KAPITEL 21
» Scheiße!«
Campbell riss den Lenker seines Fahrrads herum und konnte so gerade noch dem kleinen Jungen ausweichen. Das Vorderrad traf auf den Bordstein, das Fahrrad kippte vornüber und Campbell wurde über den Gehsteig in das Unkraut am Straßenrand geschleudert.
Er war in die Richtung geradelt, aus der die Schüsse gekommen waren, weil er sich dachte, dass er dort die größten Chancen hatte, Pete zu finden. Die Ausfahrt von der Autobahn hatte an einer Tankstelle vorbei direkt in eine Wohngegend für die Mittelschicht geführt. Er war langsamer gefahren und hatte gehofft, weder erschossen noch angegriffen zu werden. Geistig war er auf alles vorbereitet gewesen – bis auf das, was sich tatsächlich ereignet hatte.
Seine Ellenbogen schmerzten und die Knie waren aufgeschürft, aber zumindest schien er sich nichts gebrochen zu haben. Sein erster Gedanke war, dass es sich bei dem Jungen um ein Zapphirn handeln musste, weil das erklären würde, warum er auf die Straße in Richtung des Fahrrads gelaufen war.
Aber der Junge stand einfach da und starrte Campbell an. Von einer Hand hing eine Babypuppe.
Hundertpro kein Zapphirn, sonst würde es mich angreifen, solange ich auf dem Boden bin.
Campbell setzte sich auf. Sein Hemd war nass, weil eine Wasserflasche in seinem Rucksack zerbrochen war. »Hey, du«, sagte er mit seiner freundlichsten Stimme, so als ob sie sich gerade auf einem Spielplatz getroffen hätten und nicht mitten in der Apokalypse.
Der Junge sagte nichts, sondern umarmte seine Puppe. Er sah aus wie zehn, ein Alter, in dem die meisten Jungs mit Baseballhandschuhen, iPods und Gameboys herummachten statt mit Puppen. Aber wahrscheinlich hatte er Schreckensdinge gesehen, bei denen selbst die gewalttätigsten Videospiele nicht mithalten konnten.
»Wohnst du hier?«, fragte Campbell, obwohl die Straße so leblos aussah wie all die anderen, durch die er in den vergangenen Wochen gekommen war.
Waren seit den Sonneneruptionen erst ein paar Wochen vergangen? Die Welt fühlte sich so an, als ob auf ihr bereits eine dicke Staubschicht lag.
Der Kopf des Jungen zuckte ein bisschen, was Campbell als verneinendes Kopfschütteln interpretierte. Er blickte auf die Häuser auf beiden Straßenseiten und die verlassenen Autos, die hier und da am Bordstein und in den Zufahrten geparkt waren. Eine weitere Nachbarschaft, die von der Katastrophe überrascht worden war. Menschliches Fleisch verfaulte und verweste hinter den geschlossenen Türen.
Campbell griff in den Rucksack und zog einen Müsliriegel hervor. Er packte ihn aus, stand auf und hielt ihn dem Jungen hin. Er fühlte sich wie die Karikatur eines stereotypen Perverslings, der das Vertrauen eines Kindes mit einer Süßigkeit gewinnen wollte. »Hast du Hunger?«
Der Kopf zuckte erneut, die Augen schauten argwöhnisch unter dem Schirm der Carolina-Panthers-Baseballkappe hervor.
»Was hältst du davon, wenn wir die Straße verlassen?«, sagte Campbell. »Kann sein, dass sich hier ein paar böse Menschen herumtreiben.«
Die Unterlippe des Jungen begann zu zittern. »B-böse Menschen?«
Aha. Also weißt du über die Zapphirne Bescheid. Und trotzdem bist du noch am Leben.
»Komm hier rüber, runter von der Straße«, sagte Campbell. »Vielleicht kannst du mir helfen, mein Fahrrad zu reparieren.«
Das Vorderrad war hoffnungslos verbogen, aber Campbell tat so, als ob er den Zustand des Rads untersuchte. Der Junge kam ein paar Schritte näher. Campbell biss von dem Müsliriegel ab und kaute demonstrativ.
»Verflixt. Ich hab vergessen, dass das deiner ist«, sagte Campbell mit einem Mund voller mit Honig beschichteter Haferflocken. »Du kannst die andere Hälfte haben. Ich hab keine Läuse oder sowas.«
Der Junge lächelte fast. Er trat noch näher und lockerte den Griff um die schmutzige Puppe, die provisorisch mit einem Halstuch umwickelt war. Garn um ihre Taille machte daraus ein Kleid. »Die Puppe ist echt toll in dem Outfit.«
»Sie ist nicht echt.«
»Nett von dir, dass du sie vor den bösen Menschen beschützt«, sagte Campbell. Er blickte in beide Richtungen der Straße, ob sich etwas bewegte. »Du musst ein Superheld sein.«
Der Junge schüttelte heftiger den Kopf. »Nur ein Junge.«
»Ich auch. Komm, lass uns da rüber gehen, von der Straße runter.«
»Rachel hat das Kleid gemacht«, sagte der Junge, nachdem ihn Campbell zu einer offenen Garage geführt hatte, die zumindest den Anschein von Schutz vermittelte. Ein Cadillac aus den späten neunziger Jahren stand dort geparkt, das Chrom poliert und glänzend wie ein Spiegel.
»Rachel? Ist das deine Schwester?«
»Nein, sie hat mich hierher gebracht, nachdem meine Mom gestorben ist, aber dann hat sie mich zurückgelassen. Wir waren auf dem Weg nach Mi’sippi, um meinen Dad zu finden.«
Mann, was für eine herzlose Schlampe. »Ja, ich hab auch einen Freund verloren. Ich bin hierhergekommen, um ihn zu suchen. Er heißt Pete.«
»Ich bin Stephen.«
»Dein Name gefallt mir. Wenn ich jemals einen Jungen haben werde, werde ich ihn so nennen.« Campbell blickte in den Cadillac, um sicherzugehen, dass er leer war. Die Schlüssel steckten im Zündschloss und verhöhnten ihn. »Hast du hier irgendjemanden anderen gesehen?«
»Nachdem Rachel gegangen war, kam ein Typ in Armeekleidung. Er hat mich aus dem Schuppen geführt, in dem sie mich versteckt hatte. Er hat gesagt, dass ich ein Köder für die Zapphirne bin und anfangen sollte zu rennen. Das hab ich getan. Ich hab nicht angehalten, bis du mich fast überfahren hast.«
Also weiß Stephen, was ein Zapphirn ist. Ich vermute, die Kids werden heutzutage schnell erwachsen – oder gar nicht. »Der Typ in Armeekleidung. War er einer von uns? Ich meine, kein Zapphirn?«
»Ich glaube, es gibt noch mehr von ihnen in dem großen Backsteinhaus, in das DeVontay gegangen ist.«
»DeVontay?«
»Rachels Freund.«
»Kannst du mir das Haus zeigen?«
Stephen schüttelte den Kopf und presste die Puppe an sich. »Ich will nicht, dass mich die Zapphirne kriegen.«
»Ich verspreche dir, dass ich dich nicht verlassen werde wie Rachel.« Campbell fragte sich, ob er nicht genau das machte, was Arnoff mit ihm und Pete getan hatte, und ihn in eine Art von Abhängigkeit zwang.
»Wirst du mich nach Mi’sippi bringen, wenn ich es dir zeige?«
»Klar, Stephen. Was immer du willst.«
»Okay, gut. Aber Miss Molly muss auch mit uns kommen.« Stephen streckte die Puppe von sich, als ob er Campbells Engagement prüfen wollte.
»Sicher, wir gehen alle. Sogar DeVontay, wenn er noch im Haus ist.« Campbell blickte sich nach einer Waffe um. Auf dem Fahrrad hatte er sich relativ sicher gefühlt, weil er einem Zapphirn leicht entkommen konnte, auch wenn die nun schneller und koordinierter wirkten. Wenn er zu Fuß unterwegs sein würde, brauchte er zumindest etwas, mit dem er sich verteidigen konnte.
Aber die Garage bot nichts, was auch nur ansatzweise tödlich war. Der Besitzer des Cadillacs war übertrieben ordentlich, zumindest ließ der Zustand des Wagens das vermuten. Alte Ausgaben von Car & Driver standen in Stehsammlern aus Plastik in einem Metallregal. Elektrowerkzeug war auf der Arbeitsbank aus Holz aufgereiht, die Kabel säuberlich um die Griffe gewickelt. Behälter mit Motoröl, Scheibenwaschflüssigkeit und Frostschutzmittel standen an einem Ende des Regals neben einem Benzinkanister. Campbell schwenkte den Kanister, es schwappte Flüssigkeit darin.
Prima. Jetzt muss ich das nur noch über ein Zapphirn schütten, ein Streichholz anzünden und weglaufen. Die Welt von den Zappern befreien, eine menschliche Fackel nach der anderen.
Campbell stellte den Benzinkanister wieder hin, bevor er sich daran erinnerte, dass Arnoff gesagt hatte, dass die Zapphirne es liebten, Dingen beim Brennen zuzusehen. Vielleicht mochte irgendetwas in ihren kurzgeschlossenen Gehirnen die Einfachheit der Zerstörung oder vielleicht war es ein tief verborgenes Bedürfnis der Reinigung, das in den Überbleibseln ihres menschlichen Wesens überdauerte. Auf jeden Fall hatte er vielleicht einen Weg gefunden, die Zapphirne abzulenken, bis er herausfand, was als nächstes geschehen sollte.
Da ihr Typen unbedingt Brandstifter spielen wollt, werde ich euch auf die Sprünge helfen.
Er drehte die Kappe vom Kanister und schüttete Benzin über die Arbeitsbank. Der Benzindampf brannte in seinen Augen und es wurde ihm schwindelig. Er legte eine Spur Benzin bis hinüber zum Cadillac und fragte sich, ob das Auto explodieren würde wie in den Filmen.
»Hast du schon mal Würstchen gegrillt, Stephen?«
»Nein, aber mein Dad mag Barbecues.«
»Okay, dann stell dir vor, dass wir ein großes Grillfest im Garten haben werden.« Campbell trat ein paar Schritte zur Seite und fragte sich, ob er Benzin auf seine Kleidung gespritzt hatte. Er vermutete, dass Stephen nicht sonderlich beeindruckt sein würde, wenn er sich aus Versehen selbst verbrannte.
Er zog eine Ausgabe von Car & Driver aus einem der Stehsammler. Auf der Titelseite befand sich ein aufgemotztes Muskelauto, das wie ein 69er Chevy Camaro aussah. Campbell riss ein paar Seiten aus der Zeitschrift und zog das Feuerzeug aus seiner Tasche. Er zündete ein Ende der provisorischen Fackel an.
»Okay, auf geht’s!«, sagte er zu Stephen und warf die Fackel auf das Benzinrinnsal, das nun in den Zementboden eingedrungen war. Sofort bildete sich eine große, helle Flamme, die sich in beide Richtungen ausbreitete. Sie waren aus der Garage, bevor das Feuer den Cadillac erreichte.
Campbell führte Stephen über den Hof auf der hinteren Seite des Hauses, während er sich fragte, ob der Besitzer des Cadillacs im Haus den tiefen Schlaf schlief. Vielleicht hätte er nachsehen sollen. Es war nicht richtig, das Auto von jemand anderem zu verbrennen, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, auch wenn es sich bei der Spritschleuder jetzt nur noch um einen Dinosaurier handelte.
»Wir folgen von hier aus der Straße und kommen dann von hinten an das Haus heran«, sagte Campbell. Hinter ihnen hatte das Freudenfeuer fröhlich zu knistern begonnen, während dichter Rauch in den Himmel stieg. »Denkst du, dass du es wiederfinden kannst?«
»Ja«, antwortete Stephen und löste seine Hand aus der Campbells. »Ich bin kein Baby, weißt du.«
»Nun, aber ich fürchte mich ein bisschen.«
»Aber du bist ein Superheld.«
»Ja, aber ich bin gerade inkognito.«
»Siehst du den großen Turm? Da lang.«
Durch die Bäume konnte Campbell einen knollenförmigen Wasserturm vor den verstreuten eisengrauen Wolken sehen. Auf ihm stand in schwarzen Buchstaben der Name der Stadt geschrieben, aber der Anfang war verborgen, weshalb Campbell sich fragte, wo zur Hölle sich »-iston« befand.
Sie kletterten über einen hüfthohen Zaun. Campbell half Stephen hinüber, nachdem er zuerst die Puppe darüberbefördert hatte. Die Häuserreihen waren den Rückseiten ähnlicher Häuser zugewandt. Durch Lücken in den Pflanzen und Zäunen war eine andere Straße zu erkennen, als ob es sich nur um einen weiteren typischen homogenen Vorort handelte, mit Amerika-Flaggen, Rasenmähern und gelegentlich einer Leiche, die im Gras auf dem Bauch lag.
Campbell nahm eine Bewegung hinter einer der Glasschiebetüren wahr und überlegte sich, ob er dort nach anderen menschlichen Überlebenden suchen sollte. Aber dann zersplitterte das Glas und ein Zapphirn stolperte nach draußen, ein halbnackter Mann mit einem Baseballschläger aus Aluminium. Campbell zog Stephen in den Schutz einer Buchsbaumhecke und bedeckte den Mund des Jungen mit seiner Hand, damit dieser nicht schreien konnte. Das Zapphirn ging in sechs Metern Entfernung an ihnen vorbei, unterwegs zu der brennenden Garage.
»Böser Kerl«, flüsterte Stephen, als das Zapphirn nicht mehr in Sichtweite war.
»Ja.«
Sie setzten ihren Weg über die Hinterhöfe fort. Dabei kamen sie an einem toten Hund vorbei, der an einer Kette angebunden war. Fliegen umschwirrten den aufgedunsenen Körper, und der Gestank war überwältigend.
»Warum hat dich Rachel zurückgelassen?«, fragte Campbell, um Stephen von dem furchtbaren Anblick und der schonungslosen Erinnerung an das, was sie alle erwartete, abzulenken.
»Sie ist in das Haus der Soldaten gegangen, um DeVontay rauszuholen.«
»Warum ist DeVontay reingegangen?«
»Er dachte, dass Menschen wie wir drin sind. Du weißt schon, gute Menschen.«
Campbell fragte sich, ob es wirklich klug war, nach anderen Überlebenden zu suchen. Bislang hatte er ziemliches Pech damit gehabt und er überlegte sich, ob Menschen unter Zwang wirklich fähig waren, für das gemeinsame Wohl zusammenzuarbeiten.
Es gibt nichts Besseres als eine gute, alte Apokalypse, um diesem Blödsinn von Liebe, Frieden und Verständnis den Garaus zu machen.
»Dort ist der Schuppen, in dem sie mich versteckt hat«, sagte Stephen, nachdem sie einen weiteren Hinterhof mit einem verwahrlosten Gemüsegarten durchquert hatten. »Sie hat versprochen zurückzukommen. Aber die Soldaten sind gekommen und haben mich rausgelassen und mir gesagt, ich soll loslaufen oder sterben.«
Die Tür des Schuppens stand offen und Campbell prüfte argwöhnisch die Umgebung, während er sich wünschte, eine Waffe zu haben.
»Jemand ist nach mir drin gewesen«, sagte Stephen. »Sie haben die Werkzeuge auf den Boden geschmissen.«
»Vielleicht ist Rachel zurückgekommen.«
»Oder die Soldaten.«
Sie hörten einen Schrei zu ihrer Rechten, von der Straße her. Campbell warf sich auf den Bauch und krabbelte auf dem Boden, bis er den Kampf sehen konnte. Eine Frau in Militärkleidung verteidigte sich gegen ein Zapphirn, zwei Körper lagen zu ihren Füßen.
»Ich sollte ihr helfen«, sagte Campbell. »Du bleibst hier.«
Stephen packte die Rückseite seines Hemdes, als er aufstehen wollte. «Nein. Sie war eine von denen, die gesagt haben, dass mich die Zapphirne kriegen werden.«
»Aber sie ist eine von uns.«
»Wenn du ihr hilfst, wird sie mich vielleicht wieder den Zapphirnen geben.«
Bevor Campbell eine Entscheidung treffen konnte, löste die Soldatin das Problem, indem sie ein Messer tief in den Bauch des Zapphirns stieß und in einem Aufblitzen von Silber und einer Flut von Purpur nach oben riss. Die schrillen Flüche der Soldatin zogen höchstwahrscheinlich die Aufmerksamkeit anderer Zapphirne in der Umgebung auf sich.
Der Junge starrte gebannt, als die Soldatin das tote Zapphirn von sich wegschubste und ihr Messer an einem Bein ihrer Tarnhose abwischte. Sein Gesicht zeigte keinen wirklichen Schock oder Überraschung. Campbell fragte sich, ob das die Art und Weise war, wie Kinder auf Krieg reagierten, nachdem der wiederholte Anblick schließlich zu Gefühllosigkeit führte.
Willkommen in der neuen Normalität.
»Wo ist das Haus?«, fragte Campbell ihn.
»U-um die Ecke, denke ich.«
»Okay, wir sollten uns besser von der Straße fernhalten.«
Als sie in die relative Abgeschiedenheit der Hinterhöfe zurückgekrabbelt waren, hatte sich die Soldatin erholt und ihr Gewehr aufgehoben. Campbell wollte nicht in der Nähe sein, wenn andere Zapphirne erschienen und die Kugeln herumzufliegen begannen.
Er wollte gerade losrennen, als eine Frauenstimme rief: »Stephen!«