Flitterwochen auf dem Pferderücken
Wir waren durch das letzte Gatter auf die Straße hinausgeritten und lenkten unsere Pferde nach Norden, als mein neugebackener Ehemann sagte: »Himmel, ich habe das Geld vergessen!«
Das war ernst. Das Geld, einhundertachtzig Pfund in Banknoten, stellte unser gesamtes verfügbares Vermögen dar und war vor der Hochzeit meiner Mutter zur Aufbewahrung übergeben worden. Nun hatten wir eben von unseren Freunden Abschied genommen und standen zuversichtlich und fröhlich am Beginn unseres Dreihundertfünfzig-Meilen-Ritts quer über die Insel, von Gisborne nach King Country.
»Ich geh’ nicht mehr zurück«, sagte ich schnell, »nach dem großartigen Abgang ist das einfach zu dumm! Ich warte hier auf dich«, und griff entschlossen nach den Zügeln des Packpferdes, das mit unserer Campingausrüstung und unserem persönlichen Gepäck beladen war, während Walter mit überlegenem Ausdruck über die Pferdekoppel zum Hause seines Bruders zurückritt, wo die Hochzeitsgäste immer noch versammelt waren.
Selbstverständlich hatte er einem Sperrfeuer von Witzeleien standzuhalten: >Lang hat’s nicht gedauert, was?< >Ist sie dir schon hinter die Schliche gekommen?< >Hast du sie jetzt schon satt!< und so weiter.
Aber meine Mutter hatte kaum den zurückkehrenden Bräutigam gesichtet, als sie auch schon ausrief: »Du meine Güte!«, mit ungeheurer Würde ihren Rock hob und aus der Tasche ihres schwarzen Satinunterrocks das Bündel Geldscheine herausholte. Begleitet von lautem Hallo und Gelächter ritt der nagelneue Ehemann zu seiner wartenden Braut zurück.
Als wir zum erstenmal das Problem besprachen, wie wir unsere Pferde von Gisborne nach Kawhia bringen könnten, hatte ich einen Einfall. »Laß sie uns doch hinüberreiten!«
»Dreihundertfünfzig Meilen oder so? Viel zu anstrengend für dich.«
»Aber ich möchte es so gern! Außerdem bleibt uns sonst nur die Möglichkeit, sie zu verschiffen. Denk nur an das Risiko! Kismet oder Minx brechen sich womöglich noch ein Bein, wenn sie aus diesem scheußlichen Leichter im Hafen ausgeladen werden! Und überleg dir bloß, wieviel sparsamer es sein wird... Und wieviel Spaß wir haben werden!« Ob es sparsamer war oder nicht, haben wir nie ganz herausbekommen; aber Spaß hatten wir ganz gewiß.
Wir waren uns vor kaum vier Monaten begegnet, als ich bei meiner Schwester zu Besuch war, die David Scott, Walters Bruder, geheiratet hatte. Reiten war meine Leidenschaft, und Walter, der meine Schwäche schnell erkannte, hatte praktisch mit Pferden um mich geworben. Schon am ersten Morgen, nachdem wir uns kennengelernt hatten, erschien er mit Kismet, einem schönen, grauen Vollblut, hochbeinig, mit vollendeter Gangart, obgleich nicht schnell genug für die Rennbahn, wofür er eigentlich gezüchtet worden war. Ich habe niemals ein schöner gebautes Pferd gesehen, und als sein Besitzer sagte: »Ein prächtiger Morgen, nicht wahr? Wie ist es mit einem Ausritt?«, stimmte ich begeistert zu.
Drei Tage später fuhr Walter mit Jack, einem schwarzen Traber, den er am Tag zuvor gekauft hatte, in einem brandneuen, feschen Gig vor. Die Transaktion war auf typische Weise zustande gekommen.
»Der Bursche wollte vierzig Pfund.« Vierzig Pfund waren 1914 eine Menge Geld. »Mir gefiel er, und schließlich sagte ich, abgemacht! Wenn er mich in zwanzig Minuten in die Pinte bringt, kaufe ich ihn.«
»Wie weit ist das?«
»Zehn Meilen und, bei Gott, der Rappe schaffte es. Er ist schnell und hat Temperament.«
»Und er ist gut anzuschauen«, ergänzte ich voller Bewunderung. »Aber was für ein langweiliger Name! Ein mehr romantischer würde viel besser zu ihm passen.«
»Sein richtiger Name ist auch >Black Irvington<, aber in den Ställen bekommen sie immer irgendeinen Kosenamen. Jetzt hört er auf >Jack<. Er ist ja noch ein Baby — erst zwei Jahre alt. Versprach gut zu werden, brach aber unter dem Training zusammen.
Sein Besitzer wollte ihn eigentlich nicht wirklich verkaufen. Ich habe halb und halb zugesagt, mein Geld zurückzunehmen und ihm das Pferd wiederzugeben, wenn es sechs Monate lang gesund bleibt.«
Aber Jack kehrte nie mehr zu seinem Christchurch-Stall zurück. Nach Ablauf der sechs Monate war er Hunderte von Meilen davon entfernt, half eine leichte Zweiradkutsche über steile und verschlammte Straßen ziehen, stolperte niemals, immer lammfromm, die Hauptstütze unseres Lebens im Busch. Ein oder zweimal lahmte er vorübergehend, was unser Gewissen beruhigte, und Walter pflegte dann zu bemerken: »Für dieses Leben hier ist er wie geschaffen; aber hartes, regelmäßiges Training würde er nicht aushalten. Sinnlos, ihn zurückzuschicken.« Als ob einer von uns das jemals auch nur erwogen hätte, obwohl uns gerade damals vierzig Pfund sehr gelegen gekommen wären.
Die ersten zwei Wochen mit Walter verlebte ich in einer Welt der Pferde. Ich durfte sogar Kismet auf drei Jagden reiten, wobei weder ich noch er Lorbeeren ernteten. Das war eine Enttäuschung, denn er war wirklich das Bild des klassischen Jagdpferdes, und ich mußte immer wieder anhören, wie Leute neiderfüllt sagten: »Sie haben ein großartiges Pferd! Sieht aus, als wäre ihm kein Hindernis zu hoch.«
Aber Kismet war völlig anderer Meinung. Er sprang so gut wie nie, wenn es sich irgend vermeiden ließ. Voller Bravour ritt er im schönsten Galopp auf den Zaun oder was immer es war zu, und dann bremste er endgültig. Sogar mit Walter zog er es vor, einen Salto zu schlagen, statt auch nur den Versuch eines Sprunges zu wagen. So blieb es dabei, daß ich meistens den weniger mutigen Teilnehmern der Jagdgesellschaft durch die Gatter folgte. Wahrscheinlich war das nur gut für mich, denn ich wäre sicherlich beim ersten höheren Hindernis vom Pferd gefallen. Pferdenärrin, die ich war, fehlte es mir doch noch an wirklicher Erfahrung.
Aber wenigstens blieb mir die Befriedigung, zu beobachten, wie Walter jedes Hindernis nahm, und das auf Minx, seinem Pony, das niemals zuvor einen Drahtzaun gesehen hatte. Im Gegensatz zu Kismet war das Pony ein geborener Springer und ein absolut zuverlässiger dazu. Später, auf der Farm, brauchte mein Mann nur selten ein Gatter zu beachten, und, was noch bemerkenswerter war, wenn es geführt wurde und keine Lust hatte zu springen, bückte es sich und kroch mit unnachahmlicher Nonchalance unter einem Geländer durch. Es war das beste Zuchtpony, das ich je kannte — und mein Mann der beste Reiter.
Doch auch ich lernte reiten, auf eine Weise, wie ich es mir vorher nicht hatte vorstellen können, und lernte zugleich auch die Zügel eines Trabers zu handhaben. Ich hatte schon oft einen Gig gefahren; aber einen schnellen, feurigen Traber zu lenken, der sich ganz und gar auf die Zügelführung verließ, war eine ganz andere Sache. Jedenfalls fuhren und ritten wir überall hin, machten Picknicks, diskutierten und planten. Am Ende der zweiten Woche waren wir verlobt und drei Monate später verheiratet.
Während dieser drei Monate fuhr ich nach Auckland, um die notwendigen Kleider einzukaufen. Unerwartet kam Walter nach, und so kam es, daß wir ganz nebenbei eine Farm in King Country erwarben, statt in der wohlhabenderen und kultivierteren Gegend um Gisborne, wo seine ganze Familie ansässig war. Davon abgesehen, hatten wir bereits beschlossen, uns >abzusetzen< und >all das hinter uns zu lassen<, wie es ganz normal für junge Menschen ist. In unserem Fall kann man wohl behaupten, daß wir diese Absicht höchst erfolgreich durchführten.
Die Farm war zwanzig Meilen von Te Awamutu entfernt und lag siebzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel, an den Hängen des Mount Pirongia, mit dem Blick auf die Westküste. Es war ein langer Ritt von Gisborne, sogar mit den besten Reitpferden. Jack trabte brav neben uns dahin und verlangte keine Führung. Das Packpferd Jumbo, ausdauernd, aber unaristokratisch, und überhaupt ganz so wie sein Name, mußte am Zügel gehalten werden, solange wir durch seine Heimat ritten. Dann folgte es resigniert.
Es war Frühling und ideales Wetter zum Reiten, warme Tage und kühle Nächte, mit frischem Gras am Straßenrand für die Pferde, wenn wir ihnen Rast gönnten. Wunderbare Flitterwochen für uns, obwohl die Entfernungen, die wir zurücklegten — nie mehr als vierzig Meilen am Tag junge Leute von heute kaum zufriedenstellen dürften. Meist waren wir schon bei Tagesanbruch auf der Straße, legten aber dann mehrere Pausen ein, um unsere Mahlzeiten in dem Blechtopf zu kochen, der auf Jumbos Rücken baumelte. Manchmal teilten wir unseren Tee mit Straßenarbeitern oder irgendeinem vorüberziehenden Reisenden; oft dösten wir im Schatten des Waldrandes, während die Pferde friedlich in unserer Nähe grasten.
1914 waren die Landstraßen kaum bevölkert. Ein paar Reisende und noch weniger Wagen, hin und wieder ein Reiter, Viehtreiber mit ihren Schafherden oder Kühen, selten einmal ein Pferdefahrzeug und sogar gelegentlich noch ein Ochsenkarren. Davon abgesehen, gehörte die Landstraße uns allein.
In Otoko, damals die Endstation der Eisenbahn von Gisborne, unterbrachen wir die Reise und verbrachten die Nacht in einem Haus, das Walters Schwester gehörte. Am nächsten Tag ritten wir durch die Motu, jene großartige, aber enorm schwierige Straße, die inzwischen längst nicht mehr in Gebrauch ist. Mich beeindruckten die vielen Meilen undurchdringlichen Busches sehr, denn bis dahin war ich die zivilisierten Landschaften der Hawke’s Bay und der Poverty Bay gewöhnt gewesen. Es war wunderschön, aber ein bißchen überwältigend.
In Opotiki verbrachten wir ein paar Tage bei einer Tante meines Mannes, der Witwe von Captain Ross, einem exzentrischen Engländer, der sich in den Maori-Kriegen ausgezeichnet hatte. Unser nächstes Ziel war Te Teko, wo wir zum Mißvergnügen der Pferde mit der Fähre übersetzten. Nach einer Nacht im dortigen Hotel ging es weiter nach Rotorua, wo wir eine Woche blieben, einerseits, um uns und die Pferde gründlich auszuruhen, andererseits, weil Walter die Geiser, das Maori-Dorf und all die verschiedenen Touristenattraktionen besichtigen wollte.
Diese Unterbrechung kam mir recht gelegen, denn ich war doch einigermaßen erschöpft. Den ganzen Tag langsam zu reiten, war etwas völlig anderes als ein schneller Kanter für ein paar Meilen. Aber Rotorua war ungünstig für die Pferde, die in einem Stall untergebracht werden mußten, weil keine Weide zur Verfügung stand. Die harten Kiesel in den Höfen gefielen ihnen ganz und gar nicht, so daß wir ihnen zuliebe früher aufbrachen, als wir geplant hatten. Eine Nacht in Tirau, eine weitere in Te Awamutu, und endlich waren wir innerhalb der Reichweite unserer Farm und unseres neuen Heimes.
Ich hatte beides noch nicht gesehen, weil ich die ganze Zeit über in Auckland in Anspruch genommen war, von all meinen Freunden Abschied zu nehmen, mit »goodbye« und »komm und besuch uns, wenn du kannst«, und dem Einkäufen von neuen Kleidern. Die kostspieligsten davon waren zwei maßgeschneiderte Reitkostüme. Obwohl wir schon im Herrensitz ritten, trugen Damen damals diskret >geteilte Röcke<. In ihnen gedachte ich in der Hauptsache zu leben. Selbstverständlich ritt man auf einer Farm! Daß man außerdem noch ein Haus in Ordnung halten, kochen, backen und sich Besuchern widmen mußte, war mir damals nicht in den Sinn gekommen.
Unsere Möbel und der größte Teil unserer Habe war von Gisborne aus verschifft und dann mit dem Zug nach Te Awamutu transportiert worden. Der Rest kam von Auckland, dazu eine sehr bequeme, leichte Zweiradkutsche für ein Zweigespann.
»Ein Zweigespann?« hatte ich gestottert, denn ich hatte noch nie mehr als ein Pferd zur gleichen Zeit gelenkt, und das war mir immer schon reichlich schwierig erschienen! Aber Walter erklärte mir, daß die Straßen steil und kurvig seien und die Farm >meilenweit von überall< entfernt läge. Zwei Pferde seien unerläßlich, um selbst eine leichte Zweiradkutsche zu unserer Farm hinaufzuziehen.
Hinter Te Awamutu war jeglicher Transport ein Problem. Die Straße war nur neun Meilen beschottert: die sieben nach Pirongia und zwei Meilen darüber hinaus. Danach bestand sie aus Lehm, und obwohl es bereits Frühling war, bedeutete das ein langsames Vorankommen, denn es dauerte hier bis in den Sommer hinein, ehe die Sonne die lehmigen Straßen von King Country trocknete.
Te Awamutu war damals eine kleine Stadt. 1914 wurde jeglicher Transport dort selbstverständlich noch mit Pferdekutschen und Pferdekarren durchgeführt. Es gab ein Transportunternehmen in der Stadt, geleitet von zwei Brüdern, ausgezeichneten Pferdekennern und — liebhabern, die in dem Ruf standen, immer noch >durchzukommen<, wo andere versagten. Sie waren nicht gerade hingerissen von der Idee, all unser weltliches Gut durch den meilenweiten Schlamm über die steile und kurvige Pekanui-Road zu karren, aber schließlich sagten sie widerstrebend zu.
Sie brauchten dazu vier Pferde, erklärten sie uns, und müßten in der Morgendämmerung schon aufbrechen. Unsere Sachen wurden am nächsten Tag in Te Awatumu erwartet. Wir mußten also bei Morgengrauen losziehen, um am Ziel bereitzustehen, wenn das Ausladen begann.
Eine meiner lebhaftesten Erinnerungen an diese vergangenen Tage ist die an jenen Frühlingsmorgen, als wir uns auf den Weg zu unserer Farm machten, die von nun an unser Heim sein sollte. Es war windstill; es versprach ein schöner Tag mit blauem Himmel und Sonnenschein zu werden. Wir frühstückten noch im Hotel, und schon vor acht Uhr zogen wir los. Die ersten neun Meilen ging es schnell und angenehm voran; ein breiter Grasstreifen erlaubte einen leichten, gleichmäßigen Galopp, mit Jack an der Spitze und Jumbo schwerfällig hinterdrein rumpelnd.
Die Landschaft von Waikato war flach und wirkte vielleicht sogar ein wenig eintönig auf jemand, der an die hügelige und abwechslungsreichere Gegend von Gisborne und Hawke’s Bay gewöhnt war; aber auf den Wiesen grünte frisches Frühlingsgras, und während wir an den Bauernhäusern vorbeiritten, begegneten wir Herden von Milchkühen auf ihrem Weg zur Weide, die erstaunt aus ihren sanften Augen die vier Pferde anglotzten.
Nach dem wilden, unzugänglichen Buschland der letzten dreihundert Meilen tat mir dieser vertraute, freundliche Anblick richtig wohl. Immer vor uns, fast bis zum Fuß mit Buschwerk bewachsen, erhob sich Mount Pirongia. An diesem schönen Frühlingstag blickte er blau und mild auf uns herunter, und für mehr als vierzig Jahre sollte er unser Leben beherrschen.
Das Dorf, welches nach ihm benannt ist, hatte selbst damals schon längst seine Blütezeit hinter sich. Einmal war es ein militärischer Vorposten gewesen und hatte die Grenze zwischen King Country, wo der weiße Mann und seine sogenannte Zivilisation nicht eingedrungen waren, bewacht. Nun schlummerte es friedlich im Schatten des Berges. Es rühmte sich eines zweistöckigen Hotels, das bereits in jenen Tagen schon ein bißchen baufällig war, aber einen gewissen Ruf als >das letzte Hotel mit einer Lizenz, Alkohol auszuschenken, bevor Sie King Country betretem besaß. Es stimmte haargenau, daß es dort das letzte Hotel mit einer Ausschanklizenz für Alkohol war; aber dank der vielen >schwarzen< Brennereien, welche in jener Zeit im Busch und in Schluchten munter weiterexistierten, bestand andererseits kein Grund, sich deswegen Sorgen zu machen, — wie ein Irländer, der später auf der Farm bei uns arbeitete, es ausdrückte: »Kein Mann braucht zu fürchten, daß er entweder verdursten oder viele Meilen weit reiten muß. Den Heiligen sei Dank...« — oder zumindest den zahlreichen Schwarzbrennern.
Zwei Meilen hinter Pirongia verwandelte sich ganz plötzlich das Landschaftsbild. Schotter hörte auf, und bald wateten wir bis herauf zu den Fesseln der Pferde im Schlamm. Grüne Weiden wurden nun von Farn und spärlichem Graswuchs abgelöst. Viele der Farmen gehörten hier den Maoris, der Rest schwer kämpfenden Milchfarmern, und die Häuser in dieser Gegend waren primitiv. Das Vieh sah ungepflegt aus, und viele der Wirtschaftsgebäude standen mitten im Schlamm. Wir kamen an eine lange Holzbrücke, unter welcher der Weipa-Fluß, immer noch hoch nach den winterlichen Regenfällen, wild und drohend wirbelte. »Nun sind wir über die Grenze. Wir befinden uns jetzt im King Country — dem vergessenen Land«, sagte Walter, während wir hinüberritten.
Ich verstand nicht ganz, was er damit meinte. Da ich nur sehr wenig über King Country wußte, gab es eigentlich nichts, das ich hätte vergessen können. Vage Erinnerungen an Rewis letzten Widerstand, an Grenzwachen und Scharmützel zwischen den feindlichen Parteien flitzten durch mein unhistorisches Gedächtnis. »Wieso vergessenes Land?« fragte ich.
»Weil es ein armes Land mit schlechtem Boden und miserablen Straßen ist. Und ein großer Teil davon ist in den Händen der Eingeborenen. Die Maoris brauchen keine Steuern zu zahlen, weshalb die Verwaltungsbezirke arm sind. Es gibt noch massenhaft freies Land und sehr wenig Steuereinkünfte. Du wirst bald genug davon zu sehen bekommen.«
Heute sind diese Ebenen fruchtbar und wohlhabend. Rentable Milchfarmen stehen zu beiden Seiten der geteerten Straße, und die Häuser, ob sie nun Maoris oder Pakehas gehören, sind solid gebaut. Als wir zum erstenmal dort durchritten, war es ein hoffnungsloser Anblick. Wer wollte schließlich schon nach King Country gehen, wenn man ohne Schwierigkeiten gutes Land in Reich-weite der Zivilisation kaufen konnte? Nur Menschen, die jung und arm, optimistisch und abenteuerlustig waren. Nur verrückte Leute wie wir, sagten wir zueinander und lachten und freuten uns, wenn wir hin und wieder einen Grasstreifen fanden, der frei von Schlamm war, galoppierten munter dahin und versicherten uns gegenseitig, daß dies das einsame, wilde Buschland war, wie wir es uns gewünscht hatten. Genau das Richtige für uns.
Kein Zweifel, es war mitten im Buschland, wo wir uns jetzt befanden, denn nach etwa weiteren acht Meilen erreichten wir das, was damals >der rote Briefkasten< genannt wurde, wo die Kawhia-Postkutsche Briefe und Vorräte deponierte. Dort verließen wir die Hauptstraße nach Kawhia und bogen in eine andere ein, kaum breiter als ein Trampelpfad, die direkt in den Busch hineinführte. Sie hieß Pekanui Road. Hier war, mit Ausnahme von ein paar Sommer- und Herbstmonaten, der Boden immer mit tiefem, klebrigem Schlamm bedeckt. Wir kamen nur sehr langsam voran; sogar Jack trottete ernüchtert hinterdrein. Leicht möglich, daß er dabei von den ebenen, glatten Straßen Canterburys träumte.
Der dichte Busch zu beiden Seiten beschattete die Straße; die Steigung war steil mit zahllosen Haarnadelkurven. Endlich, nach, wie ich glaubte, vielen Meilen, die aber in Wirklichkeit nur drei waren, erreichten wir vergleichsweise ebenes Gelände, wo zwei Farmen aus dem Busch herausgeschnitten worden waren. Es waren primitive Häuser, die etwa eine Meile voneinander entfernt lagen, aber sie waren die ersten, die ich sah, seit wir die Hauptstraße verlassen hatten. Mein Mut begann sich ein wenig zu heben. Wir mußten den Gipfel dieses endlosen Hügels erreicht haben. Als ich das zu Walter sagte, schüttelte er bloß den Kopf.
»Die Hälfte«, erklärte er und fügte überflüssigerweise hinzu, was er in den kommenden Jahren noch oft tun sollte: »Bist du sicher, daß du es nicht bereust?«
Die Straße während dieser letzten drei oder vier Meilen war noch steiler und schmaler und durchquerte wildes, einsames Land. Nur unberührter Busch und hoher, riesenhafter Farn; kein Zeichen menschlicher Niederlassung. Alles beherrschend brütete darüber der Berg, seinen Gipfel in Dunstschleier gehüllt, und jetzt erschien er meinen müden Augen ein ganz klein wenig drohend. Zwischen uns und seinem Gipfel lagen steil abfallende Schluchten. Die Kurven der Serpentinen wurden immer schärfer.
»Was auch immer kommen mag, ich werde niemals diese Straße hinunterfahren!« erklärte ich feierlich. »Ich wüßte nicht, was ich tun sollte, wenn mir in einer dieser halsbrecherischen Kurven ein Fahrzeug entgegenkäme.«
Doch sogar sieben Meilen von Schlamm und Busch müssen schließlich einmal aufhören. In einem atemlosen Augenblick kamen wir aus der feuchten Düsternis heraus und standen plötzlich auf dem Gipfel des Hügels, auf einer grob beschotterten Straße, und schauten hinunter auf eine, wie mir vorkam, vollkommen neue Welt. Es war inzwischen Nachmittag geworden. Weit in der Ferne ließ die Sonne ein blaues Gefunkel aufleuchten. »Das ist der Hafen von Kawhia«, sagte Walter. »Und dort draußen, jenseits der Landzunge, liegt der Tasman.«
Es war eine wunderbare Aussicht; aber nachdem ich lange Zeit geschaut hatte, erkundigte ich mich einigermaßen mißtrauisch: »Gibt es eine Straße nach Kawhia? Und haben wir dort unsere Einkäufe zu machen?« Unmöglich, sich vorzustellen, daß die lebensnotwendigsten Dinge all diese Meilen von Te Awamutu gebracht werden müßten! Und wie sollten die wohl transportiert werden?
»Nein, bis jetzt gibt es noch keine Straße nach Kawhia. Von Oparau aus geht ein Motorboot, oder bei Ebbe kann man reiten. Aber in Oparau gibt es einen Laden, acht Meilen von unserer Farm. Die Straße dorthin ist beschottert — wenn man es eine Straße nennen kann. Schon eher ein Flußbett, mit all diesen verdammten Kieselbrocken, die sie zum Schottern nehmen.«
Ich dachte immer noch an Kawhia, das offenbar unser nächstliegendes Dorf war.
»Bei Ebbe?« Ich hatte eine grausige Vision, wie ich von der herantosenden, wildschäumenden See erfaßt würde. »Aber wo reitet man da?«
»Quer über die Schlammbänke, den einen Teil des Weges muß man mit dem Pferd schwimmen, wenn man von der Flut überrascht wird. Wir werden bald hinüberreiten. ich habe dort verschiedenes mit der Bank und so weiter zu regeln.«
»Wir werden aber nur bei sehr niedriger Ebbe gehen«, erklärte ich fest, denn ich hatte immer schon eine geheime und unüberwindliche Angst vor Wasser.
Er lachte. »Nur noch zwei Meilen jetzt und wir sind zu Hause. Komm schon. Genug nun mit der Aussicht. Du wirst sie dauernd vor der Nase haben.«
Aber ich sollte niemals wirklich genug davon bekommen. Zwischen uns und diesem blauen, glitzernden Streifen des Meeres erhoben sich Hügelketten. Ich zählte neun, jede tiefer liegend als die vorhergehende, bis sie endlich, weit unten am Hafen, nicht mehr zu erkennen waren. Unberührter, ungezähmter Busch bedeckte sie. Es ist eine Aussicht, die immer noch außergewöhnlich schön ist; vielleicht heute um so mehr, da das gesamte Oparau-Tal kultiviert und wunderbar grün ist, saubere Farmhäuser darin verstreut sind und gutgenährte Viehherden friedlich grasen. Doch einige der Hügelketten sind immer noch mit Busch bewachsen, immer noch unberührt, und das blaue Gefunkel der See erfüllt mich heute noch mit der gleichen Freude wie vor fünfzig Jahren.
Während wir langsam die grobe Schotterstraße hinunterritten, entdeckten wir hin und wieder schwache Anzeichen von Kultivierung. Am Fuß eines steilen Hügels lag ein Farmhaus, wo, wie mir Walter sagte, zwei Junggesellen hausten. Ein Stück tiefer noch und ziemlich nah an unserer Landgrenze gab es ein kleines Haus über einem Stück ausgespartem Buschland. Ich freute mich, als ich Rauch aus seinem Kamin aufsteigen sah. Der Kamin war riesig und nicht aus Ziegeln aufgesetzt, sondern aus Wellblech. Ich fand das merkwürdig, doch Walter belehrte mich, daß hier die meisten Kamine aus Wellblech seien.
»Warum?« wollte ich wissen.
»Zu weit abgelegen für den Transport von Ziegeln und zu kostspielig. Die beiden Kamine in unserem Haus sind ebenfalls aus Wellblech.«
Mir wollte das nicht gefallen, und dieses eine Mal trog mich meine Ahnung nicht. Drei Jahre später brannte unser Haus auf Grund eines schadhaften Wellblechkamins ab, und wenig später erlitt unser Nachbar das gleiche Schicksal.
»Hier sind wir. Das ist unser Grenzzaun. Unser Land.« Wie großartig sich das anhörte! »Hier ist unser Eingangstor.«
Ich sah eine steile Straße den Hügel hinaufklettern; aber das Haus lag hinter einer hohen Hecke oben am Kamm versteckt. In stummer Übereinstimmung trieben wir unsere Pferde zu einem letzten Galopp an und rasten um die Wette die Einfahrt hinauf.
Wieder breitete sich vor mir eine unübertreffliche Aussicht aus, sogar noch schöner als die von der Hügelspitze. Noch nie hatte ich so etwas gesehen — und noch nie ein solches Haus. Es war lang und niedrig, aus Ruberoid erbaut, mit einer Veranda, die von wildwuchernden Kletterrosen und Jasmin überquoll. Die Fenster gingen zu einem Garten hinaus, der einmal reizend gewesen sein mußte, und von diesem Garten aus bot sich diese einmalige Aussicht.
In fiebriger Hast sattelten wir unsere Pferde ab, deckten sie zu und ließen sie frei weiden, befreiten Jumbo von seiner Last, die wir ins Haus brachten — und begannen augenblicklich mit der Begutachtung unseres Heimes.
»Du hast natürlich noch nie etwas derart Primitives gesehen«, murmelte Walter wieder in diesem entschuldigenden Ton, der mich ärgerte. »Bis jetzt hast du ja immer in Städten oder in zivilisierten Gegenden gelebt. Du wirst einen schönen Schreck bekommen.«
Ich bekam keinen. Es war eine Überraschung, aber kein Schreck — jedenfalls nicht bis wir entdeckten, daß es keine Toilette und, in der Tat, auch kein Badezimmer in dem kleinen Haus gab. Aber das, so versicherten wir uns gegenseitig optimistisch, würde bald anders werden.
Das Haus bestand — was uns befremdete — aus zwei Teilen. Die erste Hälfte enthielt einen großen Wohnraum mit einem enormen Kamin, in dem man ganze Holzklötze aufschichten konnte. Von dort aus führten Türen zu zwei kleinen Schlafzimmern auf der einen, und zu einem größeren auf der anderen Seite. In die eine Ecke eingeklemmt gab es einen kleinen Raum, der offenbar für ein Badezimmer bestimmt gewesen war, aber, wie wir später von Nachbarn erfuhren, niemals seiner Bestimmung zugeführt wurde, weil >die Burschen eines Tages die Lust daran verloren und meinten, wenn sie hin und wieder mal im Bach untertauchten, sei das durchaus gut genug für sie<.
Dahinter lag ein offener Flur, ohne Dach und Fußboden, dann kamen zwei mittelgroße Räume, die vermutlich Vorratskammer und Küche darstellten. Der schwarze Herd duckte sich bösartig in die Ecke eines anderen Wellblechkamins, aber ich sah geflissentlich an ihm vorbei. Ich hatte kaum jemals etwas gekocht, und wenn, dann höchstens auf einem Gasherd.
»Mach dir keine Sorgen seinetwegen«, tröstete mich Walter. »Ich kenne mich mit den Dingern aus. Außerdem, warum sollten wir eigentlich überhaupt kochen?«
Dies war, wie es mir nun zurückblickend klar wird, immer die Art und Weise, wie Walter meine vielen Schwächen in unserem Eheleben abtat.
Das Haus war malerisch, die Aussicht einmalig, die Luft kühl und klar, aber die Böden ungeheuerlich schmutzig. So schmutzig, daß es unser erstes Problem war, sie sauber und trocken zu bekommen, bevor unsere Möbel und Teppiche eintrafen.
»Zum Glück habe ich all dieses Werkzeug mit der Farm gekauft«, bemerkte mein Mann, und ich sah ihm voller Ehrfurcht zu, wie er mit einem Spachtel die Bodenbretter abkratzte. Ob unser Vorgänger wohl seine Tiere hier drinnen beherbergt hatte? Eine Unzahl Eimer mit kochendem Wasser mußten über diesen Fußboden ausgeleert werden, bevor Aussicht bestand, die Bretter zu schrubben. Die ganze Zeit horchten wir besorgt auf das Geräusch eines nahenden Pferdefuhrwerks. Dumm, wenn unsere Möbel eintreffen würden, bevor die Böden einigermaßen trocken waren!
Unsere Sorge war reichlich überflüssig gewesen. Der Nachmittag neigte sich bereits dem Abend zu; die Sonne versank rotgolden aufglühend im fernen Meer, und immer war noch kein Knarren der Räder, keine anfeuernde Stimme zu hören, welche die Pferde zu einer letzten Anstrengung antrieb. Wir hatten kein Bettzeug, keine Kleider, nichts von den notwendigsten Dingen, die wir bald brauchen würden. »Er wird schon noch vor Dunkelheit eintreffen«, versicherten wir uns leichtherzig. »Besser so, dann bleibt uns noch Zeit zu einem kurzen Rundblick auf der Farm.«
Wir gingen den grasbewachsenen Abhang vor dem Haus hinunter, wo sich unsere Pferde bereits ihre Mahlzeit geholt hatten und sich zur Nachtruhe bereitmachten. Wir sahen das üppige Frühlingsgras, die wenigen Morgen pflügbares Land, und sprachen von den Schafen, die wir züchten und dem Getreide, das wir anbauen wollten. Wir bemerkten nicht das Farnkraut, das nur darauf wartete, unsere Weiden zu überwuchern und das Gras zu ersticken; wir ahnten nicht, daß der undurchdringliche Busch, so ähnlich dem an der Ostküste, an welchen mein Mann gewöhnt war, hier unfruchtbaren Boden bedeckte, der jede Art von Unkraut leichter hervorbrachte als Gras.
Gleichwohl, der Abend war klar und golden, und wir wußten nichts von alledem. Wir wußten nur, daß wir jung waren, und erfüllt von Hoffnung und Begeisterung, und zu Hause.
Wir fanden es beinahe amüsant, daß das Fuhrwerk noch nicht eingetroffen war, daß wir kein Bettzeug, keine Kleider außer denen im Reisegepäck, keine Lebensmittel außer unserer Picknickration hatten. »Schadet nichts«, sagte Walter, »da ist immer noch dieser Schinken«, und erzählte mir, daß der vorherige Besitzer der Farm seinen eigenen Schinken räucherte. »Ich kaufte ein ganzes Schwein von ihm; das sollte uns eigentlich über die Runden bringen. Wir wollen uns ein bißchen davon zum Tee braten, und dann mach ich uns ein Bett zurecht.«
Der Schinken schmeckte hervorragend, und das »Bett« war schnell gemacht. Ganz in der Nähe gab es kräftigen, guten Farn — wie nahe, sollten wir erst am nächsten Morgen mit einigem Schreck feststellen, denn er begann sich bereits in die umliegenden Weiden einzuschleichen. Walter schleppte eine Menge davon an. »Von diesem verfluchten Zeug gibt es ganze Massen«, bemerkte er ein bißchen gedämpft. »Jedenfalls taugt es zu einem weichen Lager vor dem Kaminfeuer.«
Als Bettzeug benützten wir zwei überzählige Pferdedecken, eine über den Farn, eine zum Zudecken. Wir lachten und fanden es einfach großartig, daß wir geheiratet hatten und nun mitten im Busch waren.
In siebzehnhundert Meter Höhe sind die Frühlingsnächte kalt, und wir merkten bald, daß zwei Pferdedecken nicht genug wärmten. Schlimmer noch — sie stanken. Walter stand in dieser Nacht viele Male auf, um das Feuer im Kamin in Gang zu halten, aber trotzdem konnte von Schlaf keine Rede sein. Die Umgebung war zu fremd, zu unbequem, und davon abgesehen, waren wir viel zu aufgeregt. Wir setzten uns auf und plauderten und machten immer wieder Tee und wunderten uns, was wohl aus unseren Möbeln, unseren kostbaren Hochzeitsgeschenken und unseren Büchern geworden war.
»Pech, daß wir den ersten Abend in unserem neuen Heim so beginnen müssen. Du frierst und bist müde und fragst dich wohl, warum in aller Welt du einen Kerl geheiratet hast, der keinen Cent hat und mit dir am Ende der Welt leben will.«
»Unsinn. Ich bin überzeugt, daß wir eine Menge Spaß haben werden.«
»Aber die Arbeit... Nichts ist hier so, wie du es gewöhnt bist. Keine intellektuellen Freunde. Keine neuen Bücher. Keine Leute, mit denen du über die Weltereignisse diskutieren kannst. Nichts von alledem, was du magst.«
»Du weißt ja gar nicht, was ich wirklich mag! Du kennst mich erst seit vier Monaten.«
»Da hast du eigentlich recht«, sagte er nachdenklich. »Ich weiß verflixt wenig über dein Leben, bevor wir uns trafen. Wir waren so damit beschäftigt, zu reiten und uns zu amüsieren und eine Farm zu kaufen, daß wir gar nicht dazu kamen, uns mit der Vergangenheit zu befassen. Ich weiß, daß du eine vergnügte Kindheit und eine Menge Spaß an der Schule und der Uni hattest; aber sonst nicht viel mehr. Das ist gerade der richtige Augenblick und der passende Ort für eine lange Story. Erzähl mal.«
»Und du aber auch.«
Er lachte. »Das ist mit ein paar Sätzen erledigt. Wanganui >Collegiate School<, ein paar Jahre auf einer Schaffarm, ein paar Jahre als Verwalter — dann hat es sich schon. Das reicht für heute nacht. Jetzt bist du an der Reihe.«
Er warf einen mächtigen Holzklotz ins Feuer, goß frischen Tee auf und toastete ein paar Scheiben von unserem altbackenen Brot.
»Fang ganz von vorne an. Was ist das erste, woran du dich erinnerst?«
So saßen wir denn im Schein des Kaminfeuers in diesem leeren, kleinen Haus am Abhang des Pirongia, und ich erzählte ihm die Story meines Lebens.