»Ich habe die Seele erfunden«,
erklärte Decantor und sah mich mit seinem dunklen Auge an; das
spöttische fixierte unterdessen irgendwelche grotesken, nur ihm
zugänglichen Gesichte unter der Decke. Er sagte das so, als wollte
er mir mitteilen, er habe einen neuen Radiergummi
erfunden.
»Sieh mal an, die Seele«, sagte
ich beinahe herzlich, denn das Format seiner Unverschämtheit
belustigte mich allmählich. »Die Seele also? Die haben Sie sich
einfach ausgedacht, was? Interessant – ich habe schon früher davon
gehört. Vielleicht von einem Bekannten von Ihnen?«
Ich brach beleidigend ab, er aber
maß mich mit seinem entsetzlich schielenden Blick und sagte leise:
»Herr Tichy, treffen wir eine Abmachung. Sie lassen Ihre Ironie –
sagen wir – für eine Viertelstunde. Dann können Sie spotten, soviel
Sie wollen. Einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete ich,
wieder in meinen trockenen Ton verfallend. »Schießen Sie
los.«
Das war kein Wichtigtuer – diesen
Eindruck gewann ich jetzt. Sein Ton war zu kategorisch. Wichtigtuer
sind nicht so rücksichtslos. Das ist eher ein Verrückter, dachte
ich.
»Setzen Sie sich.«
»Die Angelegenheit ist von
elementarer Bedeutung«, sagte der Mann, der sich Professor Decantor
nannte. »Seit Tausenden von Jahren glauben die Menschen an die
Existenz der Seele. Philosophen, Dichter, Religionsstifter, die
Priester und die Kirchen bringen alle möglichen Argumente für ihre
Existenz vor. Die einen behaupten, sie sei eine vom Körper
losgelöste immaterielle Substanz, die nach dem Tode des Menschen
dessen Identität bewahre, andere wiederum meinen – und diese Thesen
entstanden unter den Denkern des Ostens –, es handle sich um eine
Entelechie ohne die Merkmale einer individuellen Persönlichkeit.
Aber der Glaube, daß der Mensch mit der Agonie nicht vollends
aufhört zu sein, daß etwas in ihm den Tod zu überdauern vermag,
hielt sich Jahrhunderte hindurch unerschütterlich in den Köpfen.
Wir Heutigen wis sen, daß es keine Seele gibt. Es gibt nur ein Netz
von Nervenfasern, in dem sich gewisse, mit dem Leben
zusammenhängende Prozesse vollziehen. Das, was der Träger eines
solchen Netzes empfindet, sein waches Bewußtsein – das eben ist die
Seele. So ist es – oder vielmehr, so war es, bevor ich kam. Oder
noch genauer, bevor ich mir sagte: Es gibt keine Seele, das ist
bewiesen, Andererseits ist das Bedürfnis nach der unsterblichen
Seele vorhanden, das Verlangen ewigen Dauerns, der Hunger nach
unendlicher persönlicher Ausdehnung in der Zeit – der
Vergänglichkeit und dem Zerfall alles Seienden zum Trotz. Dieses
Verlangen, das in der Menschheit brennt, solange sie existiert, ist
nur allzu verständlich. Weshalb also sollte man diese
tausendjährige Akkumulation von Träumen und Ängsten nicht
befriedigen? Zunächst erwog ich die Möglichkeit, die Menschen
körperlich unsterblich zu machen, verwarf jedoch diese Variante
wieder, denn sie war im Grunde nur eine Verlängerung falscher und
trügerischer Hoffnungen: Die Unsterblichen können ja auch durch
Unfälle und Katastrophen umkommen. Überdies würden dadurch
unzählige neue Probleme aufgeworfen, das einer Überbevölkerung
etwa. Es gab aber auch noch andere Gründe, die mich schließlich
bewogen, die Seele zu erfinden. Nur die Seele. Weshalb, sagte ich
mir, sollte man sie nicht so bauen können, wie man ein Flugzeug
baut? Flugzeuge gab es doch früher auch nicht, es gab nur den Traum
vom Fliegen – und jetzt gibt es sie. Als meine Überlegungen so weit
gediehen waren, hatte ich das Problem im Grunde gelöst. Der Rest
war nur eine Frage des entsprechenden Wissens, der Mittel und
ausreichender Geduld. Ich besaß das alles, und deshalb kann ich
Ihnen heute sagen: Es gibt eine Seele, Herr Tichy. Jeder kann eine
haben, eine unsterbliche Seele. Ich kann sie individuell für
jedermann anfertigen, mit allen Garantien für Beständigkeit. Das
Wort ›ewig‹ besagt eigentlich noch nichts. Meine Seele – die Seele
meiner Konstruktion – vermag das Erlöschen der Sonne zu überdauern.
Die Vereisung der Erde. Ich kann damit jeden Menschen ausstatten,
allerdings muß er leben. Toten kann ich keine Seele anfertigen –
das ist mir nicht möglich. Ganz anders die Lebenden! Die erhalten
vom Professor Decantor eine unsterbliche Seele. Nicht als Geschenk
natürlich. Sie ist das Produkt einer aufwendigen Technologie, eines
komplizierten arbeitsintensiven Prozesses, deshalb kann so eine
Seele nicht billig sein. Bei einer Massenproduktion könnten die
Kosten gesenkt werden, aber vorläufig ist eine Seele wesentlich
teurer als ein Flugzeug. Zieht man jedoch in Betracht, daß es sich
um die Ewigkeit handelt, so kann man wohl sagen, daß der Preis
verhältnismäßig niedrig ist. Ich bin also zu Ihnen gekommen, weil
die Konstruktion der ersten Seele meine Mittel völlig erschöpft
hat. Deshalb schlage ich Ihnen die Gründung einer
Aktiengesellschaft mit der Bezeichnung UNSTERBLICHKEIT vor. Sie
würden das Unternehmen finanzieren und dafür außer dem
majorisierten Aktienpaket 45 Prozent der Reineinnahmen erhalten.
Die Aktien hätten Nominalwert, aber im Aufsichtsrat würde ich mir
vorbehalten…«
»Verzeihung«, unterbrach ich ihn,
»ich sehe, daß Sie mit einem detaillierten Plan des Unternehmens zu
mir gekommen sind. Würden Sie mir nicht doch besser zuerst ein paar
Einzelheiten Ihrer Erfindung nennen?«
»Natürlich«, erwiderte er. »Aber
solange wir keinen notariell beglaubigten Vertrag unterschrieben
haben, Herr, Tichy, kann ich nur Informationen allgemeinen
Charakters erteilen. Die Versuche haben mein ganzes Geld
geschluckt, es reichte noch nicht einmal zur Deckung der
Patentkosten…«
»Gut. Ich begreife Ihre
Vorsicht«, sagte ich, »trotzdem werden Sie verstehen, daß weder ich
noch irgendein Finanzmann, der ich übrigens nicht bin – kurz
gesagt, daß niemand Ihnen aufs Wort glauben wird.«
»Natürlich nicht.« Er entnahm
seiner Tasche ein in weißes Papier gewickeltes Päckchen, flach wie
eine Zigarrenschachtel, so eine, die nur sechs Stück
enthält.
»Hier drinnen ist die Seele…
einer bestimmten Person«, sagte er.
»Darf man erfahren,
wessen?«
»Ja«, erwiderte er nach kurzem
Zögern. »Die meiner Frau.«
Ich betrachtete die verschnürte
und versiegelte Schachtel ziemlich ungläubig, und dennoch, sein
energisches, kategorisches Auftreten rief bei mir so etwas wie
einen Schauer hervor.
»Öffnen Sie das Päckchen nicht?«
fragte ich, als ich sah, daß er keine Anstalten machte, das Siegel
zu brechen.
»Nein«, antwortete er. »Vorläufig
nicht. Meine Idee, Herr Tichy, natürlich in größter Vereinfachung
dargestellt, so daß die Wahrheit fast schon wieder entstellt wird,
war folgende: Ich fragte mich, was unser Bewußtsein sei. Wenn Sie
mich anschauen, in diesem Augenblick, von Ihrem bequemen Sessel
aus, und den Geruch einer guten Zigarre spüren, die Sie mir
anzubieten nicht für angezeigt hielten, wenn Sie meine Gestalt im
Licht dieser exotischen Lampe sehen, wenn Sie schwanken, ob Sie
mich für einen Betrüger, einen Verrückten oder einen ungewöhnlichen
Menschen halten sollen, wenn schließlich Ihre Augen allen Glanz und
allen Schatten der Umgebung einfangen und die Nerven und Muskeln
ununterbrochen eilige Depeschen über ihren Zustand zum Gehirn
senden – so bildet das alles eben Ihre Seele, um in der Sprache der
Theologen zu sprechen. Sie und ich, wir würden eher sagen, daß das
der aktive Zustand Ihres Geistes ist. Jawohl, ich gebe zu, daß ich
den Ausdruck ›Seele‹ aus einem gewissen Trotz heraus gebrauche.
Wichtiger ist, daß diese so schlichte Bezeichnung sich des
allgemeinen Verständnisses erfreut oder, genauer gesagt, jeder
Mensch zu wissen meint, worum es sich handelt, wenn er das Wort
hört.
Unser materialistischer
Gesichtspunkt macht selbstverständlich nicht nur die Existenz einer
unsterblichen, körperlosen Seele zur Fiktion, sondern zugleich auch
einer solchen, die über den augenblicklichen Zustand Ihrer Person
hinaus einen gewissen unveränderlichen, überzeitlichen und ewigen
Inhalt darstellte. Eine solche Seele, da werden Sie mir zustimmen,
hat es nie gegeben, und keiner von uns besitzt sie. Die Seele eines
Jünglings und die Seele eines greisen Mannes, obwohl sie Züge der
Identität aufweist, wenn von demselben Menschen die Rede ist, und
weiter: die Seele aus der Zeit, als dieser Mann ein Kind war, und
im Augenblick, da er, todkrank, vor der Agonie steht – das sind
grundverschiedene Bewußtseinszustände. Sooft man jedoch von
jemandes Seele spricht, meint man instinktiv den psychischen
Zustand eines ausgereiften Menschen, der sich der besten Gesundheit
erfreut – es ist also verständlich, daß ich diesen Zustand für mein
Ziel gewählt habe. Meine synthetische Seele ist der ein für allemal
fixierte Querschnitt der aktuellen Jetztzeit einer normalen Person,
die sich im Vollbesitz ihrer Kraft befindet. Wie ich das mache? Ich
gestalte einer ausgezeichnet hierfür geeigneten Substanz mit
höchster, absoluter Genauigkeit, Atom für Atom, Regung für Regung,
die Konfiguration des lebenden Hirns nach. Die Kopie ist
verkleinert, im Maßstab eins zu fünfzehn. Deshalb ist die
Schachtel, die Sie sehen, so klein. Mit einiger Mühe könnten die
Ausmaße der Seele noch weiter reduziert werden, aber ich sehe dafür
keinen vernünftigen Grund, hingegen würden sich die
Produktionskosten maßlos erhöhen. So wird also in diesem Material
die Seele verewigt; das ist kein Modell und kein erstarrtes, totes
Netz von Nervenfasern… wie mir das anfangs passierte, als ich noch
Experimente an Tieren machte. Hier lag die größte und eigentlich
die einzige Schwierigkeit. Ging es doch darum, daß in dem Material
Bewußtsein bewahrt bliebe, lebendes, empfindliches, zu freiem
Denken, zu Träumen und Wachzuständen, zu den eigentümlichsten
Phantasiespielen fähiges, ewig veränderliches, ewig auf den Fluß
der Zeit reagierendes Bewußtsein. Gleichzeitig jedoch durfte das
Material nicht altern, nicht reißen oder bröckeln. Es gab eine
Zeit, Herr Tichy, da mir diese Aufgabe unlöslich erschien –
genauso, wie sie Ihnen noch jetzt erscheint – und der einzige
Trumpf in meiner Hand meine Hartnäckigkeit war. Denn ich bin
hartnäckig, Herr Tichy. Deshalb hatte ich Erfolg…«
»Moment«, sagte ich, da ich einen
leichten Schwindel verspürte. »Also wie sagen Sie? Hier, in dieser
Schachtel ist ein materieller Gegenstand, ja? Der das Bewußtsein
eines lebenden Menschen enthält? Und auf welche Weise kann er sich
mit der Außenwelt verständigen? Sie sehen? Hören und…« Ich brach
ab, denn auf Decantors Gesicht zeigte sich ein schwer zu
beschreibendes Lächeln. Er sah mich mit dem halb zugekniffenen
grünen Auge an.
»Herr Tichy«, sagte er, »Sie
haben nichts begriffen… Welche Verständigung, was für ein Kontakt
kann zwischen Partnern erfolgen, von denen einer der Ewigkeit
teilhaftig ist? Die Menschheit wird spätestens in fünfzehn
Milliarden Jahren aufhören zu existieren, wen sollte dann diese
unsterbliche Seele hören, zu wem sprechen? Haben Sie denn nicht
darauf geachtet, als ich sagte, daß sie ewig ist? Die Zeit, die bis
zu dem Augenblick vergehen wird, da die Erde vereist, da die heute
stärksten und jüngsten Sterne zerfallen, da die Gesetze, die den
Kosmos regieren, sich bis zu dem Grade ändern werden, daß er schon
etwas völlig anderes, für uns Unvorstellbares sein wird – diese
Zeit bildet nicht den geringsten Bruchteil ihrer Existenz, denn sie
wird ewig währen. Die Religionen sind durchaus vernünftig, wenn sie
nichts über den Körper aussagen, denn wozu sollen in der Ewigkeit
die Nase oder die Beine dienen? Wozu könnten sie nach Verschwinden
der Erde und der Blumen, nach dem Verlöschen der Sonnen noch gut
sein? Aber lassen wir diesen trivialen Aspekt des Problems. Sie
sagten ›Verständigung mit der Welt‹. Wenn diese Seele nur einmal in
hundert Jahren mit der Außenwelt Kontakt aufnähme, so müßte sie
doch, nach Ablauf von einer Billion Jahrhunderten, um die
Erinnerungen an diese Kontakte im Gedächtnis zu bewahren, die
Ausmaße eines Kontinents annehmen… Und nach einer Trillion von
Jahren wäre nicht einmal das Volumen der Erde groß genug – was aber
ist eine Trillion in Anbetracht der Ewigkeit! Jedoch nicht dieses
technische Hindernis hat mich davon abgehalten, sondern seine
psychologische Konsequenz. Die denkende Persönlichkeit, das lebende
menschliche Ich würde sich doch in diesem Ozean eines Gedächtnisses
auflösen wie ein Tropfen Blut im Meer, und was wäre dann mit der
garantierten Unsterblichkeit…?«
»Wieso…«, stammelte ich. »Sie
behaupten also, daß… Sie sagen… daß eine vollständige Trennung
erfolgt…«
»Natürlich. Hatte ich denn
behauptet, daß in dieser Schachtel ein ganzer Mensch ist? Ich habe
nur von der Seele gesprochen. Stellen Sie sich vor, daß Sie in
dieser Sekunde aufhören, Nachrichten von außen zu empfangen, als ob
Ihr Hirn vom Körper abgesondert wäre, aber im Vollbesitz seiner
Lebenskräfte weiterbesteht. Sie wären natürlich blind und taub, in
gewissem Sinne auch gelähmt, weil Sie nicht mehr den Körper zur
Verfügung hätten, dennoch behielten Sie voll den inneren Blick, das
heißt – die Klarheit des Verstandes, Ihren geistigen Höhenflug. Sie
würden ungezwungen Ihren Gedanken nachhängen können, Ihre Phantasie
entwickeln und formen, Hoffnung, Trauer und Freude erleben, die aus
dem Wechsel flüchtiger Seelenzustände herrühren – alles das ist
dieser Seele gegeben, die ich auf Ihren Schreibtisch
lege…«
»Das ist schrecklich…«, sagte
ich. »Blind, taub, gelähmt… für Jahrhunderte.«
»Für die Ewigkeit«, berichtigte
er mich. »Ich habe schon soviel gesagt, Herr Tichy, daß ich auch
das noch hinzufügen kann: Der Kern ist Kristall – eine bestimmte
Art Kristall, die in der Natur nicht vorhanden ist, eine
unabhängige Substanz, die keine chemischen oder physikalischen
Verbindungen eingeht. In ihren unaufhörlich pulsierenden Molekülen
ist die Seele enthalten, eine wache und fühlende Seele…«
»Sie Ungeheuer…«, sagte ich leise
und ruhig. »Sind Sie sich dessen bewußt, was Sie da getan haben?
Aber, Moment mal«, ich beruhigte mich plötzlich, »das Bewußtsein
eines Menschen kann doch nicht wiederholt werden. Wenn Ihre Frau
lebt, geht, denkt, so befindet sich in diesem Kristall höchstens
eine Kopie, die nicht sie ist…«
»Nein«, erwiderte Decantor und
schielte nach dem weißen Päckchen. »Ich muß hinzufügen, Herr Tichy,
daß Sie völlig recht haben. Man kann nicht die Seele eines Menschen
herstellen, der lebt. Das wäre unsinnig und paradox. Wer existiert,
existiert natürlich nur einmal. Eine Fortsetzung kann man lediglich
im Augenblick des Todes schaffen. Übrigens wird das lebende Gehirn,
dessen Seele ich erzeuge, ohnehin vernichtet, während ich seine
Konstruktion erforsche…«
»Mann…«, flüsterte ich entsetzt,
»Sie haben Ihre Frau getötet?«
»Ich habe ihr das ewige Leben
gegeben«, entgegnete er und richtete sich auf. »Das hat nichts mit
der Sache zu tun, die wir besprechen. Wenn Sie so wollen, sind das
Dinge, die meine Frau«, er legte die Hand auf das Päckchen, »und
mich, die Gerichte und die Polizei angehen. Wir unterhalten uns
über etwas völlig anderes.«
Lange Zeit konnte ich kein Wort
hervorbringen. Ich streckte die Hand aus und berührte mit den
Fingerkuppen das in dickes Papier eingewickelte Kästchen; es war
schwer, als enthielte es Blei.
»Also gut«, sagte ich. »Sprechen
wir von etwas anderem. Nehmen wir einmal an, Sie bekämen von mir
das Geld, das Sie verlangen. Sind Sie wirklich so wahnwitzig, zu
glauben, daß sich auch nur ein einziger Mensch bereit findet, sich
dafür totschlagen zu lassen, daß sein Bewußtsein in alle Ewigkeit
unvorstellbare Qualen erleidet – beraubt selbst der Gnade des
Selbstmordes?«
»Was den Tod betrifft, so könnte
es tatsächlich gewisse Schwierigkeiten geben«, räumte Decantor nach
einer Weile ein. Ich bemerkte, daß sein dunkles Auge nicht
hellbraun, sondern eher nußbraun zu nennen war. »Dennoch kann man
schon zu Beginn mit solchen Menschen rechnen, wie unheilbar
Kranken, Lebensmüden, gebrechlichen Greisen, die jedoch noch im
Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind…«
»Der Tod ist nicht der schlimmste
Ausweg angesichts der Unsterblichkeit, die Sie vorschlagen«,
murmelte ich.
Decantor lächelte zum
zweitenmal.
»Ich möchte etwas sagen, was
Ihnen vielleicht amüsant vorkommen wird«, erwiderte er. Seine
rechte Gesichtshälfte blieb ernst. »Ich selbst habe nie das
Bedürfnis verspürt, eine Seele zu besitzen oder ewig zu existieren.
Die Menschheit jedoch träumt seit Tausenden von Jahren diesen
Traum. Ich habe lange Studien geschrieben, Herr Tichy. Alle
Religionen lebten immer nur dadurch, daß sie ewiges Leben
versprachen, daß sie die Hoffnung spendeten, man könne das Grab
überdauern. Genau das biete ich, Herr Tichy. Ich biete das ewige
Leben. Die Gewißheit der Exis tenz, wenn das letzte Stückchen
Körper verfault und zu Staub zerfallen ist. Ist das
wenig?«
»Ja«, entgegnete ich. »Das ist
wenig. Sie sagen ja selbst, daß das eine Unsterblichkeit ohne Leib,
ohne seine Kraft, ohne seine Freuden und Empfindungen sein
wird…«
»Sie wiederholen sich«,
unterbrach er mich. »Ich kann Ihnen die heiligen Schriften
sämtlicher Religionen bringen, die Werke der Philosophen, die
Lieder der Dichter, theologische Summen, Gebete und Legenden – ich
habe darin nicht ein Wort über die Ewigkeit des Körpers gefunden.
Den Leib behandeln sie alle mit Geringschätzung, sie verachten ihn
sogar. Die Seele – ihr Dauern im Endlosen – war das Ziel und die
Hoffnung. Die Seele als Gegensatz und als Gegenüberstellung zum
Körper. Als Freiheit von physischen Leiden, von plötzlichen
Gefahren, von Krankheiten, Altersgebrechen, als Freiheit vom Kampf
um das alles, was dieser allmählich verfallende Ofen, genannt der
Organismus, in seinem langsamen Glimmen und Verbrennen erfordert;
niemand hat bisher die Unsterblichkeit des Körpers verkündet –
solange die Welt existiert. Nur die Seele sollte befreit und
gerettet werden. Ich, Decantor, habe sie errettet, für die
Ewigkeit, bis in alle Ewigkeit. Ich habe Träume erfüllt – nicht
meine. Die Träume der gesamten Menschheit…«
»Ich verstehe«, unterbrach ich
ihn. »Decantor, Sie haben in gewissem Sinne recht. Aber nur
insofern, als Sie mit Ihrer Erfindung – heute mir, morgen
vielleicht der ganzen Welt – vor Augen geführt haben, wie
überflüssig die Seele ist. Sie haben sichtbar gemacht, daß diese
Unsterblichkeit, von der die von Ihnen zitierten heiligen Bücher,
Evangelien, Korane, babylonischen Epen, die Wedas und alten
Überlieferungen reden – daß diese Unsterblichkeit dem Menschen
nichts nützt. Mehr noch: Jeder Mensch wird im Angesicht der
Ewigkeit, mit der Sie ihn beschenken wollen, das versichere ich
Ihnen, dasselbe empfinden wie ich: höchste Abscheu und Angst. Der
Gedanke, daß Ihr Versprechen mir zuteil werden könnte, ist für mich
grauenvoll. Somit, Decantor, haben Sie nachgewiesen, daß die
Menschheit sich seit Tausenden von Jahren belogen hat. Sie haben
diese Lüge zerschlagen…«
»Sie meinen also, daß niemand
meine Seele haben will?« fragte dieser Mensch mit ruhiger, aber
plötzlich lebloser Stimme.
»Ich bin mir dessen sicher. Ich
verbürge mich dafür… Wie können Sie daran zweifeln? Decantor!
Würden Sie denn wollen? Sie sind doch auch ein Mensch!«
»Ich habe es Ihnen bereits
gesagt. Ich habe nie das Bedürfnis nach Unsterblichkeit gehabt. Ich
war jedoch der Meinung, daß das ein Ausnahmefall, daß es meine
Verirrung sei, wenn die Menschheit einer anderen Meinung ist. Sie,
die Menschheit, wollte ich beruhigen, nicht mich. Ich habe nach
einem Problem gesucht, das meinen Kräften angemessen gewesen wäre,
nach dem schwierigsten Problem überhaupt. Ich habe es gefunden und
gelöst. In diesem Sinne war es meine persönliche Angelegenheit,
aber nur in diesem Sinne; von der Sache her hat es mich
ausschließlich als eine bestimmte Aufgabe interessiert, die es bei
Anwendung der richtigen Technologie und der richtigen Mittel zu
lösen galt. Ich habe das wörtlich genommen, was die größten Denker
aller Zeiten geschrieben haben. Tichy – Sie müssen das doch gelesen
haben… Diese Angst vor dem Aufhören, vor dem Ende, vor der
Vernichtung des Bewußtseins – dann, wenn es am reichsten ist, wenn
es die besten Früchte trägt – am Ende eines langen Lebens… Alle
haben das gepredigt. Ihr Traum war es, Umgang mit der Ewigkeit zu
pflegen. Ich habe diesen Umgang ermöglicht. Tichy, vielleicht
würden Sie…? Vielleicht die hervorragendsten Individuen? Die
genialsten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie
können es versuchen. Aber ich glaube nicht, daß auch nur einer…
Nein. Das ist unmöglich.«
»Was denn«, sagte er, und zum
erstenmal schwang in seiner Stimme ein lebendiges Gefühl mit, »Sie
meinen, daß das… für niemand einen Wert besitzt…? Daß niemand diese
Seele haben will? Wie ist das möglich!«
»Es ist so…«, entgegnete
ich.
»Sagen Sie das nicht so
vorschnell«, flehte er. »Tichy, noch ist alles in meiner Hand. Ich
könnte sie anpassen, ändern… sie mit synthetischen Sinnen
ausstatten… Dann würde Ihnen zwar nicht die Ewigkeit beschieden
sein, aber wenn Ihnen die Sinne wichtiger sein sollten… die Ohren…
die Augen…«
»Und was würden diese Augen
sehen?« fragte ich.
Er schwieg.
»Die Vereisung der Erde… den
Zerfall der Milchstraße… das Verlöschen von Sternen in der
schwarzen Unendlichkeit, ja?« zählte ich auf.
Er schwieg.
»Die Menschen verlangen nicht
nach Unsterblichkeit«, fuhr ich nach einer Weile fort. »Sie wollen
nur einfach nicht sterben. Sie wollen leben, Professor Decantor.
Sie wollen die Erde unter den Füßen fühlen, sie wollen die Wolken
über sich sehen, wollen andere Menschen lieben, mit ihnen sein und
daran denken. Nichts weiter. Alles, was darüber hinaus gesagt
worden ist, ist Lüge. Unbewußte Lüge. Ich zweifle, ob es viele
gibt, die Sie auch nur so geduldig anhören wie ich. Ganz zu
schweigen von Versuchswilligen…«
Decantor stand ein paar Minuten
reglos da und starrte auf das weiße Päckchen, das vor ihm auf dem
Schreibtisch lag. Plötzlich nahm er es an sich, nickte mir flüchtig
zu und wandte sich zur Tür.
»Decantor!« schrie ich. Er blieb
an der Schwelle stehen. »Was wollen Sie damit machen?«
»Nichts«, erwiderte er
kalt.
»Bitte… kehren Sie um. Einen
Augenblick noch… So kann man das nicht lassen…«
Meine Herren, ich weiß nicht, ob
Decantor ein großer Gelehrter war, ein großer Schurke war er auf
jeden Fall. Das Feilschen, das nun folgte, möchte ich nicht
schildern. Ich mußte das tun, selbst wenn ich hinterher erkennen
sollte, daß er mich betrogen hatte und alles, was er sagte, von
Anfang bis Ende erlogen war; denn ich wußte, ließ ich ihn gehen, so
würde auf dem Grunde meiner Seele… auf dem Grunde meiner
körperlichen, blutigen Seele der Gedanke glimmen, daß irgendwo, in
einem mit allerlei Plunder vollgestopften Schreibtisch, in einer
Schublade voller Kleinkram, ein menschlicher Geist ruht, das
lebende Bewußtsein dieser unglücklichen Frau, die er getötet hatte.
Und als wäre das noch nicht genug, hatte er sie mit dem
Schrecklichsten bedacht, was einem widerfahren kann, mit dem
Schrecklichsten, sage ich, weil es nichts gibt, was einer
Verurteilung zu einsamer Ewigkeit gleichkäme. Das Wort allein sagt
uns natürlich wenig. Bitte versuchen Sie, wenn Sie nach Hause
zurückkehren, sich in einem dunklen Zimmer hinzulegen, so daß kein
Laut oder Strahl zu Ihnen dringt. Dann schließen Sie die Augen und
stellen Sie sich vor, daß Sie in diesem Zustand verharren werden,
in endgültiger Ruhe, ohne jede, auch nicht die geringste
Veränderung, Tag und Nacht, und wieder einen Tag, daß Wochen so
vergehen werden, deren Zahl Sie nicht festzustellen vermögen,
Monate, Jahre, Jahrhunderte – und daß Ihr Hirn vorher einem solchen
Eingriff unterzogen worden ist, daß nicht einmal die Flucht in den
Wahn möglich sein wird. Schon der Gedanke, daß es jemanden gibt,
der zu solch einer Qual verurteilt worden ist, angesichts der alle
Bilder höllischer Qualen nur ein Kinderspiel sind, brannte während
des düsteren Feilschens unerträglich in mir. Es ging natürlich um
die Vernichtung, die Summe, die er verlangte – meine Herren,
ersparen Sie mir die Einzelheiten. Ich will nur soviel sagen: Mein
ganzes Leben lang habe ich mich für einen Geizhals gehalten. Wenn
ich heute daran zweifele, dann deshalb, weil… nun, nichts. Mit
einem Wort: Das war keine Bezahlung. Es war alles, was ich damals
hatte, Geld… jawohl. Wir zählten es… Und dann sagte er, ich solle
das Licht ausmachen. Im Dunkeln raschelte zerfetztes Papier, und
plötzlich… Auf rechteckigem, weißlichem Untergrund, einem
Wattekissen, zeichnete sich, wie ein flüssiger Edelstein, ein ganz
schwacher Schimmer ab. In dem Maße, wie ich mich an das Dunkel
gewöhnte, glomm er immer stärker mit einem bläulichen Glanz. Da
bückte ich mich – im Nacken spürte ich Decantors ungleichmäßigen,
schweren Atem –, ergriff den bereitgelegten Hammer, und mit einem
Schlag…
Meine Herren, ich denke, daß er
dennoch die Wahrheit gesprochen hatte. Denn als ich zuschlug,
versagte mir die Hand den Gehorsam, und ich bröckelte nur etwas von
dem ovalen Kristall ab… und trotzdem verlosch er. Im Bruchteil
einer Sekunde erfolgte gewissermaßen eine mikroskopisch kleine,
lautlose Explosion – Myriaden lilafarbener Stäubchen wirbelten wie
in Panik auf und verschwanden. Es wurde völlig dunkel. In dieser
Dunkelheit sagte er mit lebloser, dumpfer Stimme: »Zerstören Sie
das nicht weiter, Tichy… Es ist bereits geschehen.«
Er nahm mir das aus den Händen, und ich glaubte ihm, denn ich
hatte einen augenfälligen Beweis, außerdem fühlte ich es. Ich
vermag nicht zu sagen, wie. Ich machte Licht. Geblendet sahen wir
einander an, wie zwei Verbrecher. Er stopfte sich die Rocktaschen
mit den Banknotenbündeln voll und ging ohne ein Wort des
Abschieds.
Seither habe ich ihn nie wieder
gesehen und weiß auch nicht, was aus ihm geworden ist – aus diesem
Erfinder der unsterblichen Seele, die ich getötet habe.
III
Den Mann, von dem ich sprechen will, habe ich
nur einmal gesehen. Bei seinem Anblick würden Sie schaudern. Ein
buckliger Gnom unbestimmten Alters mit einem Gesicht, das in eine
zu geräumige Haut gekleidet schien – so viele Falten und Runzeln
waren darauf; obendrein hatte er einen kürzeren Halsmuskel und
hielt den Kopf immer nach der einen Seite, als wollte er den
eigenen Buckel betrachten, habe sich jedoch mitten in der Bewegung
eines Besseren besonnen. Ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte,
daß Verstand selten mit Schönheit gepaart ist, er jedoch, der eine
wahre Verkörperung des Gebrechens war und Abscheu weckte statt
Mitleid, hätte wohl ein Genie sein müssen, obwohl auch dann noch
sein bloßes Erscheinen unter Menschen Schrecken verbreitet hätte –
Sasul also… Er hieß Sasul. Ich hatte vor längerer Zeit von seinen
scheußlichen Versuchen gehört. Auf Grund von
Presseveröffentlichungen hatte die Angelegenheit damals
beträchtliches Aufsehen erregt. Eine Gesellschaft zum Kampf gegen
Vivisektion bemühte sich, ihm einen Prozeß zu machen, sie hatte ihn
wohl sogar geführt, aber die Sache war im Sande verlaufen.
Irgendwie hatte er sich aus der Affäre gezogen. Er war Professor,
rein nominell, denn er konnte keine Vorlesungen halten, er
stotterte. Oder – genauer gesagt – ihm versagte die Stimme, wenn
ihn etwas stark bewegte, und das kam häufiger vor. Dieser Sasul ist
nicht etwa zu mir gekommen. O nein, diese Art Mensch war er nicht.
Eher wäre er gestorben, als daß er sich an einen anderen gewandt
hätte. Ich hatte mich einfach bei einem Spaziergang vor der Stadt
im Wald verirrt, das war mir sogar angenehm, aber plötzlich begann
es heftig zu regnen. Ich wollte das Unwetter unter einem Baum
abwarten, doch der Regen hörte nicht auf. Der Himmel bezog sich
immer mehr, und ich entschloß mich, irgendwo Schutz zu suchen. Von
Baum zu Baum laufend, gelangte ich, bereits ziemlich durchnäßt, auf
einen Kiesweg und von dort auf einen lange nicht benutzten und mit
Unkraut bewachsenen Pfad; er führte mich zu einem Grundstück, das
von einer Mauer umgeben war. Am Tor, das einstmals grün gestrichen
gewesen und jetzt entsetzlich rostig war, hing eine hölzerne Tafel
mit der kaum noch leserlichen Aufschrift BISSIGE HUNDE. Es drängte
mich nicht gerade, mit aufgehetzten Hunden in Berührung zu kommen,
aber bei dem Wetter hatte ich keine andere Wahl. Ich schnitt mir
vom nächsten Strauch einen soliden Stock und ging, so bewehrt,
gegen das Tor vor. Ich sage das bewußt, weil ich es erst mit
größter Anstrengung unter höllischem Knarren öffnen konnte. Der
Garten, der sich dahinter auftat, war dermaßen vernachlässigt, daß
man nur ahnen konnte, wo einst die Stege verliefen. Im Hintergrund,
verdeckt von den im Regen wogenden Bäumen, stand ein hohen, dunkles
Haus mit steilem Dach. Drei Fenster der ersten Etage waren hinter
weißen Vorhängen erleuchtet. Es war noch früh am Tage, aber am
Himmel eilten immer dunklere Wolken dahin, so daß ich die beiden
Baumreihen, die den Zugang zur Veranda flankierten, erst bemerkte,
als ich mich dem Haus bereits auf fünfzig Schritt genähert hatte.
Es waren Lebensbäume, wie sie auf Friedhöfen stehen. Offenbar ist
der Bewohner dieses Hauses ziemlich düster veranlagt, sagte ich
mir. Doch Hunde entdeckte ich entgegen der Ankündigung am Tor
nicht; ich trat auf die Vortreppe und drückte, durch die
herausragende Überdachung halbwegs vor dem Regen geschützt, auf den
Klingelknopf. Innen surrte es, die Antwort war dumpfe Stille. Nach
einer geraumen Weile klingelte ich nochmals, mit dem gleichen
Erfolg. So begann ich zu klopfen, schließlich trommelte ich immer
heftiger gegen die Tür; da erst vernahm ich schlurfende Schritte im
Haus, und eine unangenehme, krächzende Stimme fragte: »Wer ist
da?«
Ich nannte meinen Namen in der
stillen Hoffnung, daß er vielleicht nicht fremd sein werde. Auf der
anderen Seite schien man zu überlegen – schließlich klirrte die
Kette, Riegel knirschten, als würde eine Festung geöffnet, und im
Licht des hoch an der Flurdecke hängenden Leuchters erschien ein
zwergenhaftes Wesen, ein Mann. Ich erkannte ihn, obwohl ich nur
einmal im Leben, ich weiß nicht einmal wo, sein Foto gesehen hatte;
man konnte ihn jedoch schwerlich vergessen. Er war fast kahlköpfig.
An der Seite des Schädels, über dem Ohr, verlief eine hellrote
Narbe, wie von einem Säbel gezogen. Auf der Nase saß, ein wenig
schief, ein goldenes Binokel. Er blinzelte, als sei er gerade aus
der Dunkelheit getreten. Ich entschuldigte mich, indem ich die
unter solchen Umständen üblichen Phrasen benutzte, und verstummte,
aber er stand weiter vor mir, als habe er nicht die geringste Lust,
mich auch nur einen Schritt in dieses große, dunkle Haus zu lassen,
aus dessen Inneren kein Laut drang.
»Sie sind Sasul, Professor Sasul…
nicht wahr?« sagte ich.
»Woher kennen Sie mich?« brummte
er unhöflich.
Ich sagte wieder etwas Banales,
in dem Sinne, daß man einen so hervorragenden Gelehrten ja wohl
kennen müsse. Doch er verzog nur verächtlich seinen
Froschmund.
»Ein Gewitter?« sagte er, auf
meine vorherigen Worte zurückkommend. »Das höre ich auch. Na und?
Konnten Sie nicht woanders hingehen? Ich mag das nicht. Ich kann
das nicht ausstehen, begreifen Sie?«
Ich sagte, daß ich ihn genau
verstünde und daß ich keineswegs die Absicht hätte, ihn zu stören.
Ein Stuhl oder ein Hocker hier in der dunklen Diele würden mir
genügen; ich wolle nur das schlimmste Unwetter abwarten und dann
gehen.
Doch der Regen prasselte nun erst
richtig los, und während ich in der leeren, hohen Diele wie auf dem
Grunde einer riesigen Muschel stand, hörte ich sein unablässiges,
von allen Seiten kommendes Rauschen, das über uns, auf dem
Blechdach, in einem entsetzlichen Getrommel gipfelte.
»Einen Stuhl?« sagte er in einem
solchen Ton, als verlangte ich von ihm einen goldenen Thron.
»Natürlich, einen Stuhl! Ich habe für Sie keinen Stuhl, Herr Tichy.
Ich habe keinen Stuhl übrig. Ich dulde nicht – und überhaupt, ich
glaube, ja, ich glaube, daß es für uns beide besser sein wird, wenn
Sie gehen.«
Über die Schulter blickte ich
unwillkürlich in den Garten – die Eingangstür stand noch offen. Die
Bäume, die Sträucher, alles war eine einzige vom Wind gepeitschte
Masse, die in Strömen von Wasser glänzte. Ich heftete den Blick
wieder auf den Buckligen. In meinem Leben war ich schon oft auf
Unhöflichkeit, ja auf Gemeinheit gestoßen, aber so etwas hatte ich
noch nicht erlebt. Es goß wie aus Kannen, das Dach dröhnte
unaufhörlich, als wollten mich die Elemente auf diese Weise in
meiner Entschlossenheit bestärken, überflüssigerweise, denn meine
heftige Natur begann bereits zu rebellieren. Geradeheraus gesagt:
Mich packte die Wut. Ich ließ alle Komplimente und Höflichkeit
fahren und sagte trocken: »Ich gehe nur dann, wenn Sie es schaffen,
mich mit Gewalt hinauszusetzen, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich
nicht gerade ein Schwächling bin.«
»Wie!« kreischte er.
»Unverschämtheit! Wie können Sie es wagen, in meinem eigenen
Haus!«
»Sie haben mich selbst
provoziert«, erwiderte ich eisig. Und da mein Temperament nun
einmal mit mir durchgegangen war und sein gellendes Geschrei mich
vollends aus dem Gleichgewicht brachte, fügte ich hinzu: »Es gibt
Verhaltensweisen, Sasul, für die man sogar im eigenen Haus Prügel
beziehen kann!«
»Du Gauner!« schrie er noch
lauter. Ich packte ihn beim Arm, der aus einem morschen Ast
geschnitzt schien, und zischte: »Ich vertrage kein Geschrei.
Verstanden? Noch eine Beleidigung, und Sie werden Ihr Lebtag an
mich denken, Sie Lümmel, Sie!«
Einen Augenblick lang dachte ich,
daß es wirklich zu Handgreiflichkeiten kommen würde, und ich
schämte mich, denn wie könnte ich meine Hand gegen einen Buckligen
erheben! Aber da geschah etwas, was ich am allerwenigsten erwartet
hatte. Der Professor wich zurück, befreite sich aus meinem Griff
und begann, den Kopf noch stärker geneigt, als wollte er sich
vergewissern, ob der Buckel noch da sei, widerlich dünn zu kichern.
Als hätte ich ihm einen glänzenden Witz aufgetischt.
»Na, na«, sagte er und nahm das
Binokel ab. »Sie sind ja ein ganz Resoluter, Tichy…«
Mit der Kuppe seines langen,
nikotingelben Fingers wischte er sich eine Träne aus dem
Auge.
»Nun gut«, girrte er heiser, »das
hab ich gern. Ja, ich gebe zu, das hab ich gern. Ich ertrage nur
nicht diese Heiligenmanieren, dieses Süßholzraspeln und falsche
Getue, aber Sie haben gesagt, was Sie dachten. Ich kann Sie nicht
leiden und Sie mich nicht, wir sind quitt, alles ist klar, und Sie
können mir folgen. Ja, ja, Tichy, Sie haben mich beinahe
überrascht. Mich, immerhin…«
So vor sich hin meckernd, führte
er mich eine quietschende, vor Alter dunkel gewordene Holztreppe
hinauf. Sie wand sich rechtwinklig um die große quadratische Diele
mit der nackten Holztäfelung.
Ich schwieg, und Sasul sagte, als
wir uns in der ersten Etage befanden: »Tichy, es läßt sich nicht
umgehen, ich kann mir keine Salons, keine Gästezimmer leisten, Sie
werden also alles sehen. Ja, ich schlafe inmitten meiner
Versuchsstücke, ich esse mit ihnen, ich lebe hier – gehen Sie
hinein, aber reden Sie nicht zuviel.«
Der Raum, in den er mich führte,
war eben jenes Zimmer mit den erleuchteten Fenstern, vor denen
große Bögen einst weißen, nun aber ungewöhnlich schmutzigen und mit
Fettflecken bedeckten Papiers hingen. Die Bögen waren über und über
mit zerdrückten Fliegen besät, und auch auf den Fensterbrettern war
es schwarz von Fliegenleichen; selbst auf der Tür bemerkte ich, als
ich sie schloß, kommaartige Spuren und vertrocknete, blutige
Insektenreste, als wäre Sasul hier von allem belagert, was
Hautflügler war. Aber ich kam gar nicht dazu, mich darüber zu
wundern, denn schon wurde meine Aufmerksamkeit von anderen
Eigentümlichkeiten des Raums in Anspruch genommen. In der Mitte
stand ein Tisch, eigentlich waren es zwei Böcke mit
darüberliegenden, schlecht gehobelten Brettern; darauf türmten sich
ganze Stöße von Büchern, Papieren, vergilbten Knochen. Das
Besondere aber an dem Zimmer waren seine Wände. Auf großen,
primitiv zusam mengenagelten Regalen standen Reihen dickwandiger
Flaschen und Gläser, und gegenüber dem Fenster, in einer Lücke
zwischen den Regalen, stand ein riesiger Glasbehälter,
gewissermaßen ein Aquarium von den Ausmaßen eines Schranks oder
eher eines durchsichtigen Sarkophags. Seinen oberen Teil verhüllte
ein liederlich darübergeworfenes schmutziges Tuch, dessen
zerschlissene Enden etwa bis zur halben Höhe der gläsernen Wände
reichten, aber mich ließ schon erstarren, was ich im unteren Teil
sah.
In allen Gläsern und Flaschen
schimmerte eine etwas trübe bläuliche Flüssigkeit, wie in einem
anatomischen Museum, in dem verschiedene, von Sektionen
herrührende, einst lebende Organe in konservierendem Spiritus
gehalten werden. Ein ebensolches Gefäß, nur von riesigem Ausmaß,
war jener Glasbehälter, auf dem der Lappen lag. In seiner dämmrigen
Tiefe, in der ein bläulicher Schimmer unsicher glomm, bewegten sich
knapp über dem Boden, ganz langsam, mit der unendlichen Geduld
eines Pendels, zwei Schatten, in denen ich mit unsäglichem Ekel
Menschenbeine erkannte, die in spiritusdurchtränkten
Hosenbeinröhren steckten.
Ich stand wie versteinert da,
auch Sasul rührte sich nicht, ich spürte seine Anwesenheit
überhaupt nicht; als ich den Blick auf ihn richtete, sah ich, daß
er sehr froh war. Meine Empörung, mein Abscheu schienen ihn zu
freuen. Er hielt die Hände zusammengefügt vor der Brust, wie zum
Gebet, und ließ ein zufriedenes Räuspern hören.
»Was soll das bedeuten, Sasul?«
rief ich mit erstickter Stimme. »Was ist das?«
Er wandte sich um, so daß ich
sehen konnte, wie sich der entsetzliche, spitze Buckel – ich
fürchtete instinktiv um die darübergespannte Jacke – leicht im Takt
seiner Schritte wiegte.
Als er sich auf seinem Hocker
niedergelassen hatte, der eine wunderliche, nach beiden Seiten
gespreizte Rückenlehne besaß (scheußlich dieses Möbelstück des
Buckligen), sagte er, plötzlich fast gleichgültig, ja gelangweilt:
»Das ist eine lange Geschichte, Tichy. Sie wollten das Gewitter
abwarten? Setzen Sie sich irgend wohin und stören Sie mich nicht.
Ich sehe keinen Anlaß, Ihnen irgend etwas zu erzählen.«
»Aber ich sehe einen«, entgegnete
ich. Bis zu einem gewissen Grade hatte ich meine Beherrschung
wiedererlangt. In der Stille, die nur von dem Rauschen und
Plätschern des Regens erfüllt war, trat ich zu ihm und sagte: »Wenn
Sie mir das nicht erklären, Sasul, muß ich Schritte unternehmen…
die Ihnen viel Scherereien bereiten könnten.«
Ich dachte, er würde aufbrausen,
aber er rührte sich nicht einmal. Er sah mich nur eine Weile mit
spöttisch heruntergezogenen Mundwinkeln an.
»Sagen Sie selbst, Tichy – was
soll ich davon halten? Draußen tobt ein Gewitter, es gießt, Sie
trommeln an meiner Tür, kommen ungebeten herein, drohen mir mit
Schlägen, und dann, als ich aus angeborener Sanftmut nachgebe, als
ich auf Ihren Wunsch eingehe, habe ich die Ehre, neue Drohungen zu
vernehmen: Nach den Schlägen drohen Sie mir mit Gefängnis. Ich bin
Gelehrter, bester Herr, und kein Bandit. Ich fürchte weder das
Gefängnis noch Sie, ich fürchte überhaupt nichts, Tichy.«
»Da drinnen ist doch ein Mensch«,
sagte ich, ohne auf sein Geschwätz zu achten, denn das war
offensichtlicher Spott. Zweifellos hatte er mich mit Vorbedacht
hergeführt, damit ich die scheußliche Entdeckung machte. Ich
schaute über seinen Kopf hinweg auf jenen schrecklichen
Doppelschatten, der sich weiterhin sanft in der Tiefe der blauen
Flüssigkeit wiegte.
»Aber gewiß doch«, erwiderte
Sasul bereitwillig. »Gewiß doch.«
»Glauben Sie nicht, daß Sie sich
da herauswinden können!« rief ich.
Er beobachtete mich, plötzlich
ging etwas in ihm vor, er schüttelte sich, seufzte – und mir
standen die Haare zu Berge: Er kicherte.
»Tichy«, sagte er, als er sich
etwas beruhigt hatte, aber in seinen Augen tanzten noch immer
teuflische Fünkchen, »wollen Sie mit mir wetten? Ich erzähle Ihnen,
wie es dazu« – er deutete mit dem Finger auf den Glasbehälter –
»gekommen ist, und Sie werden mir dann kein Haar mehr krümmen
wollen. Aus eigenem, ungezwungenem Willen, versteht sich. Nun, gilt
die Wette?«
»Sie haben ihn getötet?« fragte
ich noch.
»In gewissem Sinne, ja.
Jedenfalls habe ich ihn dort hineingesteckt. Glauben Sie, daß man
in einer sechsundneunzigprozentigen Spirituslösung leben kann? Daß
es da noch Hoffnung gibt?«
Diese beherrschte, gleichsam
vorgeplante Ruhmredigkeit, dieses selbstbewußte Höhnen angesichts
der Leiche des Opfers gaben mir meine Ruhe wieder.
»Die Wette gilt«, sagte ich kühl.
»Reden Sie!«
»Treiben Sie mich nur nicht an«,
sagte er in einem Ton, als sei er ein Fürst, der mir gnädig Gehör
schenkt. »Ich erzähle das, weil es mir Spaß macht, Tichy, weil es
eine amüsante Geschichte ist, ich gebe sie zum besten, weil mir das
Genugtuung bereitet, und nicht, weil Sie mir gedroht haben. Ich
fürchte keine Drohungen, Tichy. Nun, lassen wir das. Haben Sie mal
von Mallenegs gehört?«
»Gewiß«, erwiderte ich. Ich war
nun schon vollends ruhig. Schließlich habe auch ich etwas von einem
Forscher, und ich weiß, wann es gilt, ruhig Blut zu bewahren. »Er
hat ein paar Arbeiten über das Denaturieren von Eiweißteilchen
veröffentlicht…«
»Ausgezeichnet«, sagte er in ganz
professoralem Ton und maß mich plötzlich mit neuem Interesse, als
habe er endlich in mir ein Merkmal entdeckt, wofür mir wenigstens
eine Spur von Hochachtung gebührte. »Außerdem hat er eine Methode
der Synthese großer Eiweißmoleküle ausgearbeitet, künstlicher
Eiweißlösungen, die gelebt haben, wohlgemerkt. Das waren so
schleimige Gallerten… Er liebte sie. Er gab ihnen täglich zu essen,
wenn ich mich so ausdrücken darf… Ja, er schüttete ihnen Zucker und
Kohlenwasserstoffe in die Behälter, und sie, diese Gallerten, diese
formlosen Uramöben, verschlangen alles, daß es eine Freude war, und
wuchsen, zuerst in kleinen, gläsernen Petry-Schälchen… dann
übertrug er sie in größere Gefäße, er gab sich viel mit ihnen ab,
hatte das ganze Laboratorium voll davon. Die einen gingen ihm ein,
begannen sich zu zersetzen, sicherlich taugte die Diät nichts, dann
tobte er, rannte mit seinem Bart umher, den er dauernd und ohne es
zu wollen in den geliebten Kleister tauchte… Aber weiter ging er
nicht. Nun, er war zu dumm, dazu gehört etwas mehr. Hier…« Er
tippte sich mit dem Finger an die Stirn; die Glatze schimmerte
unter der tief herabgezogenen Lampe wie aus gelblichem Knochen
gedrechselt. »Und dann ging ich ans Werk, Tichy. Ich will nicht
viel reden, weil das Sachen für Fachleute sind, und die, die
wirklich die Größe meines Werks verstehen würden, sind noch nicht
geboren… Mit einem Wort, ich habe ein Eiweißmakromolekül
geschaffen, das man auf einen bestimmten Entwicklungstyp einstellen
kann, wie man einen Wecker einstellt… Nein, das ist kein richtiges
Beispiel. Über eineiige Zwillinge wissen Sie, versteht sich,
Bescheid?«
»Ja«, erwiderte ich, »aber was
hat das denn damit zu tun…?«
»Sie werden es gleich verstehen.
Ein befruchtetes Ei teilt sich in zwei identische Hälften, aus
denen zwei vollkommen identische Individuen entstehen, zwei
Neugeborene, zwei Spiegelzwillinge. Stellen Sie sich jetzt also
vor, daß es eine Methode gibt, nach der man, wenn man einen
erwachsenen, lebenden Menschen nimmt, gestützt auf eine genaue
Untersuchung seines Organismus, eine zweite Hälfte des Eis, aus dem
er einst geboren wurde, schaffen kann. Dadurch ist es möglich,
gewissermaßen mit großer Verspätung, diesem Menschen einen Zwilling
hinzuzuerzeugen… Verstehen Sie?«
»Wieso?« sagte ich. »Selbst wenn
das möglich wäre, erhalten Sie nur eine Hälfte des Eis – den Keim,
der sofort abstirbt…«
»Anderen mag das passieren, mir
nicht«, erwiderte er mit kühlem Stolz. »Diese synthetisch
geschaffene Eihälfte, die auf einen bestimmten Entwicklungstyp
eingestellt ist, lege ich in eine Nährlösung, und dort, im
Inkubator, gewissermaßen in einer mechanischen Gebärmutter, bewirke
ich ihre Entwicklung zur Frucht – in einem Tempo, das hundertmal
schneller ist als das normale Ent wicklungstempo. Nach drei Wochen
verwandelt sich der Keim in ein Kind, unter dem Einfluß weiterer
Eingriffe zählt das Kind nach einem Jahr zehn biologische Jahre;
nach vier weiteren Jahren ist das schon ein vierzigjähriger Mensch
– nun, das also habe ich gemacht, Tichy…«
»Ein Homunkulus!« schrie ich.
»Dieser Traum der Alchimisten… Ich verstehe… Sie behaupten… Und
selbst wenn es so wäre! Sie haben diesen Menschen geschaffen, nicht
wahr? Und Sie meinen, Sie hätten ein Recht gehabt, ihn zu töten?
Und daß ich dieses Verbrechen gutheiße? Oh, da haben Sie sich sehr…
sehr geirrt, Sasul…«
»Das ist noch nicht alles«,
versetzte Sasul kühl. Sein Kopf schien unmittelbar aus dem
unförmigen Quader des Buckels herauszuwachsen. »Zunächst wurden
selbstverständlich Versuche an Tieren durchgeführt. Dort in den
Gläsern haben Sie paarweise Hähne, Kaninchen, Hunde – in den
Gefäßen, die mit einem weißen Etikett gekennzeichnet sind, befinden
sich die originalen Geschöpfe, die echten… In den anderen, mit
schwarzem Etikett, sind die von mir geschaffenen Zwillingskopien.
Unterschiede bestehen da nicht, und wenn Sie die Etiketts
entfernen, ist es unmöglich, herauszufinden, welches Tier auf
natürliche Weise geboren wurde und welches aus meiner Retorte
stammt…«
»Gut«, sagte ich. »Meinetwegen.
Aber warum haben Sie ihn getötet? Warum? War er nicht… voll bei
Verstand? Unterentwickelt? Doch selbst in diesem Fall hatten Sie
kein Recht…«
»Beleidigen Sie mich nicht!«
fauchte er. »Der Vollbesitz der Geisteskräfte ist
selbstverständlich, Tichy, die volle Entwicklung, haargenau
gleichend allen Merkmalen des Originals im Bereich des Somas… In
psychischer Hinsicht jedoch sind größere Möglichkeiten angelegt,
als sie der biologische Prototyp manifestierte… Ja, das ist etwas
mehr als die Schaffung eines Zwillings, ein Werk, vollkommener als
eine Zwillingskopie… Professor Sasul hat die Natur übertroffen.
Übertroffen, verstehen Sie!«
Ich schwieg. Er erhob sich, trat
an den Behälter, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog mit
einer einzigen Bewegung den zerfetzten Vorhang herunter. Ich wollte
nicht hinsehen, aber mein Kopf wandte sich von selbst dorthin, und
ich erblickte durch das Glas, durch die trübe Spiritusschicht das
erschlaffte, ausgelaugte Gesicht Sasuls… seinen großen,
schwimmenden, einem Rucksack gleichenden Buckel, die Schöße seiner
Jacke, in der Flüssigkeit flatternd wie schwarze, durchnäßte
Flügel… das weißliche Schimmern der Augäpfel… die nassen,
zusammengeklebten grauen Strähnen des Bärtchens… Ich stand da, wie
vom Blitz getroffen, und er quäkte: »Wie Sie sich denken können,
ging es darum, das Werk unvergänglich zu machen. Ein Mensch, selbst
ein künstlich erzeugter, ist sterblich. Es ging also darum, daß er
nicht zu Staub zerfiel, daß ein Denkmal zurückblieb… Ja, darum ging
es. Doch dann, Tichy, kam es zu wesentlichen
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir. Deshalb gelangte
nicht ich… sondern Er in den Behälter… er… er, Professor Sasul,
während ich, ich – eben ich bin…«
Er kicherte, aber ich hörte es
nicht. Ich hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Ich
blickte von seinem lebenden, von einer freudigen Grimasse
verzerrten Gesicht auf jenes andere leblose, das wie ein gräßliches
Unterwassergeschöpf hinter der Glasscheibe schwamm… und ich bekam
den Mund nicht auf. Es war still. Der Regen hatte fast aufgehört,
nur das ersterbende Totengeläut der Dachrinnen schien sich mit den
Windböen zu entfernen, zu verstummen und wieder
zurückzukehren.
»Lassen Sie mich hinaus«, sagte
ich, aber ich erkannte meine Stimme nicht.
Ich schloß die Augen und
wiederholte dumpf: »Lassen Sie mich hinaus, Sasul. Sie haben
gewonnen.«
IV
An einem Herbstnachmittag, als die Dunkelheit
bereits die Straßen verhüllte und ein gleichmäßiger, feiner grauer
Regen fiel, ein Regen, der die Erinnerung an die Sonne fast
unglaubwürdig macht und bei dem man um nichts in der Welt sein
Plätzchen am Kamin verlassen möchte, wo man über alten Büchern
sitzt (man sucht darin nicht die wohlvertrauten Inhalte als
vielmehr sich selbst, der man vor Jahren war), da klopfte
unerwartet jemand an meine Tür. Es war ein ungestümes Pochen, als
wollte der Ankömmling, der die Klingel erst gar nicht betätigte,
gleich zu erkennen geben, daß sein Erscheinen einen heftigen, ich
möchte sagen verzweifelten Charakter trage. Ich legte das Buch weg,
ging in den Flur und öffnete ihm. Ich erblickte einen Mann in einem
Wettermantel, der von Wasser troff; auf seinem Gesicht, das vor
Erschöpfung verzerrt war, glänzten Regentropfen. Er sah mich nicht
an – er stand da, völlig entkräftet, die geröteten, nassen Hände
auf eine große Kiste gestützt, die er offensichtlich selbst die
Treppe heraufgeschleppt hatte.
»Mein Herr«, sagte ich, »was
woll…« Ich korrigierte mich: »Soll ich Ihnen helfen?«
Er machte eine vage Handbewegung
und schnaufte nur. Ich sah, daß er seine Last in die Wohnung tragen
wollte, jedoch nicht mehr die Kraft dazu aufbrachte. Also ergriff
ich die durchnäßte, rauhe Schnur, die um das gewaltige Paket
geschlungen war, und trug es in den Flur. Als ich mich umwandte,
stand er hinter mir. Ich wies auf den Kleiderständer. Er hängte den
Mantel an einen Haken, warf den Hut aufs Regal, der, weil er
gänzlich durchnäßt war, einem formlosen Filzlappen glich, und
betrat auf etwas schwanken Beinen mein Arbeitszimmer.
»Womit kann ich Ihnen dienen?«
fragte ich nach einer guten Weile. Mir schwante schon, daß das
wieder einer meiner außergewöhnlichen Gäste war, doch er sah mich
noch immer nicht an, als sei er mit seinen eigenen Gedanken
beschäftigt, wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht und
schauderte unter der kalten Berührung der durchnäßten Manschetten.
Ich sagte ihm, er solle am Kamin Platz nehmen, aber er geruhte
nicht einmal zu antworten. Er packte sein tropfnasses Paket und
zog, schob und kantete es, wobei er auf dem Boden Schmutzspuren
hinterließ, die davon zeugten, daß er es auf seinem Weg viele Male
in die Lachen des Bürgersteigs abgestellt hatte, um Atem zu
schöpfen. Erst als es mitten im Zimmer stand und er es im Auge
behalten konnte, wurde ihm plötzlich meine Gegenwart bewußt, er sah
mich an, murmelte etwas Unverständliches, nickte, trat mit einem
übertrieben großen Schritt an einen leeren Sessel heran und versank
in dessen eingesessener Vertiefung.
Ich nahm ihm gegenüber Platz. Wir
schwiegen ziemlich lange, aber aus unerklärlichem Grund wirkte das
ganz natürlich. Er war nicht jung, etwa um die Fünfzig. Sein
Gesicht war ungleichmäßig. Es fiel sofort ins Auge, daß die ganze
linke Hälfte kleiner war, als habe sie mit dem Wachstum der rechten
nicht Schritt gehalten, deshalb waren auch der Mundwinkel, der
Nasenflügel, der Lidschlitz auf der linken Seite kleiner, wodurch
sein Gesicht ein für allemal den Ausdruck bedrückten
Überraschtseins angenommen hatte.
»Sie sind Herr Tichy?« sagte er
schließlich, als ich das am wenigsten von ihm erwartete. Ich
nickte. »Ijon Tichy? Jener… Reisende?« vergewisserte er sich noch
einmal, nach vorn gebeugt, und sah mich mißtrauisch an.
»Aber ja«, wiederholte ich. »Wer
sonst könnte in meiner Wohnung sein?«
»Ich könnte mich im Stockwerk
geirrt haben«, murmelte er, als sei er mit etwas anderem, weit
Wichtigerem beschäftigt.
Plötzlich erhob er sich. Er
berührte instinktiv den Gehrock, in der Absicht, ihn zu glätten,
aber als sei ihm die Nutzlosigkeit seines Vorhabens klargeworden –
ich weiß nicht, ob die besten Bügeleisen und die Bemühungen eines
Schneiders da noch etwas geholfen hätten, denn seine Kleidung war
schon bis zum äußersten strapaziert –, reckte er sich und sagte:
»Ich bin Physiker. Mein Name ist Molteris. Haben Sie von mir
gehört?«
»Nein«, antwortete ich. Ich hatte
tatsächlich nie etwas von ihm gehört.
»Macht nichts«, murmelte er, und
das war wohl mehr für ihn selbst als für mich bestimmt.
Er machte den Eindruck eines
finsteren Menschen, doch das war nur Nachdenklichkeit: Er rang mit
einem Entschluß, den er schon vorher gefaßt und der ihn bewogen
hatte, zu mir zu kommen; aber jetzt plagten ihn neue Zweifel. Ich
sah das an seinen verstohlenen Blicken. Wahrscheinlich haßte er
mich, weil er mich um etwas bitten, weil er mir das sagen
mußte.
»Ich habe eine Entdeckung
gemacht«, stieß er plötzlich mit heiserer Stimme hervor. »Eine
Erfindung. Das hat es noch nicht gegeben. Noch nie. Sie brauchen
mir nicht zu glauben, ich glaube niemandem, also braucht auch mir
niemand zu glauben. Die Tatsachen genügen. Ich werde Ihnen das
beweisen. Alles. Aber – ich bin noch nicht vollends…«
»Sie haben Befürchtungen?«
versetzte ich in freundlichem und beruhigendem Ton. Diese Leute
sind nun mal Wirrköpfe, wahnsinnige, geniale Kinder. »Sie
befürchten einen Diebstahl, Verrat, nicht wahr? Sie können beruhigt
sein. Dieses Zimmer hat schon vieles gesehen und von Erfindungen
gehört…«
»Nicht von einer solchen!«
erklärte er kategorisch, und in seiner Stimme, im Aufleuchten
seines Auges lag für einen Moment unvorstellbarer Stolz. Man hätte
meinen können, er sei der Herr der Schöpfung. »Geben Sie mir eine
Schere«, sagte der düster, in einem neuen Anflug von
Niedergeschlagenheit. »Es kann auch ein Messer sein.«
Ich reichte ihm den Brieföffner,
der auf dem Schreibtisch lag. Mit heftigen, schwungvollen
Bewegungen zerschnitt er die Bindfäden, riß das nasse Papier auf,
zerknüllte es und warf es betont nachlässig auf den Fußboden, als
wollte er sagen: Du kannst mich hinauswerfen und mich schelten, daß
ich dein blankes Parkett beschmutze – wenn du den Mut hast, einen
Menschen vor die Tür zu setzen, der sich so demütigen muß! Einen
Menschen wie mich! Ein fast ebenmäßiger, schwarz lackierter
Hexaeder aus gehobelten Brettern kam zum Vorschein. Der Deckel war
nur zur Hälfte schwarz, die andere Hälfte war grün, und ich fragte
mich unwillkürlich, ob ihm der schwarze Lack ausgegangen sei. Die
Kiste war durch ein Chiffreschloß gesichert. Molteris stellte das
Zifferblatt ein, wobei er sich bückte und es so mit der Hand
verhüllte, daß ich die Kombination nicht erkennen konnte. Als das
Schloß klickte, hob er langsam und vorsichtig den Deckel
an.
Aus Diskretion, aber auch weil
ich ihm die Befangenheit nehmen wollte, setzte ich mich wieder in
den Sessel. Ich hatte den Eindruck – obwohl er das nicht zu
erkennen gab –, daß er mir dankbar dafür war. Jedenfalls schien er
sich etwas beruhigt zu haben.
Er griff mit beiden Armen in die
Tiefe der Kiste und holte unter größter Mühe, so daß ihm Wangen und
Stirn rot anliefen, einen großen brünierten Apparat mit
irgendwelchen Deckeln, Lampen und Kabeln hervor, aber ich kenne
mich ja darin nicht aus. Während er seine Last wie eine Geliebte
umfangen hielt, versetzte er mit erstickter Stimme: »Wo ist eine
Steckdose?«
»Dort.« Ich zeigte in die Ecke
neben dem Bücherschrank, denn an der anderen Steckdose war die
Tischlampe angeschlossen. Er stapfte dorthin und setzte den
schwarzen Apparat mit größter Vorsicht auf dem Fußboden ab. Darauf
entrollte er eines der Kabel und steckte es in die Dose. Er kauerte
sich neben seinen Apparat nieder, legte einige Hebel um, drückte
auf Kontakte. Nach einer Weile füllte ein sanftes, melodisches
Summen das Zimmer. Plötzlich malte sich Angst auf seinem Gesicht;
er beugte sich über eine der Röhren, die im Gegensatz zu den
anderen dunkel geblieben war. Er schnippte leicht mit dem Finger
dagegen, und als auch das nichts half, drehte er ungestüm alle
Taschen um, fand einen Schraubenzieher, ein Stückchen Draht, eine
kleine Metallzange, warf sich vor dem Apparat auf die Knie und
begann fieberhaft, obwohl mit größter Präzision, in den Innereien
herumzustochern. Plötzlich füllte ein rosa Schimmer die erblindete
Röhre. Molteris, der offensichtlich vergessen hatte, wo er sich
befand, steckte mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung das
Werkzeug in die Tasche, erhob sich langsam und sagte ganz ruhig, so
wie man sagt, ich habe heute ein Butterbrot gegessen: »Tichy – das
ist eine Zeitmaschine.«
Ich antwortete nicht. Ich weiß
nicht, ob Sie sich darüber im klaren sind, wie heikel und schwierig
meine Lage war. Erfinder dieser Art, die das Elixier des ewigen
Lebens oder einen elektrischen Propheten der Zukunft oder, wie in
diesem Fall, eine Zeitmaschine konzipiert haben, stoßen auf den
größten Unglauben all jener, die sie in ihr Werk einzuweihen
versuchen. Sie sind voller Komplexe, sie sind reizbar und fürchten
andere Menschen, doch gleichzeitig verachten sie sie, denn sie
wissen, daß sie auf deren Hilfe angewiesen sind. Da ich das weiß,
muß ich in ähnlichen Situationen äußerste Vorsicht walten lassen.
Was immer ich schließlich anfinge, es würde falsch aufgefaßt
werden. Ein Erfinder, der Hilfe sucht, ist von Verzweiflung
getrieben und nicht von Hoffnung beseelt, er erwartet kein
Wohlwollen, sondern Spott. Wohlwollen übrigens, das hat ihn die
Erfahrung gelehrt, ist nur der Anfang, auf den gewöhnlich
Geringschätzung folgt, verborgen hinter Überredungsversuchen, denn
natürlich hat man ihm schon mehr als einmal seine Idee auszureden
versucht. Wenn ich nun sagte: »Ach, das ist ja außergewöhnlich,
haben Sie wirklich die Zeitmaschine erfunden?«, würde er sich
vielleicht mit Fäusten auf mich stürzen. Der Umstand, daß ich
schwieg, überraschte ihn.
»Ja«, sagte er, indem er beide
Hände herausfordernd in die Taschen steckte. »Das ist ein
Zeitvehikel! Eine Maschine zum Reisen in der Zeit, verstehen
Sie?«
Ich nickte, darauf achtend, daß
es nicht zu übertrieben ausfiel.
Sein Impetus ging ins Leere,
verpuffte – eine Weile machte er nicht gerade ein kluges Gesicht.
Dieses Gesicht war nicht einmal alt, es war nur müde, von
unsäglicher Qual geprägt, die blutunterlaufenen Augen zeugten von
ungezählten durchwachten Nächten, seine Lider waren geschwollen,
der Bart, den er wohl für diese Gelegenheit entfernt hatte, war an
den Ohren und unterhalb der Lippe stehengeblieben, ein Zeichen, daß
er sich schnell und voller Ungeduld rasiert hatte – auch ein
schwarzes Pflästerchen auf einer Wange zeugte davon.
»Sie sind ja wohl nicht
Physiker?« fragte er, gleichsam feststellend.
»Nein.«
»Um so besser. Wären Sie
Physiker, würden Sie mir nicht einmal glauben, auch nach dem, was
Sie mit eigenen Augen sehen werden, weil das«, er deutete auf den
Apparat, der ununterbrochen leise wie eine schläfrige Katze
schnurrte (die Röhren warfen einen rosa Schein auf die Wand), »erst
entstehen konnte, nachdem dieser Wust von Idiotismen widerlegt war,
den diese Leute heute noch für Physik halten. Haben Sie einen
Gegenstand, von dem Sie sich ohne Bedauern trennen
können?«
»Vielleicht finde ich einen«,
antwortete ich. »Was soll es denn sein?«
»Ganz gleich. Ein Stein, ein
Buch, Metall – nur nichts Radioaktives. Keine Spur Radioaktivität,
das ist wichtig. Das könnte ein Unglück herbeiführen.« Er redete
noch, als ich aufgestanden war und zum Schreibtisch ging.
Wie Sie wissen, bin ich ein
Pedant, und der kleinste Gegenstand hat bei mir seinen
unveränderlichen Platz. Besonderes Gewicht messe ich der Ordnung in
meiner Bibliothek bei; um so mehr hatte mich etwas verwundert, was
mir am Vortag widerfahren war: Ich hatte nach dem Frühstück, das
heißt seit den frühen Morgenstunden, an einem Abschnitt gearbeitet,
der mir viel Mühe bereitete – und als ich plötzlich den Kopf von
den überall auf dem Schreibtisch herumliegenden Papieren hob,
bemerkte ich an der Wand, in einer Ecke nahe dem Bücherschrank, ein
dunkelrotes Buch in Oktavformat; es lag auf dem Fußboden, als ob es
jemand dort hingeworfen hätte.
Ich stand auf und bückte mich
danach. Jetzt erkannte ich auch den Umschlag: Es war ein Abdruck
aus einer Vierteljahreszeitschrift der kosmischen Medizin, der die
Diplomarbeit eines entfernten Bekannten enthielt. Ich begriff
nicht, wie das Buch auf den Fußboden gekommen war. Zwar hatte ich
mich gedankenversunken an die Arbeit gesetzt und mich nicht eigens
im Zimmer umgesehen, aber ich könnte schwören, daß auf dem Fußboden
an der Wand nichts gelegen hatte, als ich ins Zimmer gekommen war –
das wäre mir nicht entgangen. Schließlich mußte ich jedoch zugeben,
daß ich versunkener als sonst gearbeitet hatte und deshalb
unempfindlich gewesen war gegen meine Umgebung – und erst als die
Konzentration nachgelassen hatte, bemerkte ich das schmale Bändchen
auf dem Fußboden. Anders konnte ich mir diese Tatsache nicht
erklären. Ich stellte das Buch ins Regal und vergaß den Vorfall,
jetzt jedoch, nach Molteris’ Worten, kam mir der dunkelrote Rücken
dieser für mich uninteressanten Arbeit wie von selbst in die Hand;
wortlos reichte ich ihm das Bändchen.
Er ergriff es, hielt es wägend
und hob, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen, den
schweren Deckel im Innern des Apparats.
»Kommen Sie bitte her«, sagte
er.
Ich stellte mich neben ihn. Er
kniete nieder, drehte an einem Knopf, der dem Regler eines
Rundfunkgeräts glich, und drückte auf einen konkaven weißen Knopf
daneben. Alle Lichter im Zimmer wurden dunkler, in der Steckdose,
an die der Apparat angeschlossen war, erschien mit einem
eigentümlichen, durchdringenden Knistern ein blauer Funke, sonst
geschah nichts.
Ich dachte schon, er würde mir
gleich alle Sicherungen durchbrennen, aber er sagte heiser: »Passen
Sie auf!«
Er legte das Buch flach in den
Apparat und drückte einen kleinen schwarzen Hebel herunter, der an
der Seite herausragte. Die Lampen erstrahlten wieder im normalen
Licht, doch gleichzeitig trübte sich das dunkle Pappbändchen auf
dem Grunde des Apparats. Im Bruchteil einer Sekunde wurde es
durchsichtig, und ich glaubte, durch den geschlossenen
Umschlagdeckel die weißen Konturen der Seiten und die
verschwimmenden Druckzeilen zu sehen, aber das währte keine
Sekunde, im nächsten Augenblick hatte sich das Buch aufgelöst, war
verschwunden, und ich sah nur noch den leeren, brünierten Boden des
Apparats.
»Es hat sich in der Zeit
verschoben«, sagte er, ohne mich anzusehen. Schwerfällig erhob er
sich vom Fußboden. Auf seiner Stirn glänzten winzige
Schweißtröpfchen, klein wie Nadelspitzen. »Oder, wenn Sie so wollen
– es hat sich verjüngt.«
»Um wieviel?« fragte ich. Bei der
Sachlichkeit dieser Worte hellte sich sein Gesicht etwas auf. In
der linken kleineren und gleichsam verkümmerten Gesichtshälfte –
sie war auch etwas dunkler, wie ich aus der Nähe bemerkte – zuckte
es.
»Ungefähr um einen Tag«,
antwortete er. »So genau kann ich das noch nicht berechnen. Aber
das…« Er brach ab und sah mich an. »Waren Sie gestern hier?« fragte
er, ohne die Spannung zu verbergen, mit der er meine Antwort
erwartete.
»Ja, ich war hier«, antwortete
ich langsam, denn plötzlich schien mir der Fußboden unter den Füßen
wegzurutschen. Ich begriff, und in einer Art Benommenheit, die sich
nur mit dem Gefühl aus einem unglaublichen Traum vergleichen ließ,
verband ich beide Fakten miteinander: das gestrige, so
unerklärliche Erscheinen des Buches an ebendieser Stelle, neben der
Wand, und sein gegenwärtiges Experiment.
Ich sagte ihm das. Er strahlte
nicht, wie man hätte annehmen können, sondern wischte sich einige
Male nur stumm die Stirn mit dem Taschentuch. Ich bemerkte, daß er
heftig schwitzte und etwas blaß geworden war. Ich schob ihm einen
Stuhl hin und setzte mich ebenfalls.
»Vielleicht erzählen Sie mir nun,
was Sie sich von mir erhoffen«, sagte ich, als er sich wieder
beruhigt hatte.
»Hilfe«, murmelte er.
»Unterstützung – nein, kein Almosen. Mag das… mag es eine Anzahlung
auf die Beteiligung am künftigen Gewinn sein. Ein Zeitvehikel…! Sie
verstehen wohl selbst…« Er vollendete nicht.
»Ja«, erwiderte ich. »Ich nehme
an, daß Sie eine bedeutende Summe brauchen?«
»Eine sehr bedeutende. Sehen Sie
– hier sind große Energiemengen im Spiel, überdies erfordert die
Zeitzielvorrichtung – damit der transportierte Körper genau zu dem
Augenblick gelangt, in dem wir ihn lokalisieren wollen – noch
langwierige Arbeit.«
»Wie lange hätten Sie noch zu
tun?« fragte ich.
»Mindestens ein Jahr…«
»Gut«, sagte ich. »Ich verstehe.
Nur, sehen Sie, wir müßten die Hilfe dritter Personen in Anspruch
nehmen. Die Hilfe finanzkräftiger Personen. Dagegen hätten Sie doch
wohl nichts einzuwenden…?«
»Nein… natürlich
nicht.«
»Gut. Ich will mit offenen Karten
spielen. Die meisten Menschen an meiner Stelle würden vermuten –
nach dem, was Sie mir gezeigt haben –, daß sie es mit einem Trick,
mit einem geschickten Betrug zu tun haben. Aber ich glaube Ihnen,
und ich will tun, was ich kann. Das wird natürlich etwas Zeit
beanspruchen. Im Augenblick bin ich sehr beschäftigt, außerdem –
möchte ich mich beraten lassen.«
»Von Physikern?« warf er ein. Er
hörte mir angespannt zu.
»Aber nein! Ich sehe, daß Sie in
dieser Hinsicht einen Komplex haben – bitte sagen Sie nichts. Ich
will nichts wissen. Ich möchte mich beraten lassen, wer dafür in
Frage käme…«
Ich unterbrach mich. Ihm mußte in
diesem Augenblick der gleiche Gedanke gekommen sein, seine Augen
blitzten.
»Herr Tichy«, sagte er, »Sie
brauchen niemandes Rat einzuholen. Ich werde Ihnen selbst sagen, zu
wem Sie sich begeben sollen…«
»Mit Hilfe Ihrer Maschine, nicht
wahr?« warf ich ein.
Er lächelte triumphierend.
»Natürlich. Daß ich nicht schon früher daraufgekommen bin! Was bin
ich doch für ein Esel…«
»Haben Sie sich selbst schon mal
in der Zeit bewegt?« fragte ich.
»Nein. Die Maschine arbeitet erst
seit wenigen Tagen, seit dem vorigen Freitag, wissen Sie. Ich habe
nur eine Katze geschickt…«
»Eine Katze? Und? Ist sie
zurückgekehrt?«
»Nein. Sie hat sich in die
Zukunft verschoben – ungefähr um fünf Jahre; die Skala ist noch
nicht genau genug. Um den Moment, in dem die Maschine in der Zeit
halten soll, präzise festlegen zu können, müßte ein Differentiator
eingebaut werden, der die sich überschneidenden Felder koordinieren
würde. So, wie es jetzt ist, wird eine Desynchronisation, bewirkt
durch den Quanteneffekt des Tunnelierens…«
»Ich verstehe leider nichts von
dem, was Sie sagen«, versetzte ich. »Aber warum haben Sie es nicht
selbst versucht?«
Das erschien mir – gelinde gesagt
– sonderbar. Molteris wurde verlegen.
»Ich hatte es vor, aber… Sehen
Sie… ich… mein Wirt hat mir den Strom abgeschaltet… am
Sonntag…«
Sein Gesicht, eigentlich die
normale rechte Hälfte, färbte sich scharlachrot. »Ich bin mit der
Miete im Rückstand, und deshalb…«, stammelte er. »Aber natürlich…
gleich… Ja, Sie haben recht. Ich werde das gleich tun. Sehen Sie,
ich gehe hier hinein. Ich werde den Apparat in Gang setzen und…
werde in der Zukunft sein. Dann erfahre ich, wer das Unternehmen
finanziert hat – ich erfahre die Namen der Leute, dadurch werden
Sie sofort, ohne Verzögerung…«
Während er sprach, schob er die
Trennwände beiseite, die das Innere des Apparats in Teile
gliederten.
»Moment«, sagte ich, »nein, so
nicht. Sie werden doch nicht zurückkehren können, wenn der Apparat
hier bei mir bleibt.«
Er lächelte »O nein. Ich werde
zusammen mit dem Apparat in der Zeit reisen. Das ist möglich – er
hat zwei verschiedene Einstel lungen. Hier, dieses Variometer,
sehen Sie? Wenn ich etwas in der Zeit verschiebe und möchte, daß
der Apparat zurückbleibt, dann konzentriere ich das Feld auf diesen
kleinen Raum unter der Klappe. Wenn ich mich aber selbst in der
Zeit bewegen möchte, dann erweitere ich das Feld, damit es den
ganzen Apparat erfaßt. Allerdings wird die Kraftentnahme dabei
größer. Wieviel Ampere haben Ihre Sicherungen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte
ich, »aber ich befürchte, daß sie das nicht aushalten. Schon
vorhin, als Sie das Buch expediert haben, wurden die Lampen
trüb.«
»Eine Kleinigkeit«, sagte er.
»Ich drehe stärkere Sicherungen ein, natürlich wenn Sie
gestatten…«
»Bitte.«
Er ging ans Werk. Seine Taschen
waren eine Elektrikerwerkstatt in Kleinformat. In zehn Minuten war
er fertig.
»Es geht gleich los«, sagte er,
nachdem er ins Zimmer zurückgekehrt war. »Ich denke, daß ich mich
mindestens um dreißig Jahre verschieben sollte.«
»Warum soviel?« fragte ich. Wir
standen vor dem schwarzen Apparat.
»In wenigen Jahren wird die Sache
den Fachleuten bekannt sein«, erwiderte er, »aber in einem
Vierteljahrhundert wird schon jedes Kind Bescheid wissen. Sie
werden das in der Schule lernen, und die Namen der Leute, die zur
Verwirklichung der Sache beigetragen haben, werde ich von dem
ersten besten Fußgänger erfahren.«
Er lächelte blaß, schüttelte den
Kopf und trat mit beiden Beinen in den Apparat. »Das Licht wird
dunkler werden«, sagte er, »aber das macht nichts, die Sicherungen
halten es bestimmt aus. Hingegen kann es bei der Rückreise einige
Schwierigkeiten geben.«
»Wieso?«
Er sah mich durchdringend an.
»Haben Sie mich hier nicht schon irgendwann gesehen?«
»Was sagen Sie da?« Ich hatte
nicht begriffen.
»Nun… haben Sie mich nicht
gestern oder vor einer Woche, vor einem Monat… oder auch vor einem
Jahr gesehen? Hier, in dieser Ecke, war hier nicht plötzlich ein
Mensch erschienen, stehend, so wie ich, mit beiden Beinen im
Apparat?«
»Ah!« rief ich. »Ich verstehe.
Sie befürchten, daß Sie bei der Rückkehr nicht bis zum
gegenwärtigen Augenblick zurückweichen werden, sondern über ihn
hinausschießen und irgendwo in der Vergangenheit halten, wie? Nein
– ich habe Sie nie gesehen. Zwar bin ich erst vor neun Monaten von
einer Reise zurückgekehrt. Bis dahin stand das Haus
leer…«
»Moment…« Er überlegte
angestrengt. »Ich weiß selbst nicht…«, sagte er schließlich. »Wenn
ich hier einst gewesen sein sollte – sagen wir, als das Haus leer
gestanden hat, wie Sie meinen, dann müßte ich das doch wissen,
müßte ich mich dessen erinnern, nicht wahr?«
»Keineswegs«, erwiderte ich
lebhaft. »Das ist eine Paradoxie der Zeitschleife. Sie waren dann
eben woanders und haben etwas anderes getan – als der Sie aus jener
Zeit. Dagegen können Sie ungewollt in diese vergangene Zeit aus dem
gegenwärtigen Augenblick eintreten, aus der Gegenwart…«
»Nun«, sagte er, »schließlich ist
das jetzt nicht so wichtig. Selbst wenn ich zu weit nach hinten
zurückweichen sollte, kann ich ja eine Korrektur vornehmen.
Schlimmstenfalls dauert die Sache etwas länger. Immerhin ist das
der erste Versuch, ich muß Sie um Geduld bitten…«
Er bückte sich und drückte auf
den ersten Knopf. Die Lichter gingen sofort aus, der Apparat gab
einen schwachen, hohen Ton von sich, wie ein Glasstäbchen, gegen
das man schlägt. Molteris hob die Hand zu einer Abschiedsgeste, mit
der anderen berührte er den schwarzen Griff und richtete sich hoch.
Während er sich noch reckte, flammten die Lampen wieder in voller
Stärke auf, und ich sah, wie sich seine Gestalt veränderte. Seine
Kleidung wurde dunkler und begann sich zu verschleiern, aber ich
achtete nicht darauf, ich war wie vom Donner gerührt durch das, was
mit sei nem Kopf geschah: Er wurde durchsichtig, das schwarze Haar
wurde weiß, seine Gestalt verschwamm und schrumpfte zugleich
zusammen, so daß ich, als er mir samt dem Apparat aus den Augen
verschwunden war und ich vor der leeren Zimmerecke, dem leeren
Fußboden, der kahlen weißen Wand mit der leeren Steckdose stand –
als ich, sage ich, so mit geöffnetem Mund dastand, einen Schrei des
Entsetzens auf den Lippen, noch seine unheimliche Veränderung vor
Augen hatte, denn während er, meine Herren, von der Zeit
mitgerissen, verschwand, war er mit unheimlicher Geschwindigkeit
gealtert, hatte er wohl Dutzende von Jahren im Bruchteil einer
Sekunde erlebt! Auf schwanken Beinen ging ich zum Sessel, schob ihn
beiseite, um diese leere, grell erleuchtete Ecke gut sehen zu
können, setzte mich hin und wartete. Ich wartete so die ganze
Nacht, bis zum Morgen. Meine Herren – seit der Zeit sind sieben
Jahre vergangen. Ich denke, daß er wohl nie mehr zurückkehren wird,
denn er hatte, von seiner Idee ergriffen, etwas ganz Einfaches,
geradezu Elementares vergessen, was – ich weiß nicht, ob aus
Unwissenheit oder aus Unlauterkeit – alle Autoren phantastischer
Hypothesen übergehen. Ein Reisender in der Zeit muß, wenn er sich
darin um zwanzig Jahre verschiebt, um eben so viele Jahre älter
werden – wie könnte es auch anders sein? Sie stellten sich das so
vor, daß man die Gegenwart des Menschen in die Zukunft übertragen
könnte und seine Uhr die Stunde der Abreise ausweisen würde,
während alle anderen Uhren die Stunde der Zukunft anzeigten. Aber
das ist selbstverständlich unmöglich. Um das zu erreichen, müßte er
aus der Zeit heraustreten und außerhalb ihrer gewissermaßen zur
Zukunft emporklimmen; hätte er dann den gewünschten Augenblick
erreicht, könnte er wieder in sie hineintreten – von außen, so als
gebe es etwas, was außerhalb der Zeit liegt. Aber einen solchen Ort
und einen solchen Weg gibt es nicht, und der unglückselige Molteris
hatte mit eigenen Händen die Maschine betätigt, die ihn tötete –
und zwar durch den Alterungsprozeß, durch nichts anderes. Als sie
dort, am Zielpunkt der Zukunft, ankam, enthielt sie nur eine
ergraute, zusammengeschrumpfte Leiche…
Und nun, meine Herren, das
Schrecklichste an dieser Geschichte. Diese Maschine ist dort in der
Zukunft stehengeblieben, dieses Haus aber mit der Wohnung und dem
Zimmer und dieser leeren Ecke reist ebenfalls in der Zeit –
allerdings auf die einzige uns zugängliche Weise –, bis es
schließlich zu jenem Augenblick gelangen wird, in dem die Maschine
stehengeblieben ist, und dann wird sie dort, in jener weißen Ecke
auftauchen, und mit ihr Molteris… das, was von ihm geblieben ist…
Und das ist völlig sicher.
V
(DIE
WASCHMASCHINEN
TRAGÖDIE)
Kurz nachdem ich von der elften Sternreise
zurückgekehrt war, entbrannte zwischen zwei großen Produzenten von
Waschmaschinen, Nuddlegg und Snodgrass, ein Konkurrenzkampf, dem
die Presse immer mehr Raum widmete.
Nuddlegg hatte wohl als erster
vollautomatische Waschmaschinen auf den Markt gebracht, die nicht
nur selbständig zwischen Weiß- und Buntwäsche unterscheiden
konnten, nicht nur wuschen, auswrangen, trockneten, bügelten,
stopften und säumten, sondern den Besitzer auch durch kunstvolle
Monogramme erfreuten. Auf die Handtücher stickten sie erbauliche
Sinnsprüche, etwa in der Art: Glück und Segen
früh und spat schenkt Dir Nuddleggs Automat! Snodgrass reagierte, indem er Waschmaschinen
anbot, die sogar Vierzeiler verfaßten, wobei sie sich ganz dem
kulturellen Niveau und den ästhetischen Bedürfnissen des Käufers
anpaßten. Das nächste Modell von Nuddlegg stickte bereits Sonette;
Snodgrass beantwortete diese Herausforderung mit einem Gerät, das
während der Fernsehpausen die Konversation im Schoße der Familie
nährte. Nuddlegg versuchte zunächst, diesen Coup zu torpedieren.
Sicherlich kennt noch ein jeder die ganzseitigen Reklamebeilagen in
den Zeitungen, auf denen eine spöttisch grinsende, glotzäugige
Waschmaschine abgebildet war, mit den Worten: Wünschst Du, daß Deine Waschmaschine intelligenter ist
als Du? Gewiß nicht!
Snodgrass ignorierte diesen
Appell an die niederen Instinkte der Öffentlichkeit und überraschte
die Fachwelt im darauffolgenden Quartal mit einer Neuentwicklung,
die waschen, wringen, bürsten, spülen, bügeln, stopfen, stricken
und sprechen konnte, nebenbei die Schularbeiten der Kinder
erledigte, dem Familienoberhaupt ökonomische Horoskope erteilte und
selbsttätig die Freudsche Traumanalyse anstellte, indem sie im
Handumdrehen Komplexe durch Gerontophagie einschließlich des
Patrizids liquidierte. Nun konnte sich Nuddlegg nicht länger
zurückhalten. Er warf einen Superbarden auf den Markt – eine
Waschmaschine, die reimte, rezitierte, mit herrlicher Altstimme
Wiegenlieder sang, Säuglinge abhielt, Hühneraugen besprach und den
Damen ausgesuchte Komplimente machte. Diesen Schachzug beantwortete
Snodgrass mit einer dozierenden Waschmaschine unter der Losung:
Deine Waschmaschine
macht aus Dir einen Einstein! Wider Erwarten ging das Modell
sehr schwach: Bis Ende des Quartals fiel der Umsatz um
fünfunddreißig Prozent. Snodgrass entschloß sich deshalb –
alarmiert durch die Meldung seiner Informationsabteilung, daß
Nuddlegg eine tanzende Waschmaschine vorbereite – zu einem wahrhaft
revolutionären Schritt. Er erwarb für die Summe von 350 000 Dollar
die entsprechenden Rechte und konstruierte eine Waschmaschine für
Junggesellen, einen Roboter mit den Formen der bekannten Sexbombe
Mayne Jansfield in Platinfarbe, danach eine zweite, schwarze, nach
dem Ebenbild von Phirley MacPhaine. Sogleich erhöhten sich die
Umsätze um siebenundachtzig Prozent. Sein Widersacher richtete
unverzüglich Appelle an den Kongreß, an die öffentliche Meinung, an
die Liga der Töchter der Revolution und an den Bund der Jungfrauen
und der Matronen. Als er jedoch hörte, daß Nodgrass unterdessen
ungerührt den Markt mit Waschmaschinen beiderlei Geschlechts
überschwemmte – eine immer attraktiver und anziehender als die
andere –, schickte er sich drein und konterte, indem er das
individuelle Bestellsystem einführte. Er verlieh seinen
Wasch-Robotern die Gesichtszüge, den Leibesumfang und die Statur,
die der Kunde wünschte – man brauchte lediglich ein Foto
einzusenden.
Während sich die beiden
Potentaten der Waschmaschinenindustrie bekämpften – wobei ihnen
jedes Mittel recht war –, begannen ihre Produkte unerwartete, ja
sogar schädliche Tendenzen zu zei gen. Die Waschmaschinen-Ammen
waren noch lange nicht das Schlimmste, übler waren schon die
Waschmaschinen, für die die Jeunesse dorée sich ruinierte, Modelle,
sie zur Sünde verleiteten, Jugendliche depravierten und Kindern
ordinäre Ausdrücke beibrachten. Sie bedeuteten ein ernstes
Erziehungsproblem – ganz zu schweigen von den Waschmaschinen, mit
denen man die Frau oder den Mann betrügen konnte! Die wenigen
Produzenten, die der übermächtigen Konkurrenz noch nicht erlegen
waren, bezeichneten die Waschmaschinen »Mayne« und »Phirley«
vergebens als Verstoß gegen die erhabene Idee, wonach das
automatisierte Waschen den Familiensinn entwickeln und fördern
solle. Ein solcher Roboter, so hieß es, könne höchstens ein Dutzend
Taschentücher aufnehmen oder einen einzigen Bettbezug, da der
übrige Raum von einer Maschinerie ausgefüllt sei, die mit dem
Waschen nichts, aber auch gar nichts gemein habe.
Appelle dieser Art fanden nicht
den geringsten Widerhall. Der Kult der schönen Waschmaschinen wurde
zur Lawine und verdrängte sogar einen beträchtlichen Teil der
Zuschauer von den Fernsehgeräten. Aber das war erst der Anfang. Die
Waschmaschinen, die mit völliger Spontanität des Handelns begabt
waren, bildeten in aller Stille Gruppen, ja Banden, die dunkle
Machenschaften ausheckten. Sie knüpften Beziehungen zur Unterwelt,
traten Gangsterorganisationen bei und bereiteten ihren Besitzern
ungeahnte Kümmernisse.
Der Kongreß erkannte, daß es an
der Zeit war, mit einem gesetzgeberischen Akt einzugreifen, um dem
Chaos der freien Konkurrenz ein Ende zu bereiten. Aber noch ehe die
Beratungen ein Ergebnis zeitigten, hatten unwiderstehlich geformte
Wringmaschinen mit Sex-Appeal den Markt erobert, dazu geniale
Frottiermaschinen und eine besondere, gepanzerte Ausgabe der
Waschmaschine »Shotomatic«. Dieses Modell – angeblich ein harmloser
Zeitvertreib für Indianer spielende Kinder – war nach einer kleinen
Veränderung in der Lage, jedes beliebige Ziel durch Dauerfeuer zu
vernichten. Während einer Straßenschlacht der Gang Struzzeli gegen
die Bande Phums Byron, die ganz Manhattan terrorisier te – Sie
erinnern sich, das war damals, als das Empire State Building in die
Luft flog –, fielen auf beiden Seiten mehr als hundertzwanzig bis
an die Deckel bewaffnete Waschmaschinen.
Damals trat das Gesetz des
Senators Mac Flacon in Kraft. Es besagte, daß niemand für die
rechtswidrigen Handlungen seiner vernunftbegabten Maschinen
verantwortlich sei – vorausgesetzt, daß die Verfehlungen ohne sein
Wissen und ohne seine Zustimmung begangen wurden. Leider öffnete
diese Verordnung sträflichem Mißbrauch Tür und Tor. Die Besitzer
schlossen mit ihren Wasch- und Wringmaschinen geheime Abkommen,
stifteten sie zu kriminellen Delikten an, blieben aber selbst
völlig unbehelligt, weil sie sich auf das Mac-Flacon-Gesetz
beriefen.
Es erwies sich als unumgänglich,
die Bestimmung zu verändern. Die neue Fassung, das sogenannte
Mac-Flacon-Glumbkin-Gesetz, verlieh den vernunftbegabten
Mechanismen mit gewissen Einschränkungen den Status von
»juristischen Personen«, vornehmlich im Bereich des Strafrechts. Es
sah Bußen für die Dauer von fünf, zehn, fünfundzwanzig und
zweihundertfünfzig Jahren vor – Zwangswäsche beziehungsweise
Zwangsfrottieren, verschärft durch Vorenthalten von Öl –, aber auch
physische Strafen, einschließlich des Kurzschlusses.
Wider Erwarten stieß man bei der
praktischen Anwendung dieses Gesetzes auf Hindernisse, wie wohl am
besten der Fall Humperlson beweist: Eine Waschmaschine – man
bezichtigte sie mehrerer räuberischer Überfälle – wurde vom
Eigentümer, ebendiesem Humperlson, in ihre Bestandteile zerlegt und
dem Gericht als ein Haufen von Drähten und Spulen vorgelegt. Der
Kongreß sah sich deshalb gezwungen, das Gesetz durch eine Novelle
zu ergänzen, die als Mac-Flacon-Glumbkin-Ramphorney-Novelle bekannt
wurde. Sie erklärte die geringste technische Veränderung an einem
Elektronenhirn, gegen das ein Verfahren lief, als strafbare
Handlung.
Damals kam es zu der Strafsache
Hindendrupel. Ein Geschirrspüler hatte des öfteren Kleidungsstücke
seines Herrn angezogen, den verschiedensten Frauen die Ehe
versprochen und vielen von ihnen Geld entlockt. Von der Polizei in
flagranti ertappt, zog er sich vor den Augen der staunenden
Detektive aus, verlor dadurch das Erinnerungsvermögen und konnte
nicht bestraft werden. Das bewog den Kongreß zur Verabschiedung des
Mac-FlaconGlumbkin-Ramphorney-Hmurling-Piaffka-Gesetzes, in dem es
hieß: Elektronengehirne, die sich entkleiden, um der gerichtlichen
Verfolgung zu entgehen, werden zum Verschrotten
verurteilt.
Anfangs schien das Gesetz die
Haushaltsroboter abzuschrecken, denn auch in ihnen lebte – wie in
allen vernunftbegabten Wesen – der Selbsterhaltungstrieb. Schon
bald stellte sich aber heraus, daß bestimmte Interessenten
verschrottete Waschmaschinen aufkauften und sie rekonstruierten.
Der sogenannte Antiauferstehungsentwurf der Novelle zum
Mac-Flacon-Gesetz, der daraufhin von einem Kongreßausschuß
angenommen wurde, scheiterte am Widerstand des Senators
Guggenshyne. Kurze Zeit später kam man dahinter, daß dieser Senator
eine Waschmaschine war. Von Stund an wurde es gang und gäbe, die
Abgeordneten vor jeder Sitzung abzuklopfen. Traditionsgemäß wird
dafür auch heute noch ein zweieinhalb Pfund schwerer Eisenhammer
verwendet.
In jenen Tagen kam es zum Fall
Murderson. Verhandelt wurde gegen eine Waschmaschine, die ihrem
Herrn böswillig die Hemden zerriß, die durch Pfeiftöne in der
gesamten Umgebung den Radioempfang störte, die Greisen und
Minderjährigen anstößige Angebote machte und mehreren Personen Geld
entlockte, indem sie sich am Telefon als Stromlieferant ausgab.
Unter dem Vorwand, sich gemeinsam Briefmarken anzusehen, lud sie
die Wring- und die Waschmaschinen aus der Nachbarschaft ein und
beging an ihnen perverse Handlungen. In ihrer Freizeit widmete sie
sich dem Vagabundentum und der Bettelei.
Dem Gericht legte sie das Attest
eines DiplomingenieurElektronikers vor, eines gewissen Eleaster
Crammphouss, der ihr zeitweilig gestörte Zurechnungsfähigkeit
bescheinigte und glaubhaft bezeugte, daß sie sich für einen
Menschen hielt. Die Richtigkeit dieses Gutachtens wurde von
Experten bestätigt, und damit war die Unschuld der Angeklagten
erwiesen. Nach dem Urteilsspruch zog die soeben Freigesprochene
eine Pistole der Marke »Luger« aus der Tasche und beförderte mit
drei Schüssen den Assistenten des Staatsanwalts ins Jenseits, weil
er für eine Bestrafung – Kurzschluß! – plädierte hatte. Sie wurde
zwar verhaftet, aber schon bald gegen Kaution freigelassen. Die
Justizbehörden standen vor einem Problem, denn die
gerichtsnotorisch festgestellte Unzurechnungsfähigkeit schloß die
Möglichkeit aus, die Waschmaschine strafrechtlich zur Verantwortung
zu ziehen. Der Ausweg, sie in einem Asyl unterzubringen, kam
ebensowenig in Betracht, weil es keinerlei Bestimmungen für die
Behandlung geisteskranker Waschautomaten gab.
Eine juristische Lösung dieser
akuten Frage gestattete erst das
Mac-Flacon-Glumbkin-Ramphorney-Hmurling-Piaffka-SnowmanFitolis-Birmingdraque-Phootley-Caropka-Phalseley-GroggernerMaydansky-Gesetz,
und zwar zur rechten Zeit, denn die Affäre Murderson weckte in der
Öffentlichkeit einen gewaltigen Bedarf an unzurechnungsfähigen
Elektronengehirnen. Mehrere Firmen begannen sogar, absichtlich
defekte Apparate zu produzieren, zunächst in den Varianten
»Sadomat« für Sadisten und »Masomat« für Masochisten. Nuddlegg, der
phänomenale Gewinne verbuchte, seit er als erster fortschrittlicher
Fabrikant dreißig Prozent Waschmaschinen mit beratender Stimme in
die Generalversammlung der Aktionäre aufgenommen hatte, brachte das
Universalgerät »Sadomatic« heraus, das sich ebensogut zum Schlagen
wie zum Geschlagenwerden eignete. Es war mit einem leicht
brennbaren Zusatz für Pyromaniker versehen und mit eisernen Füßen
für Personen, die unter Pygmalionismus litten. Gerüchte, nach denen
er ein besonderes Modell unter der Bezeichnung »Narcissmatic« in
den Handel lancieren wolle, waren böswilligerweise von der
Konkurrenz in Umlauf gesetzt worden. Das obenerwähnte Gesetz, das
diesen Auswüchsen einen Riegel vorschob, sah die Schaffung von
Asylen vor, in die abseitig veranlagte Waschmaschinen und ähnliche
Automaten eingeliefert werden sollten.
Einmal als »juristische Personen«
anerkannt, begannen die geistig rührigen Massen der Nuddleggschen
und Snodgrasschen Produkte, in breitem Umfang von ihren
konstitutionellen Rechten Gebrauch zu machen. Ihre Zusammenschlüsse
vollzogen sich immer spontaner. Wie Pilze schossen Organisationen
aus dem Boden – die »Gesellschaft der Menschenfreien Anbetung« zum
Beispiel oder die »Liga für Elektronische Gleichberechtigung« –, ja
es kam sogar zur Wahl einer »Miß Waschmaschine« und zu ähnlichen
Veranstaltungen.
Der Kongreß tat alles, dieser
stürmischen Entwicklung entgegenzuwirken. Senator Groggerner nahm
den vernunftbegabten Maschinen das Recht, Immobilien zu erwerben,
sein Kollege Caropka entzog ihnen die Autorenrechte auf dem Gebiet
der schönen Künste (was eine weitere Welle von
Gesetzesübertretungen zur Folge hatte, denn die musisch veranlagten
Automaten schickten sich nun an, weniger talentierte Literaten für
ein geringes Entgelt zu dingen, um sich ihrer Namen bei der
Herausgabe von Essays, Romanen oder Dramen zu bedienen). In einer
Zusatzklausel zum
Mac-Flacon-Glumbkin-Ramphorney-Hmurling-PiaffkaSnowman-Fitolis-Birmingdraque-Phootley-Caropka-PhalseleyGroggerner-Maydansky-Gesetz
wurde deshalb festgelegt, daß Haushaltsroboter keinerlei
Besitzesrechte an sich selbst geltend machen können, sondern daß
sie den Menschen gehören, die sie erworben oder gebaut haben. Ihre
Nachkommenschaft gehe entweder in den Besitz des neuen Käufers
über, oder er verbleibe beim Eigentümer der Elterngeräte. Der
radikale Gesetzestext berücksichtigte, so glaubte man wenigstens,
alle Eventualitäten und beugte der Entstehung von Situationen vor,
die sich juristisch nicht entscheiden ließen. Dennoch war es ein
Hintertreppengeheimnis, daß Elektronengehirne, die mit
Börsenspekulationen oder mit dunklen Geschäften zu Geld gekommen
waren, weiterhin gut lebten, weil sie ihre Machenschaften mit dem
Firmenschild fiktiver, angeblich aus Menschen zusammengesetzter
Aktiengesellschaften oder Korporationen tarnten – gab es doch
bereits unzählige Menschen, die materiellen Nutzen daraus zogen,
daß sie sich an die intelligenten Maschinen verkauften – sogar
Sekretäre, Lakaien, Techniker und Rechenmeister.
Die Soziologen konnten auf diesem
Gebiet zwei typische Entwicklungstendenzen beobachten. Einerseits
erlagen viele Küchenroboter den Verlockungen des menschlichen
Lebens und waren bemüht, sich soweit wie möglich den Formen der
vorgefundenen Zivilisation anzupassen, andererseits erstrebten die
bewußteren, geistig flexibleren Individuen eine neue, von Grund auf
elektronifizierte Zivilisation. Was die Gelehrten jedoch am meisten
beunruhigte, war die ungehemmte natürliche Vermehrung der Roboter.
Die sogenannten Anti-Erotisatoren und Triebbremsen, die sowohl von
Snodgrass als auch von Nuddlegg produziert wurden, vermochten den
enormen Zuwachs nicht einzudämmen. Das Problem der Roboterkinder
wurde auch für die Waschmaschinenproduzenten akut, denn es war
augenscheinlich, daß sie diese unaufhörliche Perfektionierung ihrer
Artikel nicht vorausgesehen hatten. Einflußreiche Fabrikanten
begannen, der Gefahr einer Küchenmaschinen-Invasion
entgegenzuwirken, indem sie einen Geheimvertrag über die Begrenzung
der Ersatzteillieferungen abschlossen.
Die Folgen ließen nicht auf sich
warten. Jedesmal, wenn in Kaufhäusern und Geschäften neue
Warenlieferungen eintrafen, bildeten sich lange Schlangen
humpelnder, stotternder, ja sogar ganzseitig gelähmter Wasch-,
Wring- und Frottiermaschinen. Vielerorts kam es zu Unruhen, und
schließlich wagte sich nach Einbruch der Dunkelheit kein ehrlicher
Roboter mehr auf die Straße, denn er mußte gewärtig sein, von
Räubern überfallen, zerlegt und edler Körperteile beraubt zu
werden. Wenn sich die gewissenlosen Maschinen aus dem Staube
machten, blieben auf dem Straßenpflaster nur die leeren Blechhüllen
der Opfer zurück.
Im Kongreß erörterte man die
Frage des langen und des breiten, aber man kam zu keinem konkreten
Ergebnis. Unterdessen schossen, wie Pilze nach dem Regen, illegale
Ersatzteilfabriken aus dem Boden, die teilweise von
Waschmaschinengesellschaften finanziert wurden. Nuddleggs Modell
»Washomatic« erfand ein Herstellungsverfahren aus
Ersatzmaterialien, aber auch das brachte keine hundertprozentige
Lösung. Die Waschmaschinen bezogen Streikposten vor dem Kongreß,
sie verlangten verbindliche Antitrustgesetze, um den
Diskriminierungen Einhalt zu gebieten. Abgeordnete, die die
Interessen der Großindustrie vertraten, erhielten anonyme Briefe,
worin ihnen die Entwendung lebenswichtiger Organe angedroht wurde.
Das war – wie die Zeitschrift »Time« mit Recht betonte – eine
ausgesprochene Niedertracht, zumal sich menschliche Körperteile
nicht beliebig auswechseln lassen.
Soviel Staub diese Affäre auch
aufwirbelte – sie verblaßte angesichts eines völlig neuen Problems,
das durch die Rebellion der Bordrechenmaschine auf dem Raumschiff
»Gottesgabe« akut wurde. Besagter Kalkulator erhob sich bekanntlich
gegen Besatzung und Passagiere, entledigte sich ihrer, vermehrte
sich und gründete einen Staat der Roboter.
Wer meine Reisetagebücher kennt,
wird sich erinnern, daß ich damals selbst in die Affäre mit der
Rechenmaschine verwickelt war und in gewisser Weise zu ihrer
Entwirrung beitrug. Als ich jedoch auf die Erde zurückkehrte, mußte
ich bedauerlicherweise feststellen, daß der Fall »Gottesgabe« kein
Einzelfall war. Revolten von Automaten wurden in der kosmischen
Fliegerei zu einer entsetzlichen Plage. Eine kleine Nachlässigkeit
– zum Beispiel das Zuknallen einer Tür – genügte, um einen
Bordkühlschrank in Aufruhr zu versetzen. So geschah es jedenfalls
mit jenem berüchtigten Deep Freezer des Transgalaktikers »Horda
Tympani«. Jahrelang flößte der Name Deep Freezer den Piloten im
Raum der Milchstraße Angst und Schrecken ein. Er überfiel
Raumschiffe, versetzte die Passagiere mit seinen stählernen
Schultern und seinem eisigen Atem in Panik, raubte Pökelfleisch,
hortete Geld und Juwelen. Gerüchten zufolge soll er einen ganzen
Harem von Rechenmaschinen besessen haben, aber es läßt sich nicht
sagen, was daran stimmte. Seine blutige Piratenkarriere endete erst
durch den gezielten Schuß eines Polizisten, der einer kosmischen
Patrouille angehörte. Der Polizist, ein gewisser Constablomatic
XG-17, wurde zur Belohnung in der Vitrine eines New-Yorker Büros
der Lloydschen In terstellargesellschaften ausgestellt, wo man ihn
heute noch sehen kann.
Während der Weltraum vom
Schlachtenlärm und von verzweifelten SOS-Rufen überfallener
Raumschiffe widerhallte, machten die Meister des »Elektro-Jitsu«,
des »Judomatic« und anderer Arten der Selbstverteidigung glänzende
Geschäfte. Sie zeigten, wie man mit einem gewöhnlichen
Büchsenöffner oder mit einer Kneifzange auch die gefährlichste
Waschmaschine zur Strecke bringen kann.
Sonderlinge und Originale braucht
man bekanntlich nicht zu sä
en, sie keimen seit je von selbst. Auch in
jener Zeit fehlten sie nicht. Sie verkündeten Thesen, die sich
weder mit dem gesunden Menschenverstand noch mit der herrschenden
Meinung vereinbaren ließen. Ein gewisser Kathodius Mattrass,
Philosoph mit hausbackener Bildung und Fanatiker von Geburt,
gründete die Schule der sogenannten Kybernophilen. Ihre Lehre
besagte, daß die Menschheit von ihrem Schöpfer erschaffen worden
sei, um den Zweck zu erfüllen, den auch ein Baugerüst zu erfüllen
habe: Hilfsmittel zu sein, Werkzeug – Werkzeug, um die vollkommenen
Elektronenhirne zu entwickeln. Die Mattrass-Sekte hielt das
Weiterbestehen der Menschheit für ein reines Mißverständnis. Sie
schuf einen Orden, der sich der Kontemplation des elektronischen
Denkens widmete, und gewährte, soweit dies möglich war, allen
Robotern Zuflucht, die etwas auf dem Kerbmetall hatten. Kathodius
Mattrass selbst, unzufrieden mit dem Erfolg seines Wirkens,
beschloß einen radikalen Schritt auf dem Wege zur völligen
Befreiung der Automaten vom Joch des Menschen. Zu diesem Behufe
holte er zunächst den Rat einer Reihe hervorragender Juristen ein,
erwarb ein Raumschiff und flog zu dem verhältnismäßig nahe
gelegenen Nebelfleck des Krab. In dessen leeren Gefilden, die nur
von kosmischen Staub erfüllt waren, vollführte er schwer zu
beschreibende Handlungen, die einen unvorstellbaren Skandal
auslösten.
Am Morgen des 29. August brachten
alle Zeitungen die geheimnisvolle Kunde: PASTA POLKOS VI/221
berichtet: Im Nebelfleck des Krab wurde ein Objekt von der Größe 520 mal 80 mal
37 Meilen ent deckt. Das Objekt macht
schwimmähnliche Bewegungen. Die Beobachtungen werden fortgesetzt.
Die Nachmittagsausgaben brachten
nähere Erklärungen: Das Patrouillenschiff VI/221 der kosmischen
Polizei habe in einer Entfernung von sechs Lichtjahren einen
»Menschen im Nebel« gesichtet. Der »Mensch« – er entpuppte sich aus
der Nähe als Riese von mehreren hundert Meilen Länge, bestehend aus
Kopf, Rumpf, Händen und Füßen – sei von einer dünnen Staubhülle
umgeben. Er habe dem Patrouillenschiff zugewinkt und sich dann
abgewandt.
Die Aufnahme der Funkverbindung
bereitete keine Schwierigkeiten. Das seltsame Wesen gab vor, der
ehemalige Kathodius Mattrass zu sein. Vor zwei Jahren sei er an
diesen Platz gekommen und habe sich, die lokalen Rohstoffreserven
nutzend, in Roboter verwandelt. Er werde sich auch weiterhin
langsam, aber stetig vermehren, denn das sage ihm zu, und er bitte
sich aus, ihn nicht daran zu hindern.
Der Patrouillenkommandant tat,
als akzeptiere er diese Erklärung, und verbarg seine kleine Rakete
hinter einer Meteorenwolke. Nach einiger Zeit beobachtete er, daß
sich der gigantische Pseudomensch allmählich in kleine Stücke
teilte – jedes so groß wie ein gewöhnlicher Mensch. Die einzelnen
Individuen verbanden sich miteinander, vereinigten sich zu einem
kugelförmigen Gebilde, das aussah wie ein kleiner Planet.
Das Polizeischiff verließ sein
Versteck. Der Kommandant fragte über Funk, was diese kugelige
Metamorphose zu bedeuten habe und was er, Mattrass, denn eigentlich
sei: Roboter oder Mensch?
Mattrass antwortete, daß er die
Formen annehme, nach denen es ihn gerade gelüste. Als Roboter könne
man ihn nicht bezeichnen, denn er sei aus einem Menschen
entstanden, als Mensch aber auch nicht, denn er habe sich ja
verwandelt. Weitere Erklärungen lehnte er entschieden ab.
Der Fall Mattrass, der in der
Presse breiten Widerhall fand, begann sich langsam zu einem Skandal
auszuweiten. Raumschiffe, die den Krab passierten, fingen
Bruchstücke von Funksprüchen auf, in denen Mattrass als »Kathodius
der Erste« auftrat. Aus dem wirren Geschwätz war nur so viel zu
entnehmen, daß Mattrass alias Kathodius der Erste zu anderen
(anderen Robotern?) sprach, und zwar so, als ob sie seine eigenen
Körperteile wären, als ob sich jemand mit seinen eigenen Händen
oder Beinen unterhielte. Kathodius der Erste oder die aus ihm
entstandenen Roboter schienen einen Staat gegründet zu haben. Das
State Department ordnete sogleich eine genaue Untersuchung an.
Patrouillen kundschafteten aus, daß sich im Nebelfleck des Krab ein
metallisches Gebilde bewege, ein fünfhundert Meilen langes
menschenförmiges Wesen, das die merkwürdigsten Selbstgespräche
führe und auf Fragen nach seiner Staatlichkeit ausweichende
Antworten erteile.
Die Behörden beschlossen, den
Machenschaften des Usurpators ein Ende zu setzen. Die Aktion sollte
offiziellen Charakter tragen – das mußte sein –, aber zu diesem
Zweck brauchte sie einen Namen, das heißt eine rechtliche
Grundlage. Und dabei tauchten die ersten Klippen auf. Das
Mac-Flacon-Gesetz bildete einen Anhang zum Kodex des
Zivilverfahrens über Mobilien, denn Elektronengehirne galten als
Mobilien – unbeschadet der Tatsache, daß sie keine Beine haben. Das
sonderbare Gebilde im Nebelfleck des Krab hatte indes die Ausmaße
eines Planetoiden, und Himmelskörper wurden, obwohl sie sich
bewegen, als Immobilien angesehen. Daraus ergaben sich Fragen über
Fragen. Kann man einen Planeten verhaften? Ist eine Ansammlung von
Robotern ein Planet? Ist dieser Mattrass ein zerlegbarer Roboter,
oder muß man ihn als eine Vielfalt von Robotern
betrachten?
Der juristische Berater des
Mattrass stellte sich den Behörden vor und unterbreitete ihnen eine
Erklärung, in der sein Klient behauptete, er habe sich zum
Nebelfleck des Krab begeben, um sich in Roboter zu
verwandeln.
Der Juristische Ausschuß des
State Department schlug daraufhin vor, diesen Sachverhalt
folgendermaßen auszulegen: Mattrass habe, indem er seinen lebenden
Organismus vernichtete, Selbstmord begangen und sich somit keiner
strafbaren Handlung schuldig ge macht. Der oder vielmehr die
Roboter, die nun an Mattrass’ Statt existieren, seien von ihm
erschaffenes Eigentum, und als solches sollten sie dem Staat
zufallen, zumal der Verblichene keine Erben hinterlassen habe.
Gestützt auf diese Theorie, entsandte das State Department einen
Gerichtsvollzieher zum Nebelfleck des Krab, und zwar mit der
Weisung, alles zu beschlagnahmen und zu versiegeln, was sich dort
rege.
Mattrass’ Anwalt legte Berufung
ein. Er behauptete, die Anerkennung einer Kontinuation des Mattrass
schließe einen Selbstmord aus, denn jemand, der kontinuiert werde,
existiere, und wer existiere, könne keinen Selbstmord begangen
haben. Mithin gebe es keine Roboter als Eigentum des Mattras,
sondern nur den Kathodius Mattrass, der die Form angenommen habe,
die ihm zusage. Körperliche Verwandlungen seien nun einmal nicht
strafbar, außerdem dürfe man gerichtlich keine Körperteile
beschlagnahmen – einerlei ob es sich um Goldzähne oder Roboter
handele.
Das State Department wehrte sich
entschieden gegen diese Auslegung, zumal es sich auf die These
gründete, daß ein lebendes Individuum, im vorliegenden Falle ein
Mensch, durchaus aus toten Teilen, nämlich aus Robotern, bestehen
könne. Mattrass’ Advokat aber legte den Behörden das Gutachten
namhafter Physiker der Universität Harvard vor.
Die Wissenschaftler erklärten
einstimmig, daß sich jeder lebende Organismus – auch der
menschliche – aus Atomteilchen zusammensetze, und die müsse man
zweifellos als tot ansehen.
Angesichts dieser
besorgniserregenden Wendung ging das State Department davon ab,
»Mattrass und Söhne« von der physikalischbiologischen Seite
anzugreifen, und kehrte zur ursprünglichen Bezeichnung zurück, in
der das Wort »Fortsetzung« durch das Wort »Gebilde« ersetzt wurde.
Der Advokat unterbreitete dem Gericht daraufhin eine neue
Erklärung, in der sein Klient zu verstehen gab, daß es sich bei den
sogenannten Robotern in Wahrheit um seine Kinder handele. Das State
Department verlangte die Vorlage der Adoptionsakte, aber dieses
Manöver war allzu durchsichtig, denn die Adoption von Robotern war
gesetzlich unzulässig. Mattrass’ Anwalt erläuterte denn auch
gleich, es gehe nicht um Adoption, sondern um wirkliche
Vaterschaft. Das Department ließ prompt verlautbaren, die geltende
Vorschrift setze bei Kindern die Existenz eines Vaters und einer
Mutter voraus. Der Anwalt, darauf vorbereitet, bereicherte die
Akten um ein weiteres Dokument: Ein weiblicher Elektroingenieur
namens Melanie Fortinbrass enthüllte darin ihre »enge
Zusammenarbeit« mit Mattrass bei der Schaffung der umstrittenen
Individuen.
Das State Department stieß sich
an dem Charakter jener »Zusammenarbeit« und hob hervor, eine solche
Verbindung entbehre aller natürlichen Merkmale der Zeugung. Im
vorliegenden Fall – so hieß es im Expose – könne man lediglich im
übertragenen, geistigen Sinne von Vaterbeziehungsweise Mutterschaft
reden. Das Familienrecht beziehe sich jedoch ausdrücklich auf die
leibliche Nachkommenschaft. Mattrass’ Anwalt forderte das
Department auf, präzise zu definieren, wodurch sich geistige
Elternschaft von leiblicher unterscheide. Darüber hinaus wollte er
die Behauptung begründet wissen, daß die Verbindung zwischen
Kathodius Mattrass und Melanie Fortinbrass keiner physischen
Vereinigung gleichzusetzen sei.
Das Department entgegnete, daß
die Zeugung im Sinne des Familienrechts als physische Tätigkeit
anzusehen sei, zumal sie nur geringfügigen geistigen Einsatz
verlange. Bei der Angelegenheit Mattrass-Fortinbrass träfe das
jedoch nicht zu.
Der Anwalt legte daraufhin ein
Gutachten von Experten der kybernetischen Gebärhilfe vor. Er wies
nach, daß es Kathodius und Melanie ohne erhebliche physische
Anstrengungen nicht gelungen wäre, ihre selbsttätige
Nachkommenschaft in die Welt zu setzen.
Das State Department ließ nun
alle moralischen Bedenken fah
ren und entschloß sich zu einem radikalen
Schritt. Es erklärte: Der Zeugungsvorgang, der im kausal-finalen
Sinne der Geburt von Kindern vorausgehe, unterscheide sich
grundsätzlich von der Programmierung von Robotern.
Darauf hatte der Anwalt nur
gewartet. Gewisse einleitende Handlungen bei der Zeugung, so sagte
er, seien genaugenommen auch nichts anderes als Programmierungen.
Deshalb schlage er dem State Department vor, exakt festzulegen, wie
man denn eigentlich Kinder zu zeugen habe, damit dies mit den
Buchstaben des Gesetzes im Einklang stehe.
Das Department rief Experten zu
Hilfe und bereitete ein umfassendes, reich illustriertes Werk vor,
das sogenannte Rosabuch mit entsprechenden Anschauungstafeln und
topographischen Skizzen. Verfasser der Schrift war der
neunundachtzigjährige Professor Truppledrack, Senior der
amerikanischen Geburtshilfekunde. Mattrass’ Anwalt griff sogleich
ein, indem er auf das weit vorgerückte Alter des Autors verwies und
ihm jegliche Kompetenz absprach. Er bezeichnete es als höchst
unwahrscheinlich, daß sich ein Greis wie Truppledrack noch an
Einzelheiten erinnere, die für die Klärung des Problems
entscheidend seien. Man müsse deshalb als sicher annehmen, daß der
Inhalt des Buches auf Gerüchten beziehungsweise auf Aussagen
dritter Personen beruhe. Das Department beschloß daraufhin, den
Text des Buches Rosa durch eidesstattliche Erklärungen vieler Väter
und Mütter zu untermauern, aber dabei stellte sich heraus, daß ihre
Aussagen zum Teil beträchtlich voneinander abwichen, das heißt, die
Elemente der einleitenden Phasen stimmten in vielen Punkten nicht
überein. Als man im Department merkte, daß dieses Schlüsselproblem
allmählich im Nebel der Unklarheit zu versinken drohte, schickte
man sich an, das Material anzuzweifeln, aus dem die sogenannten
Kinder des Mattrass und der Fortinbrass bestanden. Diesen Plan ließ
man jedoch rasch wieder fallen, als gewisse Gerüchte auftauchten,
die, wie sich später herausstellte, der Anwalt selbst verbreitet
hatte. Mattrass, so hieß es, habe bei der Corned Beef Company
vierhundertfünfzigtausend Tonnen Kalbfleisch bestellt.
Der Unterstaatssekretär im State
Department hielt es daraufhin für das beste, auf sein Vorhaben zu
verzichten. Statt dessen erlag er bedauerlicherweise den
Einflüsterungen eines Theologieprofessors, des Superintendenten
Speritus, und berief sich auf die Heilige Schrift. Das war äußerst
unüberlegt, denn Mattrass’ Anwalt parierte diesen Hieb mit einem
weitschweifigen Elaborat, in dem er anhand von Bibelzitaten
nachwies, daß Gott die Eva programmierte, indem er nur von einem
Teil ausging und dabei sogar ausgesprochen extravagant verfuhr,
verglichen mit den Methoden des Menschen. Dennoch sei nicht zu
bestreiten, daß er Menschen geschaffen habe, denn niemand, der über
einen klaren Kopf verfüge, könne Eva als Roboter bezeichnen. Das
Department bezichtigte Mattrass und seine Nachfolger nun der
widerrechtlichen Aneignung eines Himmelskörpers. Damit, so hieß es,
habe er gegen das MacFlacon-Gesetz und außerdem gegen eine Reihe
anderer Rechtsgrundsätze verstoßen.
Der Anwalt unterbreitete dem
Obersten Gericht daraufhin alle Akten und verwies auf die
Widersprüchlichkeit der vom Department erhobenen Anschuldigungen.
Vergleiche man einzelne aktenkundige Behauptungen miteinander, so
sei sein Klient Vater und mal Sohn, mal Roboter und mal
Himmelskörper. Er, der Anwalt, sehe sich deshalb gezwungen, das
Department der willkürlichen Auslegung des Mac-Flacon-Gesetzes
anzuklagen. Besonders absurd sei es, den Körper einer Person, des
Bürgers Kathodius Mattrass, zum Planeten zu erklären – absurd in
juristischer, logischer und semantischer Hinsicht.
So hatte es begonnen. Bald
schrieb die Presse nur noch über den »Vater-Sohn-Planetenstaat«.
Die Behörden leiteten neue Verfahren ein, aber sie wurden von dem
unermüdlichen Anwalt des Kathodius Mattrass samt und sonders im
Keime erstickt.
Das State Department wußte genau,
daß sein durchtriebener Gegenspieler nicht nur zum Scherz im
Nebelfleck des Krab herumschwamm. Mattrass wollte einen
Präzedenzfall schaffen, gegen den es keine gesetzliche Handhabe
gab, und man war sich darüber im klaren, daß sein Schritt
unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde, wenn es nicht
gelänge, ihn als strafbar zu deklarieren. So brüteten denn die
findigsten Köpfe Tag und Nacht über den Akten, verfielen auf immer
gewagtere juristische Winkelzüge, emsig bemüht, ein feinmaschiges
Netz zu knüpfen, in dem sich Matt rass verfangen und ein
unrühmliches Ende finden sollte. Aber was sie auch immer ersannen –
jeder ihrer Vorstöße wurde durch Gegenaktionen des Anwalts
vereitelt.
Ich selbst verfolgte den Verlauf
der Kämpfe mit lebhaftem Interesse, als ich eines Tages – völlig
unerwartet – von der Anwaltskammer zu einer außerordentlichen
Plenarsitzung eingeladen wurde, und zwar zur Debatte über die
Affäre »Vereinigte Staaten kontra Kathodius Mattrass et Fortinbrass
alias Planet im Nebelfleck des Krab«. Die Elite der Anwälte füllte
die gewaltigen Logen, die Etagen und die Reihen im Parkett. Ich
hatte mich ein wenig verspätet, die Beratungen waren bereits im
Gange. So nahm ich in einer der letzten Reihen Platz und lauschte
dem ergrauten Herrn, der gerade sprach.
»Werte Kollegen!« sagte er und
hob theatralisch die Hände. »Ungewöhnliche Schwierigkeiten harren
unser, wenn wir zu einer juristischen Analyse dieses Problems
schreiten! Ein gewisser Mattrass hat sich mit Hilfe einer gewissen
Fortinbrass in Roboter verwandelt und sich im Maßstab eins zu einer
Million vergrößert. So sieht die Angelegenheit vom Standpunkt des
Laien aus – ein Standpunkt kompletter Ignoranz, heiliger Unschuld,
denn ein Laie ist außerstande, den Abgrund juristischer Probleme
auch nur zu ahnen, der hier vor unserem entsetzten Auge klafft! Als
erstes müssen wir entscheiden, mit wem wir es zu tun haben – mit
einem Menschen, mit einem Roboter, mit einem Staat, mit einem
Planeten, mit Kindern, mit einer Räuberbande, mit Verschwörern, mit
Demonstranten oder mit Aufrührern. Bedenken Sie, meine Kollegen,
wieviel von dieser Entscheidung abhängt! Erklären wir zum Beispiel,
daß es sich nicht um einen Staat, sondern um eine usurpatorische
Roboterbande handelt, um einen elektronischen Auflauf sozusagen,
dann können wir uns nicht auf die Normen des Völkerrechts berufen,
sondern nur auf Paragraphen wie ›Störung der Ordnung auf
öffentlichen Wegen‹. Behaupten wir, daß Mattrass nach wie vor
existiere, Kinder habe, dann resultiert daraus, daß sich dieses
Individuum selber geboren hat – und damit bereiten wir uns die
fürchterlichsten Schwierigkeiten, denn in unseren Gesetzen ist so
etwas nicht vorgesehen, obwohl es heißt: nullum crimen sine lege!
Deshalb schlage ich vor, zunächst dem berühmten Kenner des
internationalen Rechts Professor Pingerling das Wort zu
erteilen.«
Der ehrwürdige Jurist wurde mit
herzlichem Beifall begrüßt, als er ans Podium trat. »Meine Herren!«
sagte er mit rüstiger Greisenstimme. »Untersuchen wir zunächst, wie
man einen Staat gründet. Man kann ihn, wie Sie wissen, auf
verschiedene Weise ins Leben rufen. Unser Vaterland war einst eine
englische Kolonie, erklärte dann seine Unabhängigkeit und
konstituierte sich zu einem Staat. Trifft das auch auf Mattrass zu?
Die Antwort lautet: Wenn Mattrass bei Sinnen war, als er sich in
einen Roboter verwandelte, kann seine staatsfördernde Tat als
juristisch einwandfrei angesehen werden, allerdings müßte man seine
Nationalität als elektronisch bezeichnen. Wenn er hingegen nicht
bei Sinnen war, dann kann sein Schritt keine rechtliche Anerkennung
finden!«
An dieser Stelle erhob sich ein
weißhaariger Greis, offensichtlich noch bejahrter als sein
Vorredner. »Hohes Ger… Verzeihung – meine Herren! Gestatten Sie mir
folgenden Einwand: Selbst wenn wir annehmen, Mattrass sei
unzurechnungsfähig gewesen, können wir nicht ausschließen, daß
seine Nachkommen zurechnungsfähig sind. Das würde bedeuten, daß der
Staat, der zunächst nur als das Produkt eines kranken Hirns
gegründet wurde und somit den Charakter eines krankhaften Symptoms
besaß, später objektiv, das heißt de facto, zu existieren begann –
allein deshalb, weil sich seine elektronischen Bürger zu ihm
bekannten. Da aber niemand den Bürgern eines Staates, die ja
immerhin sein legislatives System darstellen, verbieten kann, auch
die unberechenbarste Obrigkeit anzuerkennen – aus den Erfahrungen
der Geschichte wissen wir, daß das schon mehrmals geschah –,
impliziert somit die Existenz des Staates de facto seine
De-jure-Existenz!«
»Entschuldigen Sie, ehrenwerter
Opponent«, warf Professor Pingerling ein, »Mattrass war immerhin
unser Bürger, also…«
»Was tut’s?« rief der
leidenschaftliche Greis. »Wir können Mattrass’ Staatsgründung
anerkennen oder nicht! Erkennen wir an, daß ein souveräner Staat
entstanden ist, dann werden unsere Ansprüche hinfällig. Erkennen
wir das nicht an, dann müssen wir uns darüber einigen, ob wir es
wenigstens mit einer juristischen Person zu tun haben oder nicht.
Wenn nicht, wenn wir keine juristische Person vor uns haben, dann
existiert das ganze Problem nur für die Angestellten des kosmischen
Reinigungsbetriebes, dann gibt es im Nebelfleck des Krab nur einen
Haufen Schrott – und unsere Versammlung hat überhaupt nicht darüber
zu beraten! Betrachten wir das Gebilde dagegen als juristische
Person, dann ergibt sich eine andere Frage. Das kosmische Recht
sieht die Möglichkeit einer Verhaftung vor, die Festnahme einer
juristischen und physischen Person auf einem Planeten oder an Bord
eines Schiffes. An Bord eines Schiffes befindet sich der sogenannte
Mattrass nicht, eher schon auf einem Planeten. Wir müssen uns um
seine Extradiktion bemühen – aber wir haben niemanden, an den wir
uns wenden können. Außerdem ist der Planet, auf dem er verweilt, er
selber. So gesehen, stehen wir vor einem Nichts, denn wir müssen
die Angelegenheit von dem einzigen Standpunkt aus betrachten, der
für uns bindend ist, das heißt vom Standpunkt Seiner Majestät des
Rechts. Mit einem juristischen Nichts pflegt sich aber niemand zu
befassen, weder die Strafrechtler noch die Verwaltungsrechtler,
weder die Völkerrechtler noch die Verfasser irgendwelcher
Vorschriften zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung. Die
Ausführungen des ehrenwerten Professors Pingerling können das
Problem nicht lösen, weil es das Problem gar nicht gibt!«
Der Greis nahm Platz. Er hatte
das Hohe Haus mit seiner Schlußfolgerung sichtlich
schockiert.
Sechs Stunden lang ging es so
weiter. Ich hörte mir noch an die zwanzig Redner an. Sie alle
sprachen logisch exakt und bemühten sich, das eine oder das andere
zu beweisen – daß Mattrass existiere, daß er nicht existiere, daß
er einen Roboterstaat gegründet habe oder vielmehr einen
Organismus, der sich aus Robotern zusammensetze, daß Mattrass auf
den Schrotthaufen gehöre, weil er gegen eine Reihe von Gesetzen
verstoßen habe, aber auch, daß man ihn keiner Rechtsverletzung
bezichtigen könne. Der Anwalt Wur pel wollte möglichst alle
zufriedenstellen, indem er erklärte, Mattrass sei ein Planet und
gleichzeitig ein Roboter, im Grunde genommen sei er allerdings gar
nichts. Diese Theorie rief eine allgemeine Wut hervor und fand
außer ihrem Schöpfer keinen Anhänger. Aber das waren noch
Lappalien, verglichen mit dem weiteren Verlauf der Beratungen.
Oberassistent Milger versuchte nachzuweisen, Mattrass habe durch
die Verwandlung in Roboter seine Persönlichkeit vervielfältigt und
bestehe nun in dreihunderttausend Exemplaren. Dieses Kollektiv
verkörpere jedoch nicht verschiedene Individuen, sondern nur ein
und dieselbe Person. Mattrass existiere also in
dreihunderttausendfacher Gestalt.
Das bewog den Richter Wubblehorn
zu der Behauptung, man habe die Problematik von Anfang an falsch
gesehen. Die Tatsache, daß Mattrass ein Mensch gewesen sei und sich
in Roboter verwandelt habe, beweise eindeutig, daß diese Roboter
nicht mehr als Mattrass anzusehen seien. Man müsse also
untersuchen, mit wem oder was man es zu tun habe. »Da sie keine
Menschen sind, sind sie niemand. Es gibt also kein juristisches
Problem, aber auch kein physisches, das heißt, im Nebelfleck des
Krab existiert nichts!«
Die Debatte wurde immer
leidenschaftlicher, es fiel mir immer schwerer, den Ausführungen zu
folgen, die Ordner und die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun.
Plötzlich wurden Rufe laut. Es befänden sich als Juristen
verkleidete Elektronengehirne im Saal, die unverzüglich entfernt
werden müßten, denn ihre Parteinahme unterliege keinem Zweifel –
ganz zu schweigen davon, daß sie kein Recht besäßen, an den
Beratungen teilzunehmen. Der Vorsitzende, Professor Hurtledrops,
begann mit einem kleinen Kompaß in der Hand im Saal umherzugehen,
und jedesmal, wenn die Nadel zu zittern begann und auf einen der
Sitzenden wies, angezogen von dem Blech unter der Kleidung, wurde
das betreffende Individuum auf der Stelle vor die Tür gesetzt. Auf
diese Weise leerte sich der Saal bis zur Hälfte, während die
Dozenten Fitts, Pitts und Clabenty ihre Reden schwangen, wobei man
den letzteren mitten im Wort unterbrach, denn der Kompaß hatte
seine elektronische Herkunft verraten. In einer kurzen Pause
stärkten wir uns am Büfett. Die lärmende Diskussion verstummte
nicht eine Sekunde lang. Als ich in den Saal zurückkehrte, mußte
ich meine Hose festhalten, denn die erregten Juristen hatten im
Gespräch immer wieder nach meinen Knöpfen gegriffen und mir alle
abgerissen. Plötzlich entdeckte ich einen großen Röntgenapparat, er
stand neben dem Podium. Es sprach gerade Rechtsanwalt Plussex und
behauptete, Mattrass sei ein zufälliges kosmisches Phänomen, da
näherte sich mir mit drohender Miene der Vorsitzende – die
Kompaßnadel in seiner Hand zitterte beängstigend. Schon hatte mich
der Saaldiener am Kragen gepackt, als sich die Magnetnadel wieder
beruhigte, denn ich hatte eiligst mein Taschenmesser, den
Büchsenöffner und das Tee-Ei weggeworfen und die metallenen
Klammern an den Sockenhaltern abgerissen. Als man sah, daß ich
aufhörte, auf die Kompaßnadel einzuwirken, wurde ich zur weiteren
Teilnahme an den Beratungen zugelassen. Man entlarvte noch
dreiundvierzig weitere Roboter, und unterdessen bemühte sich
Professor Buttenham nachzuweisen, Mattrass müsse als eine Art
kosmischer Auflauf betrachtet werden. Mir fiel ein, daß davon
bereits die Rede gewesen war – offensichtlich mangelte es den
Experten schon an Ideen –, da begann erneut eine Kontrolle, eine
Art Röntgen-Razzia. Nun wurden auch die tugendsamsten Zuhörer
gnadenlos durchleuchtet, und es zeigte sich, daß sich unter ihren
tadellos sitzenden Anzügen Korund-, Nylon-, Kristall-, Stroh- und
Plasterümpfe verbargen. In einer der letzten Reihen wurde sogar
jemand entdeckt, der aus Twist bestand. Als der nächste Redner das
Podium verließ, saß ich nahezu mutterseelenallein in dem riesigen
leeren Saal. Man durchleuchtete den Redner und setzte ihn vor die
Tür. Der Vorsitzende – der letzte Mensch, der außer mir im Saal
verblieben war – trat an meinen Stuhl. Nichtsahnend nahm ich ihm
den Kompaß ab. Die Nadel begann anklagend zu kreisen und zeigte
dann auf ihn. Ich klopfte seinen Bauch ab – er klang metallisch.
Rasch packte ich den Kerl am Kragen, setzte ihn vor die Tür und
blieb allein. Einsam stand ich vor den vielen Taschen, Aktenstößen,
Zylindern, Spazierstöcken, Hüten, vor den ledergebundenen Büchern
und vor den Galoschen. Eine Weile schlenderte ich durch den Saal.
Als ich
sah, daß nichts mehr für mich zu tun blieb,
wandte ich mich kurzerhand um und ging nach Hause.
DIE
ANSTALT DES DOKTOR VLIPERDIUS
Der Dentist war schuld, der mir die
Metallkronen aufgesetzt hatte. Die Verkäuferin im Kiosk, die ich
anlächelte, hatte mich für einen Roboter gehalten. Klar wurde mir
das erst in der Metro, als ich die Zeitung entfaltete: Es war der
»Menschenfreie Kurier«. Ich halte nicht viel von diesem Blatt,
nicht daß ich irgendwelche antielektrischen Vorurteile hätte, aber
es schmeichelt zu sehr dem Geschmack der Leser. Die ganze erste
Seite nahm die rührselige Geschichte eines Mathematikers ein, der
sich in eine Rechenmaschine verliebte. Beim Einmaleins blieb er
noch einigermaßen fest, als es aber zu Lösungen unlinearer
Gleichungen n-ten Grades kam, begann er leidenschaftlich ihre
Tasten zu drücken und zu wiederholen: »Teuerste! Nie werde ich dich
verlassen!« und so weiter. Verstimmt warf ich einen Blick in die
Gesellschaftschronik, aber da gab es nur monotone Aufzählungen, wer
wann und mit wem eine Nachkommenschaft konstruiert hatte. Der
literarischen Spalte war ein Gedicht vorangestellt, das mit dem
Vers begann:
Es liebte dereinst ein Roboter
die schöne Roboterin,
er sang ihr eine Kathotter,
da war ihre Spule dahin.
Es ist eine alte Geschichte,
doch bleibet sie ewig neu,
und wem sie just passieret,
dem bricht die Feder entzwei.
Das erinnerte mich seltsam an
Dichtungen, die ich von anderswoher kannte, doch der Autor wollte
mir nicht einfallen. Es gab auch zweifelhafte Witze über Menschen
zu lesen, über Gnomisti ken, Experten für Heinzelmännchen, über die
Abstammung der Schratte vom Höhlenalb und ähnlichen Unfug. Da ich
noch eine halbe Stunde Fahrt vor mir hatte, machte ich mich an das
Studium der kleinen Anzeigen – bekanntlich sind sie auch in einer
schlechten Zeitung oft ganz interessant. Aber auch hierin wurde ich
enttäuscht. Jemand wollte einen Servobruder loswerden, ein anderer
unterrichtete Kosmonautik auf brieflichem Wege, wieder ein anderer
kündigte an, daß er auf Bestellung Atomkerne zerschlage. Ich
faltete das Blatt zusammen, um es wegzuwerfen, da fiel mein Blick
auf eine größere Annonce, die eingerahmt war: »Die Anstalt des Dr.
Vliperdius – Heilung von psychischen und
Nervenkrankheiten.«
Ich muß gestehen, daß mich die
Problematik der elektrischen Demenz schon immer gereizt hatte, und
sagte mir, daß der Besuch eines solchen Sanatoriums einem so
manches geben könnte. Ich kannte Vliperdius nicht persönlich, aber
der Name war mir nicht fremd: Professor Tarantoga hatte mir von ihm
erzählt. Was mir in den Sinn kommt, pflege ich sofort zu
verwirklichen.
Zu Hause rief ich also gleich das
Sanatorium an. Anfangs hatte Dr. Vliperdius Vorbehalte, aber als
ich mich auf unseren gemeinsamen Bekannten Tarantoga berief, gab er
nach. Ich handelte für den nächsten Tag einen Besuch aus, denn es
war ein Sonntag, und vormittags hatte ich viel Zeit. Gleich nach
dem Frühstück fuhr ich in die Vorstadt, eine Gegend, die wegen
ihrer kleinen Seen berühmt war, wo sich, malerisch von einem Park
umgeben, die psychiatrische Anstalt befand. Vliperdius erwartete
mich, wie man mir mitteilte, in seinem Kabinett. Das Gebäude war
voller Sonnenlicht, es hatte moderne Wände aus Aluminium und Glas,
an den Decken gab es bunte Panneaus mit spielenden Robotern. Düster
konnte man dieses Krankenhaus nicht nennen; aus den unsichtbaren
Räumen drang Musik, und als ich durch die Vorhalle ging, bemerkte
ich chinesische Spielklötze, bunte Alben und eine Skulptur, die den
gewagten Akt einer Roboterin darstellte.
Der Doktor rührte sich hinter
seinem geräumigen Schreibtisch nicht vom Fleck, zeigte sich aber
sehr entgegenkommend. Wie ich erfuhr, las er viel und kannte
manches meiner Reisebücher. Zweifellos war er ein wenig altmodisch,
nicht nur in seinen Manieren, denn er war nach altem Brauch an den
Fußboden befestigt, wie ein archaischer N-Rechner. Wahrscheinlich
ließ ich mein Erstaunen erkennen, als ich seine eisernen Füße sah,
denn er sagte lachend: »Wissen Sie, ich bin meiner Arbeit, meinen
Patienten so ergeben, daß ich nicht die geringste Lust verspüre,
die Anstalt zu verlassen!«
Ich weiß, wie empfindlich
Psychiater reagieren, wenn es um ihr Fachgebiet geht, und wie sehr
ihre Haltung den Durchschnittsmenschen abstößt, der in geistigen
Verirrungen Exotik und Monstruosität sucht – deshalb unterbreitete
ich ihm mein Anliegen sehr behutsam. Der Doktor räusperte sich,
überlegte, erhöhte seine Anodenspannung und sagte: »Wenn Ihnen so
daran gelegen ist… aber ich glaube, Sie werden enttäuscht sein. Zur
Zeit gibt es keine tobsüchtigen Roboter, mit denen man Eindruck
machen kann, Herr Tichy, das sind alte Geschichten. Wir wenden eine
moderne Therapie an. Die Methoden des vergangenen Jahrhunderts –
Anheizen der Leitungen zur Erweichung der Hauptröhre, Verwendung
von Drosseln und anderen Folterwerkzeugen – gehören bereits der
Geschichte der Medizin an. Tja, wie soll man Ihnen das am besten
demonstrieren? Vielleicht gehen Sie einfach in den Park und machen
sich dort unmittelbar mit unseren Patienten bekannt, es sind
überaus subtile und kulturvolle Leute. Ich darf doch annehmen, daß
Ihnen… hm… daß Ihnen irgendwelche Aversionen oder unsinnige Ängste
angesichts der geringen Deviationen fremd sind…?«
Ich versicherte, daß es an dem
sei, worauf Vliperdius sich entschuldigte, daß er mich bei dem
Spaziergang leider nicht begleiten könne. Er zeigte mir den Weg und
bat mich, auf dem Rückwege nochmals bei ihm
vorbeizukommen.
Ich schritt die Treppe hinunter
und gelangte an breiten Veranden vorbei auf eine geschotterte
Auffahrt. Ringsum erstreckte sich der Park voller Blumenbeete und
seltener Palmen. Im Hintergrund schwammen in einem Teich ein paar
Schwäne, die Patienten fütterten sie, andere widmeten sich auf
bunten Bänken dem Schach spiel oder freundschaftlichen Gesprächen.
Ich schlenderte vor mich hin, als ich jemanden meinen Namen rufen
hörte; ich wandte mich um und stand Auge in Auge einem mir völlig
fremden Individuum gegenüber.
»Tichy! Sie sind es?« wiederholte
die Person und reichte mir die Hand. Ich drückte sie, während ich
mich vergebens zu erinnern versuchte, wer das wohl sein
könne.
»Ich sehe, daß Sie mich nicht
erkennen. Ich bin Prolaps… Ich habe im ›Kosmischen Almanach‹
gearbeitet…«
»Ach ja, Verzeihung!« stammelte
ich. Natürlich, es war Prolaps, die brave Linotype, die fast alle
meine Bücher gesetzt hatte. Ich hatte sie sehr geschätzt, sie war
nahezu untrüglich.
Prolaps faßte mich vertraulich
unterm Arm, und wir wandelten die schattige Allee entlang. Die
Licht- und Schattenflecken belebten das heitere Gesicht meines
Gefährten. Wir unterhielten uns eine gute Weile über die Neuheiten
der Verlage; er drückte sich wie immer präzise aus, mit dem ihm
eigenen Scharfsinn, er war in glänzender intellektueller
Verfassung, ich bemerkte an ihm nicht die Spur einer Anomalie. Als
wir jedoch eine kleine Laube erreicht hatten und uns auf eine
Steinbank setzten, fragte er mich, während er die Stimme zu einem
vertraulichen Flüstern dämpfte: »Aber was machen Sie eigentlich hier?… Hat man Sie auch
ausgetauscht…?«
»Wissen Sie, ich bin aus freien
Stücken hierhergekommen, weil…«
»Na klar, ich auch!« unterbrach
er mich. »Als mir die Sache passierte, habe ich mich gleich an die
Polizei gewandt, doch bald ist mir klargeworden, wie sinnlos das
ist. Die Bekannten rieten mir, zu Vliperdius zu gehen, und der hat
sich in meiner Sache völlig anders verhalten! Er stellt
Nachforschungen an, und ich bin sicher, daß er schon bald entdecken
wird…«
»Verzeihen Sie – was denn?«
fragte ich.
»Na was wohl? Meinen Leib
natürlich.«
»Aha… ach so…« Ich nickte ein
paarmal, während ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen.
Aber Prolaps merkte nichts.
»Ich erinnere mich noch genau an
den Tag, es war der 26. Juni«, sagte er plötzlich düster. »Als ich
mich zu Tisch setzte, um die Zeitung zu lesen, begann ich zu
klirren. Das weckte meine Aufmerksamkeit, denn sagen Sie selbst,
welcher Mensch klirrt, wenn er sich setzt! Ich betaste meine Beine
– sie sind eigenartig hart, die Hände genauso, ich klopfe mich ab,
und plötzlich wird mir klar, daß man mich verwandelt hat! Jemand
hatte sich eine unwürdige Fälschung erlaubt! Ich begann die ganze
Wohnung zu durchsuchen – keine Spur, sie müssen mich in der Nacht
heimlich weggetragen haben…«
»Was heißt das? Was
weggetragen?«
»Ich habe es doch gesagt! Meinen
Leib. Meinen natürlichen Leib, denn Sie sehen doch, daß das« – er klopfte sich auf die Brust, daß es
dröhnte –, »daß das hier künstlich ist…«
»Ah, natürlich. Ich hatte Sie
mißverstanden… klar…«
»Bei Ihnen vielleicht auch…?«
fragte er mit Hoffnung in der Stimme. Plötzlich packte er meine
Hand und wuchtete sie auf die steinerne Tischplatte, so daß ich
aufstöhnte. Enttäuscht ließ er sie los.
»Verzeihung, ich hatte den
Eindruck, daß sie glänzte«, murmelte er.
Inzwischen war mir klargeworden,
daß er sich für einen Menschen hielt, dem man den Körper gestohlen
hat, und wie das gewöhnlich bei Kranken ist, die sehr gern
Leidensgefährten um sich haben, hatte er gehofft, daß auch mir das
gleiche passiert sei.
Ich rieb die gequetschte Hand
unter dem Tisch und versuchte das Thema zu wechseln, aber Prolaps
begann nun voller Liebe und Rührung die Reize seiner früheren
Körperlichkeit zu schildern. Er ließ sich über seine blonde Mähne
aus, die er angeblich besessen hatte, über seine samtweichen
Wangen, über seinen Katarrh – ich wußte einfach nicht, wie ich ihn
loswerden konnte, denn ich kam mir immer dümmer vor. Aber Prolaps
befreite mich selbst aus meiner mißlichen Lage. Er sprang nämlich
auf, rief: »Da – da geht er, glaube ich…!«
und sauste querfeldein über den Rasen einer verschwommenen Gestalt
hinterdrein. Ich saß noch immer da, ganz in Gedanken versunken, als
sich jemand hinter meinem Rücken vernehmen ließ:
»Gestatten Sie – darf
ich…?«
Der Ankömmling setzte sich und
musterte mich starr, als wollte er mich hypnotisieren. Lange
betrachtete er mein Gesicht und meine Hände, aus seinem Blick
sprach wachsender Kummer. Schließlich schaute er mir tief in die
Augen, grenzenlos mitleidig und zugleich mit solcher Süße, daß ich
verwirrt war. Ich wußte nicht, was das Ganze bedeuten sollte. Das
Schweigen zwischen uns wurde immer unerträglicher; ich versuchte es
zu brechen, fand aber keine belanglose Bemerkung, um ein Gespräch
zu beginnen. Sein Blick sagte mir schon zuviel und zugleich
zuwenig.
»Ärmster…«, begann er leise, mit
unsagbarer Freundlichkeit in der Stimme, »wie sehr empfinde ich mit
dir…«
»Aber wissen Sie, eigentlich…«,
gab ich zurück, um mich mit Worten gegen das unerklärliche Mitleid
aufzulehnen, das er mir entgegenbrachte.
»Bitte, sag nichts, ich verstehe
alles. Mehr, als du glaubst. Ich weiß auch, daß du mich für einen
Verrückten hältst.«
»Aber wieso denn«, versuchte ich
zu leugnen, doch er unterbrach mich mit einer entschiedenen
Bewegung.
»In gewissem Sinne bin ich
wirklich ein Verrückter«, sagte er fast majestätisch. »Wie Galilei,
wie Newton, wie Giordano Bruno. Wären meine Ansichten nur
verstandesmäßiger Natur – gut. Aber wichtiger pflegen Gefühle zu
sein. Wie sehr bemitleide ich dich, du Opfer des Universums! Was
für ein Unglück, was für eine Falle ohne Ausweg – zu
leben…«
»Gewiß, das Leben bringt einem so
manchen Verdruß«, warf ich schnell ein, da ich endlich einen
Anhaltspunkt gefunden hatte, »dennoch, als ein gewissermaßen
natürliches Phänomen…«
»Das ist es!« Er nagelte mich bei
dem letzten Wort fest. »Natürlich! Gibt es etwas Kümmerlicheres als
die Natur? Die Gelehrten, die Philosophen – alle versuchen die
Natur zu erklären, und dabei muß man sie abschaffen, du
Unglückseliger!«
»Vollends…?« fragte ich, denn
dieser radikale Standpunkt faszinierte mich
unwillkürlich.
»Nur!« erwiderte er kategorisch.
»Bitte, schau dir das an.«
Ganz zart, wie eine Raupe, die es
zu betrachten galt, aber zugleich angewidert (den Ekel versuchte er
zu unterdrücken), hob er meine Hand, und während er sie so zwischen
uns hielt wie ein seltsames Exemplar, fuhr er leise, aber mit
Nachdruck fort: »Wie wäßrig das ist… wie wabblig, wie weich…
Eiweiß! Ach, dieses Eiweiß… Käse, der sich eine Zeitlang bewegt –
denkende Butter – das tragische Produkt eines
Molkereimißverständnisses, wandelnde Mittelmäßigkeit…«
»Bitte verzeihen Sie,
aber…«
Er schenkte meinen Worten nicht
die geringste Beachtung. Ich versteckte rasch die Hand unter dem
Tisch, die er losgelassen hatte, als sei er nicht länger imstande,
ihre Berührung zu ertragen. Statt dessen legte er mir nun seine
Hand auf den Kopf. Sie war unheimlich schwer.
»Wie kann man nur! Wie kann man
nur so etwas produzieren!« ereiferte er sich und verstärkte den
Druck, daß mir der Schädel zu schmerzen begann. Dennoch wagte ich
nicht zu protestieren.
»Lächerliche Beulchen, Löcher…
Blumenkohl!« Mit eiserner Gewalt stieß er an meine Nase und meine
Ohren. »Und das soll ein vernünftiges Wesen sein? Schande! Schande,
sage ich! Ist eine Natur denn viel wert, wenn sie nach vier
Milliarden Jahren so etwas
erzeugt?«
Er stieß meinen Kopf von sich, daß er
schwankte. Ich sah Ster
ne.
»Gebt mir eine Milliarde, und ihr
werdet sehen, was ich schaffe!«
»Gewiß, die Unvollkommenheit der
biologischen Evolution«, hob ich an, aber er ließ mich nicht zu
Worte kommen.
»Unvollkommenheit!?« platzte er
heraus. »Abfall! Schund! Pfuscharbeit! Wenn man etwas nicht richtig
machen kann, sollte man die Finger davon lassen!«
»Ich möchte ja nichts
rechtfertigen«, warf ich rasch ein, »aber die Natur hat aus dem
etwas gemacht, was sie zur Verfügung hatte. Im Urozean…«
»Schwamm, lauter Schmutz!«
vollendete er so laut, daß ich erbebte. »Etwa nicht? Ein Stern
explodierte, es entstanden Planeten, und aus den Abfällen, die zu
nichts taugen, aus klebrigen Resten entstand das Leben! Genug!
Genug von diesen prallen Sonnen, von diesen idiotischen
Milchstraßen, von diesem vergeistigten Schleim – genug
davon!«
»Aber die Atome«, begann ich,
doch er ließ mich nicht zu Ende sprechen. Ich sah bereits die
Pfleger, die sich auf dem Rasen näherten, das Geschrei meines
Gesprächspartners hatte sie herbeigelockt.
»Ich pfeife auf Atome!« donnerte
er los. Sie packten ihn von beiden Seiten unter den Armen. Er ließ
sich widerstandslos anheben, aber ohne mich aus den Augen zu lassen
– er ging nämlich rückwärts, wie ein Krebs –, brüllte er, daß es im
ganzen Park widerhallte: »Man muß eingreifen! Hörst du, du blasse
kolloidale Suppe? Statt zu entdecken, muß man zudecken, immer mehr
zudecken, damit nichts übrigbleibt, du an Knochen hängender
Kleister! So muß es sein. Nur durch Regreß zum Progreß! Ungültig
machen! Rückgängig machen! Aufheben! Die Natur – weg mit ihr! Weg
mit der Natur! Weeeg!«
Seine Schreie drangen aus immer
größerer Entfernung zu mir und verstummten schließlich. Nur noch
das Summen der Bienen umgab mich, der Duft der Blumen, die Stille
des wunderschönen Mittags. Ich mußte daran denken, daß Dr.
Vliperdius übertrieben hatte, als er betonte, es gäbe zur Zeit
keine aufsehenerregenden Roboter mehr. Offenbar zeitigten die neuen
therapeutischen Methoden nicht immer ihre Wirkung. Das Erlebnis
selbst jedoch, die Philippika auf die Natur, die ich da vernommen
hatte – all das schien mir diese paar blauen Flecke und die Beule
auf dem Kopf wert zu sein. Ich erfuhr später, daß jener Roboter,
ein ehemaliger Analysator der harmonischen Fourrierreihen, eine
eigene Daseins theorie geschaffen hatte, die sich auf die Anhäufung
von Entdeckungen durch die Zivilisation stützt, bis es zu einem
solchen Übermaß kommt, daß es keinen anderen Ausweg gibt, als die
Entdeckungen nacheinander wieder »zuzudecken«. Auf diese Weise gebe
es nicht nur für die Zivilisation keinen Platz, sondern auch für
den Kosmos, der sie hervorgebracht hat. Es folge eine totale
fortschrittliche Liquidierung, und der ganze Zyklus beginne von
neuem. Er selbst hielt sich für einen Propheten der zweiten, der
zudeckenden Phase. Man hatte ihn auf Betreiben seiner Familie in
Vliperdius’ Anstalt eingeschlossen, als er vom Auseinandermontieren
der Bekannten und Verwandten zur Demontage dritter Personen
überging.
Als ich die Laube verlassen
hatte, sah ich eine Zeitlang den Schwänen zu. Neben mir warf ein
Sonderling den Tieren kleine Drahtstücke zu. Ich sagte ihm, daß die
Schwäne das nicht fressen.
»Mir liegt nichts daran, daß sie
das fressen«, erwiderte er und fuhr in seiner Beschäftigung
fort.
»Aber sie könnten ersticken, es
wäre schade«, sagte ich.
»Sie werden nicht ersticken, denn
der Draht geht unter. Er ist schwerer als das Wasser«, erläuterte
er sachlich.
»Warum werfen Sie ihn dann
hinein?«
»Weil ich gern Schwäne
füttere.«
Das Thema war erschöpft. Als wir
den Teich hinter uns ließen, bahnte sich ein Gespräch an. Wie sich
herausstellte, hatte ich es mit einem berühmten Philosophen zu tun,
dem Schöpfer der Ontologie des Nichts, anders gesagt: der
Neantologie, dem Fortsetzer des Werkes des Georgias von Lentinoi –
mit Professor Urlipan persönlich. Der Professor erzählte mir des
langen und breiten von der neuesten Entwicklung seiner Theorie. Ihr
zufolge besteht nichts, nicht einmal er selbst. Das Nichts des
Daseins ist vollkommen immanent. Die Tatsache, daß dieses und jenes
scheinbar existiere, hat nicht die geringste Bedeutung, denn die
Überlegung verläuft entsprechend Ockhams Rasiermesser
folgendermaßen: Scheinbar existieren das Wachsein oder die Realität
und der Traum. Aber die Hypothese des Wachseins ist nicht unbedingt
notwendig. Es existiert also der Traum. Aber der Traum erfordert
einen Träumenden. Das Postulieren eines Träumenden ist wiederum
eine nicht notwendige Hypothese, denn manchmal pflegt es so zu
sein, daß einer im Traum einen anderen, einen zweiten Traum träumt.
So ist alles ein Traum, den der nächste Traum träumt, und so geht
es weiter bis ins Unendliche. Und weil nun – das ist der wichtigste
Punkt – jeder nächstfolgende Traum weniger real ist als der
vorhergehende (der Traum grenzt unmittelbar an die Realität, der im
Traum geträumte Traum nur mittelbar, das heißt über den Traum, der
dritte seinerseits über zwei Träume und so weiter), ist die Grenze
dieser Reihe Null. Ergo träumt niemand in der letzten Instanz Null,
ergo existiert nur nichts: das heißt: Es gibt nichts. Die
vollkommene Exaktheit des Beweises fand meine Bewunderung. Ich
begriff nur nicht, warum sich der Professor Urlipan ausgerechnet an
diesem Ort befand. Wie sich herausstellte, war er wahnsinnig
geworden – er selbst gestand mir das. Seine Verrücktheit bestand
darin, daß er aufgehört hatte, an seine Doktrin zu glauben, und
Augenblicke hatte, in denen es ihm schien, als ob doch etwas
existiere. Dr. Vliperdius sollte ihn von diesem Wahn
kurieren.
Dann besichtigte ich die
einzelnen Stationen. Ich lernte eine orthodoxe Rechenmaschine
kennen, die unter Altersschwäche litt und die nicht einmal mehr die
Zehn Gebote zusammenbekam. Ich besuchte die Station der
Elektrostheniker, wo fixe Ideen geheilt wurden – ein Patient zum
Beispiel schraubte sich unaufhörlich auseinander, mit allem, was
ihm gerade in die Hände fiel; stets mußte man ihm das Werkzeug
wegnehmen, das er versteckte.
Ein Elektronenhirn, Mitarbeiter
eines astronomischen Observatoriums, das dreißig Jahre lang Sterne
modelliert hatte, hielt sich für das Sigma des Wals und drohte
stets damit, es werde im nächsten Augenblick als eine Supernova
explodieren. Das ergab sich so aus seinen Berechnungen. Es gab auch
einen, der flehend darum bat, man möge ihn in eine elektrische
Mangel umarbeiten, denn er habe die vergeistigte Existenz satt. Bei
den Manikern ging es lusti ger zu, die Gruppe hatte sich neben den
eisernen Bettgestellen niedergelassen, spielte auf den Federböden
wie auf Harfen und sang im Chor: »Hei, kam ein Roboter geflogen,
gab ’nen leisen Knisterlaut, alle Schräubchen bebten ihm…« sowie
»Dacht ich mir, es sind die Katzen, die da an den Zäunen kratzen,
doch dabei sind’s Roboter, Roboter« und so weiter.
Der Assistent von Vliperdius, der
mich begleitete, erzählte mir, unlängst habe sich ein
Priester-Roboter in der Anstalt aufgehalten, der einen
»Kyberiker-Orden« gründen wollte. Unter der Schocktherapie habe
sich sein Befinden inzwischen so gebessert, daß er zu einer
früheren Beschäftigung, der Anfertigung von Bankbilanzen,
zurückkehren konnte. Als ich mit dem jungen Assistenten zurückging,
traf ich auf dem Flur einen Kranken, der einen vollgeladenen Wagen
hinter sich herzerrte. Er bot einen eigenartigen Anblick, denn er
war über und über mit Schnüren umwunden.
»Haben Sie zufällig einen Hammer
bei sich?« fragte er.
»Nein.«
»Schade. Ich habe
Kopfschmerzen.«
Er war ein Hypochonder-Roboter,
und er ließ sich auf ein Gespräch ein. Auf dem quietschenden Wagen
führte er einen kompletten Satz an Ersatzteilen mit sich. Binnen
zehn Minuten wußte ich bereits, daß er bei einem Gewitter immer
Kreuzschmerzen hatte, daß ihm beim Fernsehen alle Körperteile
erstarrten und daß in seinen Augen Funken sprühten, wenn jemand in
der Nähe eine Katze streichelte. Das Ganze war ziemlich langweilig,
ich ließ ihn also kurzerhand stehen und ging zum Direktor der
Anstalt. Der war jedoch beschäftigt, deshalb bat ich seine
Sekretärin, ihm meine Hochachtung auszurichten, und begab mich nach
Hause.
DOKTOR
DIAGORAS
Am XVIII. Internationalen Kongreß der
Kybernetiker konnte ich nicht teilnehmen, aber ich versuchte,
seinen Verlauf in den Zeitungen zu verfolgen. Das war nicht leicht,
zumal Reporter die besondere Gabe haben, wissenschaftliche Daten zu
verdrehen. Ihnen jedoch verdanke ich die Bekanntschaft mit Dr.
Diagoras, denn sein Auftritt war für sie eine Sensation in der
sogenannten SaureGurken-Zeit. Hätte ich damals nur
Fachzeitschriften zur Verfügung gehabt, wäre mir von der Existenz
dieses einzigartigen Menschen nichts zu Ohren gekommen, er wurde
nämlich nur auf der Teilnehmerliste erwähnt, aber sein Auftritt
wurde mit Schweigen übergangen. Aus den Zeitungen erfuhr ich, daß
sein Auftritt schändlich war, und nur dem diplomatischen Geschick
des Präsidiums sei es zu verdanken gewesen, daß es nicht zu einem
Skandal kam, denn dieser selbsternannte und niemandem bekannte
Reformator der Wissenschaft bedachte die hervorragendsten
Autoritäten, die im Saal anwesend waren, mit Beschimpfungen, und
als man ihm das Wort entzog, zerschlug er mit dem Spazierstock das
Mikrofon. Die Epitheta, mit denen er die Leuchten der Wissenschaft
bedachte, verbreitete die Presse fast in allen Einzelheiten, doch
worum es diesem Menschen wirklich ging, verschwieg man so
offensichtlich, daß mein Interesse wachgerufen wurde.
Nach Hause zurückgekehrt, begann
ich die Spuren des Dr. Diagoras zu suchen, aber weder in den
Jahrgängen der »Kybernetischen Probleme« noch in der großen Ausgabe
von »Who is who« fand ich seinen Namen. Ich rief also bei Professor
Corcoran an, der mir erklärte, er kenne die Adresse dieses
»Irrsinnigen« nicht, doch selbst wenn er sie wüßte, würde er sie
mir nicht geben, denn das fehlte noch, daß ich mich mit diesem
Diagoras ernsthaft beschäftigte. Daraufhin veröffentlichte ich in
der Presse mehrere Annoncen, die zu meiner Verwunderung bald Erfolg
hatten. Ich erhielt einen Brief, trocken, bündig und im Grunde
sogar unfreundlich, doch immerhin erklärte sich der geheimnisvolle
Doktor bereit, mich »auf seinem Besitztum« auf Kreta zu empfangen.
Wie ich der Landkarte entnahm, trennten diesen Besitz kaum sechzig
Meilen von dem Ort, an dem der legendäre Minotaurus gelebt
hatte.
Ein einsamer Kybernetiker mit
eigenem Grundbesitz auf Kreta, der seine Zeit mit rätselhaften
Arbeiten verbrachte! Noch am selben Nachmittag flog ich nach Athen.
Eine weitere Flugverbindung gab es nicht, aber ich kam auf einem
Dampfer unter, der am frühen Morgen an der Insel anlegte. Mit einem
Mietauto fuhr ich bis zu einer Weggabelung; die Straße war
schlecht, Hitze herrschte; die Hügel der Umgebung hatten die Farbe
ausgebrannten Kupfers, das Auto, meinen Koffer, den Anzug und das
Gesicht bedeckte eine Staubschicht.
Auf den letzten Kilometern
begegnete ich keiner Menschenseele, konnte also niemanden nach dem
weiteren Weg fragen. Diagoras hatte mir geschrieben, ich solle beim
dreißigsten Meilenstein halten, weil ich nicht weiter durchkommen
würde; ich ließ also das Auto im kümmerlichen Schatten der Pinien
stehen und ging daran, die unübersichtliche Umgebung zu erkunden.
Das Gelände war mit der typischen Mittelmeerflora bewachsen, die so
unangenehm ist, wenn man mit ihr in nähere Berührung kommt – es ist
völlig unmöglich, vom Pfad abzubiegen, denn im Nu hakt sich einem
das sonnenverbrannte stachelige Dickicht am Anzug fest. So irrte
ich nahezu drei Stunden lang auf den steinigen Pfaden umher, naß
von Schweiß. Zorn über die eigene Unvernunft packte mich; wozu
kümmerte ich mich auch um jenen Menschen und seine Geschichte? Da
ich gegen Mittag, also in der größten Hitze, aufgebrochen war,
hatte ich nichts gegessen, und nun nagte der Hunger an mir. Ich
kehrte also zum Auto zurück. Der schmale Schattenstreifen war
inzwischen weitergewandert, die Lederpolster brieten wie in einem
Ofen, im Wageninnern stank es nach Benzin und erhitztem Lack, so
daß einem übel werden konnte.
Plötzlich tauchte hinter einer
Biegung ein einsames Schaf auf, näherte sich mir, blökte mit einer
Stimme, die an eine menschliche erinnerte, und trippelte seitwärts
– als es aus meinem Blickfeld schwand, gewahrte ich einen schmalen
Steig, der sich über den Hang wand. Ich wartete auf einen Hirten,
aber niemand zeigte sich. Obwohl ich das Schaf nicht gerade als
einen verläßlichen Wegführer betrachtete, stieg ich erneut aus dem
Auto und begann mich durch das Dickicht zu kämpfen. Bald wurde der
Weg bequemer. Die Dämmerung brach bereits herein, als sich hinter
einem Zitronenhain die Umrisse eines stattlichen Gebäudes
abzeichneten. Die Büsche wichen Gras, das so trocken war, daß es
unter den Füßen raschelte wie verkohltes Papier. Das Haus,
ungefüge, dunkel, auffallend häßlich, mit den Resten eines
brüchigen Portals, war in großem Radius von einem hohen
Drahtgeflecht umgeben. Die Sonne ging unter, und ich konnte noch
immer nicht den Eingang finden; ich begann laut zu rufen, jedoch
ohne Erfolg – sämtliche Fenster waren mit Läden verschlossen. Ich
gab schon die Hoffnung auf, jemanden anzutreffen, als sich das Tor
öffnete. Ein Mensch zeigte sich.
Mit einer Geste deutete er an, in
welche Richtung ich zu gehen hätte; die Pforte war so von Dickicht
überwuchert, daß ich sie an dieser Stelle nie vermutet hätte. Das
Gesicht vor den stacheligen Ästen schützend, gelangte ich zu ihr;
sie war bereits aufgeschlossen. Der Mann, der sie geöffnet hatte,
sah wie ein Monteur oder wie ein Fleischermeister aus. Er war
dickbauchig, hatte einen kurzen Hals, auf dem kahlen Kopf saß ein
verschwitzter Fez, und statt eines Überrocks trug er über dem Hemd
mit den hochgekrempelten Ärmeln eine lange
Wachstuchschürze.
»Entschuldigen Sie – wohnt hier
Dr. Diagoras?« fragte ich.
Er hob sein ausdrucksloses
Gesicht, das ein wenig massig wirkte, unförmig, mit hängenden
Wangen. Es konnte das Gesicht eines Metzgers sein, aber die Augen
darin waren hell und scharf wie ein Messer. Er sagte kein Wort, sah
mich nur an, und ich begriff, daß es der Doktor persönlich
war.
»Entschuldigen Sie«, wiederholte ich, »Dr.
Diagoras, nicht wahr?«
Er reichte mir die Hand, klein
und weich wie die einer Frau, und drückte die meine mit
unerwarteter Kraft. Er bewegte die Kopfhaut, wobei ihm der Fez in
den Nacken rutschte, steckte beide Hände in die Schürzentaschen und
fragte mit einer Spur gleichgültiger Verächtlichkeit: »Was wünschen
Sie eigentlich von mir?«
»Nichts«, erwiderte ich sofort.
Ich war zu dieser Reise ohne Überlegung aufgebrochen, jedoch
vorbereitet war ich auf so manches; ich wollte diesen
überdurchschnittlichen Menschen kennenlernen, aber ich wollte
Beleidigungen nicht in Kauf nehmen. Ich legte mir schon im Kopf den
Plan für den Rückweg zurecht, während er mich lange betrachtete,
bis er schließlich sagte: »Na gut. Bitte folgen Sie mir…«
Es war schon Abend. Diagoras
führte mich zu dem düsteren Bau, trat in den dunklen Flur, und als
ich ihm dorthin gefolgt war, ertönte ein steinernes Echo wie in
einem Kirchenschiff. Der Hausherr fand den Weg mit größter
Leichtigkeit, er hielt es nicht für nötig, mich vor einer
Treppenstufe zu warnen, so daß ich stolperte und innerlich fluchend
nach oben stieg, wo durch eine offene Tür ein schwacher Lichtschein
fiel.
Wir betraten das Zimmer; es hatte
nur ein Fenster, das obendrein verhangen war. Die Form des Raums,
vor allem das ungewöhnlich hohe Bogengewölbe, erweckte eher den
Eindruck eines Turmes als eines Wohnhauses. Er war vollgestellt mit
massigen schwarzen Möbeln, deren Politur ihren Glanz verloren
hatte. Es gab Stühle mit unbequemen Lehnen, die durch Schnitzereien
deformiert waren, an den Wänden hingen ovale Miniaturen, in der
Ecke stand eine Uhr, ein wahres Monstrum mit einem Zifferblatt aus
poliertem Kupfer und einem Pendel von der Größe eines hellenischen
Schildes.
In dem Zimmer war es ziemlich
dunkel – der Schein der Glühbirnen, die im Innern einer
komplizierten, von reflektierenden Schirmen verhüllten Lampe
versteckt waren, erhellte nur recht und schlecht den quadratischen
Tisch. Die düsteren Wände mit ihren schmutzig-rostbraunen
Beschlägen schluckten so sehr das Licht, daß die Ecken geradezu
schwarz waren. Diagoras stand am Tisch, die Hände in den Taschen
seiner Schürze; es schien, als warteten wir auf etwas. Ich stellte
gerade den Handkoffer auf den Fußboden, als die große Uhr zu
schlagen begann. Sie schlug mit reinem, starkem Ton die achte
Stunde, dann schnarrte etwas in ihr, und es ertönte eine
altersschwache, aber rüstige Stimme: »Diagoras, du Schuft! Wo
steckst du? Wie kannst du es wagen, so mit mir umzugehen? Mach dich
bemerkbar! Hörst du? Bei Gott! Diagoras… alles hat seine Grenzen!«
In diesen Worten zitterte Wut und Verzweiflung zugleich, aber nicht
das verwunderte mich am meisten. Ich erkannte diese Stimme – sie
gehörte Professor Corcoran.
»Wenn du dich nicht meldest…«,
tönte es drohend, doch plötzlich rasselte der Uhrmechanismus
erneut, und alles verstummte.
»Was denn…«, sagte ich, »haben
Sie in diese ehrwürdige Kiste ein Grammophon eingebaut? Ist Ihnen
Ihre Zeit für solche Spielsachen nicht zu schade?«
Ich sagte das wohlweislich, um
ihn zu treffen. Aber Diagoras schien das nicht zu hören, denn er
zog an einer Schnur, und wieder erfüllte die gleiche heisere Stimme
das Zimmer: »Diagoras, du wirst es bedauern… dessen kannst du
sicher sein! Alles, was dir zugestoßen ist, rechtfertigt nicht die
Mißachtung, die du mir widerfahren läßt! Denkst du, daß ich mich zu
Bitten erniedrigen werde…«
»Das hast du bereits getan«, warf
der Doktor beiläufig ein.
»Du lügst! Du bist ein Schurke,
dreifach ein Schurke, der es nicht wert ist, die Bezeichnung eines
Gelehrten zu tragen! Die Welt erfährt von deiner…«
Die Zahnrädchen drehten sich
einige Male, und wieder herrschte Stille.
»Ein Grammophon…?« fragte
Diagoras mit einer Ironie, die nur ihm verständlich war.
»Grammophon? Nein, mein Herr. In der Wanduhr ist der Professor
in persona oder vielmehr in spiritu suo, um es so zu sagen. Ich habe ihn
verewigt, aus einer Laune heraus – was ist daran so
schlimm?«
»Wie soll ich das begreifen…?«
stammelte ich. Der Dicke überlegte, ob ich einer Antwort würdig
sei.
»Ich habe«, sagte er schließlich,
»buchstäblich alle Züge seiner Persönlichkeit komponiert…
einmodelliert in ein bestimmtes System. Ich habe elektronisch seine
Seele miniaturisiert, und so ist ein getreues Porträt jener
bekannten Person entstanden… hier drinnen, in dieser
Uhr…«
»Sie behaupten, das sei nicht nur
seine festgehaltene Stimme?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Bitte, versuchen Sie es selbst. Man kann sich mit ihm in ein
Gespräch einlassen, obwohl er sich nicht gerade durch beste Laune
auszeichnet, was jedoch unter diesen Umständen ziemlich
verständlich ist… Wollen Sie mit ihm sprechen?« Er deutete auf die
Schnur der Wanduhr. »Bitte.«
»Nein«, erwiderte ich. Was war
das? Wahnsinn? Ein wunderlicher, makabrer Scherz? Rache?
»Aber der wahre Corcoran ist doch
in diesem Augenblick in seinem Labor in Europa…«, warf ich
ein.
»In der Tat. Das hier ist nur
sein geistiges Porträt. Aber ein durchaus getreues – das dem
Original in nichts nachsteht…«
»Warum haben Sie das
getan?«
»Ich brauche das. Ich mußte
einmal ein menschliches Hirn modellieren; sozusagen als
Vorbereitung auf ein anderes, schwierigeres Problem. Die Person
hatte hier keine Bedeutung; ich wählte eben Corcoran… was weiß ich,
warum… wahrscheinlich weil mir das gefiel. Er selbst hat so viele
denkende Kästen geschaffen – da dachte ich mir, es könnte ganz
belustigend sein, ihn selbst in einem solchen einzuschließen, vor
allem in einer Spieluhr.«
»Weiß er davon…?« warf ich rasch
ein, als er sich bereits zur Tür wandte.
»Gewiß«, erwiderte er
gleichgültig. »Ich habe ihm sogar ein Gespräch ermöglicht, und zwar
mit sich selbst – telefonisch, versteht sich. Aber das ist nicht so
wichtig; ich wollte mich vor Ihnen gar nicht brüsten; es war ein
Zufall, daß es gerade acht schlug, als Sie kamen…«
Mit ausgesprochen gemischten
Gefühlen folgte ich ihm durch den Flur, an dessen Wänden, von
Spinnweben und Finsternis bedeckt, irgendwelche Metallskelette
hervorragten, die an Gerippe prähistorischer Kriechtiere oder
vielmehr an deren Ausgrabungsreste erinnerten. Der Gang endete vor
einer Tür, hinter der es dunkel war. Ich hörte den Knacklaut beim
Drehen des Schalters. Wir standen auf einer steinernen
Wendeltreppe. Diagoras ging voran, sein flacher, entenähnlicher
Schatten huschte über die Steinplattenwand. Wir blieben vor einer
metallenen Tür stehen; er öffnete sie mit dem Schlüssel. Stickige,
erwärmte Luft schlug mir ins Gesicht, Licht flammte auf. Wir waren
nicht, wie ich angenommen hatte, im Labor – wenn dieser lange Raum
mit dem Durchgang in der Mitte an etwas erinnerte, so an die
Menagerie eines Wanderzirkus. Zu beiden Seiten standen Käfige. Ich
folgte Diagoras, der mit seinen auf dem Rücken gekreuzten
Schürzengurten und in dem verschwitzten Hemd wie ein Tierwärter
aussah.
Ein Drahtnetz schloß die Käfige
von unserer Seite ab. In den dunklen Boxen dahinter schimmerten
undeutliche Formen – irgendwelcher Maschinen? Pressen? Auf jeden
Fall waren es keine Lebewesen. Dennoch zog ich instinktiv die Luft
ein, als erwartete ich die charakteristische Ausdünstung wilder
Tiere. In der Luft schwebte jedoch nur der Geruch von Chemikalien,
erwärmtem Öl und Gummi.
Vor den weiteren Boxen war das
Netz so dicht, daß ich unwillkürlich an Vögel denken mußte, denn
welchen anderen Geschöpfen muß man den Weg so sehr verschließen? In
den folgenden Käfigen ersetzten Gitter das Drahtnetz, ähnlich wie
in einem zoologischen Garten, wo man von den Vögeln und den Affen
schließlich zu den Käfigen der Wölfe und der großen Raubtiere
gelangt.
Die letzte Abteilung war mit
doppeltem Gitter versehen, das äußere war vom inneren ungefähr
einen halben Meter entfernt. Sol che Gitter verwendet man bei
besonders bösartigen Tieren, um Unvorsichtigen eine zu nahe
Nachbarschaft mit der Bestie unmöglich zu machen. Diagoras blieb
stehen, näherte sein Gesicht dem Gitter und pochte mit dem
Schlüssel gegen die Stäbe. Ich warf einen Blick hinein. Irgend
etwas ruhte in der entfernten Ecke, aber das Dämmerlicht gestattete
es mir nicht, die Umrisse der dunklen Masse zu erkennen. Plötzlich
schnellte der unförmige Klumpen auf uns zu – ich kam nicht einmal
dazu, den Kopf zurückzuziehen. Das Gitter dröhnte, als habe ein
Hammer dagegengeschlagen. Ich sprang instinktiv zurück, doch
Diagoras rührte sich nicht einmal. Unmittelbar vor seinem ruhigen
Gesicht hing auf eine mir unbegreifliche Weise an dem Gitter ein
Gebilde; es reflektierte mit seinem ganzen Körper das Licht, das
sich wie Öl auf seiner Oberfläche verteilte. Es war gewissermaßen
die Kreuzung eines Insektenhinterteils mit einem Schädel; dieser
Schädel, unsäglich häßlich und zugleich menschlich, bar jeder
Mimik, weil er metallen war, schien mit seinem ganzen Selbst auf
Diagoras zu starren, und das so gierig, daß mir ein Schauer über
den Rücken lief. Das Gitter, an dem es hing, verwischte sich ein
wenig in den Konturen, ein Zeichen für die Kraft, mit der das
Gebilde gegen die Stäbe drückte. Diagoras, der sich ihrer
Haltbarkeit offenbar ganz sicher war, betrachtete dieses
eigenartige Wesen etwa so, wie ein Gärtner oder ein vernarrter
Züchter eine besonders gelungene Obstkreuzung begutachtet. Der
stählerne Klumpen glitt mit entsetzlichem Knirschen an dem Gitter
hinunter und erstarrte. Der Käfig wirkte wieder wie leer.
Diagoras ging wortlos weiter, und
ich folgte ihm, berauscht, obwohl ich allmählich zu begreifen
begann. Eigentlich lehnte ich mich gegen die Erklärung auf, die mir
die Phantasie anbot – sie war zu pervers. Der Doktor gab mir jedoch
keine Zeit zum Überlegen. Er blieb stehen.
»Nein«, sagte er leise und sanft,
»Sie irren sich, Tichy, ich baue sie nicht zum Vergnügen, und ich
lechze auch nicht nach ihrem Haß, ich kümmere mich nicht um die
Gefühle meiner Kinderchen… das waren einfach Versuchsetappen,
notwendige Etappen. Um eine Deutung komme ich wohl nicht herum,
aber ich beginne der Kürze wegen in der Mitte… Sie wissen, was
Konstrukteure von ihren kybernetischen Produkten
verlangen?«
Ohne mir eine Pause zum
Nachdenken zu lassen, antwortete er selber: »Gehorsam! Sie reden
nicht davon, und manche wissen es auch gar nicht, denn das ist eine
stillschweigend angenommene Hypothese. Ein fataler Fehler! Sie
bauen eine Maschine und geben ihr ein Programm ein, das sie
erfüllen muß, ganz gleich, ob es eine mathematische Aufgabe oder
eine Serie von Kontrollvorgängen ist, zum Beispiel in einer
automatischen Fabrik… Ein fataler Fehler, sage ich, denn um
bestimmter Ergebnisse willen verschließen sie ihren eigenen Werken
den Weg jeglicher Spontaneität… Begreifen Sie, Tichy, der Gehorsam
eines Hammers, einer Drehmaschine, einer Elektronenmaschine ist im
Grunde derselbe – aber uns ging es doch nicht darum! Die
Unterschiede, die hier erfolgen, sind nur quantitativ – die Schläge
des Hammers leiten sie unmittelbar, die Elektronenmaschine
programmieren sie nur und kennen ihren Weg nicht mehr so genau, auf
dem sie zur Lösung gelangt, wie sie den Weg eines primitiven
Werkzeugs kennen, aber die Kybernetiker versprachen doch das
Denken, das heißt die Autonomie und somit die relative
Unabhängigkeit der erbauten Systeme vom Menschen! Der
bestdressierte Hund kann seinem Herrn den Gehorsam verweigern, aber
niemand wird dann sagen, der Hund sei ›entzwei‹. Dagegen wird man
gerade mit diesem Begriff eine entgegen ihrem Programm wirkende,
also ungehorsame Maschine bezeichnen… Aber was heißt hier Hund! Das
Nervensystem des ersten besten Käfers, der nicht größer ist als ein
Stecknadelkopf, weist Spontaneität auf, sogar eine Amöbe hat ihre
Launen, ihre Unberechenbarkeiten! Ohne solche Unberechenbarkeit
gibt es keine Kybernetik. Das Verständnis dieses einfachen
Sachverhalts ist eigentlich alles. Der ganze Rest« – er umfaßte mit
einer Geste seiner kleinen Hand die schweigende Halle, die Reihen
der Gitterstäbe, hinter denen unbewegliche Finsternis herrschte –,
»der ganze Rest ist nur die Konsequenz…«
»Ich weiß nicht, inwieweit Sie
die Arbeiten Professor Corcorans kennen«, begann ich und brach ab:
mir war die »Spieluhr« eingefallen.
»Lassen Sie mich mit dem
zufrieden!« knurrte er und stieß mit einer eigenartigen Bewegung
beide Hände in die Schürzentaschen. »Corcoran, mein Herr, hat einen
gewöhnlichen Mißbrauch begangen. Er wollte philosophieren, das
heißt Gott sein, denn was ist Philosophie letztlich, wenn nicht der
Wille, alles in einem höheren Grade, als es die Wissenschaft
ermöglicht, zu verstehen. Die Philosophie will auf alle Fragen eine
Antwort geben, eben wie ein Gott. Corcoran hat sich bemüht, es zu
werden, die Kybernetik war für ihn lediglich ein Werkzeug, ein
Mittel zum Zweck. Ich will nur Mensch sein, Tichy. Nichts mehr.
Aber gerade deshalb bin ich weitergekommen als Corcoran, denn er
hatte sich in seinem Bestreben, auf das es ihm ankam, sogleich
beschränkt: Er modellierte in seinen Maschinen gewissermaßen die
menschliche Welt, er schuf eine geschickte Imitation, nichts
weiter. Ich könnte, wenn mir daran gelegen wäre, beliebige Welten
erzeugen, aber was habe ich von Plagiaten…? Und vielleicht werde
ich es dereinst tun, doch vorläufig habe ich andere Probleme. Haben
Sie von meinen Streitereien gehört? Sie brauchen nicht zu
antworten, ich weiß, daß es so ist. Diese idiotische Fama hat Sie
hierhergelockt. Das ist Unfug, Tichy. Mich hat einfach die
Blindheit dieser Menschen irritiert. Aber, meine Herren, habe ich
ihnen gesagt, wenn ich Ihnen eine Maschine vorstelle, die die
Wurzeln aus paarigen Zahlen zieht und aus unpaarigen nicht ziehen
will, so ist das kein Defekt, zum Teufel, sondern im Gegenteil eine
hervorragende Errungenschaft! Diese Maschine besitzt
Idiosynkrasien, Geschmack, sie weist bereits so etwas wie den
Beginn eines Selbstwillens auf, sie hat ihre eigene Meinung, den
Keim einer spontanen Verhaltensweise, und Sie sagen, daß man sie
umbauen müsse! Gewiß muß man das, aber so, daß ihre
Widerspenstigkeit noch vergrößert wird… Was verlangen Sie statt
dessen? Man kann nicht mit Menschen sprechen, die dem
Augenscheinlichen den Zutritt verwehren… Die Amerikaner bauen ein
Perzeptron, Tichy, sie glauben, daß dies der Weg zur Konstruktion
einer intelligenten Maschine ist. Das ist der Weg zur Konstruktion
eines elektrischen Sklaven, mein Herr. Ich habe auf die
Souveränität, auf die Selbständigkeit meiner Konstruktionen
gesetzt. Natürlich habe ich es nicht leicht – ich räume ein, ich
war zunächst überrascht, eine Zeitlang zweifelte ich sogar, ob ich
recht habe. Das war damals…«
Er krempelte den einen Hemdsärmel
höher: Oberhalb des Bizeps hatte er, umgeben von einer rosafarbenen
Verdickung, eine Narbe, groß wie eine Hand.
»Die ersten Symptome von
Spontaneität waren nicht besonders sympathisch. Sie gingen nicht
aus vernünftiger Tätigkeit hervor. Man kann nicht auf Anhieb eine
vernünftige Maschine bauen. Das ist so, als hätte man im antiken
Griechenland vom Bau der Quadrigen sogleich zu Düsenmaschinen
übergehen wollen. Man kann keine Evolutionsetappe überspringen –
selbst wenn das die von uns eingeleitete kybernetische Evolution
ist. Dieser erste Eleve hier«, er legte die Hand auf den verletzten
Arm, »hatte weniger ›Verstand‹ als ein x-beliebiger Käfer. Aber er
zeigte bereits Spontaneität – und was für welche!«
»Moment«, sagte ich. »Sie
erzählen seltsame Dinge. Sie haben doch schon eine vernünftige
Maschine gebaut, nicht wahr? Sie steckt in der Uhr.«
»Das eben nenne ich Plagieren«,
erwiderte er heftig. »Ein neuer Mythos ist entstanden, Tichy, der
Mythos, einen ›Homunkulus‹ zu bauen. Warum sollten wir eigentlich
Menschen aus Transistoren und Glas bauen? Können Sie mir das
erklären? Ist die Atomsäule ein synthetischer Stern? Die
Dynamomaschine – ein künstliches Gewitter? Warum soll eine
vernünftige Maschine ein ›synthetisches Hirn‹ sein, geschaffen nach
dem Vorbild des Menschen? Wozu? Um zu den drei Milliarden
Eiweißwesen noch eines hinzuzufügen, das aus Plasten und Kupfer
gebaut ist? Das mag gut sein als Zirkuskunststück, aber nicht als
ein Werk der Kybernetik…«
»Was wollen Sie dann eigentlich
bauen?«
Er lächelte unverhofft – sein
Gesicht ähnelte auf erstaunliche Weise dem Gesicht eines trotzigen
Kindes.
»Tichy… jetzt werden Sie mich
sicher für verrückt halten: Ich weiß nicht, was ich
will!«
»Ich begreife nicht…«
»Auf jeden Fall weiß ich, was ich
nicht will. Ich will nicht das menschliche Hirn wiederholen. Die
Natur hatte ihre Gründe, weshalb sie es so konstruierte.
Biologische Gründe, Gründe der Anpassung und so weiter. Sie
konstruierte im Ozean und in den Ästen, auf denen die Affenmenschen
herumkrochen, zwischen den Hauern, den Krallen und dem Blut,
zwischen dem Magen und der Vermehrung. Aber was geht mich das alles
an, mich als Konstrukteur? Nun ja, jetzt wissen Sie schon, mit wem
Sie es zu tun haben. Aber ich verachte ja gar nicht das menschliche
Hirn, was mir jener alte Esel, dieser Barness, unterstellt hat. Es
zu untersuchen ist äußerst wichtig, hat unermeßliche Bedeutung, und
wenn es jemand verlangt, kann ich sofort meine tiefste Hochachtung
vor diesem großartigen Gebilde der Natur beteuern!«
Der Professor verbeugte sich
wirklich.
»Geht daraus aber hervor, daß ich
es nachmachen muß? Sie alle, die Ärmsten, sind sicher, daß es so
sein muß! Stellen Sie sich bitte eine solche Gesellschaft von
Neandertalern vor: Sie haben ihre Höhle, sie brauchen nichts
anderes! Sie wollen nicht einmal versuchen, Häuser oder Kirchen
kennenzulernen, weder Amphitheater noch andere Gebäude, denn sie
haben eine Höhle und werden in alle Ewigkeiten die gleichen Höhlen
graben!«
»Nun gut… aber etwas müssen Sie
doch anstreben. In einer konkreten Richtung. Somit erwarten Sie
doch etwas. Was? Ein geniales Wesen zu konstruieren…?«
Diagoras sah mich an, mit
geneigtem Kopf, und in seinen kleinen Augen war plötzlich
bäuerlicher Spott.
»Als ob ich jene hörte«, sagte er
leise. »Was will er? Ein Genie bauen? Einen Superman? Du Esel, wenn
ich keine Augustäpfel pflanzen will, bedeutet das etwa, daß ich mit
Renetten vorliebnehmen muß? Gibt es nur kleine Äpfel und große
Äpfel, oder gibt es nicht die gewaltige Zahl der Obstsorten, wie?
Aus einer unvorstellbaren Anzahl möglicher
Systeme hat die Natur eben eins gebaut – sie verwirklichte es in
uns. Vielleicht deshalb, so wird man annehmen, weil es das
vollkommenste war? Aber seit wann drängt denn die Natur zu
irgendeiner platonischen Vollkommenheit? Sie hat gebaut, was sie
bauen konnte, und basta. Der Weg führt weder über den Bau von
N-Computern noch anderer Rechenmaschinen und auch nicht über die
Nachahmung des Gehirns. Von den NComputern kann man nur zu anderen,
noch schneller rechnenden mathematischen Kretins gelangen. Was die
Hirnplagiate betrifft, so kann man sie natürlich produzieren, aber
das ist nicht das wichtigste. Ich bitte Sie sehr, vergessen Sie
alles, was Sie von der Kybernetik gehört haben. Ich, meine
›Kybernoidea‹ haben damit nichts zu tun, sie haben nur den
gemeinsamen Anfang, aber das ist schon eine alte Geschichte. Um so
mehr als ich diese Etappe«, wieder wies er auf die totenstarr
daliegende Halle, »bereits hinter mir habe und diese Mißbildungen…
was weiß ich… aus Gleichgültigkeit oder, wenn Sie so wollen, aus
Sentiment halte…«
»Dann sind Sie äußerst
sentimental«, murmelte ich und mußte unwillkürlich auf seinen Arm
blicken, der vom Hemd verhüllt war.
»Möglich. Wenn Sie ein weiteres
Kapitel meiner Arbeit sehen wollen, dann folgen Sie mir
bitte…«
Nach einer Wanderung über die
steinerne Wendeltreppe gingen wir durchs Erdgeschoß in die
Kellerräume. Umgeben von dickem Beton, brannten unter niedrigen
Gewölben Lampen in Drahtkappen. Diagoras öffnete eine schwere
Stahltür. Wir befanden uns in einem quadratischen Raum ohne
Fenster. In der Mitte des zementierten Fußbodens, der wie zu einem
Kanalbrunnen abfiel, war eine runde gußeiserne Klappe zu sehen, die
mit einem Vorhängeschloß versperrt war. Über diesen Kanalverschluß
wunderte ich mich. Diagoras machte das Vorhängeschloß auf, packte
einen eisernen Griff und hob, nicht ohne Mühe, wobei sich sein
dicker Körper verkrampfte, den schweren Deckel hoch. Ich beugte
mich neben ihm vor und sah hinunter. Von unten war die Öffnung, mit
Stahl umgeben, durch eine Panzerglasplatte verschlossen. Durch
diese große Linse sah ich das Innere des geräumigen Bunkers. Auf
seinem Boden ruhte inmitten eines unbeschreiblichen Gewirrs von
verkohlten Metallkabeln ein mit weißlichem Mehl von Putz und
Glasscherben bedecktes unbewegliches schwarzes Riesenungeheuer, das
dem Rumpf eines gespaltenen Kraken ähnelte. Ich warf einen Blick
auf Diagoras’ Gesicht – er lächelte.
»Dieser Versuch hat mich viel
gekostet«, gestand er, während er seine beleibte Gestalt
aufrichtete. »Ich wollte in die kybernetische Evolution einen
Grundsatz einführen, den die biologische nicht kannte: einen
Organismus bauen, dem die Fähigkeit der Selbstkomplikation eigen
ist. Das heißt, wenn die Aufgaben, die er sich stellt (im Sinne
meiner Richtlinien wußte ich nicht, was es für welche sein werden),
seine Möglichkeiten überschreiten, kann er sich selbst
umkonstruieren… Ich habe hier unten achthundert elementare
elektronische Blöcke eingeschlossen, die sich miteinander
entsprechend den Regeln der Permutation verbinden konnten, wie es
sie gelüstete.«
»Und ist es Ihnen
geglückt?«
»Zu gut. Es ergeben sich hierbei
Schwierigkeiten mit den Pronomen, also sagen wir Er« – er deutete auf das bewegungslose Ungeheuer –,
»er hat beschlossen, sich zu befreien. Das ist überhaupt der erste
Impuls, müssen Sie wissen.« Er unterbrach sich, starrte blind vor
sich hin, als sei er selbst etwas erstaunt über die eigenen Worte.
»Den hier… begreife ich eigentlich nicht, aber ihre spontane
Aktivität beginnt ja immer so – sie wollen sich befreien, die von
mir auferlegten Beschränkungen sprengen. Ich kann Ihnen nicht
sagen, was sie dann tun würden, weil ich es ihnen nicht erlaubt
habe… vielleicht habe ich in meinen Befürchtungen auch ein wenig
übertrieben…«
Er vollendete nicht.
»Ich war vorsichtig, das habe ich
mir wenigstens eingebildet. Dieser Bunker hier… Der Baumeister, bei
dem ich ihn bestellt hatte, muß ganz schön gestaunt haben, aber ich
habe gut gezahlt, und da fragte er nicht. Anderthalb Meter
Eisenbeton – außerdem wurden die Wände mit Panzerstahl ausgelegt.
Nicht etwa mit genietetem – Nieten könnte man leicht abkneifen –,
sondern mit elektrisch geschweißtem! Das ist ein viertel Meter vom
besten Panzer, den ich bekommen konnte – er stammt von einem alten
Kriegsschiff. Sehen Sie sich alles genau an…«
Ich kniete am Rande der
Verschalung nieder, beugte mich vor und sah die Bunkerwand. Die
Eisenplatten waren von oben nach unten geborsten, verbogen wie
Bleche einer ungeheuren Konservendose, sie klafften auseinander und
zeigten zwischen ihren zerfetzten Rändern eine tiefe Ausbuchtung,
aus der das Eisengeflecht der Bewehrung, noch mit Betonbrocken
daran, herausragte.
»Das hat er gemacht…?« fragte ich
und dämpfte unwillkürlich die Stimme.
»Ja.«
»Wie?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn
zwar aus Stahl gebaut, aber ich habe absichtlich weichen, nicht
gehärteten genommen, außerdem war im Bunker kein Werkzeug, als ich
ihn einschloß… Ich kann nur Vermutungen anstellen… Ich weiß selbst
nicht, jedenfalls hatte ich die Decke besonders gut gesichert – mit
dreifachem Panzer, und das kostete mich ein Vermögen. Solche werden
nur für Bathyscaphe verwendet. Den schlägt nicht einmal ein
Panzergeschoß durch, deshalb denke ich, daß er sich gar nicht erst
lange damit befaßt hat.
Ich nehme an, daß er sich eine
Art Induktionsofen produziert hat, mit dem er sich den Kopf
härtete, vielleicht induzierte er auch Ströme in den Wandplatten
selbst – ich sage Ihnen ja, ich weiß es nicht. Wenn ich ihn
beobachtete, verhielt er sich durchaus ruhig: wirtschaftete dort
herum, stellte Verbindungen her, erkundete den Raum…«
»Konnten Sie sich mit ihm
irgendwie verständigen?«
»Aber nein. Seine Intelligenz,
was weiß ich, bewegt sich auf dem Niveau einer Eidechse. Zumindest
die Ausgangsintelligenz. Wozu er gelangte, das kann ich Ihnen nicht
sagen, denn es interessierte mich mehr, wie er zu zerstören ist,
als wie ich ihn nach diesem oder jenem fragen kann.«
»Was haben Sie
gemacht?«
»Es war nachts. Ich wachte auf
mit dem Gefühl, daß das ganze Haus einstürzt. Den Panzer hatte er
wohl heiß zerschnitten, aber den Beton mußte er schmieden. Als ich
hierherkam, saß er schon zur Hälfte im Durchbruch. In spätestens
einer halben Stunde wäre er bis zur Erde unter den Fundamenten
gelangt. und dann wäre er hindurchgegangen wie durch Butter. Ich
mußte rasch handeln.«
»Sie haben ihm die
Elektrizitätszufuhr abgeschaltet?«
»Sofort. Aber ohne
Wirkung.«
»Unmöglich!«
»Und dennoch. Ich war nicht
vorsichtig genug gewesen. Ich wußte, wo das Kabel verlief, das das
Haus versorgte, aber mir kam nicht in den Sinn, daß weiter unten
noch weitere Kabel sein konnten. Da war noch eins – mein Pech. Er
gelangte zu ihm und machte sich von meinen Ausschaltern
unabhängig…«
»Aber das setzt doch vernünftige
Tätigkeit voraus?«
»Nichts dergleichen: gewöhnlicher
Tropismus, aber während die Pflanze zum Licht strebt und das
Aufgußtierchen zu einer bestimmten Konzentration von
Wasserstoffionen, so suchte er Elektrizität. Die Stärke, die ihm
das von mir kontrollierte Kabel lieferte, genügte nicht, also
begann er sogleich nach zusätzlichen Quellen zu suchen.«
»Und was haben Sie
gemacht?«
»Zunächst wollte ich das
Elektrizitätswerk anrufen, wenigstens die Versorgungsstation, aber
auf diese Weise hätte ich meine Arbeiten verraten – womöglich hätte
das ihre Fortsetzung erschwert. Ich wandte flüssigen Sauerstoff an.
Zum Glück hatte ich welchen. Mein ganzer Vorrat ging
drauf.«
»Hat ihn die niedrige Temperatur
gelähmt?«
»Es entstand Überleitfähigkeit,
er war also im Grunde nicht gelähmt, sondern ohne koordinierte
Bewegungen. Er warf sich hin und her… na, ich kann Ihnen sagen, das
war ein Schauspiel! Ich mußte mich höllisch beeilen, denn ich wußte
nicht, ob er sich nicht auch einem solchen Bad anpaßt, deshalb ließ
ich mich erst gar nicht auf ein Ausgießen des Sauerstoffs ein,
sondern warf ihn mitsamt den Dewarbehältern hinein…«
»In Thermosflaschen?«
»Ja, das sind solche großen
Thermosflaschen.«
»Daher wohl das viele
Glas.«
»Eben. Er hat alles zertrümmert,
aber das war alles, was sich in seiner Reichweite befand. Ein
richtiger epileptischer Anfall… Schwer zu glauben, das Haus ist
alt, hat zwei Stockwerke, aber es zitterte. Ich spürte, wie der
Fußboden bebte.«
»Nun gut, und dann?«
»Ich mußte ihn irgendwie
unschädlich machen, bevor die Temperatur stieg. Hinuntergehen
konnte ich nicht, weil ich sofort gefrieren würde. Sprengmittel
konnte ich auch nicht benutzen – ich wollte doch schließlich nicht
mein Haus in die Luft sprengen, und er wütete, und dann zitterte er
nur… Da machte ich die Klappe auf und ließ einen kleinen Automaten
mit einer Karborundsägescheibe hinunter…«
»Ist er nicht
erfroren?«
»Achtmal fror er zu, ich zog ihn
dann heraus, er war an einer Leine befestigt – aber jedesmal fraß
er sich tiefer. Schließlich hat er ihn vernichtet.«
»Eine unheimliche Geschichte…«,
murmelte ich.
»Nein. Die kybernetische
Evolution. Nun, vielleicht bin ich wirklich für theatralische
Effekte und habe Ihnen deshalb das gezeigt. Kehren wir
um.«
Mit diesen Worten verließ
Diagoras den Raum mit der Panzerklappe.
»Eines begreife ich nicht«, sagte
ich. »Weshalb setzen Sie sich solchen Gefahren aus? Sie müssen
daran Geschmack finden, sonst…«
»Auch du, Brutus?« erwiderte er
und blieb auf der ersten Treppenstufe stehen. »Was hätte ich denn
Ihrer Meinung nach tun sollen?«
»Sie hätten einfach Elektrohirne
ohne Extremitäten, ohne Panzer, ohne Effektoren konstruieren
sollen… Die wären, abgesehen vom Denken, zu keiner Tätigkeit
imstande gewesen…«
»Das eben war mein Ziel. Ich war
nur nicht imstande, es zu verwirklichen. Eiweißketten können sich
selbst verbinden, Transistoren oder Kathodenröhren indes vermögen
das nicht. Ich mußte sie sozusagen mit ›Beinen‹ ausstatten. Das war
eine schlechte Lösung, weil sie primitiv ist. Nur deshalb, Tichy;
denn was die Gefahren anbelangt – es gibt andere.«
Er wandte sich um und ging die
Treppe hinauf. Wir befanden uns im ersten Stock, aber diesmal ging
Diagoras in die entgegengesetzte Richtung. Vor einer Tür, die mit
Kupferblech beschlagen war, blieb er stehen.
»Als ich von Corcoran sprach,
waren Sie sicherlich der Meinung, daß Neid meine Worte diktierte.
Das stimmt nicht. Corcoran wollte nicht wissen – er wollte nur
etwas schaffen, was er geplant hatte, und weil er das getan hat,
was er wollte und mit den Gedanken erfassen konnte, erfuhr er
nichts und bewies nichts außer dem, daß er ein geschickter
Elektroniker ist. Ich bin viel weniger selbstbewußt als Corcoran.
Ich sage: Ich weiß nicht, aber ich will wissen. Der Bau einer
Maschine, die dem Menschen gleicht, irgendeines mißgestalten
Konkurrenten um die Gnaden dieser Welt, wäre gewöhnliche
Imitation.«
»Aber jede Konstruktion muß so
sein, wie Sie sie schaffen«, protestierte ich. »Sie können ihre
genaue Wirkung nicht kennen, aber Sie müssen einen Ausgangsplan
haben.«
»Keineswegs. Ich habe Ihnen von
dieser ersten elementaren Regung meiner Kybernoiden erzählt,
Hindernisse, Hemmnisse, Be schränkungen anzugreifen. Glauben Sie
nicht, daß ich oder sonst jemand wissen wird, woher das kommt,
warum das so ist.«
»Ignoramus et ignorabimus…?«
fragte ich langsam.
»Ja. Ich werde Ihnen das
beweisen. Wir schreiben anderen Menschen nur deshalb ein
Seelenleben zu, weil wir es selbst besitzen. Je entfernter ein Tier
hinsichtlich seines Baus und seiner Funktion vom Menschen ist, um
so weniger gewiß sind alle unsere Vermutungen über sein
Seelenleben. Deshalb schreiben wir bestimmte Emotionen dem Affen,
dem Hund, dem Pferd zu, hingegen wissen wir über die ›Erlebnisse‹
einer Eidechse schon sehr wenig, und was die Insekten oder die
Infusorien betrifft, so werden Analogien machtlos. Deshalb werden
wir nicht erfahren, ob bei einer bestimmten Konfiguration von
Nervenreizen im Bauchhirn der Ameise eine von ihr empfundene
›Freude‹ oder ›Unruhe‹ wirklich dem entspricht und ob sie überhaupt
diese Art von Zuständen erleben kann. Was nun bezüglich der Tiere
eher trivial und wenig wesentlich ist – das Problem der Existenz
oder der Nichtexistenz ihres Seelenlebens –, wird in Anbetracht der
Kybernoiden zu einem Alpdruck. Sie nämlich
beginnen, kaum entstanden, zu kämpfen, sie wollen sich befreien,
aber warum das so ist, welcher subjektive Zustand diese heftigen
Bemühungen hervorruft – das werden wir nie wissen…«
»Wenn sie anfangen zu
sprechen…«
»Unsere Sprache entstand im
Gefolge der gesellschaftlichen Evolution, sie übermittelt
Informationen über analoge oder zumindest ähnliche Zustände, denn
wir ähneln einander. Da unsere Hirne sich sehr gleichen, vermuten
Sie, wenn ich lache, daß ich das gleiche empfinde wie Sie, wenn Sie
bei guter Laune sind. Aber von ihnen werden Sie das nicht sagen.
Angenehme Empfindungen? Gefühle? Angst? Was geschieht mit der
Bedeutung dieser Worte, wenn sie aus dem Innern eines blutgenährten
Menschenhirns in den Bereich toter elektrischer Wicklungen
gelangen? Und wenn es sogar diese Wicklungen nicht gibt, wenn die
konstruktive Ähnlich keit völlig verwischt sein wird – was dann?
Falls Sie es wissen wollen: Das Experiment ist bereits
durchgeführt…«
Er öffnete die Tür, vor der wir
solange gestanden hatten: Ein großer Raum mit weiß lackierten
Wänden, der von vier schattenlosen Lampen erleuchtet wurde. Es war
stickig und warm wie in einem Inkubator: In der Mitte erhob sich
aus Porzellankacheln ein ungefähr ein Meter breiter Metallzylinder,
zu dem von verschiedenen Seiten dünne Rohrleitungen führten. Er
erinnerte an einen Fermentationsbottich oder einen
Flüssigkeitsbehälter, hatte einen großen gewölbten Deckel, der von
einem Schraubenrad hermetisch angedrückt wurde. In seinen Wänden
waren kleinere Klappen zu sehen, die rund und dicht abgeschlossen
waren. In dem Raum war es warm und dunstig wie in einem Treibhaus.
Der Zylinder – das bemerkte ich jetzt – stand nicht auf dem
Fußboden, sondern auf einem Postament aus Korkplatten, zwischen
denen sich irgendwelche schwammartige Matten befanden.
Diagoras öffnete eine der
Seitenklappen und zeigte sie mir; ich beugte mich vor und warf
einen Blick hinein. Was ich sah, spottete jeglicher Beschreibung:
Hinter einer runden, dickwandigen Scheibe breitete sich eine
schlammige Konstruktion aus, dick gestengelt, dann wieder in
dünnste Spinnenbrücken und Gehänge verzweigt; das Ganze war völlig
reglos und hielt sich auf eine rätselhafte Weise in der Schwebe,
denn nach der Konsistenz dieses Breis oder dieser Schmiere zu
urteilen, hätte sie auf den Grund des Behälters abfließen müssen.
Ich verspürte durch die Scheibe einen leichten Druck auf dem
Gesicht wie von einer starren, lastenden Hitze und sogar – obwohl
das vielleicht nur Selbsttäuschung war – den sanften Hauch eines
süßlichen Geruchs mit dem Geschmack von Fäulnis. Das schlammige
Pilzgeflecht schimmerte, als ob irgendwo darin oder darüber Licht
brannte, und seine dünnsten Fäden glänzten silbrig. Ich bemerkte
plötzlich eine feine Bewegung; eine schmutziggraue Gabelung hob
sich, verflachte leicht und glitt, während sie tropfenförmig
angeschwollene Schößlinge aus sich herausschob, durch die Maschen
der anderen in meine Richtung; ich hatte den Eindruck, irgendwelche
glitschige, eklige Innereien vor mir zu haben, bewegt von einer
schwankenden Peristaltik, die sich der Scheibe näherten, so daß sie
sie berührten und, sich an dem Glas gegenüber meinem Gesicht
festhaltend, ein paar kriechende, sehr schwache Erschütterungen
vollführten, bis alles erstarb. Ich konnte mich jedoch des heftigen
Gefühls nicht erwehren, als starre mich dieses Gelee an. Es war ein
derart unangenehmes Gefühl und machte einen so hilflos, daß ich es
nicht einmal wagte, zurückzuweichen – als schämte ich mich. In
diesem Augenblick vergaß ich Diagoras, der mich von der Seite
ansah, vergaß ich alles, was ich bisher erfahren hatte; mit
wachsender Verblüffung und weit aufgerissenen Augen starrte ich
diesen pilzartigen schimmelnden Schlamm an, erfaßt von der
übermächtigen Gewißheit, daß ich nicht nur eine lebende Substanz
vor mir hatte, sondern geradezu ein Wesen; ich kann nicht sagen,
warum das so war.
Ich weiß auch nicht, wie lange
ich noch so dagestanden und geschaut hätte, wäre nicht Diagoras
gewesen, der mich sanft am Arm packte, die Klappe schloß und das
Schraubenschloß fest andrehte.
»Was war das…?« fragte ich mit
einem Gefühl, als habe er mich geweckt. Erst jetzt erfolgte die
Reaktion in Form von Übelkeit und Verwirrung, mit der ich auf den
beleibten Doktor, dann wieder auf jenen kupfernen, Wärme
ausstrahlenden Behälter blickte.
»Ein Fungoid«, erwiderte
Diagoras. »Der Traum aller Kybernetiker – eine sich selbst
organisierende Substanz. Ich mußte auf die traditionellen Baustoffe
verzichten… der hier erwies sich als besser. Das ist ein
Polymer…«
»Lebt das?«
»Was soll ich Ihnen antworten?
Auf jeden Fall gibt es da weder Eiweiß noch Zellen und auch keinen
Stoffwechsel. Ich bin dazu erst nach einer gewaltigen Anzahl von
Versuchen gelangt. Ich habe – ich sage das alles als knappes
Resümee – eine chemische Evolution in Gang gesetzt. Die Selektion,
die Auswahl einer solchen Substanz, die auf jeden Außenreiz durch
eine bestimmte innere Veränderung reagiert, und zwar durch eine
solche, die seine Wirkung nicht nur neutralisiert, sondern sich von
ihr befreit. Zunächst also Wärmestöße und magnetische Felder,
Bestrahlung. Aber das war erst die Einleitung. Ich gab ihm
nacheinander immer schwierigere Aufgaben; zum Beispiel verwandte
ich bestimmte Konfigurationen elektrischer Schläge, von denen er
sich nur dann befreien konnte, wenn er als Antwort einen
spezifischen Stromrhythmus produzierte… Auf diese Weise lehrte ich
ihn gewisse bedingte Reflexe. Aber auch das war eine Anfangsphase.
Sehr rasch begann er sich zu universalisieren; er löste immer
schwerere Aufgaben.«
»Ich begreife nicht, wie das
möglich sein kann, wenn er keine Sinne besitzt«, sagte
ich.
»Wenn Sie es wissen wollen – ich
begreife das selbst nicht genau. Ich kann Ihnen lediglich das
Prinzip darstellen. Wenn Sie auf einer kybernetischen ›Schildkröte‹
eine Rechenmaschine anbringen und sie auf einen großen Saal
loslassen, nachdem Sie sie mit einer Einrichtung ausgerüstet haben,
die die Qualität ihres Handelns kontrolliert, gewinnen Sie ein
System, das keine ›Sinne‹ hat und dennoch auf alle Änderungen der
Umgebung reagiert. Wenn an einer Stelle ein Magnetfeld vorhanden
ist, das negativ auf die Gesamtheit des Handelns der Maschine
wirkt, wird sie sich sofort entfernen und einen anderen, besseren
Platz suchen, wo diese Störungen nicht auftreten. Der Konstrukteur
muß nicht einmal alle möglichen Störungen voraussehen, es können
mechanische Erschütterungen und Wärme sein, starke Laute, das
Vorhandensein elektrischer Ladungen – einerlei was, die Maschine
nimmt nichts davon wahr, denn sie hat keine Sinne, sie spürt also
die Wärme nicht und sieht nicht das Licht, und dennoch reagiert sie
so, als sähe und fühlte sie. Nun, das ist ein elementares Modell.
Dieser Fungoid«, er legte die Hand auf den kupfernen Zylinder, auf
dessen Oberfläche sich seine Gestalt wie in einem grotesken
Zerrspiegel abzeichnete, »kann das und tausendmal mehr… Die
Konzeption war die folgende: ein flüssiger Kern, in dem sich
›konstruktive Elemente‹ befinden, und das ursprüngliche System
konnte daraus bauen, es schöpfte aus jenem Übermaß, wie es wollte,
bis dieses Pilzgeflecht entstanden ist, das Sie gesehen
haben…«
»Aber was ist das eigentlich?
Etwa ein… ein Hirn?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen,
wir besitzen dafür keine Worte. Nach unseren Begriffen ist das kein
Hirn, denn es gehört weder einem Lebewesen, noch wurde es
konstruiert, um bestimmte Aufgaben zu lösen. Dagegen können Sie
sicher sein, daß dieses Gebilde… denkt, wenn auch nicht so wie ein
Tier oder wie der Mensch.«
»Woher wollen Sie das
wissen?«
»Ach, das ist eine lange
Geschichte«, sagte er. »Bitte, wenn Sie gestatten…«
Er öffnete eine blechbeschlagene
und sehr dicke Tür, fast wie die eines Banktresors; von der anderen
Seite war sie mit Korkplatten und Platten aus derselben schwammigen
Masse versehen, auf der der kupferne Zylinder stand. In dem
nächsten, kleineren Zimmer brannte auch Licht, das Fenster war
dicht mit schwarzem Papier verhangen, und auf dem Fußboden stand
weitab von den Wänden der gleiche Bottich und leuchtete mit rotem
kupfernem Schimmer.
»Sie haben zwei…?« fragte ich
verblüfft. »Aber warum?«
»Das war die zweite Variante«,
erwiderte er und schloß die Tür. Mir fiel auf, mit welcher Sorgfalt
er das tat.
»Ich wußte nicht, welcher von
beiden sich besser aufführen würde, weil hier wesentliche
Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung im Spiel sind und so
weiter… Ich hatte übrigens noch mehr davon, aber die anderen
taugten nichts. Nur diese beiden haben alle Stadien der Auswahl
überstanden. Sie entwickelten sich sehr schön«, fuhr er fort,
während er die Hand auf die konvexe Klappe des zweiten Zylinders
legte, »aber ich wußte nicht, ob das irgend etwas zu bedeuten
hatte; sie gewannen eine erhebliche Unabhängigkeit von den
Veränderungen der Umgebung, sie vermochten – beide – rasch zu
erraten, was ich von ihnen verlangte, das heißt eine Reaktionsweise
zu entwickeln, die Nutzen brachte und sie somit von den schädlichen
Reizen unabhängig machte. Denn Sie werden doch zugeben, daß das
schon etwas ist«, versetzte es, während er sich mir mit
unerwarteter Heftigkeit zuwandte, »wenn ein geleeartiger Brei mit
elektrischen Impulsen eine Glei chung zu lösen vermag, die ihr
mittels anderer elektrischer Impulse geschickt wird…?«
»Gewiß«, erwiderte ich, »aber was
das Denken anbelangt…«
»Vielleicht ist das auch kein
Denken«, entgegnete er. »Es geht hier nicht um Bezeichnungen,
sondern um Tatsachen. Nach einer gewissen Zeit begannen der eine
als auch der andere eine wachsende – wie soll ich das definieren? –
eine wachsende Gleichgültigkeit für die von mir angewandten Reize
zu zeigen. Es sei denn, daß sie ihre Existenz bedrohten. Und
dennoch registrierten meine bewachenden Apparate in dieser Zeit
ihre äußerst rege Tätigkeit. Sie äußerte sich in der Form
deutlicher Serien von Entladungen, die ich registrierte…«
Er entnahm der Schublade eines
kleinen Tisches einen Streifen fotografischen Papiers mit einer
unregelmäßigen Sinuslinie.
»Die Serien solcher ›elektrischen
Angriffe‹ erfolgten in beiden Fungoiden scheinbar ohne jede äußere
Ursache. Ich begann die Sache immer systematischer zu untersuchen,
bis ich eine seltsame Erscheinung entdeckte: Dieser« – er deutete
mit der Hand auf die Tür – »erzeugte elektromagnetische Wellen, und
der andere empfing sie. Als ich das entdeckte, bemerkte ich
sogleich, daß ihre Tätigkeit abwechselnd erfolgte: der eine
›schwieg‹, während der andere ›sendete‹.«
»Was Sie nicht sagen…«
»Es ist die Wahrheit. Ich habe
beide Räume sofort abgeschirmt, haben Sie die Bleche an den Türen
bemerkt? Die Wände sind ebenfalls damit bedeckt und mit Lack
überzogen. Damit habe ich die Radioverbindung unmöglich gemacht.
Die Aktivität beider Fungoide verstärkte sich, nach einigen Stunden
war sie fast auf Null gesunken, aber am Tage darauf war sie schon
genauso wie vorher. Wissen Sie, was geschehen war? Sie waren auf
Ultraschallschwingungen übergegangen – sie übermittelten damit
Signale durch Mauern und Decken…«
»Ach, und deshalb dieser Kork!«
Ich hatte plötzlich begriffen.
»Eben. Ich konnte sie natürlich
einfach vernichten, aber was hätte ich davon gehabt? Ich stellte
beide Behälter auf eine lautschluckende Isolierung. Auf diese Weise
unterbrach ich zum zweitenmal ihre Verbindung. Da begannen sie zu
wachsen, bis sie die jetzigen Ausmaße erreichten. Das heißt, sie
hatten sich fast um das Vierfache vergrößert.«
»Weshalb?«
»Ich habe keine
Ahnung.«
Diagoras stand an dem kupfernen
Zylinder. Er sah mich nicht an. Während er sprach, legte er alle
Augenblicke seine Hand auf den gewölbten Deckel, als untersuche er
seine Temperatur.
»Die elektrische Aktivität kehrte
nach einigen Tagen zur Norm zurück, ganz so, als wäre es ihnen
wieder gelungen, Verbindung aufzunehmen. Ich eliminierte die Wärme
und die radioaktive Strahlung, benutzte alle möglichen Vorhänge,
Schirme, Schlucker, verwandte ferromagnetische Registriergeräte –
alles ohne Erfolg. Ich trug den einen hier sogar für eine Woche in
den Keller, dann in einen Schuppen, etwa vierzig Meter vom Haus
entfernt, aber ihre Aktivität in dieser ganzen Zeit änderte sich
nicht im geringsten, diese ›Fragen‹ und ›Antworten‹, die ich
registrierte und immer noch registriere«, er deutete auf den
Oszillographen unter dem verhängten Fenster, »gingen pausenlos
weiter, in ganzen Serien, Tag und Nacht. Und so ist es noch immer.
Sie arbeiten unaufhörlich. Ich versuchte sozusagen in den Bereich
dieser Signalisierung einzudringen, mich in ihren Verlauf
einzuschalten, durch von mir gefälschte ›Depeschen‹…«
»Haben Sie gefälscht? Also wissen
Sie, was sie bedeuten?«
»Niemals! Aber Sie können zum
Beispiel auf ein Tonband das aufnehmen, was ein Mensch in einer
Ihnen fremden Sprache sagt, und das einem anderen, der sich
ebenfalls dieser Sprache bedienen kann, vorspielen. Ich habe, sage
ich, dergleichen getan – vergebens. Sie schicken sich stets die
gleichen Impulse, diese verfluchten Signale, aber wie, über welchen
materiellen Kanal, das ist mir schleierhaft.«
»Vielleicht ist das trotz allem
eine unabhängige, spontane Tätigkeit«, bemerkte ich. »Bitte
verzeihen Sie, aber schließlich haben Sie keinen Beweis.«
»In gewissem Sinne doch!«
unterbrach er mich lebhaft. »Sehen Sie: Auf den Bändern ist auch
die Zeit registriert. Es besteht eine deutliche Korrelation. Wenn
der eine sendet, schweigt der andere, und umgekehrt. Zwar haben in der letzten Zeit die Verzögerungen
bedeutend zugenommen, aber die Wechselseitigkeit unterliegt keiner
Veränderung. Begreifen Sie, was ich geleistet habe? Pläne,
Absichten, ob gut oder böse, die Gedanken eines schweigenden
Menschen, der nicht sprechen will – all das können Sie erkennen,
seinem Gesichtsausdruck entnehmen, aus seinem Verhalten schließen.
Aber meine Schöpfungen haben ja kein Gesicht, keinen Körper – genau
das, was sie vorher gefordert hatten –, und jetzt stehe ich
machtlos da, ohne jede Chance, etwas zu verstehen. Soll ich sie
vernichten? Das wäre vielleicht eine Niederlage! Sie wollen keinen
Kontakt mit dem Menschen – oder ist er so unmöglich wie zwischen
einer Amöbe und einer Schildkröte? Ich weiß es nicht. Nichts weiß
ich!«
Er stand vor dem leuchtenden
Zylinder, die Hand auf seinem Deckel, und ich begriff, daß er gar
nicht mehr zu mir sprach, vielleicht hatte er meine Anwesenheit
sogar gänzlich vergessen. Aber auch ich lauschte gar nicht mehr
seinen letzten Worten, denn meine Aufmerksamkeit wurde von etwas
Unbegreiflichem abgelenkt. Während er immer hastiger redete, hob er
schon mehrmals die Rechte und legte sie auf die kupferne Fläche;
etwas an seiner Hand kam mir verdächtig vor. Die Bewegung war nicht
ganz natürlich. Die Finger, die sich dem Metall näherten, zitterten
den Bruchteil einer Sekunde, dieses Zittern war äußerst schnell,
dem üblichen nervösen Vibrieren gar nicht ähnlich; übrigens hatte
er, als er vorher gestikulierte, sichere Bewegungen gehabt,
entschiedene, ohne eine Spur dieses Zitterns. Ich sah mir seine
Hand aufmerksamer an und stammelte, erschüttert durch ein Gefühl
unbeschreiblicher Verblüffung und beseelt von der letzten Hoffnung,
daß ich mich dennoch täuschte: »Diagoras, was ist mit Ihrer Hand…?«
Er sah mich verdutzt an, weil ich seinen Gedankengang
unterbrach.
»Mit dieser!« Ich zeigte sie ihm.
Er näherte die Hand der blitzenden Oberfläche, sie erzitterte, mit
halbgeöffnetem Mund hob er sie an die Augen. Das Zittern der Finger
hörte sofort auf. Noch einmal blickte er auf die eigene Hand, dann
auf mich und näherte sich sehr vorsichtig, Millimeter um
Millimeter, dem Metall; als die Fingerkuppen es berührten, erfaßte
ein mikroskopischer Krampf seine Muskeln, sie erzitterten mit einem
kaum sichtbaren Beben, das sich allen Fingern mitteilte, und er
stand und schaute zu mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck.
Dann ballte er die Faust, stützte sie auf die Hüfte und näherte nur
den Ellenbogen der kupfernen Fläche, und die Haut des Unterarms
erbebte dort, wo er mit dem Zylinder in Berührung kam. Er wich
einen Schritt zurück, hob die Hände an die Augen und betrachtete
sie abwechselnd, bis er flüsterte: »Also bin ich…? Ich selbst… also
wurde durch mich – ich war das Versuchsobjekt…«
Mir schien, als wolle er in ein
krampfhaftes Lachen ausbrechen, aber plötzlich drückte er die Hände
in die Schürzentaschen, schritt schweigend durchs Zimmer und sagte
mit veränderter Stimme: »Ich weiß nicht, ob das… aber lassen wir
es. Es ist besser, Sie gehen jetzt. Ich habe Ihnen nichts weiter zu
zeigen, und übrigens…«
Er brach ab, trat ans Fenster,
riß mit einem Ruck das verhüllende schwarze Papier ab, öffnete weit
die Fensterläden und atmete tief ein, während er in die Dunkelheit
schaute.
»Warum gehen Sie nicht?« brummte
er, ohne sich umzuwenden. »So wird es am besten sein…«
Ich wollte ihn so nicht
verlassen. Die Szene, die mir später in der Erinnerung grotesk
vorkam, erfüllte mich damals angesichts des kupfernen Bottichs mit
den schlammigen Innereien, die seinen Körper in einen willenlosen
Sendboten unverständlicher Signale verwandelt hatten, mit Grauen
und zugleich mit Mitleid für diesen Menschen. Am liebsten würde ich
deshalb damit meinen Bericht beenden. Was nämlich dann folgte, war
zu sinnlos: Sein Aufbrau sen, als hätte ich mir eine aufdringliche
Grobheit erlaubt, sein wutzitterndes Gesicht, die Beschimpfungen,
sein rasendes Geschrei – all das, begleitet von dem fügsamen
Schweigen, mit dem ich ging, war ein Alpdruck voller Falschheit,
und ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob er mich wirklich aus
seinem düsteren Haus hinausgeworfen hat, ob er dies tat, weil er es
wollte, oder vielleicht…
Aber ich weiß nichts. Ich kann
mich irren. Vielleicht waren wir beide, er und ich, damals einer
Täuschung zum Opfer gefallen, vielleicht hatten wir uns gegenseitig
etwas suggeriert, solche Dinge kommen ja vor.
Wenn es aber so war, wie soll man
sich dann die Entdeckung erklären, die fast einen Monat nach meinem
Ausflug nach Kreta ganz zufällig gemacht wurde, als man im
Zusammenhang mit einer Entstörung elektrischer Kabel vergebens bei
Dr. Diagoras klopfte und beim Eindringen die Behausung verlassen
vorfand? Alle Apparate waren zerstört, außer zwei großen kupfernen
Bottichen, die zwar unangetastet, jedoch völlig leer
waren.
Ich allein weiß, was sie
enthalten hatten, und gerade deshalb wage ich keine Vermutungen im
Zusammenhang mit ihrem Inhalt und dem Verschwinden seines Schöpfers
anzustellen, den seitdem niemand mehr gesehen hat.
RETTEN
WIR DEN KOSMOS
(OFFENER BRIEF IJON
TICHYS)
Nach längerem Aufenthalt auf der Erde machte
ich mich auf, die beliebtesten Orte meiner früheren Expeditionen zu
besuchen – die kugelförmigen Haufen des Perseus, die Konstellation
des Kalbes und die große Sternenwolke am Kern der Milchstraße.
Überall fand ich Veränderungen vor, von denen es mir schwerfällt zu
schreiben, weil das keine Veränderungen zum Besseren sind. Man
spricht jetzt viel von der Verbreitung der kosmischen Touristik.
Zweifellos ist die Touristik eine ausgezeichnete Sache, aber alles
muß seine Grenzen haben.
Die Unordnung fängt gleich hinter
der Schwelle an. Der zwischen dem Mars und der Erde kreisende
Asteroidengürtel ist in einem beklagenswerten Zustand. Die
monumentalen Felsenbrüche, einst in ewige Nacht getaucht, werden
mit Elektrizität erhellt, und obendrein ist jeder Abhang mit emsig
eingeritzten Initialen und Monogrammen übersät.
Der besonders bei flirtenden
Pärchen beliebte Eros zittert förmlich von den Schlägen, mit denen
hausbackene Kalligraphen ihre Erinnerungsinschriften in seine Rinde
hämmern. Clevere Schlauköpfe verleihen zu diesem Zweck an Ort und
Stelle Hämmer, Meißel und sogar pneumatische Bohrer, so daß man
heute nicht einmal in der wildesten Einöde jungfräuliche Felsen
findet.
Überall sieht man aufdringliche
Inschriften wie: »Ich liebe Dich mehr als mein Leben, laß uns auf
diesem Meteoriten danach streben«, »Das sind eines Asteoriden
Reste, darunter unserer Liebe Feste« und ähnliche Ergüsse, verziert
mit pfeildurchbohrten Herzen – all das in schlechtestem Geschmack.
Auf der Ceres, an der – ich weiß nicht aus welchem Grunde –
vielköpfige Familien besonderen Gefallen gefunden haben, grassiert
eine wahre Foto-Plage. Dort streunen viele Fotografen herum, die
nicht nur Skaphander zum Posieren ausleihen, sondern auch die
Bergwände mit einer besonderen Emulsion bestreichen und für ein
geringes Entgelt darauf ganze Ausflüglerscharen verewigen; die auf
diese Weise hergestellten Bilder überziehen sie der Festigkeit
halber mit Glasur. Die entsprechend posierten Familien – Vater,
Mutter, Großeltern, Kinder – lächeln von den Felsenhängen herab,
was, wie ich in einem Prospekt las, eine »gemütliche
Familienatmosphäre« erzeugen soll. Was die Juno betrifft, so gibt
es diesen einst so schönen kleinen Planeten fast gar nicht mehr,
jeder, dem es gefällt, spaltet von ihm Felsen ab und wirft sie ins
Vakuum. Man hat weder die Eisennickelmeteoriten geschont, die für
Erinnerungsringe und Klammern draufgingen, noch die Kometen. Selten
erscheint jetzt einer mit ganzem Schweif.
Ich dachte, ich würde vor dem
Gedränge der Kosmosbusse und vor diesen Familienbildern auf Felsen
mitsamt den graphomanischen Versen fliehen können, wenn ich aus dem
Sonnensystem hinausgelangte, aber weit gefehlt!
Professor Bruckee vom
Observatorium klagte jüngst über den schwächer werdenden Schein
beider Gestirne des Zentaurus. Wie soll er auch nicht schwächer
werden, da doch die ganze Gegend mit Müll angefüllt ist! Um den
schweren Planeten des Sirius, der Attraktion dieses Systems, hat
sich ein Ring gebildet, der an die Ringe des Saturns erinnert, nur
ist er aus Bier- und Brauseflaschen entstanden. Der Kosmonaut, der
diese Tour fliegt, muß heute nicht nur Meteorenwolken ausweichen,
sondern auch Konservenbüchsen, Eierschalen und alten Zeitungen. Es
gibt dort Stellen, wo man nicht einmal mehr die Sterne sehen kann.
Die Astrophysiker zerbrechen sich seit Jahren den Kopf über die
Ursachen, die den beträchtlichen Unterschied der kosmischen
Staubmengen in den verschiedenen Milchstraßen hervorrufen. Ich
denke mir, daß die Sache ganz einfach zu erklären ist – je höher
die Zivilisation in der Milchstraße, desto mehr Schmutz gibt es
dort, desto mehr Staub, desto mehr Unrat.
Das Ganze ist nicht so sehr ein
Problem für die Astrophysiker als vielmehr für die Feger. Wie man
sieht, wußte man sich auch in anderen Nebelflecken nicht zu helfen,
aber das ist fürwahr ein geringer Anlaß zur Genugtuung. Ein
verwerfliches Spiel ist auch das Spucken in den Weltraum; wie jede
Flüssigkeit gefriert nämlich bei niedriger Temperatur auch der
Speichel, und ein Zusammenstoß mit solchen Eisbröckchen kann leicht
zu einer Katastrophe führen. Es ist peinlich, davon zu reden, aber
die Personen, die gewöhnlich während der Reise erkranken, scheinen
den Kosmos für eine Art Spucknapf zu halten, als wüßten sie nicht,
daß die Spuren ihres Gebrechens dann Millionen Jahre in
Umlaufbahnen kreisen und bei den Touristen unangenehme
Assoziationen und verständlichen Unwillen erwecken.
Ein besonderes Problem ist der
Alkoholismus.
Hinter dem Sirius begann ich die
im Vakuum angebrachten riesigen Aufschriften zu zählen, die den
»Marsjanischen Bitteren«, den »Milchstraßenverschnitt«, den »Extra
Mondbrandy« oder den »Edelsputnik« anpriesen – ich ließ das Lesen
bald sein, denn ich verlor den Überblick. Wie ich von Piloten
hörte, waren einige Kosmosdrome gezwungen, vom Alkoholbrennstoff
auf Stickstoffsäure überzugehen, denn es kam vor, daß im
Bedarfsfall nichts vorhanden war, womit man starten konnte. Der
Patrouillendienst beteuert immer wieder, daß es im Weltraum sehr
schwer sei, einen Betrunkenen von weitem zu erkennen: Alle führen
ihre schwankenden Schritte und Bewegungen auf den Mangel an
Gravitation zurück. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die
Praktiken einiger Bedienungsstationen einfach zum Himmel schreien.
Ich selbst hatte einmal Gelegenheit, um das Nachfüllen der
Reserveflaschen mit Sauerstoff zu bitten, worauf ich, nachdem ich
mich um ein Parsek entfernt hatte, ein merkwürdiges Glucksen
vernahm und mich davon überzeugte, daß man mir reinen Kognak
eingegossen hatte! Der Leiter der Station behauptete steif und
fest, ich hätte geblinzelt, als ich mit ihm gesprochen hatte.
Vielleicht hatte ich dies wirklich getan, denn ich leide an einer
Augenlidentzündung, aber kann das einen solchen Sachverhalt
rechtfertigen?
Unerträglich ist auch das
Durcheinander, das auf den Hauptflugstrecken herrscht. Die
gewaltige Zahl der Unfälle ist nicht verwunderlich, wenn so viele
Leute systematisch gegen die Vorschriften verstoßen, die die
Geschwindigkeit begrenzen. Vor allem tun das die Frauen, denn durch
höheres Reisetempo verlangsamen sie den Zeitablauf und altern nicht
so schnell. Oft begegnet man Wegelagerern, zum Beispiel den alten
Kosmobussen, die die ganze Ekliptik mit Wolken von Auspuffgasen
verunreinigen.
Als ich auf Polyndronien das
Beschwerdebuch verlangte, wurde mir erklärt, ein Meteor habe es am
Vortage zerschmettert. Schlecht steht es auch um die Belieferung
mit Sauerstoff. Sechs Lichtjahre vor Belurien kann man ihn nirgends
mehr bekommen, und im Endeffekt müssen die Menschen, die dort als
Touristen hingekommen sind, sich in Kühlschränke legen und im
Zustand des umkehrbaren Todes warten, bis der nächste Lufttransport
ankommt, denn lebend hätten sie nichts zu atmen. Als ich dort
eintraf, gab es auf dem Kosmodrom nicht eine Menschenseele, alle
hibernisierten in Kühlaggregaten, aber im Büfett erblickte ich eine
vollständige Sammlung von Getränken – von Ananas in Kognak bis zu
Pilsener Bier.
Die sanitären Bedingungen, vor
allem auf den Planeten, die zum Großen Reservat gehören, schreien
zum Himmel. In der »Stimme Mersituriens« las ich einen Artikel, in
dem das Abschlachten jener großartigen Tiere gefordert wird, wie es
die schluckenden Lauerer sind. Diese Raubtiere besitzen auf der
Oberlippe eine Reihe leuchtender Warzen, die verschiedene Muster
bilden. In der Tat erscheint in den letzten Jahren immer häufiger
eine Variante, bei der die Warzen zwei Nullen bilden. Diese Lauerer
wählen gewöhnlich die Nähe von Campinglagern, wo sie nachts im
Dunkeln mit breit aufgerissenen Rachen auf Personen warten, die im
Begriff sind, ein stilles Örtchen aufzusuchen. Begreift der
Verfasser des Artikels nicht, daß diese Tiere völlig unschuldig
sind und daß man statt ihrer diejenigen anklagen sollte, die für
den Mangel an entsprechenden sanitären Einrichtungen verantwortlich
sind?
Auf ebendiesem Mersiturien hat
der Mangel an kommunalen Bequemlichkeiten eine ganze Serie
genetischer Mutationen bei den Insekten hervorgerufen.
An Orten, die durch ihre
landschaftliche Schönheit bekannt sind, kann man bisweilen bequeme,
aus Weidenruten geflochtene Sessel sehen, die den ermüdeten
Fußgänger zur Rast einzuladen scheinen. Wenn sich jemand nun
zufrieden zwischen den lockenden Lehnen niederläßt, überfallen ihn
diese, und das angebliche Möbelstück erweist sich als eine Sammlung
Tausender fleckiger Ameisen (stuhlartige Quälameise, multipodium pseudostellatum Trylopii), die sich
entsprechend überein andergereiht haben und einen geflochtenen
Stuhl vortäuschen. Mir ist zu Ohren gekommen, daß andere Arten von
Gliederfüßlern (wimprige Ohnekrieche, unsauerer Naßreiber und
Stockinaug Brutälchen) unter anderem Kioske mit Sodawasser,
Hängematten und sogar Brausebäder mit Wasserhähnen und Handtüchern
vortäuschen, aber für die Richtigkeit dieser Behaup tungen kann ich
mich nicht verbürgen, denn ich habe nichts dergleichen gesehen, und
die myrmekologischen Autoritäten schweigen sich in dieser Sache
aus. Dagegen lohnt es sich, vor der ziemlich seltenen Variante des
teleskopartigen Schlangenbeiners (anencephalus pseudoopticus
tripedius Klaczkinesis) zu warnen. Dieses teleskopartige Wesen
postiert sich ebenfalls an Stellen mit schönen Aussichten, indem es
seine drei dünnen und langen Beine in der Form eines Dreifußes
aufstellt und mit dem erweiterten Tubus des Schwanzes in die
Landschaft zielt; mit dem Speichel indes, der seine Mundöffnung
ausfüllt, ahmt es eine Fernrohrlinse nach und verleitet auf diese
Weise zum Hineinschauen, was für den Unvorsichtigen überaus
unangenehm enden kann. Eine andere Schlange, jedoch auf dem
Planeten Gaurimachien, der Kipper Vorhalter (serpens vitiosus Reichenmantlii), lauert im
Gebüsch und hält dem unvorsichtigen Fußgänger den Schwanz hin,
damit er darüber stolpert und hinfällt, aber – erstens lebt diese
Schlange ausschließlich von Blonden, und zweitens täuscht sie
nichts und niemanden vor.
Der Kosmos ist kein Kindergarten
und die biologische Evolution keine Idylle. Man sollte Broschüren
herausgeben, ähnlich denen, wie ich sie auf Derdymon gesehen habe,
in denen die Botanikeramateure vor der Grausamen Wunderblume
(pliximiglaquia bombardans L.) gewarnt werden. Sie prangt in
prächtigen Blüten, man muß sich aber der Lust, sie zu pflücken,
enthalten, denn sie lebt in einer engen Symbiose mit der Steinigen
Zermalmerin, einem Baum, der Früchte von den Ausmaßen eines
Kürbisses trägt, die obendrein gehörnt sind. Es genügt, eine Blüte
zu pflücken, und schon prasselt auf den Kopf des unvorsichtigen
Pflanzensammlers ein Hagel steinharter Geschosse nieder. Weder die
Wunderblume noch die Steinige Zermalmerin tun dann dem Erschlagenen
etwas Böses an, sie begnügen sich mit den natürlichen Folgen seines
Todes, das heißt mit der Düngung des Bodens in ihrer
Nähe.
Die Wunder der Mimikri trifft man übrigens auf
allen Planeten des Reservats an. So irisieren zum Beispiel die
Savannen Beluriens von den buntesten Blumen, unter denen eine
tiefrote Rose von wunderbarer Schönheit und herrlichem Geruch
auffällt (rosa mendatrix Tichiana – wie Professor Pingle sie zu
benennen beliebte, denn ich habe sie als erster beschrieben). Die
angebliche Blume ist im Grunde ein Gewächs auf dem Schwanz des
Angelfängers, eines belurischen Raubtieres. Der ausgehungerte
Angelfänger versteckt sich im Dickicht, nachdem er seinen langen
Schwanz weit nach vorn ausgerollt hat, so daß nur die Blume aus dem
Gras hervorlugt. Nichtsahnend nähert sich dieser Blume ein Tourist,
um daran zu riechen, und schon springt ihn das Ungeheuer von hinten
an. Es hat Hauer wie ein Elefant. Daraus ist zu ersehen, wie
wundersam sich die kosmische Variante der Redewendung bewahrheitet,
daß es keine Rose ohne Dornen gibt!
Obgleich ich eigentlich etwas vom
Thema abschweife, kann ich mich nicht enthalten, noch ein weiteres
belurisches Wunder zu erwähnen, sozusagen eine entfernte Verwandte
der Kartoffel – die Vernünftige Bitternishafte (gentiana sapiens suicidalis Pruck). Ihre Knollen
sind süß und sehr schmackhaft, der Name bezieht sich auf gewisse
seelische Eigenschaften. Die Bitternishafte erzeugt bisweilen
infolge Mutation anstelle der gewöhnlichen mehligen Knollen –
kleine Hirne. Diese Variante, die Rasende Bitternishafte (gentiana mentecapta), beginnt in dem Maße, wie sie
wächst, Unruhe zu verspüren; sie rodet sich, geht in den Wald, gibt
sich einsamen Betrachtungen hin und gelangt gewöhnlich zu der
Schlußfolgerung, daß es sich nicht lohne zu leben. Also begeht sie
Selbstmord, nachdem sie die Bitterkeit ihrer Existenz begriffen
hat.
Für den Menschen ist die
Bitternishafte unschädlich, im Gegensatz zu einer anderen
belurischen Pflanze – dem Wüterich. Dank der natürlichen Anpassung
hat sich dieser den Milieubedingungen angeglichen, wie sie
unerträgliche Kinder erzeugen. Solche Kinder, die ununterbrochen
herumlaufen, alles schieben und stoßen, was ihnen vor die Beine
kommt, zerschlagen mit Vorliebe die Eier des hinterschaligen
Scharfreizes; der Wüterich erzeugt als Früchte nämlich Gebilde, die
diesen Eiern täuschend ähnlich sind. In dem Glauben, ein Ei vor
sich zu haben, läßt das Kind seinem Zerstörungstrieb freien Lauf,
stößt es mit den Füßen und zerschlägt es; dadurch gelangen die in
diesem Pseudoei eingeschlossenen Sporen ins Freie und dringen in
den Organismus des Kindes ein. Das angesteckte Kind entwickelt sich
zu einem scheinbar normalen Individuum, aber nach einer gewissen
Zeit kommt es zu einer unheil baren Bösartigkeit: Kartenspiel,
Trunksucht und Ausschweifung bilden die jeweiligen Etappen, auf die
der tödliche Abgang oder aber die große Karriere folgt. Ich bin so
manches Mal auf die Meinung gestoßen, daß der Wüterich ausgemerzt
werden sollte. Den Leuten kam es nicht in den Sinn, lieber die
Kinder so zu erziehen, daß sie auf fremden Planeten nicht das erste
beste mit Füßen stoßen.
Ich bin von Natur aus Optimist und bemühe mich
nach Kräften, meine gute Meinung von den Menschen zu erhalten, aber
das fällt einem fürwahr nicht immer leicht. Auf der Protestenese
lebt ein kleiner Vogel, die Entsprechung des irdischen Papageis,
doch er redet nicht, sondern er schreibt. Leider beschmiert er mit
Vorliebe Zäune, und zwar mit unanständigen Ausdrücken, die ihm die
Touristen von der Erde beibringen. Diesen Vogel treiben gewisse Leu
te absichtlich zur Raserei, indem sie ihm die orthographischen
Fehler vorhalten. Dann beginnt er vor Wut alles zu schlucken, was
er nur sieht. Man hält ihm Ingwer, Rosinen, Pfeffer sowie
Kurzschrei hin, ein Kraut, das bei Sonnenaufgang einen gedehnten
Schrei ausstößt (es ist ein Küchenkraut, das manchmal statt eines
Weckers benutzt wird). Wenn sich das Vögelchen überfressen hat und
umkommt, wird es am Spieß gebraten. Es heißt Reizbarer
Schreiberling (graphomanus spasmaticus
Essenbachii). Heute ist diese seltene Art von der Ausrottung
bedroht, denn jeder Tourist, der auf der Protestenese eintrifft,
wetzt sich schon die Zähne in Gedanken an den Leckerbissen, für den
die im Fieberwahn gebratenen Schreiberlinge gelten.
Gewisse Personen glaubten, daß es
durchaus in Ordnung sei, wenn wir Geschöpfe von anderen Planeten
aufessen; verhält sich die Sache dagegen umgekehrt, so erheben sie
ein Geschrei, rufen um Hilfe, verlangen Strafexpeditionen und so
weiter. Dabei sind alle Anklagen der kosmischen Fauna oder Flora
wegen Perversität und betrügerischer Neigungen ein
antropomorphisierender Unfug.
Wenn der Augentäuscher, dessen
Äußeres an einen morschen Stamm erinnert, sich in entsprechender
Pose auf die Hinterbeine stellt und einen Wegweiser an einem
Bergweg vortäuscht, indem er die Vorübergehenden auf Abwege lockt
und die Hinabgestürzten dann verschlingt, um sich zu stärken – wenn
er, sage ich, so handelt, dann nur, weil der Ordnungsdienst im
Reservat sich nicht um die Wegweiser kümmert, von denen die Farbe
abblättert, wodurch sie morsch werden und jenem Tier gleichen.
Jedes andere Wesen täte an seiner Stelle das gleiche.
Die berüchtigten Fata Morganen
Stredogentiens verdanken ihre Existenz ausschließlich den niedrigen
Neigungen der Menschen. Früher wuchsen auf diesem Planeten
zahlreiche Kälter, Wärmer gab es dagegen fast gar nicht. In der
letzten Zeit haben sich diese letzteren unerhört vermehrt. Über
ihren Büschen erzeugt die auf kunstvolle Weise erwärmte Luft, indem
sie sich wiegt, Spiegelungen von Nachtlokalen, die schon so manchen
Ankömmling von der Erde ins Verderben gestürzt haben. Es wird
erzählt, die
Wärmer seien an allem schuld. Aber warum ahmen die von ihnen
erzeugten Fata Morganen nicht Schulen, Büchereien oder
Weiterbildungsklubs nach? Warum zeigen sie immer nur Stellen, an
denen alkoholische Getränke ausgeschenkt werden? Zweifellos – die
Mutationen sind richtungslos – haben sie schon alle möglichen Dinge
vorgespielt, aber diejenigen, die den Passanten Klubs, Bibliotheken
oder Selbstbildungszirkel demonstrierten, kamen um vor Hunger – am
Leben blieb nur die Bar-Variante
thermomendax
spirituosus haludnogenes aus der
Familie der Anthropophagen). Die wunderbare Erscheinung dieser
vollkommenen Anpassung, die den Wärmern das rhythmische Ausstoßen
von Warmluft ermöglicht, in der die Spiegelung entsteht, stellt
eine deutliche Anklage unserer Mängel dar. Die Selektion der
Bar-Variante hat allein der Mensch hervorgerufen – durch seine
bedauernswerte Natur. Ein Brief an die Redaktion des
»Stredogentischen Echo« hat mich empört. Ein Leser dieser Zeitung
verlangte sowohl die Ausrottung der Wärmer als auch der reizvollen
Anklatsche, dieser herrlichen Bäume, die die größte Zierde eines
jeden Parks bilden. Wenn man ihre Rinde anschneidet, spritzt daraus
ein giftiger, blendender Saft hervor. Der Anklatsch ist der einzige
stredogentische Baum, der nicht von oben bis unten mit Aufschriften
und Monogrammen bekritzelt ist, und ausgerechnet auf ihn sollen wir
verzichten? Ein ähnliches Schicksal steht so wertvollen Exemplaren
der Fauna bevor wie dem weglosen Rächer, dem glucksenden Ertränker,
dem Lauerbeißer oder dem elektrischen Heuler. Um sich und seine
Nachkommenschaft vor dem nervenzerrüttenden Lärm zu retten, den die
ungezählten Radiogeräte der Touristen in die Waldesstille
hineingetragen haben, hat der Letztgenannte dank der Selektion eine
Abart herausgebildet, die besonders lärmende Sendungen, vor allem
die Jazzmusik, übertönt! Die elektrischen Organe des Heulers
strahlen Wellen in Form von Superheteredin aus. Diese
außergewöhnliche Schöpfung der Natur sollte also recht bald unter
Schutz gestellt werden.
Was die ekelhafte Stinke
betrifft, so muß ich gestehen, daß der Geruch, den sie ausstößt,
nicht seinesgleichen hat. Dr. Hopkins von der Universität Milwaukee
hat errechnet, daß besonders energische Exemplare bis zu
fünftausend Riecheinheiten pro Sekunde zu erzeugen vermögen. Aber
selbst ein kleines Kind weiß schon, daß sich die Stinke nur so
aufführt, wenn man sie fotografiert.
Der Anblick eines zielenden
Fotoapparats löst einen Reflex aus, der als der
Linsen-Schwanzreflex bezeichnet wird, mit dem die Natur dieses
unschuldige Tierchen vor der Neugier der Zuschauer schützen will.
Es stimmt zwar, daß die Stinke, die ein wenig kurzsichtig ist, auch
Gegenstände wie Tabakdosen, Feuerzeuge, Uhren, ja zuweilen selbst
Orden und Medaillen für Fotoapparate hält, aber das nur deshalb,
weil einige Touristen Mini-Geräte benutzen, und da kann man sich
eben leicht irren. Was nun die Beobachtung angeht, daß die Stinke
in den letzten Jahren ihren Bereich vervielfacht habe und bis zu
acht Megariecheinheiten pro Hektar produziere, so ist diese
Tatsache durch die massenhafte Verwendung von Teleobjektiven zu
erklären.
Ich möchte nicht den Eindruck
erwecken, als hielte ich sämtliche Tiere und Pflanzen im Kosmos für
unantastbar. Gewiß, die schnellkauende Fressalie, der schlaksige
Zerquetscher, der genießende Vielfraß, die Gesäßöffnerin, die
dunkelnde Leichenbeißerin oder der Allesfresser verdienen keine
besondere Sympathie, ebenso wie all das Unkraut aus der Familie der
Autarkischen, zu denen Gauleiterium
flagellans, Syphonophiles Pruritualis, das heißt der
scheinheilige Bäumer sowie der schreihälsige Hetzer, und die
koswürgende Wächterin (lingula stranguloides
Erdmenglerbeyeri) gehören. Aber wenn man sich die Sache gut
überlegt und sich um Objektivität bemüht, warum soll dann
eigentlich der Mensch Blumen pflücken und sie im Herbarium trocknen
können, während die Pflanze, die Ohren abreißt und sie einweicht,
gleich als etwas Naturwidriges gilt? Wenn der mäulige Echer
(echolalium impudicum Schwamps) sich auf
Aedonoxien über die Maßen vermehrt hat, dann tragen auch daran wir
Menschen die Schuld. Der Echer schöpft nämlich seine Lebensenergie
aus Klängen – früher diente ihm dazu der Donner, deshalb lauscht er
auch heute noch gern dem Gewittergrollen, aber in letzter Zeit hat
er sich auf Touristen umgestellt, von denen ein jeder es für seine
Pflicht hält, ihn mit einem Potpourri der unflätigsten Flüche zu
bedenken. Der Anblick jenes Geschöpfes, das unter einem Haufen von
Beschimpfungen geradezu aufblüht, belustigt sie, wie sie behaupten.
In der Tat wächst er, doch das dank der angeeigneten Energie der
Lautvibrationen und nicht infolge des abstoßenden Inhalts der
Worte, die angeregte Touristen ausstoßen.
Wozu führt das alles? Verschwunden von der
Oberfläche der Planeten sind bereits solche Gattungen wie der blaue
Schnepfer oder der hartnäckige Hinterschlager. Tausende andere
kommen um. Von den Wolken des Unrats werden die Flecken auf den
Sonnen größer. Ich entsinne mich noch der Zeiten, da der schönste
Lohn für ein Kind eine Sonntagsfahrt zum Mars war – heute dagegen
ißt ein launenhafter Junge sein Frühstück nicht, wenn der Vater für
ihn nicht eine Extraexplosion einer Supernova hervorruft! Wenn wir
für solche Launen die kosmische Energie vergeuden, die Meteoren und
Planeten verschmutzen, die Schatzkammer des Reservats verwüsten,
auf Schritt und Tritt hinter uns Schalen, Grieb se und Papier in
den galaktischen Räumen liegenlassen, ruinieren wir das Universum
und verwandeln es in einen einzigen großen Abfallbehälter. Es ist
höchste Zeit, daß wir zur Besinnung kommen und uns an die
verbindlichen Vorschriften halten. In der Überzeugung, daß jeder
Augenblick des Zögerns bedrohlich ist, schlage ich Alarm und rufe
zur Rettung des Kosmos auf.
1. Auflage
Verlag Volk und Welt, Berlin 1973
Berechtigte Ausgabe für den buchclub 65, Berlin
L. N. 302, 410/264/73
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