marina eines Tages auch diese Möglichkeit bot. Er hatte Geld gespart, das in einem Konservenglas unter dem Wohnwagen vergraben war. Die Rücklage für Marinas Studium.

Wenn sie jemals wieder zur Schule gehen wird.

Jorge betrat die zweistöckige Scheune. Er hatte Rosa angelogen. Es gab keine Hoffnung, dass der Traktor funktionieren würde. Der Motor war in seine Einzelteile zerlegt, der Kühler ausgebaut, Zündkerzenkabel und Schläuche auf einer schmierigen Abdeckplane aufgereiht.

»Willard?«, rief er.

Am Tag des großen Sterbens war Willard White gerade damit beschäftigt gewesen, Chemikalien zu mischen, die auf die Stauden gespritzt werden sollten. Willard war der einzige, dessen Leiche er nicht gefunden hatte, und Jorge wollte sicher gehen, dass seine Familie allein auf der Farm war. Und er wollte vermeiden, dass Marina auf eine verwesende Leiche stoßen würde.

Vielleicht ist Willard so verängstigt wie ich. Vielleicht versteckt er sich.

Willard kam aus der Gegend, er war ein Gringo, auch wenn er ungepflegt war und stank. Außerdem sprach er ununterbrochen, weshalb Jorge sich nicht vorstellen konnte, dass er sich tagelang verstecken würde. Willard schimpfte über seine »Schlampe von einer Frau«, Bernice, die »Scheiß-Regierung«, die »verdammte Sonne« in seinen Augen, seinen »beschissenen Rücken«, der wieder Probleme machte, den »geizigen Bastard Wilcox«, die »verdammten Mariendisteln«, die die Weide eroberten, und eine ganze lange Liste weiterer Widrigkeiten des Lebens.

Jorge untersuchte die Boxen in der Scheune, in denen eine Reihe von Pferden unruhig wieherte. Mr. Wilcox hatte es geliebt, seine Pferde vorzuführen, auch wenn er niemals selbst auf ihnen ritt. Pferde waren ein Luxus, der wertvolles Weideland beanspruchte und im Gegenzug keine Nahrung bot, im Unterschied zu Kühen und Hühnern. Aber Jorge mochte die Pferde, weil sie ihn als gleichberechtigt behandelten, im Gegensatz zu den Menschen.

Er tätschelte die Nase eines jeden einzelnen und versprach ihnen Haferkörner. Anders als die Lamas hatten sie die Sonnenkrankheit überlebt.

Jorge betrat die vollgestopfte Sattelkammer, in der Willard seine Pausen verbrachte und braunen Schnaps trank, der Old Grand-Dad’s hieß. Mülleimer aus Metall voller Getreide standen in einer Ecke. Geschirr hing an einer Wand und eine Reihe von Sätteln war auf drei Sägeböcken aufgestapelt. Eine der Pflichten Jorges war es gewesen, die Pferde einmal in der Woche zu reiten, damit sie im Training und in guter Verfassung blieben, aber die Lederausrüstung sah noch immer fast wie neu aus.

Die Schaufel, mit der Jorge die Leichen begraben hatte, hing an der Wand, neben Äxten, Fuchsschwänzen, Vorschlaghämmern, Ketten, Geschirr, Riemenscheiben, Keilriemen, Schnüren und all den anderen Werkzeugen, die man benötigte, um die Farm am Laufen zu halten. Jorge war sich nicht sicher, aber es sah so aus, als ob die Tüten mit Chemikalien und die Gartenspritzen unberührt waren.

Rums.

Etwas war oben im Heuboden umgefallen.

Die Plötzlichkeit des Geräusches hielt Jorge davon ab zu rufen. Wenn es Willard war, würde ihn der Mann gehört und sich bemerkbar gemacht haben. Die Scheune war groß und weiträumig, so dass sich Geräusche unter dem Wellblechdach gut verbreiteten.

Jorge stand absolut still, während das Herz in seiner Brust hämmerte.

Kein Grund zur Angst. Alle sind tot.

Von oben kam ein weiteres lautes Geräusch, so als ob jemand Säcke mit Futter fallen ließ.

Jorge bewegte sich vorsichtig aus der Sattelkammer, darauf bedacht, dass die Tür nicht knarzte. Er ging zur Treppe und schlich nach oben, während er die Machete gepackt hielt. Staubpartikel tanzten in den offenen Fenstern wie winzige Insekten. Sein Aufstieg verschreckte ein Huhn, das krächzte und in einer Explosion von Federn unter den Stufen hervorschoss. Es musste sich dort ein Nest gebaut haben. Jorge würde diesen Eiern nicht trauen, nicht, wenn alle Lebewesen starben.

Eine unbehandelte Tür aus Holzplanken befand sich am oberen Ende der Treppe. Als er sie erreichte, verzichtete Jorge darauf, die verrostete Haspe, die durch einen verbogenen Stahlnagel an ihrem Platz gehalten wurde, zu heben. Stattdessen beugte er sich vor und blickte durch einen Spalt zwischen den Planken.

Willard White ging in der Mitte des Heubodens auf und ab, torkelnd und schwankend, wie er es sonst nach einer Flasche Old Grand-Dad’s tat.

Aber Willard murmelte weder, noch sang er, wie er es tun würde, wenn er betrunken wäre. Nein, er sprach überhaupt nicht, was das erste Zeichen dafür war, dass etwas nicht stimmte, denn Willard hielt nie die Klappe.

Während Jorge durch den Spalt spähte, taumelte Willard zwischen Stapeln mit Heuballen, Wasserfässern aus Kunststoff und Säcken mit Maisschrot umher, als ob er nach seiner Flasche suchte. Er stolperte in einen herumliegenden Haufen Heu und fiel mit einem sanften Rums, das die Holzdielen beben ließ, auf sein Gesicht. Das war die Ursache des Geräusches. Willard musste schon zweimal hingefallen sein.

Trotz des Unbehagens wurde Jorge von einem Gefühl der Erleichterung gepackt.

Vielleicht ist das eine andere Art von Trunkenheit. Zumindest ist er am Leben. Wir sind nicht allein.

Jorge hob die Haspe und öffnete die Tür.

»Mister White?«, rief er.

Willard bewegte sich nicht.

Vielleicht ist er krank. Vielleicht hatte er Angst allein zu sein und verbrachte deshalb seine Zeit mit Old Grand-Dad.

Jorge trat auf den Heuboden, während er mit einer Hand am Griff der Machete entlangfuhr. Er glaubte nicht wirklich, dass jemand für drei Tage betrunken bleiben konnte, nicht einmal Willard.

»Es ist etwas Schlimmes passiert, Mr. White«, sagte Jorge lauter, als er es normalerweise tun würde. Er wollte, dass der Mann aufwachte, auch wenn das bedeutete, dass Willard das Kommando übernahm, denn Mr. Wilcox hatte dafür gesorgt, dass seine Mexikaner wussten, wo sie hingehörten. Und wenn er Willard White ins Haus brachte, würde Willard der neue Mr. Wilcox werden.

Die Sonnenstrahlen tauchten das Heu in sanftes Licht und erzeugten ein goldenes Bett um Willard. Die Fenster waren mit Maschendraht bespannt, was dem Wind gestattete hindurchzuziehen und die Spreu herumzuwirbeln. Die Stille der Farm war unnatürlich und sogar das rasende Huhn war ruhig geworden.

»Mr. Wilcox und die anderen ... sie sind tot«, sagte Jorge, der nun nur noch drei Meter von Willard entfernt war. Der Mann schien nicht zu atmen und Jorge bekam wieder Angst. Wenn immer noch Leute an dem, was auch immer passiert war, sterben konnten, bedeutete das, dass auch Marina und Rosa in Gefahr waren.

Er wünschte sich plötzlich, wieder zurück im Haus zu sein.

Aber er musste es wissen.

Er kniete sich neben den Mann nieder und schnüffelte. Willard verbreitete nicht den süßen Geruch von Schnaps, auch wenn der Gestank seiner schmutzigen Kleidung und seines Körpers sehr intensiv war.

Jorge berührte die Schulter des Mannes. Er flüsterte: »Mr. White?«

Der Mann drehte sich plötzlich um und packte Jorges Handgelenk mit seinen knotigen, schwieligen Fingern. Jorge wollte sich mit einem Aufschrei lösen, aber Willard hielt ihn mit leidenschaftlicher Kraft fest. Seine großen Augen funkelten und die Pupillen füllten die Augenhöhlen fast völlig aus. Das übrige Weiß war von Rot durchzogen.

Willards Mund bewegte sich und Jorge sah ein großes Loch in einem der gelben Backenzähne. »Uh ... uh ...«

»Ja?«, fragte Jorge, der noch immer versuchte, seinen Arm zu befreien.

Willard keuchte und hob seinen anderen Arm aus den Tiefen des Heus. Er hielt einen Hammer in der Hand. Das Aufschlagen des Hammers auf den Bodendielen musste das Geräusch verursacht haben.

»Sie haben auch Angst«, stellte Jorge fest.

Nun lächelte Willard, obwohl sein verzogener Mund viel zu weit geöffnet war. »Uh ... uh ...«

»Ich helfe Ihnen auf«, sagte Jorge.

Willard schlug mit dem Hammer zu, während er Jorge an sich zog. Jorge konnte gerade noch ausweichen. Der Hammer traf seinen Oberarm und schickte einen dumpfen, eisigen Knoten durch seinen Körper.

»Mr. White?« Jorge wand sich, aber Willard hielt ihn weiter fest am Handgelenk gepackt. Sein fester Griff unterbrach den Blutkreislauf.

Willard grinste noch immer, aber es war keine Heiterkeit in seinen hell funkelnden Augen zu sehen. Der Mann blinzelte nicht und kleine Strohstückchen hingen an seinen Augäpfeln. Er hob den Hammer erneut, konnte aber nicht richtig ausholen, da er noch am Boden lag.

Der Hammer sauste an Jorges Kopf vorbei, nah genug, um ihn den Luftzug spüren zu lassen. Mit der freien Hand zog Jorge die Machete aus der Scheide. Willard holte gerade zu einem neuen Schlag aus, als Jorge zuschlug.

Willards Unterarm war nicht so zart wie die Setzlinge, die Jorge aus den Weihnachtsbaumfeldern jätete. Die Klinge der Machete spaltete das Fleisch und traf mit einem nassen, splitternden Geräusch auf den Knochen. Blut spritzte aus der Wunde und in Jorges Gesicht, aber Willard ließ nicht locker.

Am Schlimmsten war, dass Willard noch immer grinste, so als ob es sich bei dem Hieb um einen Scherz zwischen Kollegen handelte, die gerade die Zeit totschlugen. »Uh ... uh ...«, sagte er ohne Leidenschaft oder Schmerz in seiner Stimme.

Als Willard mit dem Hammer noch einmal ausholte, schlug Jorge verängstigt und heftig erneut zu. Diesmal gab der geborstene Knochen nach. Aus Willards Stummel spritzten dicke Blutströme im Rhythmus seines Herzschlags. Der grauhaarige Landarbeiter setzte sich auf und beobachtete den Vorgang mit unbeteiligter Neugier.

Jorge fiel nach hinten, da er nicht mehr von Willards Gewicht gehalten wurde. Sein Arm war schwer. Er fragte sich, ob er durch den Hammer verletzt worden war, doch als er hinunterblickte, sah er, dass Willards abgetrennte Hand noch immer sein Handgelenk umklammerte.

Entsetzt versuchte er, das amputierte Glied abzuschütteln. Es gab nicht nach. Jorge klemmte sich die blutige Machete unter die Achsel und begann, die Finger abzuziehen. Einer von ihnen zuckte und wand sich, als ob er ein Eigenleben führte.

Schließlich gelang es ihm, die Hand zu lösen. Sie schlug auf den harten Holzbohlen auf.

Als Jorge zur Tür rannte, warf er noch einen letzten Blick auf Willard White. Der Mann war aufgestanden und hatte wieder begonnen herumzutaumeln, so als ob Jorge nie hier gewesen wäre. Blut tropfte aus seiner zackigen Wunde, aber auf seinem Gesicht war keine Spur von Schock zu sehen. Er ließ den Hammer fallen, der das übliche Rums verursachte.

»Mr. White?«, fragte Jorge in der Hoffnung, das kleinste Anzeichen menschlicher Gefühle in dem unrasierten Gesicht zu entdecken.

Willard drehte sich zur Tür. »Uh ... uh ...«

Die spinnengleiche Hand zuckte noch immer. Jorge tat einen Schritt nach vorn und trat mit dem Fuß nach ihr. Sie rutschte über den Boden zu Willard, der sie hochnahm und ansah. Dann steckte er sie ans Ende seines Arms wie ein Kind, das versucht, eine kaputte Puppe zu reparieren.

Jorge knallte die Tür zu und ließ die Haspe an ihren Platz fallen, während er schwer atmete. Er fand etwas Draht und machte daraus eine Schlaufe, um die Haspe festzubinden. Willard White würde problemlos den Maschendraht von den Fenstern entfernen können, wenn er wollte, aber Jorge hatte keinen Funken übriggebliebener Intelligenz im Gesicht des Mannes sehen können.

Er eilte die Treppe hinab und fragte sich, ob er sein Hemd ausziehen sollte, damit Marina die Blutflecken nicht sehen würde. Ihm fiel keine überzeugende Lüge ein und er wusste immer noch nicht, was die Wahrheit war.

Alles was er wusste, war, dass er seine Frau und seine Tochter nicht allein lassen wollte, wenn solche Menschen wie Willard White existierten.

Wenn er überhaupt noch ein Mensch ist ...

Im Haus gab es Waffen und Munition und auch wenn Jorge nicht wusste, was passiert war, konnte er seine Familie verteidigen. Er hielt die Machete gepackt, zu sehr außer sich, um sie wieder in die Scheide zu stecken.

Nach dem schattigen Halbdunkel der Scheune blendete ihn das Sonnenlicht. Er beschattete seine Augen und ging in Richtung Haus.

Nach einem einzigen Schritt hielt er inne.

Zwei Männer standen zwischen ihm und der Veranda. Ihre Gesichter waren so schlaff wie das von Willard, ihre Augen ausdruckslos, aber mit wütender Energie funkelnd.