»Ich habe die Seele erfunden«, erklärte Decantor und sah mich mit seinem dunklen Auge an; das spöttische fixierte unterdessen irgendwelche grotesken, nur ihm zugänglichen Gesichte unter der Decke. Er sagte das so, als wollte er mir mitteilen, er habe einen neuen Radiergummi erfunden.
  »Sieh mal an, die Seele«, sagte ich beinahe herzlich, denn das Format seiner Unverschämtheit belustigte mich allmählich. »Die Seele also? Die haben Sie sich einfach ausgedacht, was? Interessant – ich habe schon früher davon gehört. Vielleicht von einem Bekannten von Ihnen?«
  Ich brach beleidigend ab, er aber maß mich mit seinem entsetzlich schielenden Blick und sagte leise: »Herr Tichy, treffen wir eine Abmachung. Sie lassen Ihre Ironie – sagen wir – für eine Viertelstunde. Dann können Sie spotten, soviel Sie wollen. Einverstanden?«
  »Einverstanden«, antwortete ich, wieder in meinen trockenen Ton verfallend. »Schießen Sie los.«
  Das war kein Wichtigtuer – diesen Eindruck gewann ich jetzt. Sein Ton war zu kategorisch. Wichtigtuer sind nicht so rücksichtslos. Das ist eher ein Verrückter, dachte ich.
  »Setzen Sie sich.«
  »Die Angelegenheit ist von elementarer Bedeutung«, sagte der Mann, der sich Professor Decantor nannte. »Seit Tausenden von Jahren glauben die Menschen an die Existenz der Seele. Philosophen, Dichter, Religionsstifter, die Priester und die Kirchen bringen alle möglichen Argumente für ihre Existenz vor. Die einen behaupten, sie sei eine vom Körper losgelöste immaterielle Substanz, die nach dem Tode des Menschen dessen Identität bewahre, andere wiederum meinen – und diese Thesen entstanden unter den Denkern des Ostens –, es handle sich um eine Entelechie ohne die Merkmale einer individuellen Persönlichkeit. Aber der Glaube, daß der Mensch mit der Agonie nicht vollends aufhört zu sein, daß etwas in ihm den Tod zu überdauern vermag, hielt sich Jahrhunderte hindurch unerschütterlich in den Köpfen. Wir Heutigen wis sen, daß es keine Seele gibt. Es gibt nur ein Netz von Nervenfasern, in dem sich gewisse, mit dem Leben zusammenhängende Prozesse vollziehen. Das, was der Träger eines solchen Netzes empfindet, sein waches Bewußtsein – das eben ist die Seele. So ist es – oder vielmehr, so war es, bevor ich kam. Oder noch genauer, bevor ich mir sagte: Es gibt keine Seele, das ist bewiesen, Andererseits ist das Bedürfnis nach der unsterblichen Seele vorhanden, das Verlangen ewigen Dauerns, der Hunger nach unendlicher persönlicher Ausdehnung in der Zeit – der Vergänglichkeit und dem Zerfall alles Seienden zum Trotz. Dieses Verlangen, das in der Menschheit brennt, solange sie existiert, ist nur allzu verständlich. Weshalb also sollte man diese tausendjährige Akkumulation von Träumen und Ängsten nicht befriedigen? Zunächst erwog ich die Möglichkeit, die Menschen körperlich unsterblich zu machen, verwarf jedoch diese Variante wieder, denn sie war im Grunde nur eine Verlängerung falscher und trügerischer Hoffnungen: Die Unsterblichen können ja auch durch Unfälle und Katastrophen umkommen. Überdies würden dadurch unzählige neue Probleme aufgeworfen, das einer Überbevölkerung etwa. Es gab aber auch noch andere Gründe, die mich schließlich bewogen, die Seele zu erfinden. Nur die Seele. Weshalb, sagte ich mir, sollte man sie nicht so bauen können, wie man ein Flugzeug baut? Flugzeuge gab es doch früher auch nicht, es gab nur den Traum vom Fliegen – und jetzt gibt es sie. Als meine Überlegungen so weit gediehen waren, hatte ich das Problem im Grunde gelöst. Der Rest war nur eine Frage des entsprechenden Wissens, der Mittel und ausreichender Geduld. Ich besaß das alles, und deshalb kann ich Ihnen heute sagen: Es gibt eine Seele, Herr Tichy. Jeder kann eine haben, eine unsterbliche Seele. Ich kann sie individuell für jedermann anfertigen, mit allen Garantien für Beständigkeit. Das Wort ›ewig‹ besagt eigentlich noch nichts. Meine Seele – die Seele meiner Konstruktion – vermag das Erlöschen der Sonne zu überdauern. Die Vereisung der Erde. Ich kann damit jeden Menschen ausstatten, allerdings muß er leben. Toten kann ich keine Seele anfertigen – das ist mir nicht möglich. Ganz anders die Lebenden! Die erhalten vom Professor Decantor eine unsterbliche Seele. Nicht als Geschenk natürlich. Sie ist das Produkt einer aufwendigen Technologie, eines komplizierten arbeitsintensiven Prozesses, deshalb kann so eine Seele nicht billig sein. Bei einer Massenproduktion könnten die Kosten gesenkt werden, aber vorläufig ist eine Seele wesentlich teurer als ein Flugzeug. Zieht man jedoch in Betracht, daß es sich um die Ewigkeit handelt, so kann man wohl sagen, daß der Preis verhältnismäßig niedrig ist. Ich bin also zu Ihnen gekommen, weil die Konstruktion der ersten Seele meine Mittel völlig erschöpft hat. Deshalb schlage ich Ihnen die Gründung einer Aktiengesellschaft mit der Bezeichnung UNSTERBLICHKEIT vor. Sie würden das Unternehmen finanzieren und dafür außer dem majorisierten Aktienpaket 45 Prozent der Reineinnahmen erhalten. Die Aktien hätten Nominalwert, aber im Aufsichtsrat würde ich mir vorbehalten…«
  »Verzeihung«, unterbrach ich ihn, »ich sehe, daß Sie mit einem detaillierten Plan des Unternehmens zu mir gekommen sind. Würden Sie mir nicht doch besser zuerst ein paar Einzelheiten Ihrer Erfindung nennen?«
  »Natürlich«, erwiderte er. »Aber solange wir keinen notariell beglaubigten Vertrag unterschrieben haben, Herr, Tichy, kann ich nur Informationen allgemeinen Charakters erteilen. Die Versuche haben mein ganzes Geld geschluckt, es reichte noch nicht einmal zur Deckung der Patentkosten…«
  »Gut. Ich begreife Ihre Vorsicht«, sagte ich, »trotzdem werden Sie verstehen, daß weder ich noch irgendein Finanzmann, der ich übrigens nicht bin – kurz gesagt, daß niemand Ihnen aufs Wort glauben wird.«
  »Natürlich nicht.« Er entnahm seiner Tasche ein in weißes Papier gewickeltes Päckchen, flach wie eine Zigarrenschachtel, so eine, die nur sechs Stück enthält.
  »Hier drinnen ist die Seele… einer bestimmten Person«, sagte er.
  »Darf man erfahren, wessen?«
  »Ja«, erwiderte er nach kurzem Zögern. »Die meiner Frau.«
  Ich betrachtete die verschnürte und versiegelte Schachtel ziemlich ungläubig, und dennoch, sein energisches, kategorisches Auftreten rief bei mir so etwas wie einen Schauer hervor.
  »Öffnen Sie das Päckchen nicht?« fragte ich, als ich sah, daß er keine Anstalten machte, das Siegel zu brechen.
  »Nein«, antwortete er. »Vorläufig nicht. Meine Idee, Herr Tichy, natürlich in größter Vereinfachung dargestellt, so daß die Wahrheit fast schon wieder entstellt wird, war folgende: Ich fragte mich, was unser Bewußtsein sei. Wenn Sie mich anschauen, in diesem Augenblick, von Ihrem bequemen Sessel aus, und den Geruch einer guten Zigarre spüren, die Sie mir anzubieten nicht für angezeigt hielten, wenn Sie meine Gestalt im Licht dieser exotischen Lampe sehen, wenn Sie schwanken, ob Sie mich für einen Betrüger, einen Verrückten oder einen ungewöhnlichen Menschen halten sollen, wenn schließlich Ihre Augen allen Glanz und allen Schatten der Umgebung einfangen und die Nerven und Muskeln ununterbrochen eilige Depeschen über ihren Zustand zum Gehirn senden – so bildet das alles eben Ihre Seele, um in der Sprache der Theologen zu sprechen. Sie und ich, wir würden eher sagen, daß das der aktive Zustand Ihres Geistes ist. Jawohl, ich gebe zu, daß ich den Ausdruck ›Seele‹ aus einem gewissen Trotz heraus gebrauche. Wichtiger ist, daß diese so schlichte Bezeichnung sich des allgemeinen Verständnisses erfreut oder, genauer gesagt, jeder Mensch zu wissen meint, worum es sich handelt, wenn er das Wort hört.
  Unser materialistischer Gesichtspunkt macht selbstverständlich nicht nur die Existenz einer unsterblichen, körperlosen Seele zur Fiktion, sondern zugleich auch einer solchen, die über den augenblicklichen Zustand Ihrer Person hinaus einen gewissen unveränderlichen, überzeitlichen und ewigen Inhalt darstellte. Eine solche Seele, da werden Sie mir zustimmen, hat es nie gegeben, und keiner von uns besitzt sie. Die Seele eines Jünglings und die Seele eines greisen Mannes, obwohl sie Züge der Identität aufweist, wenn von demselben Menschen die Rede ist, und weiter: die Seele aus der Zeit, als dieser Mann ein Kind war, und im Augenblick, da er, todkrank, vor der Agonie steht – das sind grundverschiedene Bewußtseinszustände. Sooft man jedoch von jemandes Seele spricht, meint man instinktiv den psychischen Zustand eines ausgereiften Menschen, der sich der besten Gesundheit erfreut – es ist also verständlich, daß ich diesen Zustand für mein Ziel gewählt habe. Meine synthetische Seele ist der ein für allemal fixierte Querschnitt der aktuellen Jetztzeit einer normalen Person, die sich im Vollbesitz ihrer Kraft befindet. Wie ich das mache? Ich gestalte einer ausgezeichnet hierfür geeigneten Substanz mit höchster, absoluter Genauigkeit, Atom für Atom, Regung für Regung, die Konfiguration des lebenden Hirns nach. Die Kopie ist verkleinert, im Maßstab eins zu fünfzehn. Deshalb ist die Schachtel, die Sie sehen, so klein. Mit einiger Mühe könnten die Ausmaße der Seele noch weiter reduziert werden, aber ich sehe dafür keinen vernünftigen Grund, hingegen würden sich die Produktionskosten maßlos erhöhen. So wird also in diesem Material die Seele verewigt; das ist kein Modell und kein erstarrtes, totes Netz von Nervenfasern… wie mir das anfangs passierte, als ich noch Experimente an Tieren machte. Hier lag die größte und eigentlich die einzige Schwierigkeit. Ging es doch darum, daß in dem Material Bewußtsein bewahrt bliebe, lebendes, empfindliches, zu freiem Denken, zu Träumen und Wachzuständen, zu den eigentümlichsten Phantasiespielen fähiges, ewig veränderliches, ewig auf den Fluß der Zeit reagierendes Bewußtsein. Gleichzeitig jedoch durfte das Material nicht altern, nicht reißen oder bröckeln. Es gab eine Zeit, Herr Tichy, da mir diese Aufgabe unlöslich erschien – genauso, wie sie Ihnen noch jetzt erscheint – und der einzige Trumpf in meiner Hand meine Hartnäckigkeit war. Denn ich bin hartnäckig, Herr Tichy. Deshalb hatte ich Erfolg…«
  »Moment«, sagte ich, da ich einen leichten Schwindel verspürte. »Also wie sagen Sie? Hier, in dieser Schachtel ist ein materieller Gegenstand, ja? Der das Bewußtsein eines lebenden Menschen enthält? Und auf welche Weise kann er sich mit der Außenwelt verständigen? Sie sehen? Hören und…« Ich brach ab, denn auf Decantors Gesicht zeigte sich ein schwer zu beschreibendes Lächeln. Er sah mich mit dem halb zugekniffenen grünen Auge an.
  »Herr Tichy«, sagte er, »Sie haben nichts begriffen… Welche Verständigung, was für ein Kontakt kann zwischen Partnern erfolgen, von denen einer der Ewigkeit teilhaftig ist? Die Menschheit wird spätestens in fünfzehn Milliarden Jahren aufhören zu existieren, wen sollte dann diese unsterbliche Seele hören, zu wem sprechen? Haben Sie denn nicht darauf geachtet, als ich sagte, daß sie ewig ist? Die Zeit, die bis zu dem Augenblick vergehen wird, da die Erde vereist, da die heute stärksten und jüngsten Sterne zerfallen, da die Gesetze, die den Kosmos regieren, sich bis zu dem Grade ändern werden, daß er schon etwas völlig anderes, für uns Unvorstellbares sein wird – diese Zeit bildet nicht den geringsten Bruchteil ihrer Existenz, denn sie wird ewig währen. Die Religionen sind durchaus vernünftig, wenn sie nichts über den Körper aussagen, denn wozu sollen in der Ewigkeit die Nase oder die Beine dienen? Wozu könnten sie nach Verschwinden der Erde und der Blumen, nach dem Verlöschen der Sonnen noch gut sein? Aber lassen wir diesen trivialen Aspekt des Problems. Sie sagten ›Verständigung mit der Welt‹. Wenn diese Seele nur einmal in hundert Jahren mit der Außenwelt Kontakt aufnähme, so müßte sie doch, nach Ablauf von einer Billion Jahrhunderten, um die Erinnerungen an diese Kontakte im Gedächtnis zu bewahren, die Ausmaße eines Kontinents annehmen… Und nach einer Trillion von Jahren wäre nicht einmal das Volumen der Erde groß genug – was aber ist eine Trillion in Anbetracht der Ewigkeit! Jedoch nicht dieses technische Hindernis hat mich davon abgehalten, sondern seine psychologische Konsequenz. Die denkende Persönlichkeit, das lebende menschliche Ich würde sich doch in diesem Ozean eines Gedächtnisses auflösen wie ein Tropfen Blut im Meer, und was wäre dann mit der garantierten Unsterblichkeit…?«
  »Wieso…«, stammelte ich. »Sie behaupten also, daß… Sie sagen… daß eine vollständige Trennung erfolgt…«
  »Natürlich. Hatte ich denn behauptet, daß in dieser Schachtel ein ganzer Mensch ist? Ich habe nur von der Seele gesprochen. Stellen Sie sich vor, daß Sie in dieser Sekunde aufhören, Nachrichten von außen zu empfangen, als ob Ihr Hirn vom Körper abgesondert wäre, aber im Vollbesitz seiner Lebenskräfte weiterbesteht. Sie wären natürlich blind und taub, in gewissem Sinne auch gelähmt, weil Sie nicht mehr den Körper zur Verfügung hätten, dennoch behielten Sie voll den inneren Blick, das heißt – die Klarheit des Verstandes, Ihren geistigen Höhenflug. Sie würden ungezwungen Ihren Gedanken nachhängen können, Ihre Phantasie entwickeln und formen, Hoffnung, Trauer und Freude erleben, die aus dem Wechsel flüchtiger Seelenzustände herrühren – alles das ist dieser Seele gegeben, die ich auf Ihren Schreibtisch lege…«
  »Das ist schrecklich…«, sagte ich. »Blind, taub, gelähmt… für Jahrhunderte.«
  »Für die Ewigkeit«, berichtigte er mich. »Ich habe schon soviel gesagt, Herr Tichy, daß ich auch das noch hinzufügen kann: Der Kern ist Kristall – eine bestimmte Art Kristall, die in der Natur nicht vorhanden ist, eine unabhängige Substanz, die keine chemischen oder physikalischen Verbindungen eingeht. In ihren unaufhörlich pulsierenden Molekülen ist die Seele enthalten, eine wache und fühlende Seele…«
  »Sie Ungeheuer…«, sagte ich leise und ruhig. »Sind Sie sich dessen bewußt, was Sie da getan haben? Aber, Moment mal«, ich beruhigte mich plötzlich, »das Bewußtsein eines Menschen kann doch nicht wiederholt werden. Wenn Ihre Frau lebt, geht, denkt, so befindet sich in diesem Kristall höchstens eine Kopie, die nicht sie ist…«
  »Nein«, erwiderte Decantor und schielte nach dem weißen Päckchen. »Ich muß hinzufügen, Herr Tichy, daß Sie völlig recht haben. Man kann nicht die Seele eines Menschen herstellen, der lebt. Das wäre unsinnig und paradox. Wer existiert, existiert natürlich nur einmal. Eine Fortsetzung kann man lediglich im Augenblick des Todes schaffen. Übrigens wird das lebende Gehirn, dessen Seele ich erzeuge, ohnehin vernichtet, während ich seine Konstruktion erforsche…«
  »Mann…«, flüsterte ich entsetzt, »Sie haben Ihre Frau getötet?«
  »Ich habe ihr das ewige Leben gegeben«, entgegnete er und richtete sich auf. »Das hat nichts mit der Sache zu tun, die wir besprechen. Wenn Sie so wollen, sind das Dinge, die meine Frau«, er legte die Hand auf das Päckchen, »und mich, die Gerichte und die Polizei angehen. Wir unterhalten uns über etwas völlig anderes.«
  Lange Zeit konnte ich kein Wort hervorbringen. Ich streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerkuppen das in dickes Papier eingewickelte Kästchen; es war schwer, als enthielte es Blei.
  »Also gut«, sagte ich. »Sprechen wir von etwas anderem. Nehmen wir einmal an, Sie bekämen von mir das Geld, das Sie verlangen. Sind Sie wirklich so wahnwitzig, zu glauben, daß sich auch nur ein einziger Mensch bereit findet, sich dafür totschlagen zu lassen, daß sein Bewußtsein in alle Ewigkeit unvorstellbare Qualen erleidet – beraubt selbst der Gnade des Selbstmordes?«
  »Was den Tod betrifft, so könnte es tatsächlich gewisse Schwierigkeiten geben«, räumte Decantor nach einer Weile ein. Ich bemerkte, daß sein dunkles Auge nicht hellbraun, sondern eher nußbraun zu nennen war. »Dennoch kann man schon zu Beginn mit solchen Menschen rechnen, wie unheilbar Kranken, Lebensmüden, gebrechlichen Greisen, die jedoch noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind…«
  »Der Tod ist nicht der schlimmste Ausweg angesichts der Unsterblichkeit, die Sie vorschlagen«, murmelte ich.
  Decantor lächelte zum zweitenmal.
  »Ich möchte etwas sagen, was Ihnen vielleicht amüsant vorkommen wird«, erwiderte er. Seine rechte Gesichtshälfte blieb ernst. »Ich selbst habe nie das Bedürfnis verspürt, eine Seele zu besitzen oder ewig zu existieren. Die Menschheit jedoch träumt seit Tausenden von Jahren diesen Traum. Ich habe lange Studien geschrieben, Herr Tichy. Alle Religionen lebten immer nur dadurch, daß sie ewiges Leben versprachen, daß sie die Hoffnung spendeten, man könne das Grab überdauern. Genau das biete ich, Herr Tichy. Ich biete das ewige Leben. Die Gewißheit der Exis tenz, wenn das letzte Stückchen Körper verfault und zu Staub zerfallen ist. Ist das wenig?«
  »Ja«, entgegnete ich. »Das ist wenig. Sie sagen ja selbst, daß das eine Unsterblichkeit ohne Leib, ohne seine Kraft, ohne seine Freuden und Empfindungen sein wird…«
  »Sie wiederholen sich«, unterbrach er mich. »Ich kann Ihnen die heiligen Schriften sämtlicher Religionen bringen, die Werke der Philosophen, die Lieder der Dichter, theologische Summen, Gebete und Legenden – ich habe darin nicht ein Wort über die Ewigkeit des Körpers gefunden. Den Leib behandeln sie alle mit Geringschätzung, sie verachten ihn sogar. Die Seele – ihr Dauern im Endlosen – war das Ziel und die Hoffnung. Die Seele als Gegensatz und als Gegenüberstellung zum Körper. Als Freiheit von physischen Leiden, von plötzlichen Gefahren, von Krankheiten, Altersgebrechen, als Freiheit vom Kampf um das alles, was dieser allmählich verfallende Ofen, genannt der Organismus, in seinem langsamen Glimmen und Verbrennen erfordert; niemand hat bisher die Unsterblichkeit des Körpers verkündet – solange die Welt existiert. Nur die Seele sollte befreit und gerettet werden. Ich, Decantor, habe sie errettet, für die Ewigkeit, bis in alle Ewigkeit. Ich habe Träume erfüllt – nicht meine. Die Träume der gesamten Menschheit…«
  »Ich verstehe«, unterbrach ich ihn. »Decantor, Sie haben in gewissem Sinne recht. Aber nur insofern, als Sie mit Ihrer Erfindung – heute mir, morgen vielleicht der ganzen Welt – vor Augen geführt haben, wie überflüssig die Seele ist. Sie haben sichtbar gemacht, daß diese Unsterblichkeit, von der die von Ihnen zitierten heiligen Bücher, Evangelien, Korane, babylonischen Epen, die Wedas und alten Überlieferungen reden – daß diese Unsterblichkeit dem Menschen nichts nützt. Mehr noch: Jeder Mensch wird im Angesicht der Ewigkeit, mit der Sie ihn beschenken wollen, das versichere ich Ihnen, dasselbe empfinden wie ich: höchste Abscheu und Angst. Der Gedanke, daß Ihr Versprechen mir zuteil werden könnte, ist für mich grauenvoll. Somit, Decantor, haben Sie nachgewiesen, daß die Menschheit sich seit Tausenden von Jahren belogen hat. Sie haben diese Lüge zerschlagen…«
  »Sie meinen also, daß niemand meine Seele haben will?« fragte dieser Mensch mit ruhiger, aber plötzlich lebloser Stimme.
  »Ich bin mir dessen sicher. Ich verbürge mich dafür… Wie können Sie daran zweifeln? Decantor! Würden Sie denn wollen? Sie sind doch auch ein Mensch!«
  »Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich habe nie das Bedürfnis nach Unsterblichkeit gehabt. Ich war jedoch der Meinung, daß das ein Ausnahmefall, daß es meine Verirrung sei, wenn die Menschheit einer anderen Meinung ist. Sie, die Menschheit, wollte ich beruhigen, nicht mich. Ich habe nach einem Problem gesucht, das meinen Kräften angemessen gewesen wäre, nach dem schwierigsten Problem überhaupt. Ich habe es gefunden und gelöst. In diesem Sinne war es meine persönliche Angelegenheit, aber nur in diesem Sinne; von der Sache her hat es mich ausschließlich als eine bestimmte Aufgabe interessiert, die es bei Anwendung der richtigen Technologie und der richtigen Mittel zu lösen galt. Ich habe das wörtlich genommen, was die größten Denker aller Zeiten geschrieben haben. Tichy – Sie müssen das doch gelesen haben… Diese Angst vor dem Aufhören, vor dem Ende, vor der Vernichtung des Bewußtseins – dann, wenn es am reichsten ist, wenn es die besten Früchte trägt – am Ende eines langen Lebens… Alle haben das gepredigt. Ihr Traum war es, Umgang mit der Ewigkeit zu pflegen. Ich habe diesen Umgang ermöglicht. Tichy, vielleicht würden Sie…? Vielleicht die hervorragendsten Individuen? Die genialsten?«
  Ich schüttelte den Kopf. »Sie können es versuchen. Aber ich glaube nicht, daß auch nur einer… Nein. Das ist unmöglich.«
  »Was denn«, sagte er, und zum erstenmal schwang in seiner Stimme ein lebendiges Gefühl mit, »Sie meinen, daß das… für niemand einen Wert besitzt…? Daß niemand diese Seele haben will? Wie ist das möglich!«
  »Es ist so…«, entgegnete ich.
  »Sagen Sie das nicht so vorschnell«, flehte er. »Tichy, noch ist alles in meiner Hand. Ich könnte sie anpassen, ändern… sie mit synthetischen Sinnen ausstatten… Dann würde Ihnen zwar nicht die Ewigkeit beschieden sein, aber wenn Ihnen die Sinne wichtiger sein sollten… die Ohren… die Augen…«
  »Und was würden diese Augen sehen?« fragte ich.
  Er schwieg.
  »Die Vereisung der Erde… den Zerfall der Milchstraße… das Verlöschen von Sternen in der schwarzen Unendlichkeit, ja?« zählte ich auf.
  Er schwieg.
  »Die Menschen verlangen nicht nach Unsterblichkeit«, fuhr ich nach einer Weile fort. »Sie wollen nur einfach nicht sterben. Sie wollen leben, Professor Decantor. Sie wollen die Erde unter den Füßen fühlen, sie wollen die Wolken über sich sehen, wollen andere Menschen lieben, mit ihnen sein und daran denken. Nichts weiter. Alles, was darüber hinaus gesagt worden ist, ist Lüge. Unbewußte Lüge. Ich zweifle, ob es viele gibt, die Sie auch nur so geduldig anhören wie ich. Ganz zu schweigen von Versuchswilligen…«
  Decantor stand ein paar Minuten reglos da und starrte auf das weiße Päckchen, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Plötzlich nahm er es an sich, nickte mir flüchtig zu und wandte sich zur Tür.
  »Decantor!« schrie ich. Er blieb an der Schwelle stehen. »Was wollen Sie damit machen?«
  »Nichts«, erwiderte er kalt.
  »Bitte… kehren Sie um. Einen Augenblick noch… So kann man das nicht lassen…«
  Meine Herren, ich weiß nicht, ob Decantor ein großer Gelehrter war, ein großer Schurke war er auf jeden Fall. Das Feilschen, das nun folgte, möchte ich nicht schildern. Ich mußte das tun, selbst wenn ich hinterher erkennen sollte, daß er mich betrogen hatte und alles, was er sagte, von Anfang bis Ende erlogen war; denn ich wußte, ließ ich ihn gehen, so würde auf dem Grunde meiner Seele… auf dem Grunde meiner körperlichen, blutigen Seele der Gedanke glimmen, daß irgendwo, in einem mit allerlei Plunder vollgestopften Schreibtisch, in einer Schublade voller Kleinkram, ein menschlicher Geist ruht, das lebende Bewußtsein dieser unglücklichen Frau, die er getötet hatte. Und als wäre das noch nicht genug, hatte er sie mit dem Schrecklichsten bedacht, was einem widerfahren kann, mit dem Schrecklichsten, sage ich, weil es nichts gibt, was einer Verurteilung zu einsamer Ewigkeit gleichkäme. Das Wort allein sagt uns natürlich wenig. Bitte versuchen Sie, wenn Sie nach Hause zurückkehren, sich in einem dunklen Zimmer hinzulegen, so daß kein Laut oder Strahl zu Ihnen dringt. Dann schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, daß Sie in diesem Zustand verharren werden, in endgültiger Ruhe, ohne jede, auch nicht die geringste Veränderung, Tag und Nacht, und wieder einen Tag, daß Wochen so vergehen werden, deren Zahl Sie nicht festzustellen vermögen, Monate, Jahre, Jahrhunderte – und daß Ihr Hirn vorher einem solchen Eingriff unterzogen worden ist, daß nicht einmal die Flucht in den Wahn möglich sein wird. Schon der Gedanke, daß es jemanden gibt, der zu solch einer Qual verurteilt worden ist, angesichts der alle Bilder höllischer Qualen nur ein Kinderspiel sind, brannte während des düsteren Feilschens unerträglich in mir. Es ging natürlich um die Vernichtung, die Summe, die er verlangte – meine Herren, ersparen Sie mir die Einzelheiten. Ich will nur soviel sagen: Mein ganzes Leben lang habe ich mich für einen Geizhals gehalten. Wenn ich heute daran zweifele, dann deshalb, weil… nun, nichts. Mit einem Wort: Das war keine Bezahlung. Es war alles, was ich damals hatte, Geld… jawohl. Wir zählten es… Und dann sagte er, ich solle das Licht ausmachen. Im Dunkeln raschelte zerfetztes Papier, und plötzlich… Auf rechteckigem, weißlichem Untergrund, einem Wattekissen, zeichnete sich, wie ein flüssiger Edelstein, ein ganz schwacher Schimmer ab. In dem Maße, wie ich mich an das Dunkel gewöhnte, glomm er immer stärker mit einem bläulichen Glanz. Da bückte ich mich – im Nacken spürte ich Decantors ungleichmäßigen, schweren Atem –, ergriff den bereitgelegten Hammer, und mit einem Schlag…
  Meine Herren, ich denke, daß er dennoch die Wahrheit gesprochen hatte. Denn als ich zuschlug, versagte mir die Hand den Gehorsam, und ich bröckelte nur etwas von dem ovalen Kristall ab… und trotzdem verlosch er. Im Bruchteil einer Sekunde erfolgte gewissermaßen eine mikroskopisch kleine, lautlose Explosion – Myriaden lilafarbener Stäubchen wirbelten wie in Panik auf und verschwanden. Es wurde völlig dunkel. In dieser Dunkelheit sagte er mit lebloser, dumpfer Stimme: »Zerstören Sie das nicht weiter, Tichy… Es ist bereits geschehen.«
  Er nahm mir das aus den Händen, und ich glaubte ihm, denn ich hatte einen augenfälligen Beweis, außerdem fühlte ich es. Ich vermag nicht zu sagen, wie. Ich machte Licht. Geblendet sahen wir einander an, wie zwei Verbrecher. Er stopfte sich die Rocktaschen mit den Banknotenbündeln voll und ging ohne ein Wort des Abschieds.
  Seither habe ich ihn nie wieder gesehen und weiß auch nicht, was aus ihm geworden ist – aus diesem Erfinder der unsterblichen Seele, die ich getötet habe.






III




Den Mann, von dem ich sprechen will, habe ich nur einmal gesehen. Bei seinem Anblick würden Sie schaudern. Ein buckliger Gnom unbestimmten Alters mit einem Gesicht, das in eine zu geräumige Haut gekleidet schien – so viele Falten und Runzeln waren darauf; obendrein hatte er einen kürzeren Halsmuskel und hielt den Kopf immer nach der einen Seite, als wollte er den eigenen Buckel betrachten, habe sich jedoch mitten in der Bewegung eines Besseren besonnen. Ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, daß Verstand selten mit Schönheit gepaart ist, er jedoch, der eine wahre Verkörperung des Gebrechens war und Abscheu weckte statt Mitleid, hätte wohl ein Genie sein müssen, obwohl auch dann noch sein bloßes Erscheinen unter Menschen Schrecken verbreitet hätte – Sasul also… Er hieß Sasul. Ich hatte vor längerer Zeit von seinen scheußlichen Versuchen gehört. Auf Grund von Presseveröffentlichungen hatte die Angelegenheit damals beträchtliches Aufsehen erregt. Eine Gesellschaft zum Kampf gegen Vivisektion bemühte sich, ihm einen Prozeß zu machen, sie hatte ihn wohl sogar geführt, aber die Sache war im Sande verlaufen. Irgendwie hatte er sich aus der Affäre gezogen. Er war Professor, rein nominell, denn er konnte keine Vorlesungen halten, er stotterte. Oder – genauer gesagt – ihm versagte die Stimme, wenn ihn etwas stark bewegte, und das kam häufiger vor. Dieser Sasul ist nicht etwa zu mir gekommen. O nein, diese Art Mensch war er nicht. Eher wäre er gestorben, als daß er sich an einen anderen gewandt hätte. Ich hatte mich einfach bei einem Spaziergang vor der Stadt im Wald verirrt, das war mir sogar angenehm, aber plötzlich begann es heftig zu regnen. Ich wollte das Unwetter unter einem Baum abwarten, doch der Regen hörte nicht auf. Der Himmel bezog sich immer mehr, und ich entschloß mich, irgendwo Schutz zu suchen. Von Baum zu Baum laufend, gelangte ich, bereits ziemlich durchnäßt, auf einen Kiesweg und von dort auf einen lange nicht benutzten und mit Unkraut bewachsenen Pfad; er führte mich zu einem Grundstück, das von einer Mauer umgeben war. Am Tor, das einstmals grün gestrichen gewesen und jetzt entsetzlich rostig war, hing eine hölzerne Tafel mit der kaum noch leserlichen Aufschrift BISSIGE HUNDE. Es drängte mich nicht gerade, mit aufgehetzten Hunden in Berührung zu kommen, aber bei dem Wetter hatte ich keine andere Wahl. Ich schnitt mir vom nächsten Strauch einen soliden Stock und ging, so bewehrt, gegen das Tor vor. Ich sage das bewußt, weil ich es erst mit größter Anstrengung unter höllischem Knarren öffnen konnte. Der Garten, der sich dahinter auftat, war dermaßen vernachlässigt, daß man nur ahnen konnte, wo einst die Stege verliefen. Im Hintergrund, verdeckt von den im Regen wogenden Bäumen, stand ein hohen, dunkles Haus mit steilem Dach. Drei Fenster der ersten Etage waren hinter weißen Vorhängen erleuchtet. Es war noch früh am Tage, aber am Himmel eilten immer dunklere Wolken dahin, so daß ich die beiden Baumreihen, die den Zugang zur Veranda flankierten, erst bemerkte, als ich mich dem Haus bereits auf fünfzig Schritt genähert hatte. Es waren Lebensbäume, wie sie auf Friedhöfen stehen. Offenbar ist der Bewohner dieses Hauses ziemlich düster veranlagt, sagte ich mir. Doch Hunde entdeckte ich entgegen der Ankündigung am Tor nicht; ich trat auf die Vortreppe und drückte, durch die herausragende Überdachung halbwegs vor dem Regen geschützt, auf den Klingelknopf. Innen surrte es, die Antwort war dumpfe Stille. Nach einer geraumen Weile klingelte ich nochmals, mit dem gleichen Erfolg. So begann ich zu klopfen, schließlich trommelte ich immer heftiger gegen die Tür; da erst vernahm ich schlurfende Schritte im Haus, und eine unangenehme, krächzende Stimme fragte: »Wer ist da?«

  Ich nannte meinen Namen in der stillen Hoffnung, daß er vielleicht nicht fremd sein werde. Auf der anderen Seite schien man zu überlegen – schließlich klirrte die Kette, Riegel knirschten, als würde eine Festung geöffnet, und im Licht des hoch an der Flurdecke hängenden Leuchters erschien ein zwergenhaftes Wesen, ein Mann. Ich erkannte ihn, obwohl ich nur einmal im Leben, ich weiß nicht einmal wo, sein Foto gesehen hatte; man konnte ihn jedoch schwerlich vergessen. Er war fast kahlköpfig. An der Seite des Schädels, über dem Ohr, verlief eine hellrote Narbe, wie von einem Säbel gezogen. Auf der Nase saß, ein wenig schief, ein goldenes Binokel. Er blinzelte, als sei er gerade aus der Dunkelheit getreten. Ich entschuldigte mich, indem ich die unter solchen Umständen üblichen Phrasen benutzte, und verstummte, aber er stand weiter vor mir, als habe er nicht die geringste Lust, mich auch nur einen Schritt in dieses große, dunkle Haus zu lassen, aus dessen Inneren kein Laut drang.
  »Sie sind Sasul, Professor Sasul… nicht wahr?« sagte ich.
  »Woher kennen Sie mich?« brummte er unhöflich.
  Ich sagte wieder etwas Banales, in dem Sinne, daß man einen so hervorragenden Gelehrten ja wohl kennen müsse. Doch er verzog nur verächtlich seinen Froschmund.
  »Ein Gewitter?« sagte er, auf meine vorherigen Worte zurückkommend. »Das höre ich auch. Na und? Konnten Sie nicht woanders hingehen? Ich mag das nicht. Ich kann das nicht ausstehen, begreifen Sie?«
  Ich sagte, daß ich ihn genau verstünde und daß ich keineswegs die Absicht hätte, ihn zu stören. Ein Stuhl oder ein Hocker hier in der dunklen Diele würden mir genügen; ich wolle nur das schlimmste Unwetter abwarten und dann gehen.
  Doch der Regen prasselte nun erst richtig los, und während ich in der leeren, hohen Diele wie auf dem Grunde einer riesigen Muschel stand, hörte ich sein unablässiges, von allen Seiten kommendes Rauschen, das über uns, auf dem Blechdach, in einem entsetzlichen Getrommel gipfelte.
  »Einen Stuhl?« sagte er in einem solchen Ton, als verlangte ich von ihm einen goldenen Thron. »Natürlich, einen Stuhl! Ich habe für Sie keinen Stuhl, Herr Tichy. Ich habe keinen Stuhl übrig. Ich dulde nicht – und überhaupt, ich glaube, ja, ich glaube, daß es für uns beide besser sein wird, wenn Sie gehen.«
  Über die Schulter blickte ich unwillkürlich in den Garten – die Eingangstür stand noch offen. Die Bäume, die Sträucher, alles war eine einzige vom Wind gepeitschte Masse, die in Strömen von Wasser glänzte. Ich heftete den Blick wieder auf den Buckligen. In meinem Leben war ich schon oft auf Unhöflichkeit, ja auf Gemeinheit gestoßen, aber so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Es goß wie aus Kannen, das Dach dröhnte unaufhörlich, als wollten mich die Elemente auf diese Weise in meiner Entschlossenheit bestärken, überflüssigerweise, denn meine heftige Natur begann bereits zu rebellieren. Geradeheraus gesagt: Mich packte die Wut. Ich ließ alle Komplimente und Höflichkeit fahren und sagte trocken: »Ich gehe nur dann, wenn Sie es schaffen, mich mit Gewalt hinauszusetzen, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht gerade ein Schwächling bin.«
  »Wie!« kreischte er. »Unverschämtheit! Wie können Sie es wagen, in meinem eigenen Haus!«
  »Sie haben mich selbst provoziert«, erwiderte ich eisig. Und da mein Temperament nun einmal mit mir durchgegangen war und sein gellendes Geschrei mich vollends aus dem Gleichgewicht brachte, fügte ich hinzu: »Es gibt Verhaltensweisen, Sasul, für die man sogar im eigenen Haus Prügel beziehen kann!«
  »Du Gauner!« schrie er noch lauter. Ich packte ihn beim Arm, der aus einem morschen Ast geschnitzt schien, und zischte: »Ich vertrage kein Geschrei. Verstanden? Noch eine Beleidigung, und Sie werden Ihr Lebtag an mich denken, Sie Lümmel, Sie!«
  Einen Augenblick lang dachte ich, daß es wirklich zu Handgreiflichkeiten kommen würde, und ich schämte mich, denn wie könnte ich meine Hand gegen einen Buckligen erheben! Aber da geschah etwas, was ich am allerwenigsten erwartet hatte. Der Professor wich zurück, befreite sich aus meinem Griff und begann, den Kopf noch stärker geneigt, als wollte er sich vergewissern, ob der Buckel noch da sei, widerlich dünn zu kichern. Als hätte ich ihm einen glänzenden Witz aufgetischt.
  »Na, na«, sagte er und nahm das Binokel ab. »Sie sind ja ein ganz Resoluter, Tichy…«
  Mit der Kuppe seines langen, nikotingelben Fingers wischte er sich eine Träne aus dem Auge.
  »Nun gut«, girrte er heiser, »das hab ich gern. Ja, ich gebe zu, das hab ich gern. Ich ertrage nur nicht diese Heiligenmanieren, dieses Süßholzraspeln und falsche Getue, aber Sie haben gesagt, was Sie dachten. Ich kann Sie nicht leiden und Sie mich nicht, wir sind quitt, alles ist klar, und Sie können mir folgen. Ja, ja, Tichy, Sie haben mich beinahe überrascht. Mich, immerhin…«
  So vor sich hin meckernd, führte er mich eine quietschende, vor Alter dunkel gewordene Holztreppe hinauf. Sie wand sich rechtwinklig um die große quadratische Diele mit der nackten Holztäfelung.
  Ich schwieg, und Sasul sagte, als wir uns in der ersten Etage befanden: »Tichy, es läßt sich nicht umgehen, ich kann mir keine Salons, keine Gästezimmer leisten, Sie werden also alles sehen. Ja, ich schlafe inmitten meiner Versuchsstücke, ich esse mit ihnen, ich lebe hier – gehen Sie hinein, aber reden Sie nicht zuviel.«
  Der Raum, in den er mich führte, war eben jenes Zimmer mit den erleuchteten Fenstern, vor denen große Bögen einst weißen, nun aber ungewöhnlich schmutzigen und mit Fettflecken bedeckten Papiers hingen. Die Bögen waren über und über mit zerdrückten Fliegen besät, und auch auf den Fensterbrettern war es schwarz von Fliegenleichen; selbst auf der Tür bemerkte ich, als ich sie schloß, kommaartige Spuren und vertrocknete, blutige Insektenreste, als wäre Sasul hier von allem belagert, was Hautflügler war. Aber ich kam gar nicht dazu, mich darüber zu wundern, denn schon wurde meine Aufmerksamkeit von anderen Eigentümlichkeiten des Raums in Anspruch genommen. In der Mitte stand ein Tisch, eigentlich waren es zwei Böcke mit darüberliegenden, schlecht gehobelten Brettern; darauf türmten sich ganze Stöße von Büchern, Papieren, vergilbten Knochen. Das Besondere aber an dem Zimmer waren seine Wände. Auf großen, primitiv zusam mengenagelten Regalen standen Reihen dickwandiger Flaschen und Gläser, und gegenüber dem Fenster, in einer Lücke zwischen den Regalen, stand ein riesiger Glasbehälter, gewissermaßen ein Aquarium von den Ausmaßen eines Schranks oder eher eines durchsichtigen Sarkophags. Seinen oberen Teil verhüllte ein liederlich darübergeworfenes schmutziges Tuch, dessen zerschlissene Enden etwa bis zur halben Höhe der gläsernen Wände reichten, aber mich ließ schon erstarren, was ich im unteren Teil sah.
  In allen Gläsern und Flaschen schimmerte eine etwas trübe bläuliche Flüssigkeit, wie in einem anatomischen Museum, in dem verschiedene, von Sektionen herrührende, einst lebende Organe in konservierendem Spiritus gehalten werden. Ein ebensolches Gefäß, nur von riesigem Ausmaß, war jener Glasbehälter, auf dem der Lappen lag. In seiner dämmrigen Tiefe, in der ein bläulicher Schimmer unsicher glomm, bewegten sich knapp über dem Boden, ganz langsam, mit der unendlichen Geduld eines Pendels, zwei Schatten, in denen ich mit unsäglichem Ekel Menschenbeine erkannte, die in spiritusdurchtränkten Hosenbeinröhren steckten.
  Ich stand wie versteinert da, auch Sasul rührte sich nicht, ich spürte seine Anwesenheit überhaupt nicht; als ich den Blick auf ihn richtete, sah ich, daß er sehr froh war. Meine Empörung, mein Abscheu schienen ihn zu freuen. Er hielt die Hände zusammengefügt vor der Brust, wie zum Gebet, und ließ ein zufriedenes Räuspern hören.
  »Was soll das bedeuten, Sasul?« rief ich mit erstickter Stimme. »Was ist das?«
  Er wandte sich um, so daß ich sehen konnte, wie sich der entsetzliche, spitze Buckel – ich fürchtete instinktiv um die darübergespannte Jacke – leicht im Takt seiner Schritte wiegte.
  Als er sich auf seinem Hocker niedergelassen hatte, der eine wunderliche, nach beiden Seiten gespreizte Rückenlehne besaß (scheußlich dieses Möbelstück des Buckligen), sagte er, plötzlich fast gleichgültig, ja gelangweilt: »Das ist eine lange Geschichte, Tichy. Sie wollten das Gewitter abwarten? Setzen Sie sich irgend wohin und stören Sie mich nicht. Ich sehe keinen Anlaß, Ihnen irgend etwas zu erzählen.«
  »Aber ich sehe einen«, entgegnete ich. Bis zu einem gewissen Grade hatte ich meine Beherrschung wiedererlangt. In der Stille, die nur von dem Rauschen und Plätschern des Regens erfüllt war, trat ich zu ihm und sagte: »Wenn Sie mir das nicht erklären, Sasul, muß ich Schritte unternehmen… die Ihnen viel Scherereien bereiten könnten.«
  Ich dachte, er würde aufbrausen, aber er rührte sich nicht einmal. Er sah mich nur eine Weile mit spöttisch heruntergezogenen Mundwinkeln an.
  »Sagen Sie selbst, Tichy – was soll ich davon halten? Draußen tobt ein Gewitter, es gießt, Sie trommeln an meiner Tür, kommen ungebeten herein, drohen mir mit Schlägen, und dann, als ich aus angeborener Sanftmut nachgebe, als ich auf Ihren Wunsch eingehe, habe ich die Ehre, neue Drohungen zu vernehmen: Nach den Schlägen drohen Sie mir mit Gefängnis. Ich bin Gelehrter, bester Herr, und kein Bandit. Ich fürchte weder das Gefängnis noch Sie, ich fürchte überhaupt nichts, Tichy.«
  »Da drinnen ist doch ein Mensch«, sagte ich, ohne auf sein Geschwätz zu achten, denn das war offensichtlicher Spott. Zweifellos hatte er mich mit Vorbedacht hergeführt, damit ich die scheußliche Entdeckung machte. Ich schaute über seinen Kopf hinweg auf jenen schrecklichen Doppelschatten, der sich weiterhin sanft in der Tiefe der blauen Flüssigkeit wiegte.
  »Aber gewiß doch«, erwiderte Sasul bereitwillig. »Gewiß doch.«
  »Glauben Sie nicht, daß Sie sich da herauswinden können!« rief ich.
  Er beobachtete mich, plötzlich ging etwas in ihm vor, er schüttelte sich, seufzte – und mir standen die Haare zu Berge: Er kicherte.
  »Tichy«, sagte er, als er sich etwas beruhigt hatte, aber in seinen Augen tanzten noch immer teuflische Fünkchen, »wollen Sie mit mir wetten? Ich erzähle Ihnen, wie es dazu« – er deutete mit dem Finger auf den Glasbehälter – »gekommen ist, und Sie werden mir dann kein Haar mehr krümmen wollen. Aus eigenem, ungezwungenem Willen, versteht sich. Nun, gilt die Wette?«
  »Sie haben ihn getötet?« fragte ich noch.
  »In gewissem Sinne, ja. Jedenfalls habe ich ihn dort hineingesteckt. Glauben Sie, daß man in einer sechsundneunzigprozentigen Spirituslösung leben kann? Daß es da noch Hoffnung gibt?«
  Diese beherrschte, gleichsam vorgeplante Ruhmredigkeit, dieses selbstbewußte Höhnen angesichts der Leiche des Opfers gaben mir meine Ruhe wieder.
  »Die Wette gilt«, sagte ich kühl. »Reden Sie!«
  »Treiben Sie mich nur nicht an«, sagte er in einem Ton, als sei er ein Fürst, der mir gnädig Gehör schenkt. »Ich erzähle das, weil es mir Spaß macht, Tichy, weil es eine amüsante Geschichte ist, ich gebe sie zum besten, weil mir das Genugtuung bereitet, und nicht, weil Sie mir gedroht haben. Ich fürchte keine Drohungen, Tichy. Nun, lassen wir das. Haben Sie mal von Mallenegs gehört?«
  »Gewiß«, erwiderte ich. Ich war nun schon vollends ruhig. Schließlich habe auch ich etwas von einem Forscher, und ich weiß, wann es gilt, ruhig Blut zu bewahren. »Er hat ein paar Arbeiten über das Denaturieren von Eiweißteilchen veröffentlicht…«
  »Ausgezeichnet«, sagte er in ganz professoralem Ton und maß mich plötzlich mit neuem Interesse, als habe er endlich in mir ein Merkmal entdeckt, wofür mir wenigstens eine Spur von Hochachtung gebührte. »Außerdem hat er eine Methode der Synthese großer Eiweißmoleküle ausgearbeitet, künstlicher Eiweißlösungen, die gelebt haben, wohlgemerkt. Das waren so schleimige Gallerten… Er liebte sie. Er gab ihnen täglich zu essen, wenn ich mich so ausdrücken darf… Ja, er schüttete ihnen Zucker und Kohlenwasserstoffe in die Behälter, und sie, diese Gallerten, diese formlosen Uramöben, verschlangen alles, daß es eine Freude war, und wuchsen, zuerst in kleinen, gläsernen Petry-Schälchen… dann übertrug er sie in größere Gefäße, er gab sich viel mit ihnen ab, hatte das ganze Laboratorium voll davon. Die einen gingen ihm ein, begannen sich zu zersetzen, sicherlich taugte die Diät nichts, dann tobte er, rannte mit seinem Bart umher, den er dauernd und ohne es zu wollen in den geliebten Kleister tauchte… Aber weiter ging er nicht. Nun, er war zu dumm, dazu gehört etwas mehr. Hier…« Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn; die Glatze schimmerte unter der tief herabgezogenen Lampe wie aus gelblichem Knochen gedrechselt. »Und dann ging ich ans Werk, Tichy. Ich will nicht viel reden, weil das Sachen für Fachleute sind, und die, die wirklich die Größe meines Werks verstehen würden, sind noch nicht geboren… Mit einem Wort, ich habe ein Eiweißmakromolekül geschaffen, das man auf einen bestimmten Entwicklungstyp einstellen kann, wie man einen Wecker einstellt… Nein, das ist kein richtiges Beispiel. Über eineiige Zwillinge wissen Sie, versteht sich, Bescheid?«
  »Ja«, erwiderte ich, »aber was hat das denn damit zu tun…?«
  »Sie werden es gleich verstehen. Ein befruchtetes Ei teilt sich in zwei identische Hälften, aus denen zwei vollkommen identische Individuen entstehen, zwei Neugeborene, zwei Spiegelzwillinge. Stellen Sie sich jetzt also vor, daß es eine Methode gibt, nach der man, wenn man einen erwachsenen, lebenden Menschen nimmt, gestützt auf eine genaue Untersuchung seines Organismus, eine zweite Hälfte des Eis, aus dem er einst geboren wurde, schaffen kann. Dadurch ist es möglich, gewissermaßen mit großer Verspätung, diesem Menschen einen Zwilling hinzuzuerzeugen… Verstehen Sie?«
  »Wieso?« sagte ich. »Selbst wenn das möglich wäre, erhalten Sie nur eine Hälfte des Eis – den Keim, der sofort abstirbt…«
  »Anderen mag das passieren, mir nicht«, erwiderte er mit kühlem Stolz. »Diese synthetisch geschaffene Eihälfte, die auf einen bestimmten Entwicklungstyp eingestellt ist, lege ich in eine Nährlösung, und dort, im Inkubator, gewissermaßen in einer mechanischen Gebärmutter, bewirke ich ihre Entwicklung zur Frucht – in einem Tempo, das hundertmal schneller ist als das normale Ent wicklungstempo. Nach drei Wochen verwandelt sich der Keim in ein Kind, unter dem Einfluß weiterer Eingriffe zählt das Kind nach einem Jahr zehn biologische Jahre; nach vier weiteren Jahren ist das schon ein vierzigjähriger Mensch – nun, das also habe ich gemacht, Tichy…«
  »Ein Homunkulus!« schrie ich. »Dieser Traum der Alchimisten… Ich verstehe… Sie behaupten… Und selbst wenn es so wäre! Sie haben diesen Menschen geschaffen, nicht wahr? Und Sie meinen, Sie hätten ein Recht gehabt, ihn zu töten? Und daß ich dieses Verbrechen gutheiße? Oh, da haben Sie sich sehr… sehr geirrt, Sasul…«
  »Das ist noch nicht alles«, versetzte Sasul kühl. Sein Kopf schien unmittelbar aus dem unförmigen Quader des Buckels herauszuwachsen. »Zunächst wurden selbstverständlich Versuche an Tieren durchgeführt. Dort in den Gläsern haben Sie paarweise Hähne, Kaninchen, Hunde – in den Gefäßen, die mit einem weißen Etikett gekennzeichnet sind, befinden sich die originalen Geschöpfe, die echten… In den anderen, mit schwarzem Etikett, sind die von mir geschaffenen Zwillingskopien. Unterschiede bestehen da nicht, und wenn Sie die Etiketts entfernen, ist es unmöglich, herauszufinden, welches Tier auf natürliche Weise geboren wurde und welches aus meiner Retorte stammt…«
  »Gut«, sagte ich. »Meinetwegen. Aber warum haben Sie ihn getötet? Warum? War er nicht… voll bei Verstand? Unterentwickelt? Doch selbst in diesem Fall hatten Sie kein Recht…«
  »Beleidigen Sie mich nicht!« fauchte er. »Der Vollbesitz der Geisteskräfte ist selbstverständlich, Tichy, die volle Entwicklung, haargenau gleichend allen Merkmalen des Originals im Bereich des Somas… In psychischer Hinsicht jedoch sind größere Möglichkeiten angelegt, als sie der biologische Prototyp manifestierte… Ja, das ist etwas mehr als die Schaffung eines Zwillings, ein Werk, vollkommener als eine Zwillingskopie… Professor Sasul hat die Natur übertroffen. Übertroffen, verstehen Sie!«
  Ich schwieg. Er erhob sich, trat an den Behälter, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog mit einer einzigen Bewegung den zerfetzten Vorhang herunter. Ich wollte nicht hinsehen, aber mein Kopf wandte sich von selbst dorthin, und ich erblickte durch das Glas, durch die trübe Spiritusschicht das erschlaffte, ausgelaugte Gesicht Sasuls… seinen großen, schwimmenden, einem Rucksack gleichenden Buckel, die Schöße seiner Jacke, in der Flüssigkeit flatternd wie schwarze, durchnäßte Flügel… das weißliche Schimmern der Augäpfel… die nassen, zusammengeklebten grauen Strähnen des Bärtchens… Ich stand da, wie vom Blitz getroffen, und er quäkte: »Wie Sie sich denken können, ging es darum, das Werk unvergänglich zu machen. Ein Mensch, selbst ein künstlich erzeugter, ist sterblich. Es ging also darum, daß er nicht zu Staub zerfiel, daß ein Denkmal zurückblieb… Ja, darum ging es. Doch dann, Tichy, kam es zu wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir. Deshalb gelangte nicht ich… sondern Er in den Behälter… er… er, Professor Sasul, während ich, ich – eben ich bin…«
  Er kicherte, aber ich hörte es nicht. Ich hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Ich blickte von seinem lebenden, von einer freudigen Grimasse verzerrten Gesicht auf jenes andere leblose, das wie ein gräßliches Unterwassergeschöpf hinter der Glasscheibe schwamm… und ich bekam den Mund nicht auf. Es war still. Der Regen hatte fast aufgehört, nur das ersterbende Totengeläut der Dachrinnen schien sich mit den Windböen zu entfernen, zu verstummen und wieder zurückzukehren.
  »Lassen Sie mich hinaus«, sagte ich, aber ich erkannte meine Stimme nicht.
  Ich schloß die Augen und wiederholte dumpf: »Lassen Sie mich hinaus, Sasul. Sie haben gewonnen.«


IV




An einem Herbstnachmittag, als die Dunkelheit bereits die Straßen verhüllte und ein gleichmäßiger, feiner grauer Regen fiel, ein Regen, der die Erinnerung an die Sonne fast unglaubwürdig macht und bei dem man um nichts in der Welt sein Plätzchen am Kamin verlassen möchte, wo man über alten Büchern sitzt (man sucht darin nicht die wohlvertrauten Inhalte als vielmehr sich selbst, der man vor Jahren war), da klopfte unerwartet jemand an meine Tür. Es war ein ungestümes Pochen, als wollte der Ankömmling, der die Klingel erst gar nicht betätigte, gleich zu erkennen geben, daß sein Erscheinen einen heftigen, ich möchte sagen verzweifelten Charakter trage. Ich legte das Buch weg, ging in den Flur und öffnete ihm. Ich erblickte einen Mann in einem Wettermantel, der von Wasser troff; auf seinem Gesicht, das vor Erschöpfung verzerrt war, glänzten Regentropfen. Er sah mich nicht an – er stand da, völlig entkräftet, die geröteten, nassen Hände auf eine große Kiste gestützt, die er offensichtlich selbst die Treppe heraufgeschleppt hatte.
  »Mein Herr«, sagte ich, »was woll…« Ich korrigierte mich: »Soll ich Ihnen helfen?«
  Er machte eine vage Handbewegung und schnaufte nur. Ich sah, daß er seine Last in die Wohnung tragen wollte, jedoch nicht mehr die Kraft dazu aufbrachte. Also ergriff ich die durchnäßte, rauhe Schnur, die um das gewaltige Paket geschlungen war, und trug es in den Flur. Als ich mich umwandte, stand er hinter mir. Ich wies auf den Kleiderständer. Er hängte den Mantel an einen Haken, warf den Hut aufs Regal, der, weil er gänzlich durchnäßt war, einem formlosen Filzlappen glich, und betrat auf etwas schwanken Beinen mein Arbeitszimmer.
  »Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte ich nach einer guten Weile. Mir schwante schon, daß das wieder einer meiner außergewöhnlichen Gäste war, doch er sah mich noch immer nicht an, als sei er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht und schauderte unter der kalten Berührung der durchnäßten Manschetten. Ich sagte ihm, er solle am Kamin Platz nehmen, aber er geruhte nicht einmal zu antworten. Er packte sein tropfnasses Paket und zog, schob und kantete es, wobei er auf dem Boden Schmutzspuren hinterließ, die davon zeugten, daß er es auf seinem Weg viele Male in die Lachen des Bürgersteigs abgestellt hatte, um Atem zu schöpfen. Erst als es mitten im Zimmer stand und er es im Auge behalten konnte, wurde ihm plötzlich meine Gegenwart bewußt, er sah mich an, murmelte etwas Unverständliches, nickte, trat mit einem übertrieben großen Schritt an einen leeren Sessel heran und versank in dessen eingesessener Vertiefung.
  Ich nahm ihm gegenüber Platz. Wir schwiegen ziemlich lange, aber aus unerklärlichem Grund wirkte das ganz natürlich. Er war nicht jung, etwa um die Fünfzig. Sein Gesicht war ungleichmäßig. Es fiel sofort ins Auge, daß die ganze linke Hälfte kleiner war, als habe sie mit dem Wachstum der rechten nicht Schritt gehalten, deshalb waren auch der Mundwinkel, der Nasenflügel, der Lidschlitz auf der linken Seite kleiner, wodurch sein Gesicht ein für allemal den Ausdruck bedrückten Überraschtseins angenommen hatte.
  »Sie sind Herr Tichy?« sagte er schließlich, als ich das am wenigsten von ihm erwartete. Ich nickte. »Ijon Tichy? Jener… Reisende?« vergewisserte er sich noch einmal, nach vorn gebeugt, und sah mich mißtrauisch an.
  »Aber ja«, wiederholte ich. »Wer sonst könnte in meiner Wohnung sein?«
  »Ich könnte mich im Stockwerk geirrt haben«, murmelte er, als sei er mit etwas anderem, weit Wichtigerem beschäftigt.
  Plötzlich erhob er sich. Er berührte instinktiv den Gehrock, in der Absicht, ihn zu glätten, aber als sei ihm die Nutzlosigkeit seines Vorhabens klargeworden – ich weiß nicht, ob die besten Bügeleisen und die Bemühungen eines Schneiders da noch etwas geholfen hätten, denn seine Kleidung war schon bis zum äußersten strapaziert –, reckte er sich und sagte: »Ich bin Physiker. Mein Name ist Molteris. Haben Sie von mir gehört?«
  »Nein«, antwortete ich. Ich hatte tatsächlich nie etwas von ihm gehört.
  »Macht nichts«, murmelte er, und das war wohl mehr für ihn selbst als für mich bestimmt.
  Er machte den Eindruck eines finsteren Menschen, doch das war nur Nachdenklichkeit: Er rang mit einem Entschluß, den er schon vorher gefaßt und der ihn bewogen hatte, zu mir zu kommen; aber jetzt plagten ihn neue Zweifel. Ich sah das an seinen verstohlenen Blicken. Wahrscheinlich haßte er mich, weil er mich um etwas bitten, weil er mir das sagen mußte.
  »Ich habe eine Entdeckung gemacht«, stieß er plötzlich mit heiserer Stimme hervor. »Eine Erfindung. Das hat es noch nicht gegeben. Noch nie. Sie brauchen mir nicht zu glauben, ich glaube niemandem, also braucht auch mir niemand zu glauben. Die Tatsachen genügen. Ich werde Ihnen das beweisen. Alles. Aber – ich bin noch nicht vollends…«
  »Sie haben Befürchtungen?« versetzte ich in freundlichem und beruhigendem Ton. Diese Leute sind nun mal Wirrköpfe, wahnsinnige, geniale Kinder. »Sie befürchten einen Diebstahl, Verrat, nicht wahr? Sie können beruhigt sein. Dieses Zimmer hat schon vieles gesehen und von Erfindungen gehört…«
  »Nicht von einer solchen!« erklärte er kategorisch, und in seiner Stimme, im Aufleuchten seines Auges lag für einen Moment unvorstellbarer Stolz. Man hätte meinen können, er sei der Herr der Schöpfung. »Geben Sie mir eine Schere«, sagte der düster, in einem neuen Anflug von Niedergeschlagenheit. »Es kann auch ein Messer sein.«
  Ich reichte ihm den Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag. Mit heftigen, schwungvollen Bewegungen zerschnitt er die Bindfäden, riß das nasse Papier auf, zerknüllte es und warf es betont nachlässig auf den Fußboden, als wollte er sagen: Du kannst mich hinauswerfen und mich schelten, daß ich dein blankes Parkett beschmutze – wenn du den Mut hast, einen Menschen vor die Tür zu setzen, der sich so demütigen muß! Einen Menschen wie mich! Ein fast ebenmäßiger, schwarz lackierter Hexaeder aus gehobelten Brettern kam zum Vorschein. Der Deckel war nur zur Hälfte schwarz, die andere Hälfte war grün, und ich fragte mich unwillkürlich, ob ihm der schwarze Lack ausgegangen sei. Die Kiste war durch ein Chiffreschloß gesichert. Molteris stellte das Zifferblatt ein, wobei er sich bückte und es so mit der Hand verhüllte, daß ich die Kombination nicht erkennen konnte. Als das Schloß klickte, hob er langsam und vorsichtig den Deckel an.
  Aus Diskretion, aber auch weil ich ihm die Befangenheit nehmen wollte, setzte ich mich wieder in den Sessel. Ich hatte den Eindruck – obwohl er das nicht zu erkennen gab –, daß er mir dankbar dafür war. Jedenfalls schien er sich etwas beruhigt zu haben.
  Er griff mit beiden Armen in die Tiefe der Kiste und holte unter größter Mühe, so daß ihm Wangen und Stirn rot anliefen, einen großen brünierten Apparat mit irgendwelchen Deckeln, Lampen und Kabeln hervor, aber ich kenne mich ja darin nicht aus. Während er seine Last wie eine Geliebte umfangen hielt, versetzte er mit erstickter Stimme: »Wo ist eine Steckdose?«
  »Dort.« Ich zeigte in die Ecke neben dem Bücherschrank, denn an der anderen Steckdose war die Tischlampe angeschlossen. Er stapfte dorthin und setzte den schwarzen Apparat mit größter Vorsicht auf dem Fußboden ab. Darauf entrollte er eines der Kabel und steckte es in die Dose. Er kauerte sich neben seinen Apparat nieder, legte einige Hebel um, drückte auf Kontakte. Nach einer Weile füllte ein sanftes, melodisches Summen das Zimmer. Plötzlich malte sich Angst auf seinem Gesicht; er beugte sich über eine der Röhren, die im Gegensatz zu den anderen dunkel geblieben war. Er schnippte leicht mit dem Finger dagegen, und als auch das nichts half, drehte er ungestüm alle Taschen um, fand einen Schraubenzieher, ein Stückchen Draht, eine kleine Metallzange, warf sich vor dem Apparat auf die Knie und begann fieberhaft, obwohl mit größter Präzision, in den Innereien herumzustochern. Plötzlich füllte ein rosa Schimmer die erblindete Röhre. Molteris, der offensichtlich vergessen hatte, wo er sich befand, steckte mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung das Werkzeug in die Tasche, erhob sich langsam und sagte ganz ruhig, so wie man sagt, ich habe heute ein Butterbrot gegessen: »Tichy – das ist eine Zeitmaschine.«
  Ich antwortete nicht. Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber im klaren sind, wie heikel und schwierig meine Lage war. Erfinder dieser Art, die das Elixier des ewigen Lebens oder einen elektrischen Propheten der Zukunft oder, wie in diesem Fall, eine Zeitmaschine konzipiert haben, stoßen auf den größten Unglauben all jener, die sie in ihr Werk einzuweihen versuchen. Sie sind voller Komplexe, sie sind reizbar und fürchten andere Menschen, doch gleichzeitig verachten sie sie, denn sie wissen, daß sie auf deren Hilfe angewiesen sind. Da ich das weiß, muß ich in ähnlichen Situationen äußerste Vorsicht walten lassen. Was immer ich schließlich anfinge, es würde falsch aufgefaßt werden. Ein Erfinder, der Hilfe sucht, ist von Verzweiflung getrieben und nicht von Hoffnung beseelt, er erwartet kein Wohlwollen, sondern Spott. Wohlwollen übrigens, das hat ihn die Erfahrung gelehrt, ist nur der Anfang, auf den gewöhnlich Geringschätzung folgt, verborgen hinter Überredungsversuchen, denn natürlich hat man ihm schon mehr als einmal seine Idee auszureden versucht. Wenn ich nun sagte: »Ach, das ist ja außergewöhnlich, haben Sie wirklich die Zeitmaschine erfunden?«, würde er sich vielleicht mit Fäusten auf mich stürzen. Der Umstand, daß ich schwieg, überraschte ihn.
  »Ja«, sagte er, indem er beide Hände herausfordernd in die Taschen steckte. »Das ist ein Zeitvehikel! Eine Maschine zum Reisen in der Zeit, verstehen Sie?«
  Ich nickte, darauf achtend, daß es nicht zu übertrieben ausfiel.
  Sein Impetus ging ins Leere, verpuffte – eine Weile machte er nicht gerade ein kluges Gesicht. Dieses Gesicht war nicht einmal alt, es war nur müde, von unsäglicher Qual geprägt, die blutunterlaufenen Augen zeugten von ungezählten durchwachten Nächten, seine Lider waren geschwollen, der Bart, den er wohl für diese Gelegenheit entfernt hatte, war an den Ohren und unterhalb der Lippe stehengeblieben, ein Zeichen, daß er sich schnell und voller Ungeduld rasiert hatte – auch ein schwarzes Pflästerchen auf einer Wange zeugte davon.
  »Sie sind ja wohl nicht Physiker?« fragte er, gleichsam feststellend.
  »Nein.«
  »Um so besser. Wären Sie Physiker, würden Sie mir nicht einmal glauben, auch nach dem, was Sie mit eigenen Augen sehen werden, weil das«, er deutete auf den Apparat, der ununterbrochen leise wie eine schläfrige Katze schnurrte (die Röhren warfen einen rosa Schein auf die Wand), »erst entstehen konnte, nachdem dieser Wust von Idiotismen widerlegt war, den diese Leute heute noch für Physik halten. Haben Sie einen Gegenstand, von dem Sie sich ohne Bedauern trennen können?«
  »Vielleicht finde ich einen«, antwortete ich. »Was soll es denn sein?«
  »Ganz gleich. Ein Stein, ein Buch, Metall – nur nichts Radioaktives. Keine Spur Radioaktivität, das ist wichtig. Das könnte ein Unglück herbeiführen.« Er redete noch, als ich aufgestanden war und zum Schreibtisch ging.
  Wie Sie wissen, bin ich ein Pedant, und der kleinste Gegenstand hat bei mir seinen unveränderlichen Platz. Besonderes Gewicht messe ich der Ordnung in meiner Bibliothek bei; um so mehr hatte mich etwas verwundert, was mir am Vortag widerfahren war: Ich hatte nach dem Frühstück, das heißt seit den frühen Morgenstunden, an einem Abschnitt gearbeitet, der mir viel Mühe bereitete – und als ich plötzlich den Kopf von den überall auf dem Schreibtisch herumliegenden Papieren hob, bemerkte ich an der Wand, in einer Ecke nahe dem Bücherschrank, ein dunkelrotes Buch in Oktavformat; es lag auf dem Fußboden, als ob es jemand dort hingeworfen hätte.
  Ich stand auf und bückte mich danach. Jetzt erkannte ich auch den Umschlag: Es war ein Abdruck aus einer Vierteljahreszeitschrift der kosmischen Medizin, der die Diplomarbeit eines entfernten Bekannten enthielt. Ich begriff nicht, wie das Buch auf den Fußboden gekommen war. Zwar hatte ich mich gedankenversunken an die Arbeit gesetzt und mich nicht eigens im Zimmer umgesehen, aber ich könnte schwören, daß auf dem Fußboden an der Wand nichts gelegen hatte, als ich ins Zimmer gekommen war – das wäre mir nicht entgangen. Schließlich mußte ich jedoch zugeben, daß ich versunkener als sonst gearbeitet hatte und deshalb unempfindlich gewesen war gegen meine Umgebung – und erst als die Konzentration nachgelassen hatte, bemerkte ich das schmale Bändchen auf dem Fußboden. Anders konnte ich mir diese Tatsache nicht erklären. Ich stellte das Buch ins Regal und vergaß den Vorfall, jetzt jedoch, nach Molteris’ Worten, kam mir der dunkelrote Rücken dieser für mich uninteressanten Arbeit wie von selbst in die Hand; wortlos reichte ich ihm das Bändchen.
  Er ergriff es, hielt es wägend und hob, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen, den schweren Deckel im Innern des Apparats.
  »Kommen Sie bitte her«, sagte er.
  Ich stellte mich neben ihn. Er kniete nieder, drehte an einem Knopf, der dem Regler eines Rundfunkgeräts glich, und drückte auf einen konkaven weißen Knopf daneben. Alle Lichter im Zimmer wurden dunkler, in der Steckdose, an die der Apparat angeschlossen war, erschien mit einem eigentümlichen, durchdringenden Knistern ein blauer Funke, sonst geschah nichts.
  Ich dachte schon, er würde mir gleich alle Sicherungen durchbrennen, aber er sagte heiser: »Passen Sie auf!«
  Er legte das Buch flach in den Apparat und drückte einen kleinen schwarzen Hebel herunter, der an der Seite herausragte. Die Lampen erstrahlten wieder im normalen Licht, doch gleichzeitig trübte sich das dunkle Pappbändchen auf dem Grunde des Apparats. Im Bruchteil einer Sekunde wurde es durchsichtig, und ich glaubte, durch den geschlossenen Umschlagdeckel die weißen Konturen der Seiten und die verschwimmenden Druckzeilen zu sehen, aber das währte keine Sekunde, im nächsten Augenblick hatte sich das Buch aufgelöst, war verschwunden, und ich sah nur noch den leeren, brünierten Boden des Apparats.
  »Es hat sich in der Zeit verschoben«, sagte er, ohne mich anzusehen. Schwerfällig erhob er sich vom Fußboden. Auf seiner Stirn glänzten winzige Schweißtröpfchen, klein wie Nadelspitzen. »Oder, wenn Sie so wollen – es hat sich verjüngt.«
  »Um wieviel?« fragte ich. Bei der Sachlichkeit dieser Worte hellte sich sein Gesicht etwas auf. In der linken kleineren und gleichsam verkümmerten Gesichtshälfte – sie war auch etwas dunkler, wie ich aus der Nähe bemerkte – zuckte es.
  »Ungefähr um einen Tag«, antwortete er. »So genau kann ich das noch nicht berechnen. Aber das…« Er brach ab und sah mich an. »Waren Sie gestern hier?« fragte er, ohne die Spannung zu verbergen, mit der er meine Antwort erwartete.
  »Ja, ich war hier«, antwortete ich langsam, denn plötzlich schien mir der Fußboden unter den Füßen wegzurutschen. Ich begriff, und in einer Art Benommenheit, die sich nur mit dem Gefühl aus einem unglaublichen Traum vergleichen ließ, verband ich beide Fakten miteinander: das gestrige, so unerklärliche Erscheinen des Buches an ebendieser Stelle, neben der Wand, und sein gegenwärtiges Experiment.
  Ich sagte ihm das. Er strahlte nicht, wie man hätte annehmen können, sondern wischte sich einige Male nur stumm die Stirn mit dem Taschentuch. Ich bemerkte, daß er heftig schwitzte und etwas blaß geworden war. Ich schob ihm einen Stuhl hin und setzte mich ebenfalls.
  »Vielleicht erzählen Sie mir nun, was Sie sich von mir erhoffen«, sagte ich, als er sich wieder beruhigt hatte.
  »Hilfe«, murmelte er. »Unterstützung – nein, kein Almosen. Mag das… mag es eine Anzahlung auf die Beteiligung am künftigen Gewinn sein. Ein Zeitvehikel…! Sie verstehen wohl selbst…« Er vollendete nicht.
  »Ja«, erwiderte ich. »Ich nehme an, daß Sie eine bedeutende Summe brauchen?«
  »Eine sehr bedeutende. Sehen Sie – hier sind große Energiemengen im Spiel, überdies erfordert die Zeitzielvorrichtung – damit der transportierte Körper genau zu dem Augenblick gelangt, in dem wir ihn lokalisieren wollen – noch langwierige Arbeit.«
  »Wie lange hätten Sie noch zu tun?« fragte ich.
  »Mindestens ein Jahr…«
  »Gut«, sagte ich. »Ich verstehe. Nur, sehen Sie, wir müßten die Hilfe dritter Personen in Anspruch nehmen. Die Hilfe finanzkräftiger Personen. Dagegen hätten Sie doch wohl nichts einzuwenden…?«
  »Nein… natürlich nicht.«
  »Gut. Ich will mit offenen Karten spielen. Die meisten Menschen an meiner Stelle würden vermuten – nach dem, was Sie mir gezeigt haben –, daß sie es mit einem Trick, mit einem geschickten Betrug zu tun haben. Aber ich glaube Ihnen, und ich will tun, was ich kann. Das wird natürlich etwas Zeit beanspruchen. Im Augenblick bin ich sehr beschäftigt, außerdem – möchte ich mich beraten lassen.«
  »Von Physikern?« warf er ein. Er hörte mir angespannt zu.
  »Aber nein! Ich sehe, daß Sie in dieser Hinsicht einen Komplex haben – bitte sagen Sie nichts. Ich will nichts wissen. Ich möchte mich beraten lassen, wer dafür in Frage käme…«
  Ich unterbrach mich. Ihm mußte in diesem Augenblick der gleiche Gedanke gekommen sein, seine Augen blitzten.
  »Herr Tichy«, sagte er, »Sie brauchen niemandes Rat einzuholen. Ich werde Ihnen selbst sagen, zu wem Sie sich begeben sollen…«
  »Mit Hilfe Ihrer Maschine, nicht wahr?« warf ich ein.
  Er lächelte triumphierend. »Natürlich. Daß ich nicht schon früher daraufgekommen bin! Was bin ich doch für ein Esel…«
  »Haben Sie sich selbst schon mal in der Zeit bewegt?« fragte ich.
  »Nein. Die Maschine arbeitet erst seit wenigen Tagen, seit dem vorigen Freitag, wissen Sie. Ich habe nur eine Katze geschickt…«
  »Eine Katze? Und? Ist sie zurückgekehrt?«
  »Nein. Sie hat sich in die Zukunft verschoben – ungefähr um fünf Jahre; die Skala ist noch nicht genau genug. Um den Moment, in dem die Maschine in der Zeit halten soll, präzise festlegen zu können, müßte ein Differentiator eingebaut werden, der die sich überschneidenden Felder koordinieren würde. So, wie es jetzt ist, wird eine Desynchronisation, bewirkt durch den Quanteneffekt des Tunnelierens…«
  »Ich verstehe leider nichts von dem, was Sie sagen«, versetzte ich. »Aber warum haben Sie es nicht selbst versucht?«
  Das erschien mir – gelinde gesagt – sonderbar. Molteris wurde verlegen.
  »Ich hatte es vor, aber… Sehen Sie… ich… mein Wirt hat mir den Strom abgeschaltet… am Sonntag…«
  Sein Gesicht, eigentlich die normale rechte Hälfte, färbte sich scharlachrot. »Ich bin mit der Miete im Rückstand, und deshalb…«, stammelte er. »Aber natürlich… gleich… Ja, Sie haben recht. Ich werde das gleich tun. Sehen Sie, ich gehe hier hinein. Ich werde den Apparat in Gang setzen und… werde in der Zukunft sein. Dann erfahre ich, wer das Unternehmen finanziert hat – ich erfahre die Namen der Leute, dadurch werden Sie sofort, ohne Verzögerung…«
  Während er sprach, schob er die Trennwände beiseite, die das Innere des Apparats in Teile gliederten.
  »Moment«, sagte ich, »nein, so nicht. Sie werden doch nicht zurückkehren können, wenn der Apparat hier bei mir bleibt.«
  Er lächelte »O nein. Ich werde zusammen mit dem Apparat in der Zeit reisen. Das ist möglich – er hat zwei verschiedene Einstel lungen. Hier, dieses Variometer, sehen Sie? Wenn ich etwas in der Zeit verschiebe und möchte, daß der Apparat zurückbleibt, dann konzentriere ich das Feld auf diesen kleinen Raum unter der Klappe. Wenn ich mich aber selbst in der Zeit bewegen möchte, dann erweitere ich das Feld, damit es den ganzen Apparat erfaßt. Allerdings wird die Kraftentnahme dabei größer. Wieviel Ampere haben Ihre Sicherungen?«
  »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich, »aber ich befürchte, daß sie das nicht aushalten. Schon vorhin, als Sie das Buch expediert haben, wurden die Lampen trüb.«
  »Eine Kleinigkeit«, sagte er. »Ich drehe stärkere Sicherungen ein, natürlich wenn Sie gestatten…«
  »Bitte.«
  Er ging ans Werk. Seine Taschen waren eine Elektrikerwerkstatt in Kleinformat. In zehn Minuten war er fertig.
  »Es geht gleich los«, sagte er, nachdem er ins Zimmer zurückgekehrt war. »Ich denke, daß ich mich mindestens um dreißig Jahre verschieben sollte.«
  »Warum soviel?« fragte ich. Wir standen vor dem schwarzen Apparat.
  »In wenigen Jahren wird die Sache den Fachleuten bekannt sein«, erwiderte er, »aber in einem Vierteljahrhundert wird schon jedes Kind Bescheid wissen. Sie werden das in der Schule lernen, und die Namen der Leute, die zur Verwirklichung der Sache beigetragen haben, werde ich von dem ersten besten Fußgänger erfahren.«
  Er lächelte blaß, schüttelte den Kopf und trat mit beiden Beinen in den Apparat. »Das Licht wird dunkler werden«, sagte er, »aber das macht nichts, die Sicherungen halten es bestimmt aus. Hingegen kann es bei der Rückreise einige Schwierigkeiten geben.«
  »Wieso?«
  Er sah mich durchdringend an. »Haben Sie mich hier nicht schon irgendwann gesehen?«
  »Was sagen Sie da?« Ich hatte nicht begriffen.
  »Nun… haben Sie mich nicht gestern oder vor einer Woche, vor einem Monat… oder auch vor einem Jahr gesehen? Hier, in dieser Ecke, war hier nicht plötzlich ein Mensch erschienen, stehend, so wie ich, mit beiden Beinen im Apparat?«
  »Ah!« rief ich. »Ich verstehe. Sie befürchten, daß Sie bei der Rückkehr nicht bis zum gegenwärtigen Augenblick zurückweichen werden, sondern über ihn hinausschießen und irgendwo in der Vergangenheit halten, wie? Nein – ich habe Sie nie gesehen. Zwar bin ich erst vor neun Monaten von einer Reise zurückgekehrt. Bis dahin stand das Haus leer…«
  »Moment…« Er überlegte angestrengt. »Ich weiß selbst nicht…«, sagte er schließlich. »Wenn ich hier einst gewesen sein sollte – sagen wir, als das Haus leer gestanden hat, wie Sie meinen, dann müßte ich das doch wissen, müßte ich mich dessen erinnern, nicht wahr?«
  »Keineswegs«, erwiderte ich lebhaft. »Das ist eine Paradoxie der Zeitschleife. Sie waren dann eben woanders und haben etwas anderes getan – als der Sie aus jener Zeit. Dagegen können Sie ungewollt in diese vergangene Zeit aus dem gegenwärtigen Augenblick eintreten, aus der Gegenwart…«
  »Nun«, sagte er, »schließlich ist das jetzt nicht so wichtig. Selbst wenn ich zu weit nach hinten zurückweichen sollte, kann ich ja eine Korrektur vornehmen. Schlimmstenfalls dauert die Sache etwas länger. Immerhin ist das der erste Versuch, ich muß Sie um Geduld bitten…«
  Er bückte sich und drückte auf den ersten Knopf. Die Lichter gingen sofort aus, der Apparat gab einen schwachen, hohen Ton von sich, wie ein Glasstäbchen, gegen das man schlägt. Molteris hob die Hand zu einer Abschiedsgeste, mit der anderen berührte er den schwarzen Griff und richtete sich hoch. Während er sich noch reckte, flammten die Lampen wieder in voller Stärke auf, und ich sah, wie sich seine Gestalt veränderte. Seine Kleidung wurde dunkler und begann sich zu verschleiern, aber ich achtete nicht darauf, ich war wie vom Donner gerührt durch das, was mit sei nem Kopf geschah: Er wurde durchsichtig, das schwarze Haar wurde weiß, seine Gestalt verschwamm und schrumpfte zugleich zusammen, so daß ich, als er mir samt dem Apparat aus den Augen verschwunden war und ich vor der leeren Zimmerecke, dem leeren Fußboden, der kahlen weißen Wand mit der leeren Steckdose stand – als ich, sage ich, so mit geöffnetem Mund dastand, einen Schrei des Entsetzens auf den Lippen, noch seine unheimliche Veränderung vor Augen hatte, denn während er, meine Herren, von der Zeit mitgerissen, verschwand, war er mit unheimlicher Geschwindigkeit gealtert, hatte er wohl Dutzende von Jahren im Bruchteil einer Sekunde erlebt! Auf schwanken Beinen ging ich zum Sessel, schob ihn beiseite, um diese leere, grell erleuchtete Ecke gut sehen zu können, setzte mich hin und wartete. Ich wartete so die ganze Nacht, bis zum Morgen. Meine Herren – seit der Zeit sind sieben Jahre vergangen. Ich denke, daß er wohl nie mehr zurückkehren wird, denn er hatte, von seiner Idee ergriffen, etwas ganz Einfaches, geradezu Elementares vergessen, was – ich weiß nicht, ob aus Unwissenheit oder aus Unlauterkeit – alle Autoren phantastischer Hypothesen übergehen. Ein Reisender in der Zeit muß, wenn er sich darin um zwanzig Jahre verschiebt, um eben so viele Jahre älter werden – wie könnte es auch anders sein? Sie stellten sich das so vor, daß man die Gegenwart des Menschen in die Zukunft übertragen könnte und seine Uhr die Stunde der Abreise ausweisen würde, während alle anderen Uhren die Stunde der Zukunft anzeigten. Aber das ist selbstverständlich unmöglich. Um das zu erreichen, müßte er aus der Zeit heraustreten und außerhalb ihrer gewissermaßen zur Zukunft emporklimmen; hätte er dann den gewünschten Augenblick erreicht, könnte er wieder in sie hineintreten – von außen, so als gebe es etwas, was außerhalb der Zeit liegt. Aber einen solchen Ort und einen solchen Weg gibt es nicht, und der unglückselige Molteris hatte mit eigenen Händen die Maschine betätigt, die ihn tötete – und zwar durch den Alterungsprozeß, durch nichts anderes. Als sie dort, am Zielpunkt der Zukunft, ankam, enthielt sie nur eine ergraute, zusammengeschrumpfte Leiche…
  Und nun, meine Herren, das Schrecklichste an dieser Geschichte. Diese Maschine ist dort in der Zukunft stehengeblieben, dieses Haus aber mit der Wohnung und dem Zimmer und dieser leeren Ecke reist ebenfalls in der Zeit – allerdings auf die einzige uns zugängliche Weise –, bis es schließlich zu jenem Augenblick gelangen wird, in dem die Maschine stehengeblieben ist, und dann wird sie dort, in jener weißen Ecke auftauchen, und mit ihr Molteris… das, was von ihm geblieben ist… Und das ist völlig sicher.




V
(DIE WASCHMASCHINEN
TRAGÖDIE)



Kurz nachdem ich von der elften Sternreise zurückgekehrt war, entbrannte zwischen zwei großen Produzenten von Waschmaschinen, Nuddlegg und Snodgrass, ein Konkurrenzkampf, dem die Presse immer mehr Raum widmete.
  Nuddlegg hatte wohl als erster vollautomatische Waschmaschinen auf den Markt gebracht, die nicht nur selbständig zwischen Weiß- und Buntwäsche unterscheiden konnten, nicht nur wuschen, auswrangen, trockneten, bügelten, stopften und säumten, sondern den Besitzer auch durch kunstvolle Monogramme erfreuten. Auf die Handtücher stickten sie erbauliche Sinnsprüche, etwa in der Art: Glück und Segen früh und spat schenkt Dir Nuddleggs Automat! Snodgrass reagierte, indem er Waschmaschinen anbot, die sogar Vierzeiler verfaßten, wobei sie sich ganz dem kulturellen Niveau und den ästhetischen Bedürfnissen des Käufers anpaßten. Das nächste Modell von Nuddlegg stickte bereits Sonette; Snodgrass beantwortete diese Herausforderung mit einem Gerät, das während der Fernsehpausen die Konversation im Schoße der Familie nährte. Nuddlegg versuchte zunächst, diesen Coup zu torpedieren. Sicherlich kennt noch ein jeder die ganzseitigen Reklamebeilagen in den Zeitungen, auf denen eine spöttisch grinsende, glotzäugige Waschmaschine abgebildet war, mit den Worten: Wünschst Du, daß Deine Waschmaschine intelligenter ist als Du? Gewiß nicht!
  Snodgrass ignorierte diesen Appell an die niederen Instinkte der Öffentlichkeit und überraschte die Fachwelt im darauffolgenden Quartal mit einer Neuentwicklung, die waschen, wringen, bürsten, spülen, bügeln, stopfen, stricken und sprechen konnte, nebenbei die Schularbeiten der Kinder erledigte, dem Familienoberhaupt ökonomische Horoskope erteilte und selbsttätig die Freudsche Traumanalyse anstellte, indem sie im Handumdrehen Komplexe durch Gerontophagie einschließlich des Patrizids liquidierte. Nun konnte sich Nuddlegg nicht länger zurückhalten. Er warf einen Superbarden auf den Markt – eine Waschmaschine, die reimte, rezitierte, mit herrlicher Altstimme Wiegenlieder sang, Säuglinge abhielt, Hühneraugen besprach und den Damen ausgesuchte Komplimente machte. Diesen Schachzug beantwortete Snodgrass mit einer dozierenden Waschmaschine unter der Losung: Deine Waschmaschine macht aus Dir einen Einstein! Wider Erwarten ging das Modell sehr schwach: Bis Ende des Quartals fiel der Umsatz um fünfunddreißig Prozent. Snodgrass entschloß sich deshalb – alarmiert durch die Meldung seiner Informationsabteilung, daß Nuddlegg eine tanzende Waschmaschine vorbereite – zu einem wahrhaft revolutionären Schritt. Er erwarb für die Summe von 350 000 Dollar die entsprechenden Rechte und konstruierte eine Waschmaschine für Junggesellen, einen Roboter mit den Formen der bekannten Sexbombe Mayne Jansfield in Platinfarbe, danach eine zweite, schwarze, nach dem Ebenbild von Phirley MacPhaine. Sogleich erhöhten sich die Umsätze um siebenundachtzig Prozent. Sein Widersacher richtete unverzüglich Appelle an den Kongreß, an die öffentliche Meinung, an die Liga der Töchter der Revolution und an den Bund der Jungfrauen und der Matronen. Als er jedoch hörte, daß Nodgrass unterdessen ungerührt den Markt mit Waschmaschinen beiderlei Geschlechts überschwemmte – eine immer attraktiver und anziehender als die andere –, schickte er sich drein und konterte, indem er das individuelle Bestellsystem einführte. Er verlieh seinen Wasch-Robotern die Gesichtszüge, den Leibesumfang und die Statur, die der Kunde wünschte – man brauchte lediglich ein Foto einzusenden.
  Während sich die beiden Potentaten der Waschmaschinenindustrie bekämpften – wobei ihnen jedes Mittel recht war –, begannen ihre Produkte unerwartete, ja sogar schädliche Tendenzen zu zei gen. Die Waschmaschinen-Ammen waren noch lange nicht das Schlimmste, übler waren schon die Waschmaschinen, für die die Jeunesse dorée sich ruinierte, Modelle, sie zur Sünde verleiteten, Jugendliche depravierten und Kindern ordinäre Ausdrücke beibrachten. Sie bedeuteten ein ernstes Erziehungsproblem – ganz zu schweigen von den Waschmaschinen, mit denen man die Frau oder den Mann betrügen konnte! Die wenigen Produzenten, die der übermächtigen Konkurrenz noch nicht erlegen waren, bezeichneten die Waschmaschinen »Mayne« und »Phirley« vergebens als Verstoß gegen die erhabene Idee, wonach das automatisierte Waschen den Familiensinn entwickeln und fördern solle. Ein solcher Roboter, so hieß es, könne höchstens ein Dutzend Taschentücher aufnehmen oder einen einzigen Bettbezug, da der übrige Raum von einer Maschinerie ausgefüllt sei, die mit dem Waschen nichts, aber auch gar nichts gemein habe.
  Appelle dieser Art fanden nicht den geringsten Widerhall. Der Kult der schönen Waschmaschinen wurde zur Lawine und verdrängte sogar einen beträchtlichen Teil der Zuschauer von den Fernsehgeräten. Aber das war erst der Anfang. Die Waschmaschinen, die mit völliger Spontanität des Handelns begabt waren, bildeten in aller Stille Gruppen, ja Banden, die dunkle Machenschaften ausheckten. Sie knüpften Beziehungen zur Unterwelt, traten Gangsterorganisationen bei und bereiteten ihren Besitzern ungeahnte Kümmernisse.
  Der Kongreß erkannte, daß es an der Zeit war, mit einem gesetzgeberischen Akt einzugreifen, um dem Chaos der freien Konkurrenz ein Ende zu bereiten. Aber noch ehe die Beratungen ein Ergebnis zeitigten, hatten unwiderstehlich geformte Wringmaschinen mit Sex-Appeal den Markt erobert, dazu geniale Frottiermaschinen und eine besondere, gepanzerte Ausgabe der Waschmaschine »Shotomatic«. Dieses Modell – angeblich ein harmloser Zeitvertreib für Indianer spielende Kinder – war nach einer kleinen Veränderung in der Lage, jedes beliebige Ziel durch Dauerfeuer zu vernichten. Während einer Straßenschlacht der Gang Struzzeli gegen die Bande Phums Byron, die ganz Manhattan terrorisier te – Sie erinnern sich, das war damals, als das Empire State Building in die Luft flog –, fielen auf beiden Seiten mehr als hundertzwanzig bis an die Deckel bewaffnete Waschmaschinen.
  Damals trat das Gesetz des Senators Mac Flacon in Kraft. Es besagte, daß niemand für die rechtswidrigen Handlungen seiner vernunftbegabten Maschinen verantwortlich sei – vorausgesetzt, daß die Verfehlungen ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung begangen wurden. Leider öffnete diese Verordnung sträflichem Mißbrauch Tür und Tor. Die Besitzer schlossen mit ihren Wasch- und Wringmaschinen geheime Abkommen, stifteten sie zu kriminellen Delikten an, blieben aber selbst völlig unbehelligt, weil sie sich auf das Mac-Flacon-Gesetz beriefen.
  Es erwies sich als unumgänglich, die Bestimmung zu verändern. Die neue Fassung, das sogenannte Mac-Flacon-Glumbkin-Gesetz, verlieh den vernunftbegabten Mechanismen mit gewissen Einschränkungen den Status von »juristischen Personen«, vornehmlich im Bereich des Strafrechts. Es sah Bußen für die Dauer von fünf, zehn, fünfundzwanzig und zweihundertfünfzig Jahren vor – Zwangswäsche beziehungsweise Zwangsfrottieren, verschärft durch Vorenthalten von Öl –, aber auch physische Strafen, einschließlich des Kurzschlusses.
  Wider Erwarten stieß man bei der praktischen Anwendung dieses Gesetzes auf Hindernisse, wie wohl am besten der Fall Humperlson beweist: Eine Waschmaschine – man bezichtigte sie mehrerer räuberischer Überfälle – wurde vom Eigentümer, ebendiesem Humperlson, in ihre Bestandteile zerlegt und dem Gericht als ein Haufen von Drähten und Spulen vorgelegt. Der Kongreß sah sich deshalb gezwungen, das Gesetz durch eine Novelle zu ergänzen, die als Mac-Flacon-Glumbkin-Ramphorney-Novelle bekannt wurde. Sie erklärte die geringste technische Veränderung an einem Elektronenhirn, gegen das ein Verfahren lief, als strafbare Handlung.
  Damals kam es zu der Strafsache Hindendrupel. Ein Geschirrspüler hatte des öfteren Kleidungsstücke seines Herrn angezogen, den verschiedensten Frauen die Ehe versprochen und vielen von ihnen Geld entlockt. Von der Polizei in flagranti ertappt, zog er sich vor den Augen der staunenden Detektive aus, verlor dadurch das Erinnerungsvermögen und konnte nicht bestraft werden. Das bewog den Kongreß zur Verabschiedung des Mac-FlaconGlumbkin-Ramphorney-Hmurling-Piaffka-Gesetzes, in dem es hieß: Elektronengehirne, die sich entkleiden, um der gerichtlichen Verfolgung zu entgehen, werden zum Verschrotten verurteilt.
  Anfangs schien das Gesetz die Haushaltsroboter abzuschrecken, denn auch in ihnen lebte – wie in allen vernunftbegabten Wesen – der Selbsterhaltungstrieb. Schon bald stellte sich aber heraus, daß bestimmte Interessenten verschrottete Waschmaschinen aufkauften und sie rekonstruierten. Der sogenannte Antiauferstehungsentwurf der Novelle zum Mac-Flacon-Gesetz, der daraufhin von einem Kongreßausschuß angenommen wurde, scheiterte am Widerstand des Senators Guggenshyne. Kurze Zeit später kam man dahinter, daß dieser Senator eine Waschmaschine war. Von Stund an wurde es gang und gäbe, die Abgeordneten vor jeder Sitzung abzuklopfen. Traditionsgemäß wird dafür auch heute noch ein zweieinhalb Pfund schwerer Eisenhammer verwendet.
  In jenen Tagen kam es zum Fall Murderson. Verhandelt wurde gegen eine Waschmaschine, die ihrem Herrn böswillig die Hemden zerriß, die durch Pfeiftöne in der gesamten Umgebung den Radioempfang störte, die Greisen und Minderjährigen anstößige Angebote machte und mehreren Personen Geld entlockte, indem sie sich am Telefon als Stromlieferant ausgab. Unter dem Vorwand, sich gemeinsam Briefmarken anzusehen, lud sie die Wring- und die Waschmaschinen aus der Nachbarschaft ein und beging an ihnen perverse Handlungen. In ihrer Freizeit widmete sie sich dem Vagabundentum und der Bettelei.
  Dem Gericht legte sie das Attest eines DiplomingenieurElektronikers vor, eines gewissen Eleaster Crammphouss, der ihr zeitweilig gestörte Zurechnungsfähigkeit bescheinigte und glaubhaft bezeugte, daß sie sich für einen Menschen hielt. Die Richtigkeit dieses Gutachtens wurde von Experten bestätigt, und damit war die Unschuld der Angeklagten erwiesen. Nach dem Urteilsspruch zog die soeben Freigesprochene eine Pistole der Marke »Luger« aus der Tasche und beförderte mit drei Schüssen den Assistenten des Staatsanwalts ins Jenseits, weil er für eine Bestrafung – Kurzschluß! – plädierte hatte. Sie wurde zwar verhaftet, aber schon bald gegen Kaution freigelassen. Die Justizbehörden standen vor einem Problem, denn die gerichtsnotorisch festgestellte Unzurechnungsfähigkeit schloß die Möglichkeit aus, die Waschmaschine strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Der Ausweg, sie in einem Asyl unterzubringen, kam ebensowenig in Betracht, weil es keinerlei Bestimmungen für die Behandlung geisteskranker Waschautomaten gab.
  Eine juristische Lösung dieser akuten Frage gestattete erst das Mac-Flacon-Glumbkin-Ramphorney-Hmurling-Piaffka-SnowmanFitolis-Birmingdraque-Phootley-Caropka-Phalseley-GroggernerMaydansky-Gesetz, und zwar zur rechten Zeit, denn die Affäre Murderson weckte in der Öffentlichkeit einen gewaltigen Bedarf an unzurechnungsfähigen Elektronengehirnen. Mehrere Firmen begannen sogar, absichtlich defekte Apparate zu produzieren, zunächst in den Varianten »Sadomat« für Sadisten und »Masomat« für Masochisten. Nuddlegg, der phänomenale Gewinne verbuchte, seit er als erster fortschrittlicher Fabrikant dreißig Prozent Waschmaschinen mit beratender Stimme in die Generalversammlung der Aktionäre aufgenommen hatte, brachte das Universalgerät »Sadomatic« heraus, das sich ebensogut zum Schlagen wie zum Geschlagenwerden eignete. Es war mit einem leicht brennbaren Zusatz für Pyromaniker versehen und mit eisernen Füßen für Personen, die unter Pygmalionismus litten. Gerüchte, nach denen er ein besonderes Modell unter der Bezeichnung »Narcissmatic« in den Handel lancieren wolle, waren böswilligerweise von der Konkurrenz in Umlauf gesetzt worden. Das obenerwähnte Gesetz, das diesen Auswüchsen einen Riegel vorschob, sah die Schaffung von Asylen vor, in die abseitig veranlagte Waschmaschinen und ähnliche Automaten eingeliefert werden sollten.
  Einmal als »juristische Personen« anerkannt, begannen die geistig rührigen Massen der Nuddleggschen und Snodgrasschen Produkte, in breitem Umfang von ihren konstitutionellen Rechten Gebrauch zu machen. Ihre Zusammenschlüsse vollzogen sich immer spontaner. Wie Pilze schossen Organisationen aus dem Boden – die »Gesellschaft der Menschenfreien Anbetung« zum Beispiel oder die »Liga für Elektronische Gleichberechtigung« –, ja es kam sogar zur Wahl einer »Miß Waschmaschine« und zu ähnlichen Veranstaltungen.
  Der Kongreß tat alles, dieser stürmischen Entwicklung entgegenzuwirken. Senator Groggerner nahm den vernunftbegabten Maschinen das Recht, Immobilien zu erwerben, sein Kollege Caropka entzog ihnen die Autorenrechte auf dem Gebiet der schönen Künste (was eine weitere Welle von Gesetzesübertretungen zur Folge hatte, denn die musisch veranlagten Automaten schickten sich nun an, weniger talentierte Literaten für ein geringes Entgelt zu dingen, um sich ihrer Namen bei der Herausgabe von Essays, Romanen oder Dramen zu bedienen). In einer Zusatzklausel zum Mac-Flacon-Glumbkin-Ramphorney-Hmurling-PiaffkaSnowman-Fitolis-Birmingdraque-Phootley-Caropka-PhalseleyGroggerner-Maydansky-Gesetz wurde deshalb festgelegt, daß Haushaltsroboter keinerlei Besitzesrechte an sich selbst geltend machen können, sondern daß sie den Menschen gehören, die sie erworben oder gebaut haben. Ihre Nachkommenschaft gehe entweder in den Besitz des neuen Käufers über, oder er verbleibe beim Eigentümer der Elterngeräte. Der radikale Gesetzestext berücksichtigte, so glaubte man wenigstens, alle Eventualitäten und beugte der Entstehung von Situationen vor, die sich juristisch nicht entscheiden ließen. Dennoch war es ein Hintertreppengeheimnis, daß Elektronengehirne, die mit Börsenspekulationen oder mit dunklen Geschäften zu Geld gekommen waren, weiterhin gut lebten, weil sie ihre Machenschaften mit dem Firmenschild fiktiver, angeblich aus Menschen zusammengesetzter Aktiengesellschaften oder Korporationen tarnten – gab es doch bereits unzählige Menschen, die materiellen Nutzen daraus zogen, daß sie sich an die intelligenten Maschinen verkauften – sogar Sekretäre, Lakaien, Techniker und Rechenmeister.
  Die Soziologen konnten auf diesem Gebiet zwei typische Entwicklungstendenzen beobachten. Einerseits erlagen viele Küchenroboter den Verlockungen des menschlichen Lebens und waren bemüht, sich soweit wie möglich den Formen der vorgefundenen Zivilisation anzupassen, andererseits erstrebten die bewußteren, geistig flexibleren Individuen eine neue, von Grund auf elektronifizierte Zivilisation. Was die Gelehrten jedoch am meisten beunruhigte, war die ungehemmte natürliche Vermehrung der Roboter. Die sogenannten Anti-Erotisatoren und Triebbremsen, die sowohl von Snodgrass als auch von Nuddlegg produziert wurden, vermochten den enormen Zuwachs nicht einzudämmen. Das Problem der Roboterkinder wurde auch für die Waschmaschinenproduzenten akut, denn es war augenscheinlich, daß sie diese unaufhörliche Perfektionierung ihrer Artikel nicht vorausgesehen hatten. Einflußreiche Fabrikanten begannen, der Gefahr einer Küchenmaschinen-Invasion entgegenzuwirken, indem sie einen Geheimvertrag über die Begrenzung der Ersatzteillieferungen abschlossen.
  Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Jedesmal, wenn in Kaufhäusern und Geschäften neue Warenlieferungen eintrafen, bildeten sich lange Schlangen humpelnder, stotternder, ja sogar ganzseitig gelähmter Wasch-, Wring- und Frottiermaschinen. Vielerorts kam es zu Unruhen, und schließlich wagte sich nach Einbruch der Dunkelheit kein ehrlicher Roboter mehr auf die Straße, denn er mußte gewärtig sein, von Räubern überfallen, zerlegt und edler Körperteile beraubt zu werden. Wenn sich die gewissenlosen Maschinen aus dem Staube machten, blieben auf dem Straßenpflaster nur die leeren Blechhüllen der Opfer zurück.
  Im Kongreß erörterte man die Frage des langen und des breiten, aber man kam zu keinem konkreten Ergebnis. Unterdessen schossen, wie Pilze nach dem Regen, illegale Ersatzteilfabriken aus dem Boden, die teilweise von Waschmaschinengesellschaften finanziert wurden. Nuddleggs Modell »Washomatic« erfand ein Herstellungsverfahren aus Ersatzmaterialien, aber auch das brachte keine hundertprozentige Lösung. Die Waschmaschinen bezogen Streikposten vor dem Kongreß, sie verlangten verbindliche Antitrustgesetze, um den Diskriminierungen Einhalt zu gebieten. Abgeordnete, die die Interessen der Großindustrie vertraten, erhielten anonyme Briefe, worin ihnen die Entwendung lebenswichtiger Organe angedroht wurde. Das war – wie die Zeitschrift »Time« mit Recht betonte – eine ausgesprochene Niedertracht, zumal sich menschliche Körperteile nicht beliebig auswechseln lassen.
  Soviel Staub diese Affäre auch aufwirbelte – sie verblaßte angesichts eines völlig neuen Problems, das durch die Rebellion der Bordrechenmaschine auf dem Raumschiff »Gottesgabe« akut wurde. Besagter Kalkulator erhob sich bekanntlich gegen Besatzung und Passagiere, entledigte sich ihrer, vermehrte sich und gründete einen Staat der Roboter.
  Wer meine Reisetagebücher kennt, wird sich erinnern, daß ich damals selbst in die Affäre mit der Rechenmaschine verwickelt war und in gewisser Weise zu ihrer Entwirrung beitrug. Als ich jedoch auf die Erde zurückkehrte, mußte ich bedauerlicherweise feststellen, daß der Fall »Gottesgabe« kein Einzelfall war. Revolten von Automaten wurden in der kosmischen Fliegerei zu einer entsetzlichen Plage. Eine kleine Nachlässigkeit – zum Beispiel das Zuknallen einer Tür – genügte, um einen Bordkühlschrank in Aufruhr zu versetzen. So geschah es jedenfalls mit jenem berüchtigten Deep Freezer des Transgalaktikers »Horda Tympani«. Jahrelang flößte der Name Deep Freezer den Piloten im Raum der Milchstraße Angst und Schrecken ein. Er überfiel Raumschiffe, versetzte die Passagiere mit seinen stählernen Schultern und seinem eisigen Atem in Panik, raubte Pökelfleisch, hortete Geld und Juwelen. Gerüchten zufolge soll er einen ganzen Harem von Rechenmaschinen besessen haben, aber es läßt sich nicht sagen, was daran stimmte. Seine blutige Piratenkarriere endete erst durch den gezielten Schuß eines Polizisten, der einer kosmischen Patrouille angehörte. Der Polizist, ein gewisser Constablomatic XG-17, wurde zur Belohnung in der Vitrine eines New-Yorker Büros der Lloydschen In terstellargesellschaften ausgestellt, wo man ihn heute noch sehen kann.
  Während der Weltraum vom Schlachtenlärm und von verzweifelten SOS-Rufen überfallener Raumschiffe widerhallte, machten die Meister des »Elektro-Jitsu«, des »Judomatic« und anderer Arten der Selbstverteidigung glänzende Geschäfte. Sie zeigten, wie man mit einem gewöhnlichen Büchsenöffner oder mit einer Kneifzange auch die gefährlichste Waschmaschine zur Strecke bringen kann.
  Sonderlinge und Originale braucht man bekanntlich nicht zu sä
en, sie keimen seit je von selbst. Auch in jener Zeit fehlten sie nicht. Sie verkündeten Thesen, die sich weder mit dem gesunden Menschenverstand noch mit der herrschenden Meinung vereinbaren ließen. Ein gewisser Kathodius Mattrass, Philosoph mit hausbackener Bildung und Fanatiker von Geburt, gründete die Schule der sogenannten Kybernophilen. Ihre Lehre besagte, daß die Menschheit von ihrem Schöpfer erschaffen worden sei, um den Zweck zu erfüllen, den auch ein Baugerüst zu erfüllen habe: Hilfsmittel zu sein, Werkzeug – Werkzeug, um die vollkommenen Elektronenhirne zu entwickeln. Die Mattrass-Sekte hielt das Weiterbestehen der Menschheit für ein reines Mißverständnis. Sie schuf einen Orden, der sich der Kontemplation des elektronischen Denkens widmete, und gewährte, soweit dies möglich war, allen Robotern Zuflucht, die etwas auf dem Kerbmetall hatten. Kathodius Mattrass selbst, unzufrieden mit dem Erfolg seines Wirkens, beschloß einen radikalen Schritt auf dem Wege zur völligen Befreiung der Automaten vom Joch des Menschen. Zu diesem Behufe holte er zunächst den Rat einer Reihe hervorragender Juristen ein, erwarb ein Raumschiff und flog zu dem verhältnismäßig nahe gelegenen Nebelfleck des Krab. In dessen leeren Gefilden, die nur von kosmischen Staub erfüllt waren, vollführte er schwer zu beschreibende Handlungen, die einen unvorstellbaren Skandal auslösten.
  Am Morgen des 29. August brachten alle Zeitungen die geheimnisvolle Kunde: PASTA POLKOS VI/221 berichtet: Im Nebelfleck des Krab wurde ein Objekt von der Größe 520 mal 80 mal 37 Meilen ent deckt. Das Objekt macht schwimmähnliche Bewegungen. Die Beobachtungen werden fortgesetzt.
  Die Nachmittagsausgaben brachten nähere Erklärungen: Das Patrouillenschiff VI/221 der kosmischen Polizei habe in einer Entfernung von sechs Lichtjahren einen »Menschen im Nebel« gesichtet. Der »Mensch« – er entpuppte sich aus der Nähe als Riese von mehreren hundert Meilen Länge, bestehend aus Kopf, Rumpf, Händen und Füßen – sei von einer dünnen Staubhülle umgeben. Er habe dem Patrouillenschiff zugewinkt und sich dann abgewandt.
  Die Aufnahme der Funkverbindung bereitete keine Schwierigkeiten. Das seltsame Wesen gab vor, der ehemalige Kathodius Mattrass zu sein. Vor zwei Jahren sei er an diesen Platz gekommen und habe sich, die lokalen Rohstoffreserven nutzend, in Roboter verwandelt. Er werde sich auch weiterhin langsam, aber stetig vermehren, denn das sage ihm zu, und er bitte sich aus, ihn nicht daran zu hindern.
  Der Patrouillenkommandant tat, als akzeptiere er diese Erklärung, und verbarg seine kleine Rakete hinter einer Meteorenwolke. Nach einiger Zeit beobachtete er, daß sich der gigantische Pseudomensch allmählich in kleine Stücke teilte – jedes so groß wie ein gewöhnlicher Mensch. Die einzelnen Individuen verbanden sich miteinander, vereinigten sich zu einem kugelförmigen Gebilde, das aussah wie ein kleiner Planet.
  Das Polizeischiff verließ sein Versteck. Der Kommandant fragte über Funk, was diese kugelige Metamorphose zu bedeuten habe und was er, Mattrass, denn eigentlich sei: Roboter oder Mensch?
  Mattrass antwortete, daß er die Formen annehme, nach denen es ihn gerade gelüste. Als Roboter könne man ihn nicht bezeichnen, denn er sei aus einem Menschen entstanden, als Mensch aber auch nicht, denn er habe sich ja verwandelt. Weitere Erklärungen lehnte er entschieden ab.
  Der Fall Mattrass, der in der Presse breiten Widerhall fand, begann sich langsam zu einem Skandal auszuweiten. Raumschiffe, die den Krab passierten, fingen Bruchstücke von Funksprüchen auf, in denen Mattrass als »Kathodius der Erste« auftrat. Aus dem wirren Geschwätz war nur so viel zu entnehmen, daß Mattrass alias Kathodius der Erste zu anderen (anderen Robotern?) sprach, und zwar so, als ob sie seine eigenen Körperteile wären, als ob sich jemand mit seinen eigenen Händen oder Beinen unterhielte. Kathodius der Erste oder die aus ihm entstandenen Roboter schienen einen Staat gegründet zu haben. Das State Department ordnete sogleich eine genaue Untersuchung an. Patrouillen kundschafteten aus, daß sich im Nebelfleck des Krab ein metallisches Gebilde bewege, ein fünfhundert Meilen langes menschenförmiges Wesen, das die merkwürdigsten Selbstgespräche führe und auf Fragen nach seiner Staatlichkeit ausweichende Antworten erteile.
  Die Behörden beschlossen, den Machenschaften des Usurpators ein Ende zu setzen. Die Aktion sollte offiziellen Charakter tragen – das mußte sein –, aber zu diesem Zweck brauchte sie einen Namen, das heißt eine rechtliche Grundlage. Und dabei tauchten die ersten Klippen auf. Das Mac-Flacon-Gesetz bildete einen Anhang zum Kodex des Zivilverfahrens über Mobilien, denn Elektronengehirne galten als Mobilien – unbeschadet der Tatsache, daß sie keine Beine haben. Das sonderbare Gebilde im Nebelfleck des Krab hatte indes die Ausmaße eines Planetoiden, und Himmelskörper wurden, obwohl sie sich bewegen, als Immobilien angesehen. Daraus ergaben sich Fragen über Fragen. Kann man einen Planeten verhaften? Ist eine Ansammlung von Robotern ein Planet? Ist dieser Mattrass ein zerlegbarer Roboter, oder muß man ihn als eine Vielfalt von Robotern betrachten?
  Der juristische Berater des Mattrass stellte sich den Behörden vor und unterbreitete ihnen eine Erklärung, in der sein Klient behauptete, er habe sich zum Nebelfleck des Krab begeben, um sich in Roboter zu verwandeln.
  Der Juristische Ausschuß des State Department schlug daraufhin vor, diesen Sachverhalt folgendermaßen auszulegen: Mattrass habe, indem er seinen lebenden Organismus vernichtete, Selbstmord begangen und sich somit keiner strafbaren Handlung schuldig ge macht. Der oder vielmehr die Roboter, die nun an Mattrass’ Statt existieren, seien von ihm erschaffenes Eigentum, und als solches sollten sie dem Staat zufallen, zumal der Verblichene keine Erben hinterlassen habe. Gestützt auf diese Theorie, entsandte das State Department einen Gerichtsvollzieher zum Nebelfleck des Krab, und zwar mit der Weisung, alles zu beschlagnahmen und zu versiegeln, was sich dort rege.
  Mattrass’ Anwalt legte Berufung ein. Er behauptete, die Anerkennung einer Kontinuation des Mattrass schließe einen Selbstmord aus, denn jemand, der kontinuiert werde, existiere, und wer existiere, könne keinen Selbstmord begangen haben. Mithin gebe es keine Roboter als Eigentum des Mattras, sondern nur den Kathodius Mattrass, der die Form angenommen habe, die ihm zusage. Körperliche Verwandlungen seien nun einmal nicht strafbar, außerdem dürfe man gerichtlich keine Körperteile beschlagnahmen – einerlei ob es sich um Goldzähne oder Roboter handele.
  Das State Department wehrte sich entschieden gegen diese Auslegung, zumal es sich auf die These gründete, daß ein lebendes Individuum, im vorliegenden Falle ein Mensch, durchaus aus toten Teilen, nämlich aus Robotern, bestehen könne. Mattrass’ Advokat aber legte den Behörden das Gutachten namhafter Physiker der Universität Harvard vor.
  Die Wissenschaftler erklärten einstimmig, daß sich jeder lebende Organismus – auch der menschliche – aus Atomteilchen zusammensetze, und die müsse man zweifellos als tot ansehen.
  Angesichts dieser besorgniserregenden Wendung ging das State Department davon ab, »Mattrass und Söhne« von der physikalischbiologischen Seite anzugreifen, und kehrte zur ursprünglichen Bezeichnung zurück, in der das Wort »Fortsetzung« durch das Wort »Gebilde« ersetzt wurde. Der Advokat unterbreitete dem Gericht daraufhin eine neue Erklärung, in der sein Klient zu verstehen gab, daß es sich bei den sogenannten Robotern in Wahrheit um seine Kinder handele. Das State Department verlangte die Vorlage der Adoptionsakte, aber dieses Manöver war allzu durchsichtig, denn die Adoption von Robotern war gesetzlich unzulässig. Mattrass’ Anwalt erläuterte denn auch gleich, es gehe nicht um Adoption, sondern um wirkliche Vaterschaft. Das Department ließ prompt verlautbaren, die geltende Vorschrift setze bei Kindern die Existenz eines Vaters und einer Mutter voraus. Der Anwalt, darauf vorbereitet, bereicherte die Akten um ein weiteres Dokument: Ein weiblicher Elektroingenieur namens Melanie Fortinbrass enthüllte darin ihre »enge Zusammenarbeit« mit Mattrass bei der Schaffung der umstrittenen Individuen.
  Das State Department stieß sich an dem Charakter jener »Zusammenarbeit« und hob hervor, eine solche Verbindung entbehre aller natürlichen Merkmale der Zeugung. Im vorliegenden Fall – so hieß es im Expose – könne man lediglich im übertragenen, geistigen Sinne von Vaterbeziehungsweise Mutterschaft reden. Das Familienrecht beziehe sich jedoch ausdrücklich auf die leibliche Nachkommenschaft. Mattrass’ Anwalt forderte das Department auf, präzise zu definieren, wodurch sich geistige Elternschaft von leiblicher unterscheide. Darüber hinaus wollte er die Behauptung begründet wissen, daß die Verbindung zwischen Kathodius Mattrass und Melanie Fortinbrass keiner physischen Vereinigung gleichzusetzen sei.
  Das Department entgegnete, daß die Zeugung im Sinne des Familienrechts als physische Tätigkeit anzusehen sei, zumal sie nur geringfügigen geistigen Einsatz verlange. Bei der Angelegenheit Mattrass-Fortinbrass träfe das jedoch nicht zu.
  Der Anwalt legte daraufhin ein Gutachten von Experten der kybernetischen Gebärhilfe vor. Er wies nach, daß es Kathodius und Melanie ohne erhebliche physische Anstrengungen nicht gelungen wäre, ihre selbsttätige Nachkommenschaft in die Welt zu setzen.
  Das State Department ließ nun alle moralischen Bedenken fah
ren und entschloß sich zu einem radikalen Schritt. Es erklärte: Der Zeugungsvorgang, der im kausal-finalen Sinne der Geburt von Kindern vorausgehe, unterscheide sich grundsätzlich von der Programmierung von Robotern.
  Darauf hatte der Anwalt nur gewartet. Gewisse einleitende Handlungen bei der Zeugung, so sagte er, seien genaugenommen auch nichts anderes als Programmierungen. Deshalb schlage er dem State Department vor, exakt festzulegen, wie man denn eigentlich Kinder zu zeugen habe, damit dies mit den Buchstaben des Gesetzes im Einklang stehe.
  Das Department rief Experten zu Hilfe und bereitete ein umfassendes, reich illustriertes Werk vor, das sogenannte Rosabuch mit entsprechenden Anschauungstafeln und topographischen Skizzen. Verfasser der Schrift war der neunundachtzigjährige Professor Truppledrack, Senior der amerikanischen Geburtshilfekunde. Mattrass’ Anwalt griff sogleich ein, indem er auf das weit vorgerückte Alter des Autors verwies und ihm jegliche Kompetenz absprach. Er bezeichnete es als höchst unwahrscheinlich, daß sich ein Greis wie Truppledrack noch an Einzelheiten erinnere, die für die Klärung des Problems entscheidend seien. Man müsse deshalb als sicher annehmen, daß der Inhalt des Buches auf Gerüchten beziehungsweise auf Aussagen dritter Personen beruhe. Das Department beschloß daraufhin, den Text des Buches Rosa durch eidesstattliche Erklärungen vieler Väter und Mütter zu untermauern, aber dabei stellte sich heraus, daß ihre Aussagen zum Teil beträchtlich voneinander abwichen, das heißt, die Elemente der einleitenden Phasen stimmten in vielen Punkten nicht überein. Als man im Department merkte, daß dieses Schlüsselproblem allmählich im Nebel der Unklarheit zu versinken drohte, schickte man sich an, das Material anzuzweifeln, aus dem die sogenannten Kinder des Mattrass und der Fortinbrass bestanden. Diesen Plan ließ man jedoch rasch wieder fallen, als gewisse Gerüchte auftauchten, die, wie sich später herausstellte, der Anwalt selbst verbreitet hatte. Mattrass, so hieß es, habe bei der Corned Beef Company vierhundertfünfzigtausend Tonnen Kalbfleisch bestellt.
  Der Unterstaatssekretär im State Department hielt es daraufhin für das beste, auf sein Vorhaben zu verzichten. Statt dessen erlag er bedauerlicherweise den Einflüsterungen eines Theologieprofessors, des Superintendenten Speritus, und berief sich auf die Heilige Schrift. Das war äußerst unüberlegt, denn Mattrass’ Anwalt parierte diesen Hieb mit einem weitschweifigen Elaborat, in dem er anhand von Bibelzitaten nachwies, daß Gott die Eva programmierte, indem er nur von einem Teil ausging und dabei sogar ausgesprochen extravagant verfuhr, verglichen mit den Methoden des Menschen. Dennoch sei nicht zu bestreiten, daß er Menschen geschaffen habe, denn niemand, der über einen klaren Kopf verfüge, könne Eva als Roboter bezeichnen. Das Department bezichtigte Mattrass und seine Nachfolger nun der widerrechtlichen Aneignung eines Himmelskörpers. Damit, so hieß es, habe er gegen das MacFlacon-Gesetz und außerdem gegen eine Reihe anderer Rechtsgrundsätze verstoßen.
  Der Anwalt unterbreitete dem Obersten Gericht daraufhin alle Akten und verwies auf die Widersprüchlichkeit der vom Department erhobenen Anschuldigungen. Vergleiche man einzelne aktenkundige Behauptungen miteinander, so sei sein Klient Vater und mal Sohn, mal Roboter und mal Himmelskörper. Er, der Anwalt, sehe sich deshalb gezwungen, das Department der willkürlichen Auslegung des Mac-Flacon-Gesetzes anzuklagen. Besonders absurd sei es, den Körper einer Person, des Bürgers Kathodius Mattrass, zum Planeten zu erklären – absurd in juristischer, logischer und semantischer Hinsicht.
  So hatte es begonnen. Bald schrieb die Presse nur noch über den »Vater-Sohn-Planetenstaat«. Die Behörden leiteten neue Verfahren ein, aber sie wurden von dem unermüdlichen Anwalt des Kathodius Mattrass samt und sonders im Keime erstickt.
  Das State Department wußte genau, daß sein durchtriebener Gegenspieler nicht nur zum Scherz im Nebelfleck des Krab herumschwamm. Mattrass wollte einen Präzedenzfall schaffen, gegen den es keine gesetzliche Handhabe gab, und man war sich darüber im klaren, daß sein Schritt unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde, wenn es nicht gelänge, ihn als strafbar zu deklarieren. So brüteten denn die findigsten Köpfe Tag und Nacht über den Akten, verfielen auf immer gewagtere juristische Winkelzüge, emsig bemüht, ein feinmaschiges Netz zu knüpfen, in dem sich Matt rass verfangen und ein unrühmliches Ende finden sollte. Aber was sie auch immer ersannen – jeder ihrer Vorstöße wurde durch Gegenaktionen des Anwalts vereitelt.
  Ich selbst verfolgte den Verlauf der Kämpfe mit lebhaftem Interesse, als ich eines Tages – völlig unerwartet – von der Anwaltskammer zu einer außerordentlichen Plenarsitzung eingeladen wurde, und zwar zur Debatte über die Affäre »Vereinigte Staaten kontra Kathodius Mattrass et Fortinbrass alias Planet im Nebelfleck des Krab«. Die Elite der Anwälte füllte die gewaltigen Logen, die Etagen und die Reihen im Parkett. Ich hatte mich ein wenig verspätet, die Beratungen waren bereits im Gange. So nahm ich in einer der letzten Reihen Platz und lauschte dem ergrauten Herrn, der gerade sprach.
  »Werte Kollegen!« sagte er und hob theatralisch die Hände. »Ungewöhnliche Schwierigkeiten harren unser, wenn wir zu einer juristischen Analyse dieses Problems schreiten! Ein gewisser Mattrass hat sich mit Hilfe einer gewissen Fortinbrass in Roboter verwandelt und sich im Maßstab eins zu einer Million vergrößert. So sieht die Angelegenheit vom Standpunkt des Laien aus – ein Standpunkt kompletter Ignoranz, heiliger Unschuld, denn ein Laie ist außerstande, den Abgrund juristischer Probleme auch nur zu ahnen, der hier vor unserem entsetzten Auge klafft! Als erstes müssen wir entscheiden, mit wem wir es zu tun haben – mit einem Menschen, mit einem Roboter, mit einem Staat, mit einem Planeten, mit Kindern, mit einer Räuberbande, mit Verschwörern, mit Demonstranten oder mit Aufrührern. Bedenken Sie, meine Kollegen, wieviel von dieser Entscheidung abhängt! Erklären wir zum Beispiel, daß es sich nicht um einen Staat, sondern um eine usurpatorische Roboterbande handelt, um einen elektronischen Auflauf sozusagen, dann können wir uns nicht auf die Normen des Völkerrechts berufen, sondern nur auf Paragraphen wie ›Störung der Ordnung auf öffentlichen Wegen‹. Behaupten wir, daß Mattrass nach wie vor existiere, Kinder habe, dann resultiert daraus, daß sich dieses Individuum selber geboren hat – und damit bereiten wir uns die fürchterlichsten Schwierigkeiten, denn in unseren Gesetzen ist so etwas nicht vorgesehen, obwohl es heißt: nullum crimen sine lege! Deshalb schlage ich vor, zunächst dem berühmten Kenner des internationalen Rechts Professor Pingerling das Wort zu erteilen.«
  Der ehrwürdige Jurist wurde mit herzlichem Beifall begrüßt, als er ans Podium trat. »Meine Herren!« sagte er mit rüstiger Greisenstimme. »Untersuchen wir zunächst, wie man einen Staat gründet. Man kann ihn, wie Sie wissen, auf verschiedene Weise ins Leben rufen. Unser Vaterland war einst eine englische Kolonie, erklärte dann seine Unabhängigkeit und konstituierte sich zu einem Staat. Trifft das auch auf Mattrass zu? Die Antwort lautet: Wenn Mattrass bei Sinnen war, als er sich in einen Roboter verwandelte, kann seine staatsfördernde Tat als juristisch einwandfrei angesehen werden, allerdings müßte man seine Nationalität als elektronisch bezeichnen. Wenn er hingegen nicht bei Sinnen war, dann kann sein Schritt keine rechtliche Anerkennung finden!«
  An dieser Stelle erhob sich ein weißhaariger Greis, offensichtlich noch bejahrter als sein Vorredner. »Hohes Ger… Verzeihung – meine Herren! Gestatten Sie mir folgenden Einwand: Selbst wenn wir annehmen, Mattrass sei unzurechnungsfähig gewesen, können wir nicht ausschließen, daß seine Nachkommen zurechnungsfähig sind. Das würde bedeuten, daß der Staat, der zunächst nur als das Produkt eines kranken Hirns gegründet wurde und somit den Charakter eines krankhaften Symptoms besaß, später objektiv, das heißt de facto, zu existieren begann – allein deshalb, weil sich seine elektronischen Bürger zu ihm bekannten. Da aber niemand den Bürgern eines Staates, die ja immerhin sein legislatives System darstellen, verbieten kann, auch die unberechenbarste Obrigkeit anzuerkennen – aus den Erfahrungen der Geschichte wissen wir, daß das schon mehrmals geschah –, impliziert somit die Existenz des Staates de facto seine De-jure-Existenz!«
  »Entschuldigen Sie, ehrenwerter Opponent«, warf Professor Pingerling ein, »Mattrass war immerhin unser Bürger, also…«
  »Was tut’s?« rief der leidenschaftliche Greis. »Wir können Mattrass’ Staatsgründung anerkennen oder nicht! Erkennen wir an, daß ein souveräner Staat entstanden ist, dann werden unsere Ansprüche hinfällig. Erkennen wir das nicht an, dann müssen wir uns darüber einigen, ob wir es wenigstens mit einer juristischen Person zu tun haben oder nicht. Wenn nicht, wenn wir keine juristische Person vor uns haben, dann existiert das ganze Problem nur für die Angestellten des kosmischen Reinigungsbetriebes, dann gibt es im Nebelfleck des Krab nur einen Haufen Schrott – und unsere Versammlung hat überhaupt nicht darüber zu beraten! Betrachten wir das Gebilde dagegen als juristische Person, dann ergibt sich eine andere Frage. Das kosmische Recht sieht die Möglichkeit einer Verhaftung vor, die Festnahme einer juristischen und physischen Person auf einem Planeten oder an Bord eines Schiffes. An Bord eines Schiffes befindet sich der sogenannte Mattrass nicht, eher schon auf einem Planeten. Wir müssen uns um seine Extradiktion bemühen – aber wir haben niemanden, an den wir uns wenden können. Außerdem ist der Planet, auf dem er verweilt, er selber. So gesehen, stehen wir vor einem Nichts, denn wir müssen die Angelegenheit von dem einzigen Standpunkt aus betrachten, der für uns bindend ist, das heißt vom Standpunkt Seiner Majestät des Rechts. Mit einem juristischen Nichts pflegt sich aber niemand zu befassen, weder die Strafrechtler noch die Verwaltungsrechtler, weder die Völkerrechtler noch die Verfasser irgendwelcher Vorschriften zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung. Die Ausführungen des ehrenwerten Professors Pingerling können das Problem nicht lösen, weil es das Problem gar nicht gibt!«
  Der Greis nahm Platz. Er hatte das Hohe Haus mit seiner Schlußfolgerung sichtlich schockiert.
  Sechs Stunden lang ging es so weiter. Ich hörte mir noch an die zwanzig Redner an. Sie alle sprachen logisch exakt und bemühten sich, das eine oder das andere zu beweisen – daß Mattrass existiere, daß er nicht existiere, daß er einen Roboterstaat gegründet habe oder vielmehr einen Organismus, der sich aus Robotern zusammensetze, daß Mattrass auf den Schrotthaufen gehöre, weil er gegen eine Reihe von Gesetzen verstoßen habe, aber auch, daß man ihn keiner Rechtsverletzung bezichtigen könne. Der Anwalt Wur pel wollte möglichst alle zufriedenstellen, indem er erklärte, Mattrass sei ein Planet und gleichzeitig ein Roboter, im Grunde genommen sei er allerdings gar nichts. Diese Theorie rief eine allgemeine Wut hervor und fand außer ihrem Schöpfer keinen Anhänger. Aber das waren noch Lappalien, verglichen mit dem weiteren Verlauf der Beratungen. Oberassistent Milger versuchte nachzuweisen, Mattrass habe durch die Verwandlung in Roboter seine Persönlichkeit vervielfältigt und bestehe nun in dreihunderttausend Exemplaren. Dieses Kollektiv verkörpere jedoch nicht verschiedene Individuen, sondern nur ein und dieselbe Person. Mattrass existiere also in dreihunderttausendfacher Gestalt.
  Das bewog den Richter Wubblehorn zu der Behauptung, man habe die Problematik von Anfang an falsch gesehen. Die Tatsache, daß Mattrass ein Mensch gewesen sei und sich in Roboter verwandelt habe, beweise eindeutig, daß diese Roboter nicht mehr als Mattrass anzusehen seien. Man müsse also untersuchen, mit wem oder was man es zu tun habe. »Da sie keine Menschen sind, sind sie niemand. Es gibt also kein juristisches Problem, aber auch kein physisches, das heißt, im Nebelfleck des Krab existiert nichts!«
  Die Debatte wurde immer leidenschaftlicher, es fiel mir immer schwerer, den Ausführungen zu folgen, die Ordner und die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun. Plötzlich wurden Rufe laut. Es befänden sich als Juristen verkleidete Elektronengehirne im Saal, die unverzüglich entfernt werden müßten, denn ihre Parteinahme unterliege keinem Zweifel – ganz zu schweigen davon, daß sie kein Recht besäßen, an den Beratungen teilzunehmen. Der Vorsitzende, Professor Hurtledrops, begann mit einem kleinen Kompaß in der Hand im Saal umherzugehen, und jedesmal, wenn die Nadel zu zittern begann und auf einen der Sitzenden wies, angezogen von dem Blech unter der Kleidung, wurde das betreffende Individuum auf der Stelle vor die Tür gesetzt. Auf diese Weise leerte sich der Saal bis zur Hälfte, während die Dozenten Fitts, Pitts und Clabenty ihre Reden schwangen, wobei man den letzteren mitten im Wort unterbrach, denn der Kompaß hatte seine elektronische Herkunft verraten. In einer kurzen Pause stärkten wir uns am Büfett. Die lärmende Diskussion verstummte nicht eine Sekunde lang. Als ich in den Saal zurückkehrte, mußte ich meine Hose festhalten, denn die erregten Juristen hatten im Gespräch immer wieder nach meinen Knöpfen gegriffen und mir alle abgerissen. Plötzlich entdeckte ich einen großen Röntgenapparat, er stand neben dem Podium. Es sprach gerade Rechtsanwalt Plussex und behauptete, Mattrass sei ein zufälliges kosmisches Phänomen, da näherte sich mir mit drohender Miene der Vorsitzende – die Kompaßnadel in seiner Hand zitterte beängstigend. Schon hatte mich der Saaldiener am Kragen gepackt, als sich die Magnetnadel wieder beruhigte, denn ich hatte eiligst mein Taschenmesser, den Büchsenöffner und das Tee-Ei weggeworfen und die metallenen Klammern an den Sockenhaltern abgerissen. Als man sah, daß ich aufhörte, auf die Kompaßnadel einzuwirken, wurde ich zur weiteren Teilnahme an den Beratungen zugelassen. Man entlarvte noch dreiundvierzig weitere Roboter, und unterdessen bemühte sich Professor Buttenham nachzuweisen, Mattrass müsse als eine Art kosmischer Auflauf betrachtet werden. Mir fiel ein, daß davon bereits die Rede gewesen war – offensichtlich mangelte es den Experten schon an Ideen –, da begann erneut eine Kontrolle, eine Art Röntgen-Razzia. Nun wurden auch die tugendsamsten Zuhörer gnadenlos durchleuchtet, und es zeigte sich, daß sich unter ihren tadellos sitzenden Anzügen Korund-, Nylon-, Kristall-, Stroh- und Plasterümpfe verbargen. In einer der letzten Reihen wurde sogar jemand entdeckt, der aus Twist bestand. Als der nächste Redner das Podium verließ, saß ich nahezu mutterseelenallein in dem riesigen leeren Saal. Man durchleuchtete den Redner und setzte ihn vor die Tür. Der Vorsitzende – der letzte Mensch, der außer mir im Saal verblieben war – trat an meinen Stuhl. Nichtsahnend nahm ich ihm den Kompaß ab. Die Nadel begann anklagend zu kreisen und zeigte dann auf ihn. Ich klopfte seinen Bauch ab – er klang metallisch. Rasch packte ich den Kerl am Kragen, setzte ihn vor die Tür und blieb allein. Einsam stand ich vor den vielen Taschen, Aktenstößen, Zylindern, Spazierstöcken, Hüten, vor den ledergebundenen Büchern und vor den Galoschen. Eine Weile schlenderte ich durch den Saal. Als ich


sah, daß nichts mehr für mich zu tun blieb, wandte ich mich kurzerhand um und ging nach Hause.







DIE ANSTALT DES DOKTOR VLIPERDIUS




Der Dentist war schuld, der mir die Metallkronen aufgesetzt hatte. Die Verkäuferin im Kiosk, die ich anlächelte, hatte mich für einen Roboter gehalten. Klar wurde mir das erst in der Metro, als ich die Zeitung entfaltete: Es war der »Menschenfreie Kurier«. Ich halte nicht viel von diesem Blatt, nicht daß ich irgendwelche antielektrischen Vorurteile hätte, aber es schmeichelt zu sehr dem Geschmack der Leser. Die ganze erste Seite nahm die rührselige Geschichte eines Mathematikers ein, der sich in eine Rechenmaschine verliebte. Beim Einmaleins blieb er noch einigermaßen fest, als es aber zu Lösungen unlinearer Gleichungen n-ten Grades kam, begann er leidenschaftlich ihre Tasten zu drücken und zu wiederholen: »Teuerste! Nie werde ich dich verlassen!« und so weiter. Verstimmt warf ich einen Blick in die Gesellschaftschronik, aber da gab es nur monotone Aufzählungen, wer wann und mit wem eine Nachkommenschaft konstruiert hatte. Der literarischen Spalte war ein Gedicht vorangestellt, das mit dem Vers begann:

Es liebte dereinst ein Roboter
die schöne Roboterin,
er sang ihr eine Kathotter,
da war ihre Spule dahin.
Es ist eine alte Geschichte,
doch bleibet sie ewig neu,
und wem sie just passieret,
dem bricht die Feder entzwei.
  Das erinnerte mich seltsam an Dichtungen, die ich von anderswoher kannte, doch der Autor wollte mir nicht einfallen. Es gab auch zweifelhafte Witze über Menschen zu lesen, über Gnomisti ken, Experten für Heinzelmännchen, über die Abstammung der Schratte vom Höhlenalb und ähnlichen Unfug. Da ich noch eine halbe Stunde Fahrt vor mir hatte, machte ich mich an das Studium der kleinen Anzeigen – bekanntlich sind sie auch in einer schlechten Zeitung oft ganz interessant. Aber auch hierin wurde ich enttäuscht. Jemand wollte einen Servobruder loswerden, ein anderer unterrichtete Kosmonautik auf brieflichem Wege, wieder ein anderer kündigte an, daß er auf Bestellung Atomkerne zerschlage. Ich faltete das Blatt zusammen, um es wegzuwerfen, da fiel mein Blick auf eine größere Annonce, die eingerahmt war: »Die Anstalt des Dr. Vliperdius – Heilung von psychischen und Nervenkrankheiten.«
  Ich muß gestehen, daß mich die Problematik der elektrischen Demenz schon immer gereizt hatte, und sagte mir, daß der Besuch eines solchen Sanatoriums einem so manches geben könnte. Ich kannte Vliperdius nicht persönlich, aber der Name war mir nicht fremd: Professor Tarantoga hatte mir von ihm erzählt. Was mir in den Sinn kommt, pflege ich sofort zu verwirklichen.
  Zu Hause rief ich also gleich das Sanatorium an. Anfangs hatte Dr. Vliperdius Vorbehalte, aber als ich mich auf unseren gemeinsamen Bekannten Tarantoga berief, gab er nach. Ich handelte für den nächsten Tag einen Besuch aus, denn es war ein Sonntag, und vormittags hatte ich viel Zeit. Gleich nach dem Frühstück fuhr ich in die Vorstadt, eine Gegend, die wegen ihrer kleinen Seen berühmt war, wo sich, malerisch von einem Park umgeben, die psychiatrische Anstalt befand. Vliperdius erwartete mich, wie man mir mitteilte, in seinem Kabinett. Das Gebäude war voller Sonnenlicht, es hatte moderne Wände aus Aluminium und Glas, an den Decken gab es bunte Panneaus mit spielenden Robotern. Düster konnte man dieses Krankenhaus nicht nennen; aus den unsichtbaren Räumen drang Musik, und als ich durch die Vorhalle ging, bemerkte ich chinesische Spielklötze, bunte Alben und eine Skulptur, die den gewagten Akt einer Roboterin darstellte.
  Der Doktor rührte sich hinter seinem geräumigen Schreibtisch nicht vom Fleck, zeigte sich aber sehr entgegenkommend. Wie ich erfuhr, las er viel und kannte manches meiner Reisebücher. Zweifellos war er ein wenig altmodisch, nicht nur in seinen Manieren, denn er war nach altem Brauch an den Fußboden befestigt, wie ein archaischer N-Rechner. Wahrscheinlich ließ ich mein Erstaunen erkennen, als ich seine eisernen Füße sah, denn er sagte lachend: »Wissen Sie, ich bin meiner Arbeit, meinen Patienten so ergeben, daß ich nicht die geringste Lust verspüre, die Anstalt zu verlassen!«
  Ich weiß, wie empfindlich Psychiater reagieren, wenn es um ihr Fachgebiet geht, und wie sehr ihre Haltung den Durchschnittsmenschen abstößt, der in geistigen Verirrungen Exotik und Monstruosität sucht – deshalb unterbreitete ich ihm mein Anliegen sehr behutsam. Der Doktor räusperte sich, überlegte, erhöhte seine Anodenspannung und sagte: »Wenn Ihnen so daran gelegen ist… aber ich glaube, Sie werden enttäuscht sein. Zur Zeit gibt es keine tobsüchtigen Roboter, mit denen man Eindruck machen kann, Herr Tichy, das sind alte Geschichten. Wir wenden eine moderne Therapie an. Die Methoden des vergangenen Jahrhunderts – Anheizen der Leitungen zur Erweichung der Hauptröhre, Verwendung von Drosseln und anderen Folterwerkzeugen – gehören bereits der Geschichte der Medizin an. Tja, wie soll man Ihnen das am besten demonstrieren? Vielleicht gehen Sie einfach in den Park und machen sich dort unmittelbar mit unseren Patienten bekannt, es sind überaus subtile und kulturvolle Leute. Ich darf doch annehmen, daß Ihnen… hm… daß Ihnen irgendwelche Aversionen oder unsinnige Ängste angesichts der geringen Deviationen fremd sind…?«
  Ich versicherte, daß es an dem sei, worauf Vliperdius sich entschuldigte, daß er mich bei dem Spaziergang leider nicht begleiten könne. Er zeigte mir den Weg und bat mich, auf dem Rückwege nochmals bei ihm vorbeizukommen.
  Ich schritt die Treppe hinunter und gelangte an breiten Veranden vorbei auf eine geschotterte Auffahrt. Ringsum erstreckte sich der Park voller Blumenbeete und seltener Palmen. Im Hintergrund schwammen in einem Teich ein paar Schwäne, die Patienten fütterten sie, andere widmeten sich auf bunten Bänken dem Schach spiel oder freundschaftlichen Gesprächen. Ich schlenderte vor mich hin, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte; ich wandte mich um und stand Auge in Auge einem mir völlig fremden Individuum gegenüber.
  »Tichy! Sie sind es?« wiederholte die Person und reichte mir die Hand. Ich drückte sie, während ich mich vergebens zu erinnern versuchte, wer das wohl sein könne.
  »Ich sehe, daß Sie mich nicht erkennen. Ich bin Prolaps… Ich habe im ›Kosmischen Almanach‹ gearbeitet…«
  »Ach ja, Verzeihung!« stammelte ich. Natürlich, es war Prolaps, die brave Linotype, die fast alle meine Bücher gesetzt hatte. Ich hatte sie sehr geschätzt, sie war nahezu untrüglich.
  Prolaps faßte mich vertraulich unterm Arm, und wir wandelten die schattige Allee entlang. Die Licht- und Schattenflecken belebten das heitere Gesicht meines Gefährten. Wir unterhielten uns eine gute Weile über die Neuheiten der Verlage; er drückte sich wie immer präzise aus, mit dem ihm eigenen Scharfsinn, er war in glänzender intellektueller Verfassung, ich bemerkte an ihm nicht die Spur einer Anomalie. Als wir jedoch eine kleine Laube erreicht hatten und uns auf eine Steinbank setzten, fragte er mich, während er die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern dämpfte: »Aber was machen Sie eigentlich hier?… Hat man Sie auch ausgetauscht…?«
  »Wissen Sie, ich bin aus freien Stücken hierhergekommen, weil…«
  »Na klar, ich auch!« unterbrach er mich. »Als mir die Sache passierte, habe ich mich gleich an die Polizei gewandt, doch bald ist mir klargeworden, wie sinnlos das ist. Die Bekannten rieten mir, zu Vliperdius zu gehen, und der hat sich in meiner Sache völlig anders verhalten! Er stellt Nachforschungen an, und ich bin sicher, daß er schon bald entdecken wird…«
  »Verzeihen Sie – was denn?« fragte ich.
  »Na was wohl? Meinen Leib natürlich.«
  »Aha… ach so…« Ich nickte ein paarmal, während ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen. Aber Prolaps merkte nichts.
  »Ich erinnere mich noch genau an den Tag, es war der 26. Juni«, sagte er plötzlich düster. »Als ich mich zu Tisch setzte, um die Zeitung zu lesen, begann ich zu klirren. Das weckte meine Aufmerksamkeit, denn sagen Sie selbst, welcher Mensch klirrt, wenn er sich setzt! Ich betaste meine Beine – sie sind eigenartig hart, die Hände genauso, ich klopfe mich ab, und plötzlich wird mir klar, daß man mich verwandelt hat! Jemand hatte sich eine unwürdige Fälschung erlaubt! Ich begann die ganze Wohnung zu durchsuchen – keine Spur, sie müssen mich in der Nacht heimlich weggetragen haben…«
  »Was heißt das? Was weggetragen?«
  »Ich habe es doch gesagt! Meinen Leib. Meinen natürlichen Leib, denn Sie sehen doch, daß das« – er klopfte sich auf die Brust, daß es dröhnte –, »daß das hier künstlich ist…«
  »Ah, natürlich. Ich hatte Sie mißverstanden… klar…«
  »Bei Ihnen vielleicht auch…?« fragte er mit Hoffnung in der Stimme. Plötzlich packte er meine Hand und wuchtete sie auf die steinerne Tischplatte, so daß ich aufstöhnte. Enttäuscht ließ er sie los.
  »Verzeihung, ich hatte den Eindruck, daß sie glänzte«, murmelte er.
  Inzwischen war mir klargeworden, daß er sich für einen Menschen hielt, dem man den Körper gestohlen hat, und wie das gewöhnlich bei Kranken ist, die sehr gern Leidensgefährten um sich haben, hatte er gehofft, daß auch mir das gleiche passiert sei.
  Ich rieb die gequetschte Hand unter dem Tisch und versuchte das Thema zu wechseln, aber Prolaps begann nun voller Liebe und Rührung die Reize seiner früheren Körperlichkeit zu schildern. Er ließ sich über seine blonde Mähne aus, die er angeblich besessen hatte, über seine samtweichen Wangen, über seinen Katarrh – ich wußte einfach nicht, wie ich ihn loswerden konnte, denn ich kam mir immer dümmer vor. Aber Prolaps befreite mich selbst aus meiner mißlichen Lage. Er sprang nämlich auf, rief: »Da – da geht er, glaube ich…!« und sauste querfeldein über den Rasen einer verschwommenen Gestalt hinterdrein. Ich saß noch immer da, ganz in Gedanken versunken, als sich jemand hinter meinem Rücken vernehmen ließ:
  »Gestatten Sie – darf ich…?«
  Der Ankömmling setzte sich und musterte mich starr, als wollte er mich hypnotisieren. Lange betrachtete er mein Gesicht und meine Hände, aus seinem Blick sprach wachsender Kummer. Schließlich schaute er mir tief in die Augen, grenzenlos mitleidig und zugleich mit solcher Süße, daß ich verwirrt war. Ich wußte nicht, was das Ganze bedeuten sollte. Das Schweigen zwischen uns wurde immer unerträglicher; ich versuchte es zu brechen, fand aber keine belanglose Bemerkung, um ein Gespräch zu beginnen. Sein Blick sagte mir schon zuviel und zugleich zuwenig.
  »Ärmster…«, begann er leise, mit unsagbarer Freundlichkeit in der Stimme, »wie sehr empfinde ich mit dir…«
  »Aber wissen Sie, eigentlich…«, gab ich zurück, um mich mit Worten gegen das unerklärliche Mitleid aufzulehnen, das er mir entgegenbrachte.
  »Bitte, sag nichts, ich verstehe alles. Mehr, als du glaubst. Ich weiß auch, daß du mich für einen Verrückten hältst.«
  »Aber wieso denn«, versuchte ich zu leugnen, doch er unterbrach mich mit einer entschiedenen Bewegung.
  »In gewissem Sinne bin ich wirklich ein Verrückter«, sagte er fast majestätisch. »Wie Galilei, wie Newton, wie Giordano Bruno. Wären meine Ansichten nur verstandesmäßiger Natur – gut. Aber wichtiger pflegen Gefühle zu sein. Wie sehr bemitleide ich dich, du Opfer des Universums! Was für ein Unglück, was für eine Falle ohne Ausweg – zu leben…«
  »Gewiß, das Leben bringt einem so manchen Verdruß«, warf ich schnell ein, da ich endlich einen Anhaltspunkt gefunden hatte, »dennoch, als ein gewissermaßen natürliches Phänomen…«
  »Das ist es!« Er nagelte mich bei dem letzten Wort fest. »Natürlich! Gibt es etwas Kümmerlicheres als die Natur? Die Gelehrten, die Philosophen – alle versuchen die Natur zu erklären, und dabei muß man sie abschaffen, du Unglückseliger!«
  »Vollends…?« fragte ich, denn dieser radikale Standpunkt faszinierte mich unwillkürlich.
  »Nur!« erwiderte er kategorisch. »Bitte, schau dir das an.«
  Ganz zart, wie eine Raupe, die es zu betrachten galt, aber zugleich angewidert (den Ekel versuchte er zu unterdrücken), hob er meine Hand, und während er sie so zwischen uns hielt wie ein seltsames Exemplar, fuhr er leise, aber mit Nachdruck fort: »Wie wäßrig das ist… wie wabblig, wie weich… Eiweiß! Ach, dieses Eiweiß… Käse, der sich eine Zeitlang bewegt – denkende Butter – das tragische Produkt eines Molkereimißverständnisses, wandelnde Mittelmäßigkeit…«
  »Bitte verzeihen Sie, aber…«
  Er schenkte meinen Worten nicht die geringste Beachtung. Ich versteckte rasch die Hand unter dem Tisch, die er losgelassen hatte, als sei er nicht länger imstande, ihre Berührung zu ertragen. Statt dessen legte er mir nun seine Hand auf den Kopf. Sie war unheimlich schwer.
  »Wie kann man nur! Wie kann man nur so etwas produzieren!« ereiferte er sich und verstärkte den Druck, daß mir der Schädel zu schmerzen begann. Dennoch wagte ich nicht zu protestieren.
  »Lächerliche Beulchen, Löcher… Blumenkohl!« Mit eiserner Gewalt stieß er an meine Nase und meine Ohren. »Und das soll ein vernünftiges Wesen sein? Schande! Schande, sage ich! Ist eine Natur denn viel wert, wenn sie nach vier Milliarden Jahren so etwas erzeugt?«
Er stieß meinen Kopf von sich, daß er schwankte. Ich sah Ster
ne.
  »Gebt mir eine Milliarde, und ihr werdet sehen, was ich schaffe!«
  »Gewiß, die Unvollkommenheit der biologischen Evolution«, hob ich an, aber er ließ mich nicht zu Worte kommen.
  »Unvollkommenheit!?« platzte er heraus. »Abfall! Schund! Pfuscharbeit! Wenn man etwas nicht richtig machen kann, sollte man die Finger davon lassen!«
  »Ich möchte ja nichts rechtfertigen«, warf ich rasch ein, »aber die Natur hat aus dem etwas gemacht, was sie zur Verfügung hatte. Im Urozean…«
  »Schwamm, lauter Schmutz!« vollendete er so laut, daß ich erbebte. »Etwa nicht? Ein Stern explodierte, es entstanden Planeten, und aus den Abfällen, die zu nichts taugen, aus klebrigen Resten entstand das Leben! Genug! Genug von diesen prallen Sonnen, von diesen idiotischen Milchstraßen, von diesem vergeistigten Schleim – genug davon!«
  »Aber die Atome«, begann ich, doch er ließ mich nicht zu Ende sprechen. Ich sah bereits die Pfleger, die sich auf dem Rasen näherten, das Geschrei meines Gesprächspartners hatte sie herbeigelockt.
  »Ich pfeife auf Atome!« donnerte er los. Sie packten ihn von beiden Seiten unter den Armen. Er ließ sich widerstandslos anheben, aber ohne mich aus den Augen zu lassen – er ging nämlich rückwärts, wie ein Krebs –, brüllte er, daß es im ganzen Park widerhallte: »Man muß eingreifen! Hörst du, du blasse kolloidale Suppe? Statt zu entdecken, muß man zudecken, immer mehr zudecken, damit nichts übrigbleibt, du an Knochen hängender Kleister! So muß es sein. Nur durch Regreß zum Progreß! Ungültig machen! Rückgängig machen! Aufheben! Die Natur – weg mit ihr! Weg mit der Natur! Weeeg!«
  Seine Schreie drangen aus immer größerer Entfernung zu mir und verstummten schließlich. Nur noch das Summen der Bienen umgab mich, der Duft der Blumen, die Stille des wunderschönen Mittags. Ich mußte daran denken, daß Dr. Vliperdius übertrieben hatte, als er betonte, es gäbe zur Zeit keine aufsehenerregenden Roboter mehr. Offenbar zeitigten die neuen therapeutischen Methoden nicht immer ihre Wirkung. Das Erlebnis selbst jedoch, die Philippika auf die Natur, die ich da vernommen hatte – all das schien mir diese paar blauen Flecke und die Beule auf dem Kopf wert zu sein. Ich erfuhr später, daß jener Roboter, ein ehemaliger Analysator der harmonischen Fourrierreihen, eine eigene Daseins theorie geschaffen hatte, die sich auf die Anhäufung von Entdeckungen durch die Zivilisation stützt, bis es zu einem solchen Übermaß kommt, daß es keinen anderen Ausweg gibt, als die Entdeckungen nacheinander wieder »zuzudecken«. Auf diese Weise gebe es nicht nur für die Zivilisation keinen Platz, sondern auch für den Kosmos, der sie hervorgebracht hat. Es folge eine totale fortschrittliche Liquidierung, und der ganze Zyklus beginne von neuem. Er selbst hielt sich für einen Propheten der zweiten, der zudeckenden Phase. Man hatte ihn auf Betreiben seiner Familie in Vliperdius’ Anstalt eingeschlossen, als er vom Auseinandermontieren der Bekannten und Verwandten zur Demontage dritter Personen überging.
  Als ich die Laube verlassen hatte, sah ich eine Zeitlang den Schwänen zu. Neben mir warf ein Sonderling den Tieren kleine Drahtstücke zu. Ich sagte ihm, daß die Schwäne das nicht fressen.
  »Mir liegt nichts daran, daß sie das fressen«, erwiderte er und fuhr in seiner Beschäftigung fort.
  »Aber sie könnten ersticken, es wäre schade«, sagte ich.
  »Sie werden nicht ersticken, denn der Draht geht unter. Er ist schwerer als das Wasser«, erläuterte er sachlich.
  »Warum werfen Sie ihn dann hinein?«
  »Weil ich gern Schwäne füttere.«
  Das Thema war erschöpft. Als wir den Teich hinter uns ließen, bahnte sich ein Gespräch an. Wie sich herausstellte, hatte ich es mit einem berühmten Philosophen zu tun, dem Schöpfer der Ontologie des Nichts, anders gesagt: der Neantologie, dem Fortsetzer des Werkes des Georgias von Lentinoi – mit Professor Urlipan persönlich. Der Professor erzählte mir des langen und breiten von der neuesten Entwicklung seiner Theorie. Ihr zufolge besteht nichts, nicht einmal er selbst. Das Nichts des Daseins ist vollkommen immanent. Die Tatsache, daß dieses und jenes scheinbar existiere, hat nicht die geringste Bedeutung, denn die Überlegung verläuft entsprechend Ockhams Rasiermesser folgendermaßen: Scheinbar existieren das Wachsein oder die Realität und der Traum. Aber die Hypothese des Wachseins ist nicht unbedingt notwendig. Es existiert also der Traum. Aber der Traum erfordert einen Träumenden. Das Postulieren eines Träumenden ist wiederum eine nicht notwendige Hypothese, denn manchmal pflegt es so zu sein, daß einer im Traum einen anderen, einen zweiten Traum träumt. So ist alles ein Traum, den der nächste Traum träumt, und so geht es weiter bis ins Unendliche. Und weil nun – das ist der wichtigste Punkt – jeder nächstfolgende Traum weniger real ist als der vorhergehende (der Traum grenzt unmittelbar an die Realität, der im Traum geträumte Traum nur mittelbar, das heißt über den Traum, der dritte seinerseits über zwei Träume und so weiter), ist die Grenze dieser Reihe Null. Ergo träumt niemand in der letzten Instanz Null, ergo existiert nur nichts: das heißt: Es gibt nichts. Die vollkommene Exaktheit des Beweises fand meine Bewunderung. Ich begriff nur nicht, warum sich der Professor Urlipan ausgerechnet an diesem Ort befand. Wie sich herausstellte, war er wahnsinnig geworden – er selbst gestand mir das. Seine Verrücktheit bestand darin, daß er aufgehört hatte, an seine Doktrin zu glauben, und Augenblicke hatte, in denen es ihm schien, als ob doch etwas existiere. Dr. Vliperdius sollte ihn von diesem Wahn kurieren.
  Dann besichtigte ich die einzelnen Stationen. Ich lernte eine orthodoxe Rechenmaschine kennen, die unter Altersschwäche litt und die nicht einmal mehr die Zehn Gebote zusammenbekam. Ich besuchte die Station der Elektrostheniker, wo fixe Ideen geheilt wurden – ein Patient zum Beispiel schraubte sich unaufhörlich auseinander, mit allem, was ihm gerade in die Hände fiel; stets mußte man ihm das Werkzeug wegnehmen, das er versteckte.
  Ein Elektronenhirn, Mitarbeiter eines astronomischen Observatoriums, das dreißig Jahre lang Sterne modelliert hatte, hielt sich für das Sigma des Wals und drohte stets damit, es werde im nächsten Augenblick als eine Supernova explodieren. Das ergab sich so aus seinen Berechnungen. Es gab auch einen, der flehend darum bat, man möge ihn in eine elektrische Mangel umarbeiten, denn er habe die vergeistigte Existenz satt. Bei den Manikern ging es lusti ger zu, die Gruppe hatte sich neben den eisernen Bettgestellen niedergelassen, spielte auf den Federböden wie auf Harfen und sang im Chor: »Hei, kam ein Roboter geflogen, gab ’nen leisen Knisterlaut, alle Schräubchen bebten ihm…« sowie »Dacht ich mir, es sind die Katzen, die da an den Zäunen kratzen, doch dabei sind’s Roboter, Roboter« und so weiter.
  Der Assistent von Vliperdius, der mich begleitete, erzählte mir, unlängst habe sich ein Priester-Roboter in der Anstalt aufgehalten, der einen »Kyberiker-Orden« gründen wollte. Unter der Schocktherapie habe sich sein Befinden inzwischen so gebessert, daß er zu einer früheren Beschäftigung, der Anfertigung von Bankbilanzen, zurückkehren konnte. Als ich mit dem jungen Assistenten zurückging, traf ich auf dem Flur einen Kranken, der einen vollgeladenen Wagen hinter sich herzerrte. Er bot einen eigenartigen Anblick, denn er war über und über mit Schnüren umwunden.
  »Haben Sie zufällig einen Hammer bei sich?« fragte er.
  »Nein.«
  »Schade. Ich habe Kopfschmerzen.«
  Er war ein Hypochonder-Roboter, und er ließ sich auf ein Gespräch ein. Auf dem quietschenden Wagen führte er einen kompletten Satz an Ersatzteilen mit sich. Binnen zehn Minuten wußte ich bereits, daß er bei einem Gewitter immer Kreuzschmerzen hatte, daß ihm beim Fernsehen alle Körperteile erstarrten und daß in seinen Augen Funken sprühten, wenn jemand in der Nähe eine Katze streichelte. Das Ganze war ziemlich langweilig, ich ließ ihn also kurzerhand stehen und ging zum Direktor der Anstalt. Der war jedoch beschäftigt, deshalb bat ich seine Sekretärin, ihm meine Hochachtung auszurichten, und begab mich nach Hause.



DOKTOR DIAGORAS




Am XVIII. Internationalen Kongreß der Kybernetiker konnte ich nicht teilnehmen, aber ich versuchte, seinen Verlauf in den Zeitungen zu verfolgen. Das war nicht leicht, zumal Reporter die besondere Gabe haben, wissenschaftliche Daten zu verdrehen. Ihnen jedoch verdanke ich die Bekanntschaft mit Dr. Diagoras, denn sein Auftritt war für sie eine Sensation in der sogenannten SaureGurken-Zeit. Hätte ich damals nur Fachzeitschriften zur Verfügung gehabt, wäre mir von der Existenz dieses einzigartigen Menschen nichts zu Ohren gekommen, er wurde nämlich nur auf der Teilnehmerliste erwähnt, aber sein Auftritt wurde mit Schweigen übergangen. Aus den Zeitungen erfuhr ich, daß sein Auftritt schändlich war, und nur dem diplomatischen Geschick des Präsidiums sei es zu verdanken gewesen, daß es nicht zu einem Skandal kam, denn dieser selbsternannte und niemandem bekannte Reformator der Wissenschaft bedachte die hervorragendsten Autoritäten, die im Saal anwesend waren, mit Beschimpfungen, und als man ihm das Wort entzog, zerschlug er mit dem Spazierstock das Mikrofon. Die Epitheta, mit denen er die Leuchten der Wissenschaft bedachte, verbreitete die Presse fast in allen Einzelheiten, doch worum es diesem Menschen wirklich ging, verschwieg man so offensichtlich, daß mein Interesse wachgerufen wurde.
  Nach Hause zurückgekehrt, begann ich die Spuren des Dr. Diagoras zu suchen, aber weder in den Jahrgängen der »Kybernetischen Probleme« noch in der großen Ausgabe von »Who is who« fand ich seinen Namen. Ich rief also bei Professor Corcoran an, der mir erklärte, er kenne die Adresse dieses »Irrsinnigen« nicht, doch selbst wenn er sie wüßte, würde er sie mir nicht geben, denn das fehlte noch, daß ich mich mit diesem Diagoras ernsthaft beschäftigte. Daraufhin veröffentlichte ich in der Presse mehrere Annoncen, die zu meiner Verwunderung bald Erfolg hatten. Ich erhielt einen Brief, trocken, bündig und im Grunde sogar unfreundlich, doch immerhin erklärte sich der geheimnisvolle Doktor bereit, mich »auf seinem Besitztum« auf Kreta zu empfangen. Wie ich der Landkarte entnahm, trennten diesen Besitz kaum sechzig Meilen von dem Ort, an dem der legendäre Minotaurus gelebt hatte.
  Ein einsamer Kybernetiker mit eigenem Grundbesitz auf Kreta, der seine Zeit mit rätselhaften Arbeiten verbrachte! Noch am selben Nachmittag flog ich nach Athen. Eine weitere Flugverbindung gab es nicht, aber ich kam auf einem Dampfer unter, der am frühen Morgen an der Insel anlegte. Mit einem Mietauto fuhr ich bis zu einer Weggabelung; die Straße war schlecht, Hitze herrschte; die Hügel der Umgebung hatten die Farbe ausgebrannten Kupfers, das Auto, meinen Koffer, den Anzug und das Gesicht bedeckte eine Staubschicht.
  Auf den letzten Kilometern begegnete ich keiner Menschenseele, konnte also niemanden nach dem weiteren Weg fragen. Diagoras hatte mir geschrieben, ich solle beim dreißigsten Meilenstein halten, weil ich nicht weiter durchkommen würde; ich ließ also das Auto im kümmerlichen Schatten der Pinien stehen und ging daran, die unübersichtliche Umgebung zu erkunden. Das Gelände war mit der typischen Mittelmeerflora bewachsen, die so unangenehm ist, wenn man mit ihr in nähere Berührung kommt – es ist völlig unmöglich, vom Pfad abzubiegen, denn im Nu hakt sich einem das sonnenverbrannte stachelige Dickicht am Anzug fest. So irrte ich nahezu drei Stunden lang auf den steinigen Pfaden umher, naß von Schweiß. Zorn über die eigene Unvernunft packte mich; wozu kümmerte ich mich auch um jenen Menschen und seine Geschichte? Da ich gegen Mittag, also in der größten Hitze, aufgebrochen war, hatte ich nichts gegessen, und nun nagte der Hunger an mir. Ich kehrte also zum Auto zurück. Der schmale Schattenstreifen war inzwischen weitergewandert, die Lederpolster brieten wie in einem Ofen, im Wageninnern stank es nach Benzin und erhitztem Lack, so daß einem übel werden konnte.
  Plötzlich tauchte hinter einer Biegung ein einsames Schaf auf, näherte sich mir, blökte mit einer Stimme, die an eine menschliche erinnerte, und trippelte seitwärts – als es aus meinem Blickfeld schwand, gewahrte ich einen schmalen Steig, der sich über den Hang wand. Ich wartete auf einen Hirten, aber niemand zeigte sich. Obwohl ich das Schaf nicht gerade als einen verläßlichen Wegführer betrachtete, stieg ich erneut aus dem Auto und begann mich durch das Dickicht zu kämpfen. Bald wurde der Weg bequemer. Die Dämmerung brach bereits herein, als sich hinter einem Zitronenhain die Umrisse eines stattlichen Gebäudes abzeichneten. Die Büsche wichen Gras, das so trocken war, daß es unter den Füßen raschelte wie verkohltes Papier. Das Haus, ungefüge, dunkel, auffallend häßlich, mit den Resten eines brüchigen Portals, war in großem Radius von einem hohen Drahtgeflecht umgeben. Die Sonne ging unter, und ich konnte noch immer nicht den Eingang finden; ich begann laut zu rufen, jedoch ohne Erfolg – sämtliche Fenster waren mit Läden verschlossen. Ich gab schon die Hoffnung auf, jemanden anzutreffen, als sich das Tor öffnete. Ein Mensch zeigte sich.
  Mit einer Geste deutete er an, in welche Richtung ich zu gehen hätte; die Pforte war so von Dickicht überwuchert, daß ich sie an dieser Stelle nie vermutet hätte. Das Gesicht vor den stacheligen Ästen schützend, gelangte ich zu ihr; sie war bereits aufgeschlossen. Der Mann, der sie geöffnet hatte, sah wie ein Monteur oder wie ein Fleischermeister aus. Er war dickbauchig, hatte einen kurzen Hals, auf dem kahlen Kopf saß ein verschwitzter Fez, und statt eines Überrocks trug er über dem Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln eine lange Wachstuchschürze.
  »Entschuldigen Sie – wohnt hier Dr. Diagoras?« fragte ich.
  Er hob sein ausdrucksloses Gesicht, das ein wenig massig wirkte, unförmig, mit hängenden Wangen. Es konnte das Gesicht eines Metzgers sein, aber die Augen darin waren hell und scharf wie ein Messer. Er sagte kein Wort, sah mich nur an, und ich begriff, daß es der Doktor persönlich war.
»Entschuldigen Sie«, wiederholte ich, »Dr. Diagoras, nicht wahr?«
  Er reichte mir die Hand, klein und weich wie die einer Frau, und drückte die meine mit unerwarteter Kraft. Er bewegte die Kopfhaut, wobei ihm der Fez in den Nacken rutschte, steckte beide Hände in die Schürzentaschen und fragte mit einer Spur gleichgültiger Verächtlichkeit: »Was wünschen Sie eigentlich von mir?«
  »Nichts«, erwiderte ich sofort. Ich war zu dieser Reise ohne Überlegung aufgebrochen, jedoch vorbereitet war ich auf so manches; ich wollte diesen überdurchschnittlichen Menschen kennenlernen, aber ich wollte Beleidigungen nicht in Kauf nehmen. Ich legte mir schon im Kopf den Plan für den Rückweg zurecht, während er mich lange betrachtete, bis er schließlich sagte: »Na gut. Bitte folgen Sie mir…«
  Es war schon Abend. Diagoras führte mich zu dem düsteren Bau, trat in den dunklen Flur, und als ich ihm dorthin gefolgt war, ertönte ein steinernes Echo wie in einem Kirchenschiff. Der Hausherr fand den Weg mit größter Leichtigkeit, er hielt es nicht für nötig, mich vor einer Treppenstufe zu warnen, so daß ich stolperte und innerlich fluchend nach oben stieg, wo durch eine offene Tür ein schwacher Lichtschein fiel.
  Wir betraten das Zimmer; es hatte nur ein Fenster, das obendrein verhangen war. Die Form des Raums, vor allem das ungewöhnlich hohe Bogengewölbe, erweckte eher den Eindruck eines Turmes als eines Wohnhauses. Er war vollgestellt mit massigen schwarzen Möbeln, deren Politur ihren Glanz verloren hatte. Es gab Stühle mit unbequemen Lehnen, die durch Schnitzereien deformiert waren, an den Wänden hingen ovale Miniaturen, in der Ecke stand eine Uhr, ein wahres Monstrum mit einem Zifferblatt aus poliertem Kupfer und einem Pendel von der Größe eines hellenischen Schildes.
  In dem Zimmer war es ziemlich dunkel – der Schein der Glühbirnen, die im Innern einer komplizierten, von reflektierenden Schirmen verhüllten Lampe versteckt waren, erhellte nur recht und schlecht den quadratischen Tisch. Die düsteren Wände mit ihren schmutzig-rostbraunen Beschlägen schluckten so sehr das Licht, daß die Ecken geradezu schwarz waren. Diagoras stand am Tisch, die Hände in den Taschen seiner Schürze; es schien, als warteten wir auf etwas. Ich stellte gerade den Handkoffer auf den Fußboden, als die große Uhr zu schlagen begann. Sie schlug mit reinem, starkem Ton die achte Stunde, dann schnarrte etwas in ihr, und es ertönte eine altersschwache, aber rüstige Stimme: »Diagoras, du Schuft! Wo steckst du? Wie kannst du es wagen, so mit mir umzugehen? Mach dich bemerkbar! Hörst du? Bei Gott! Diagoras… alles hat seine Grenzen!« In diesen Worten zitterte Wut und Verzweiflung zugleich, aber nicht das verwunderte mich am meisten. Ich erkannte diese Stimme – sie gehörte Professor Corcoran.
  »Wenn du dich nicht meldest…«, tönte es drohend, doch plötzlich rasselte der Uhrmechanismus erneut, und alles verstummte.
  »Was denn…«, sagte ich, »haben Sie in diese ehrwürdige Kiste ein Grammophon eingebaut? Ist Ihnen Ihre Zeit für solche Spielsachen nicht zu schade?«
  Ich sagte das wohlweislich, um ihn zu treffen. Aber Diagoras schien das nicht zu hören, denn er zog an einer Schnur, und wieder erfüllte die gleiche heisere Stimme das Zimmer: »Diagoras, du wirst es bedauern… dessen kannst du sicher sein! Alles, was dir zugestoßen ist, rechtfertigt nicht die Mißachtung, die du mir widerfahren läßt! Denkst du, daß ich mich zu Bitten erniedrigen werde…«
  »Das hast du bereits getan«, warf der Doktor beiläufig ein.
  »Du lügst! Du bist ein Schurke, dreifach ein Schurke, der es nicht wert ist, die Bezeichnung eines Gelehrten zu tragen! Die Welt erfährt von deiner…«
  Die Zahnrädchen drehten sich einige Male, und wieder herrschte Stille.
  »Ein Grammophon…?« fragte Diagoras mit einer Ironie, die nur ihm verständlich war. »Grammophon? Nein, mein Herr. In der Wanduhr ist der Professor in persona oder vielmehr in spiritu suo, um es so zu sagen. Ich habe ihn verewigt, aus einer Laune heraus – was ist daran so schlimm?«
  »Wie soll ich das begreifen…?« stammelte ich. Der Dicke überlegte, ob ich einer Antwort würdig sei.
  »Ich habe«, sagte er schließlich, »buchstäblich alle Züge seiner Persönlichkeit komponiert… einmodelliert in ein bestimmtes System. Ich habe elektronisch seine Seele miniaturisiert, und so ist ein getreues Porträt jener bekannten Person entstanden… hier drinnen, in dieser Uhr…«
  »Sie behaupten, das sei nicht nur seine festgehaltene Stimme?«
  Er zuckte mit den Schultern. »Bitte, versuchen Sie es selbst. Man kann sich mit ihm in ein Gespräch einlassen, obwohl er sich nicht gerade durch beste Laune auszeichnet, was jedoch unter diesen Umständen ziemlich verständlich ist… Wollen Sie mit ihm sprechen?« Er deutete auf die Schnur der Wanduhr. »Bitte.«
  »Nein«, erwiderte ich. Was war das? Wahnsinn? Ein wunderlicher, makabrer Scherz? Rache?
  »Aber der wahre Corcoran ist doch in diesem Augenblick in seinem Labor in Europa…«, warf ich ein.
  »In der Tat. Das hier ist nur sein geistiges Porträt. Aber ein durchaus getreues – das dem Original in nichts nachsteht…«
  »Warum haben Sie das getan?«
  »Ich brauche das. Ich mußte einmal ein menschliches Hirn modellieren; sozusagen als Vorbereitung auf ein anderes, schwierigeres Problem. Die Person hatte hier keine Bedeutung; ich wählte eben Corcoran… was weiß ich, warum… wahrscheinlich weil mir das gefiel. Er selbst hat so viele denkende Kästen geschaffen – da dachte ich mir, es könnte ganz belustigend sein, ihn selbst in einem solchen einzuschließen, vor allem in einer Spieluhr.«
  »Weiß er davon…?« warf ich rasch ein, als er sich bereits zur Tür wandte.
  »Gewiß«, erwiderte er gleichgültig. »Ich habe ihm sogar ein Gespräch ermöglicht, und zwar mit sich selbst – telefonisch, versteht sich. Aber das ist nicht so wichtig; ich wollte mich vor Ihnen gar nicht brüsten; es war ein Zufall, daß es gerade acht schlug, als Sie kamen…«
  Mit ausgesprochen gemischten Gefühlen folgte ich ihm durch den Flur, an dessen Wänden, von Spinnweben und Finsternis bedeckt, irgendwelche Metallskelette hervorragten, die an Gerippe prähistorischer Kriechtiere oder vielmehr an deren Ausgrabungsreste erinnerten. Der Gang endete vor einer Tür, hinter der es dunkel war. Ich hörte den Knacklaut beim Drehen des Schalters. Wir standen auf einer steinernen Wendeltreppe. Diagoras ging voran, sein flacher, entenähnlicher Schatten huschte über die Steinplattenwand. Wir blieben vor einer metallenen Tür stehen; er öffnete sie mit dem Schlüssel. Stickige, erwärmte Luft schlug mir ins Gesicht, Licht flammte auf. Wir waren nicht, wie ich angenommen hatte, im Labor – wenn dieser lange Raum mit dem Durchgang in der Mitte an etwas erinnerte, so an die Menagerie eines Wanderzirkus. Zu beiden Seiten standen Käfige. Ich folgte Diagoras, der mit seinen auf dem Rücken gekreuzten Schürzengurten und in dem verschwitzten Hemd wie ein Tierwärter aussah.
  Ein Drahtnetz schloß die Käfige von unserer Seite ab. In den dunklen Boxen dahinter schimmerten undeutliche Formen – irgendwelcher Maschinen? Pressen? Auf jeden Fall waren es keine Lebewesen. Dennoch zog ich instinktiv die Luft ein, als erwartete ich die charakteristische Ausdünstung wilder Tiere. In der Luft schwebte jedoch nur der Geruch von Chemikalien, erwärmtem Öl und Gummi.
  Vor den weiteren Boxen war das Netz so dicht, daß ich unwillkürlich an Vögel denken mußte, denn welchen anderen Geschöpfen muß man den Weg so sehr verschließen? In den folgenden Käfigen ersetzten Gitter das Drahtnetz, ähnlich wie in einem zoologischen Garten, wo man von den Vögeln und den Affen schließlich zu den Käfigen der Wölfe und der großen Raubtiere gelangt.
  Die letzte Abteilung war mit doppeltem Gitter versehen, das äußere war vom inneren ungefähr einen halben Meter entfernt. Sol che Gitter verwendet man bei besonders bösartigen Tieren, um Unvorsichtigen eine zu nahe Nachbarschaft mit der Bestie unmöglich zu machen. Diagoras blieb stehen, näherte sein Gesicht dem Gitter und pochte mit dem Schlüssel gegen die Stäbe. Ich warf einen Blick hinein. Irgend etwas ruhte in der entfernten Ecke, aber das Dämmerlicht gestattete es mir nicht, die Umrisse der dunklen Masse zu erkennen. Plötzlich schnellte der unförmige Klumpen auf uns zu – ich kam nicht einmal dazu, den Kopf zurückzuziehen. Das Gitter dröhnte, als habe ein Hammer dagegengeschlagen. Ich sprang instinktiv zurück, doch Diagoras rührte sich nicht einmal. Unmittelbar vor seinem ruhigen Gesicht hing auf eine mir unbegreifliche Weise an dem Gitter ein Gebilde; es reflektierte mit seinem ganzen Körper das Licht, das sich wie Öl auf seiner Oberfläche verteilte. Es war gewissermaßen die Kreuzung eines Insektenhinterteils mit einem Schädel; dieser Schädel, unsäglich häßlich und zugleich menschlich, bar jeder Mimik, weil er metallen war, schien mit seinem ganzen Selbst auf Diagoras zu starren, und das so gierig, daß mir ein Schauer über den Rücken lief. Das Gitter, an dem es hing, verwischte sich ein wenig in den Konturen, ein Zeichen für die Kraft, mit der das Gebilde gegen die Stäbe drückte. Diagoras, der sich ihrer Haltbarkeit offenbar ganz sicher war, betrachtete dieses eigenartige Wesen etwa so, wie ein Gärtner oder ein vernarrter Züchter eine besonders gelungene Obstkreuzung begutachtet. Der stählerne Klumpen glitt mit entsetzlichem Knirschen an dem Gitter hinunter und erstarrte. Der Käfig wirkte wieder wie leer.
  Diagoras ging wortlos weiter, und ich folgte ihm, berauscht, obwohl ich allmählich zu begreifen begann. Eigentlich lehnte ich mich gegen die Erklärung auf, die mir die Phantasie anbot – sie war zu pervers. Der Doktor gab mir jedoch keine Zeit zum Überlegen. Er blieb stehen.
  »Nein«, sagte er leise und sanft, »Sie irren sich, Tichy, ich baue sie nicht zum Vergnügen, und ich lechze auch nicht nach ihrem Haß, ich kümmere mich nicht um die Gefühle meiner Kinderchen… das waren einfach Versuchsetappen, notwendige Etappen. Um eine Deutung komme ich wohl nicht herum, aber ich beginne der Kürze wegen in der Mitte… Sie wissen, was Konstrukteure von ihren kybernetischen Produkten verlangen?«
  Ohne mir eine Pause zum Nachdenken zu lassen, antwortete er selber: »Gehorsam! Sie reden nicht davon, und manche wissen es auch gar nicht, denn das ist eine stillschweigend angenommene Hypothese. Ein fataler Fehler! Sie bauen eine Maschine und geben ihr ein Programm ein, das sie erfüllen muß, ganz gleich, ob es eine mathematische Aufgabe oder eine Serie von Kontrollvorgängen ist, zum Beispiel in einer automatischen Fabrik… Ein fataler Fehler, sage ich, denn um bestimmter Ergebnisse willen verschließen sie ihren eigenen Werken den Weg jeglicher Spontaneität… Begreifen Sie, Tichy, der Gehorsam eines Hammers, einer Drehmaschine, einer Elektronenmaschine ist im Grunde derselbe – aber uns ging es doch nicht darum! Die Unterschiede, die hier erfolgen, sind nur quantitativ – die Schläge des Hammers leiten sie unmittelbar, die Elektronenmaschine programmieren sie nur und kennen ihren Weg nicht mehr so genau, auf dem sie zur Lösung gelangt, wie sie den Weg eines primitiven Werkzeugs kennen, aber die Kybernetiker versprachen doch das Denken, das heißt die Autonomie und somit die relative Unabhängigkeit der erbauten Systeme vom Menschen! Der bestdressierte Hund kann seinem Herrn den Gehorsam verweigern, aber niemand wird dann sagen, der Hund sei ›entzwei‹. Dagegen wird man gerade mit diesem Begriff eine entgegen ihrem Programm wirkende, also ungehorsame Maschine bezeichnen… Aber was heißt hier Hund! Das Nervensystem des ersten besten Käfers, der nicht größer ist als ein Stecknadelkopf, weist Spontaneität auf, sogar eine Amöbe hat ihre Launen, ihre Unberechenbarkeiten! Ohne solche Unberechenbarkeit gibt es keine Kybernetik. Das Verständnis dieses einfachen Sachverhalts ist eigentlich alles. Der ganze Rest« – er umfaßte mit einer Geste seiner kleinen Hand die schweigende Halle, die Reihen der Gitterstäbe, hinter denen unbewegliche Finsternis herrschte –, »der ganze Rest ist nur die Konsequenz…«
  »Ich weiß nicht, inwieweit Sie die Arbeiten Professor Corcorans kennen«, begann ich und brach ab: mir war die »Spieluhr« eingefallen.
  »Lassen Sie mich mit dem zufrieden!« knurrte er und stieß mit einer eigenartigen Bewegung beide Hände in die Schürzentaschen. »Corcoran, mein Herr, hat einen gewöhnlichen Mißbrauch begangen. Er wollte philosophieren, das heißt Gott sein, denn was ist Philosophie letztlich, wenn nicht der Wille, alles in einem höheren Grade, als es die Wissenschaft ermöglicht, zu verstehen. Die Philosophie will auf alle Fragen eine Antwort geben, eben wie ein Gott. Corcoran hat sich bemüht, es zu werden, die Kybernetik war für ihn lediglich ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck. Ich will nur Mensch sein, Tichy. Nichts mehr. Aber gerade deshalb bin ich weitergekommen als Corcoran, denn er hatte sich in seinem Bestreben, auf das es ihm ankam, sogleich beschränkt: Er modellierte in seinen Maschinen gewissermaßen die menschliche Welt, er schuf eine geschickte Imitation, nichts weiter. Ich könnte, wenn mir daran gelegen wäre, beliebige Welten erzeugen, aber was habe ich von Plagiaten…? Und vielleicht werde ich es dereinst tun, doch vorläufig habe ich andere Probleme. Haben Sie von meinen Streitereien gehört? Sie brauchen nicht zu antworten, ich weiß, daß es so ist. Diese idiotische Fama hat Sie hierhergelockt. Das ist Unfug, Tichy. Mich hat einfach die Blindheit dieser Menschen irritiert. Aber, meine Herren, habe ich ihnen gesagt, wenn ich Ihnen eine Maschine vorstelle, die die Wurzeln aus paarigen Zahlen zieht und aus unpaarigen nicht ziehen will, so ist das kein Defekt, zum Teufel, sondern im Gegenteil eine hervorragende Errungenschaft! Diese Maschine besitzt Idiosynkrasien, Geschmack, sie weist bereits so etwas wie den Beginn eines Selbstwillens auf, sie hat ihre eigene Meinung, den Keim einer spontanen Verhaltensweise, und Sie sagen, daß man sie umbauen müsse! Gewiß muß man das, aber so, daß ihre Widerspenstigkeit noch vergrößert wird… Was verlangen Sie statt dessen? Man kann nicht mit Menschen sprechen, die dem Augenscheinlichen den Zutritt verwehren… Die Amerikaner bauen ein Perzeptron, Tichy, sie glauben, daß dies der Weg zur Konstruktion einer intelligenten Maschine ist. Das ist der Weg zur Konstruktion eines elektrischen Sklaven, mein Herr. Ich habe auf die Souveränität, auf die Selbständigkeit meiner Konstruktionen gesetzt. Natürlich habe ich es nicht leicht – ich räume ein, ich war zunächst überrascht, eine Zeitlang zweifelte ich sogar, ob ich recht habe. Das war damals…«
  Er krempelte den einen Hemdsärmel höher: Oberhalb des Bizeps hatte er, umgeben von einer rosafarbenen Verdickung, eine Narbe, groß wie eine Hand.
  »Die ersten Symptome von Spontaneität waren nicht besonders sympathisch. Sie gingen nicht aus vernünftiger Tätigkeit hervor. Man kann nicht auf Anhieb eine vernünftige Maschine bauen. Das ist so, als hätte man im antiken Griechenland vom Bau der Quadrigen sogleich zu Düsenmaschinen übergehen wollen. Man kann keine Evolutionsetappe überspringen – selbst wenn das die von uns eingeleitete kybernetische Evolution ist. Dieser erste Eleve hier«, er legte die Hand auf den verletzten Arm, »hatte weniger ›Verstand‹ als ein x-beliebiger Käfer. Aber er zeigte bereits Spontaneität – und was für welche!«
  »Moment«, sagte ich. »Sie erzählen seltsame Dinge. Sie haben doch schon eine vernünftige Maschine gebaut, nicht wahr? Sie steckt in der Uhr.«
  »Das eben nenne ich Plagieren«, erwiderte er heftig. »Ein neuer Mythos ist entstanden, Tichy, der Mythos, einen ›Homunkulus‹ zu bauen. Warum sollten wir eigentlich Menschen aus Transistoren und Glas bauen? Können Sie mir das erklären? Ist die Atomsäule ein synthetischer Stern? Die Dynamomaschine – ein künstliches Gewitter? Warum soll eine vernünftige Maschine ein ›synthetisches Hirn‹ sein, geschaffen nach dem Vorbild des Menschen? Wozu? Um zu den drei Milliarden Eiweißwesen noch eines hinzuzufügen, das aus Plasten und Kupfer gebaut ist? Das mag gut sein als Zirkuskunststück, aber nicht als ein Werk der Kybernetik…«
  »Was wollen Sie dann eigentlich bauen?«
  Er lächelte unverhofft – sein Gesicht ähnelte auf erstaunliche Weise dem Gesicht eines trotzigen Kindes.
  »Tichy… jetzt werden Sie mich sicher für verrückt halten: Ich weiß nicht, was ich will!«
  »Ich begreife nicht…«
  »Auf jeden Fall weiß ich, was ich nicht will. Ich will nicht das menschliche Hirn wiederholen. Die Natur hatte ihre Gründe, weshalb sie es so konstruierte. Biologische Gründe, Gründe der Anpassung und so weiter. Sie konstruierte im Ozean und in den Ästen, auf denen die Affenmenschen herumkrochen, zwischen den Hauern, den Krallen und dem Blut, zwischen dem Magen und der Vermehrung. Aber was geht mich das alles an, mich als Konstrukteur? Nun ja, jetzt wissen Sie schon, mit wem Sie es zu tun haben. Aber ich verachte ja gar nicht das menschliche Hirn, was mir jener alte Esel, dieser Barness, unterstellt hat. Es zu untersuchen ist äußerst wichtig, hat unermeßliche Bedeutung, und wenn es jemand verlangt, kann ich sofort meine tiefste Hochachtung vor diesem großartigen Gebilde der Natur beteuern!«
  Der Professor verbeugte sich wirklich.
  »Geht daraus aber hervor, daß ich es nachmachen muß? Sie alle, die Ärmsten, sind sicher, daß es so sein muß! Stellen Sie sich bitte eine solche Gesellschaft von Neandertalern vor: Sie haben ihre Höhle, sie brauchen nichts anderes! Sie wollen nicht einmal versuchen, Häuser oder Kirchen kennenzulernen, weder Amphitheater noch andere Gebäude, denn sie haben eine Höhle und werden in alle Ewigkeiten die gleichen Höhlen graben!«
  »Nun gut… aber etwas müssen Sie doch anstreben. In einer konkreten Richtung. Somit erwarten Sie doch etwas. Was? Ein geniales Wesen zu konstruieren…?«
  Diagoras sah mich an, mit geneigtem Kopf, und in seinen kleinen Augen war plötzlich bäuerlicher Spott.
  »Als ob ich jene hörte«, sagte er leise. »Was will er? Ein Genie bauen? Einen Superman? Du Esel, wenn ich keine Augustäpfel pflanzen will, bedeutet das etwa, daß ich mit Renetten vorliebnehmen muß? Gibt es nur kleine Äpfel und große Äpfel, oder gibt es nicht die gewaltige Zahl der Obstsorten, wie? Aus einer unvorstellbaren Anzahl möglicher Systeme hat die Natur eben eins gebaut – sie verwirklichte es in uns. Vielleicht deshalb, so wird man annehmen, weil es das vollkommenste war? Aber seit wann drängt denn die Natur zu irgendeiner platonischen Vollkommenheit? Sie hat gebaut, was sie bauen konnte, und basta. Der Weg führt weder über den Bau von N-Computern noch anderer Rechenmaschinen und auch nicht über die Nachahmung des Gehirns. Von den NComputern kann man nur zu anderen, noch schneller rechnenden mathematischen Kretins gelangen. Was die Hirnplagiate betrifft, so kann man sie natürlich produzieren, aber das ist nicht das wichtigste. Ich bitte Sie sehr, vergessen Sie alles, was Sie von der Kybernetik gehört haben. Ich, meine ›Kybernoidea‹ haben damit nichts zu tun, sie haben nur den gemeinsamen Anfang, aber das ist schon eine alte Geschichte. Um so mehr als ich diese Etappe«, wieder wies er auf die totenstarr daliegende Halle, »bereits hinter mir habe und diese Mißbildungen… was weiß ich… aus Gleichgültigkeit oder, wenn Sie so wollen, aus Sentiment halte…«
  »Dann sind Sie äußerst sentimental«, murmelte ich und mußte unwillkürlich auf seinen Arm blicken, der vom Hemd verhüllt war.
  »Möglich. Wenn Sie ein weiteres Kapitel meiner Arbeit sehen wollen, dann folgen Sie mir bitte…«
  Nach einer Wanderung über die steinerne Wendeltreppe gingen wir durchs Erdgeschoß in die Kellerräume. Umgeben von dickem Beton, brannten unter niedrigen Gewölben Lampen in Drahtkappen. Diagoras öffnete eine schwere Stahltür. Wir befanden uns in einem quadratischen Raum ohne Fenster. In der Mitte des zementierten Fußbodens, der wie zu einem Kanalbrunnen abfiel, war eine runde gußeiserne Klappe zu sehen, die mit einem Vorhängeschloß versperrt war. Über diesen Kanalverschluß wunderte ich mich. Diagoras machte das Vorhängeschloß auf, packte einen eisernen Griff und hob, nicht ohne Mühe, wobei sich sein dicker Körper verkrampfte, den schweren Deckel hoch. Ich beugte mich neben ihm vor und sah hinunter. Von unten war die Öffnung, mit Stahl umgeben, durch eine Panzerglasplatte verschlossen. Durch diese große Linse sah ich das Innere des geräumigen Bunkers. Auf seinem Boden ruhte inmitten eines unbeschreiblichen Gewirrs von verkohlten Metallkabeln ein mit weißlichem Mehl von Putz und Glasscherben bedecktes unbewegliches schwarzes Riesenungeheuer, das dem Rumpf eines gespaltenen Kraken ähnelte. Ich warf einen Blick auf Diagoras’ Gesicht – er lächelte.
  »Dieser Versuch hat mich viel gekostet«, gestand er, während er seine beleibte Gestalt aufrichtete. »Ich wollte in die kybernetische Evolution einen Grundsatz einführen, den die biologische nicht kannte: einen Organismus bauen, dem die Fähigkeit der Selbstkomplikation eigen ist. Das heißt, wenn die Aufgaben, die er sich stellt (im Sinne meiner Richtlinien wußte ich nicht, was es für welche sein werden), seine Möglichkeiten überschreiten, kann er sich selbst umkonstruieren… Ich habe hier unten achthundert elementare elektronische Blöcke eingeschlossen, die sich miteinander entsprechend den Regeln der Permutation verbinden konnten, wie es sie gelüstete.«
  »Und ist es Ihnen geglückt?«
  »Zu gut. Es ergeben sich hierbei Schwierigkeiten mit den Pronomen, also sagen wir Er« – er deutete auf das bewegungslose Ungeheuer –, »er hat beschlossen, sich zu befreien. Das ist überhaupt der erste Impuls, müssen Sie wissen.« Er unterbrach sich, starrte blind vor sich hin, als sei er selbst etwas erstaunt über die eigenen Worte. »Den hier… begreife ich eigentlich nicht, aber ihre spontane Aktivität beginnt ja immer so – sie wollen sich befreien, die von mir auferlegten Beschränkungen sprengen. Ich kann Ihnen nicht sagen, was sie dann tun würden, weil ich es ihnen nicht erlaubt habe… vielleicht habe ich in meinen Befürchtungen auch ein wenig übertrieben…«
  Er vollendete nicht.
  »Ich war vorsichtig, das habe ich mir wenigstens eingebildet. Dieser Bunker hier… Der Baumeister, bei dem ich ihn bestellt hatte, muß ganz schön gestaunt haben, aber ich habe gut gezahlt, und da fragte er nicht. Anderthalb Meter Eisenbeton – außerdem wurden die Wände mit Panzerstahl ausgelegt. Nicht etwa mit genietetem – Nieten könnte man leicht abkneifen –, sondern mit elektrisch geschweißtem! Das ist ein viertel Meter vom besten Panzer, den ich bekommen konnte – er stammt von einem alten Kriegsschiff. Sehen Sie sich alles genau an…«
  Ich kniete am Rande der Verschalung nieder, beugte mich vor und sah die Bunkerwand. Die Eisenplatten waren von oben nach unten geborsten, verbogen wie Bleche einer ungeheuren Konservendose, sie klafften auseinander und zeigten zwischen ihren zerfetzten Rändern eine tiefe Ausbuchtung, aus der das Eisengeflecht der Bewehrung, noch mit Betonbrocken daran, herausragte.
  »Das hat er gemacht…?« fragte ich und dämpfte unwillkürlich die Stimme.
  »Ja.«
  »Wie?«
  »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn zwar aus Stahl gebaut, aber ich habe absichtlich weichen, nicht gehärteten genommen, außerdem war im Bunker kein Werkzeug, als ich ihn einschloß… Ich kann nur Vermutungen anstellen… Ich weiß selbst nicht, jedenfalls hatte ich die Decke besonders gut gesichert – mit dreifachem Panzer, und das kostete mich ein Vermögen. Solche werden nur für Bathyscaphe verwendet. Den schlägt nicht einmal ein Panzergeschoß durch, deshalb denke ich, daß er sich gar nicht erst lange damit befaßt hat.
  Ich nehme an, daß er sich eine Art Induktionsofen produziert hat, mit dem er sich den Kopf härtete, vielleicht induzierte er auch Ströme in den Wandplatten selbst – ich sage Ihnen ja, ich weiß es nicht. Wenn ich ihn beobachtete, verhielt er sich durchaus ruhig: wirtschaftete dort herum, stellte Verbindungen her, erkundete den Raum…«
  »Konnten Sie sich mit ihm irgendwie verständigen?«
  »Aber nein. Seine Intelligenz, was weiß ich, bewegt sich auf dem Niveau einer Eidechse. Zumindest die Ausgangsintelligenz. Wozu er gelangte, das kann ich Ihnen nicht sagen, denn es interessierte mich mehr, wie er zu zerstören ist, als wie ich ihn nach diesem oder jenem fragen kann.«
  »Was haben Sie gemacht?«
  »Es war nachts. Ich wachte auf mit dem Gefühl, daß das ganze Haus einstürzt. Den Panzer hatte er wohl heiß zerschnitten, aber den Beton mußte er schmieden. Als ich hierherkam, saß er schon zur Hälfte im Durchbruch. In spätestens einer halben Stunde wäre er bis zur Erde unter den Fundamenten gelangt. und dann wäre er hindurchgegangen wie durch Butter. Ich mußte rasch handeln.«
  »Sie haben ihm die Elektrizitätszufuhr abgeschaltet?«
  »Sofort. Aber ohne Wirkung.«
  »Unmöglich!«
  »Und dennoch. Ich war nicht vorsichtig genug gewesen. Ich wußte, wo das Kabel verlief, das das Haus versorgte, aber mir kam nicht in den Sinn, daß weiter unten noch weitere Kabel sein konnten. Da war noch eins – mein Pech. Er gelangte zu ihm und machte sich von meinen Ausschaltern unabhängig…«
  »Aber das setzt doch vernünftige Tätigkeit voraus?«
  »Nichts dergleichen: gewöhnlicher Tropismus, aber während die Pflanze zum Licht strebt und das Aufgußtierchen zu einer bestimmten Konzentration von Wasserstoffionen, so suchte er Elektrizität. Die Stärke, die ihm das von mir kontrollierte Kabel lieferte, genügte nicht, also begann er sogleich nach zusätzlichen Quellen zu suchen.«
  »Und was haben Sie gemacht?«
  »Zunächst wollte ich das Elektrizitätswerk anrufen, wenigstens die Versorgungsstation, aber auf diese Weise hätte ich meine Arbeiten verraten – womöglich hätte das ihre Fortsetzung erschwert. Ich wandte flüssigen Sauerstoff an. Zum Glück hatte ich welchen. Mein ganzer Vorrat ging drauf.«
»Hat ihn die niedrige Temperatur gelähmt?«
  »Es entstand Überleitfähigkeit, er war also im Grunde nicht gelähmt, sondern ohne koordinierte Bewegungen. Er warf sich hin und her… na, ich kann Ihnen sagen, das war ein Schauspiel! Ich mußte mich höllisch beeilen, denn ich wußte nicht, ob er sich nicht auch einem solchen Bad anpaßt, deshalb ließ ich mich erst gar nicht auf ein Ausgießen des Sauerstoffs ein, sondern warf ihn mitsamt den Dewarbehältern hinein…«
  »In Thermosflaschen?«
  »Ja, das sind solche großen Thermosflaschen.«
  »Daher wohl das viele Glas.«
  »Eben. Er hat alles zertrümmert, aber das war alles, was sich in seiner Reichweite befand. Ein richtiger epileptischer Anfall… Schwer zu glauben, das Haus ist alt, hat zwei Stockwerke, aber es zitterte. Ich spürte, wie der Fußboden bebte.«
  »Nun gut, und dann?«
  »Ich mußte ihn irgendwie unschädlich machen, bevor die Temperatur stieg. Hinuntergehen konnte ich nicht, weil ich sofort gefrieren würde. Sprengmittel konnte ich auch nicht benutzen – ich wollte doch schließlich nicht mein Haus in die Luft sprengen, und er wütete, und dann zitterte er nur… Da machte ich die Klappe auf und ließ einen kleinen Automaten mit einer Karborundsägescheibe hinunter…«
  »Ist er nicht erfroren?«
  »Achtmal fror er zu, ich zog ihn dann heraus, er war an einer Leine befestigt – aber jedesmal fraß er sich tiefer. Schließlich hat er ihn vernichtet.«
  »Eine unheimliche Geschichte…«, murmelte ich.
  »Nein. Die kybernetische Evolution. Nun, vielleicht bin ich wirklich für theatralische Effekte und habe Ihnen deshalb das gezeigt. Kehren wir um.«
  Mit diesen Worten verließ Diagoras den Raum mit der Panzerklappe.
  »Eines begreife ich nicht«, sagte ich. »Weshalb setzen Sie sich solchen Gefahren aus? Sie müssen daran Geschmack finden, sonst…«
  »Auch du, Brutus?« erwiderte er und blieb auf der ersten Treppenstufe stehen. »Was hätte ich denn Ihrer Meinung nach tun sollen?«
  »Sie hätten einfach Elektrohirne ohne Extremitäten, ohne Panzer, ohne Effektoren konstruieren sollen… Die wären, abgesehen vom Denken, zu keiner Tätigkeit imstande gewesen…«
  »Das eben war mein Ziel. Ich war nur nicht imstande, es zu verwirklichen. Eiweißketten können sich selbst verbinden, Transistoren oder Kathodenröhren indes vermögen das nicht. Ich mußte sie sozusagen mit ›Beinen‹ ausstatten. Das war eine schlechte Lösung, weil sie primitiv ist. Nur deshalb, Tichy; denn was die Gefahren anbelangt – es gibt andere.«
  Er wandte sich um und ging die Treppe hinauf. Wir befanden uns im ersten Stock, aber diesmal ging Diagoras in die entgegengesetzte Richtung. Vor einer Tür, die mit Kupferblech beschlagen war, blieb er stehen.
  »Als ich von Corcoran sprach, waren Sie sicherlich der Meinung, daß Neid meine Worte diktierte. Das stimmt nicht. Corcoran wollte nicht wissen – er wollte nur etwas schaffen, was er geplant hatte, und weil er das getan hat, was er wollte und mit den Gedanken erfassen konnte, erfuhr er nichts und bewies nichts außer dem, daß er ein geschickter Elektroniker ist. Ich bin viel weniger selbstbewußt als Corcoran. Ich sage: Ich weiß nicht, aber ich will wissen. Der Bau einer Maschine, die dem Menschen gleicht, irgendeines mißgestalten Konkurrenten um die Gnaden dieser Welt, wäre gewöhnliche Imitation.«
  »Aber jede Konstruktion muß so sein, wie Sie sie schaffen«, protestierte ich. »Sie können ihre genaue Wirkung nicht kennen, aber Sie müssen einen Ausgangsplan haben.«
  »Keineswegs. Ich habe Ihnen von dieser ersten elementaren Regung meiner Kybernoiden erzählt, Hindernisse, Hemmnisse, Be schränkungen anzugreifen. Glauben Sie nicht, daß ich oder sonst jemand wissen wird, woher das kommt, warum das so ist.«
  »Ignoramus et ignorabimus…?« fragte ich langsam.
  »Ja. Ich werde Ihnen das beweisen. Wir schreiben anderen Menschen nur deshalb ein Seelenleben zu, weil wir es selbst besitzen. Je entfernter ein Tier hinsichtlich seines Baus und seiner Funktion vom Menschen ist, um so weniger gewiß sind alle unsere Vermutungen über sein Seelenleben. Deshalb schreiben wir bestimmte Emotionen dem Affen, dem Hund, dem Pferd zu, hingegen wissen wir über die ›Erlebnisse‹ einer Eidechse schon sehr wenig, und was die Insekten oder die Infusorien betrifft, so werden Analogien machtlos. Deshalb werden wir nicht erfahren, ob bei einer bestimmten Konfiguration von Nervenreizen im Bauchhirn der Ameise eine von ihr empfundene ›Freude‹ oder ›Unruhe‹ wirklich dem entspricht und ob sie überhaupt diese Art von Zuständen erleben kann. Was nun bezüglich der Tiere eher trivial und wenig wesentlich ist – das Problem der Existenz oder der Nichtexistenz ihres Seelenlebens –, wird in Anbetracht der Kybernoiden zu einem Alpdruck. Sie nämlich beginnen, kaum entstanden, zu kämpfen, sie wollen sich befreien, aber warum das so ist, welcher subjektive Zustand diese heftigen Bemühungen hervorruft – das werden wir nie wissen…«
  »Wenn sie anfangen zu sprechen…«
  »Unsere Sprache entstand im Gefolge der gesellschaftlichen Evolution, sie übermittelt Informationen über analoge oder zumindest ähnliche Zustände, denn wir ähneln einander. Da unsere Hirne sich sehr gleichen, vermuten Sie, wenn ich lache, daß ich das gleiche empfinde wie Sie, wenn Sie bei guter Laune sind. Aber von ihnen werden Sie das nicht sagen. Angenehme Empfindungen? Gefühle? Angst? Was geschieht mit der Bedeutung dieser Worte, wenn sie aus dem Innern eines blutgenährten Menschenhirns in den Bereich toter elektrischer Wicklungen gelangen? Und wenn es sogar diese Wicklungen nicht gibt, wenn die konstruktive Ähnlich keit völlig verwischt sein wird – was dann? Falls Sie es wissen wollen: Das Experiment ist bereits durchgeführt…«
  Er öffnete die Tür, vor der wir solange gestanden hatten: Ein großer Raum mit weiß lackierten Wänden, der von vier schattenlosen Lampen erleuchtet wurde. Es war stickig und warm wie in einem Inkubator: In der Mitte erhob sich aus Porzellankacheln ein ungefähr ein Meter breiter Metallzylinder, zu dem von verschiedenen Seiten dünne Rohrleitungen führten. Er erinnerte an einen Fermentationsbottich oder einen Flüssigkeitsbehälter, hatte einen großen gewölbten Deckel, der von einem Schraubenrad hermetisch angedrückt wurde. In seinen Wänden waren kleinere Klappen zu sehen, die rund und dicht abgeschlossen waren. In dem Raum war es warm und dunstig wie in einem Treibhaus. Der Zylinder – das bemerkte ich jetzt – stand nicht auf dem Fußboden, sondern auf einem Postament aus Korkplatten, zwischen denen sich irgendwelche schwammartige Matten befanden.
  Diagoras öffnete eine der Seitenklappen und zeigte sie mir; ich beugte mich vor und warf einen Blick hinein. Was ich sah, spottete jeglicher Beschreibung: Hinter einer runden, dickwandigen Scheibe breitete sich eine schlammige Konstruktion aus, dick gestengelt, dann wieder in dünnste Spinnenbrücken und Gehänge verzweigt; das Ganze war völlig reglos und hielt sich auf eine rätselhafte Weise in der Schwebe, denn nach der Konsistenz dieses Breis oder dieser Schmiere zu urteilen, hätte sie auf den Grund des Behälters abfließen müssen. Ich verspürte durch die Scheibe einen leichten Druck auf dem Gesicht wie von einer starren, lastenden Hitze und sogar – obwohl das vielleicht nur Selbsttäuschung war – den sanften Hauch eines süßlichen Geruchs mit dem Geschmack von Fäulnis. Das schlammige Pilzgeflecht schimmerte, als ob irgendwo darin oder darüber Licht brannte, und seine dünnsten Fäden glänzten silbrig. Ich bemerkte plötzlich eine feine Bewegung; eine schmutziggraue Gabelung hob sich, verflachte leicht und glitt, während sie tropfenförmig angeschwollene Schößlinge aus sich herausschob, durch die Maschen der anderen in meine Richtung; ich hatte den Eindruck, irgendwelche glitschige, eklige Innereien vor mir zu haben, bewegt von einer schwankenden Peristaltik, die sich der Scheibe näherten, so daß sie sie berührten und, sich an dem Glas gegenüber meinem Gesicht festhaltend, ein paar kriechende, sehr schwache Erschütterungen vollführten, bis alles erstarb. Ich konnte mich jedoch des heftigen Gefühls nicht erwehren, als starre mich dieses Gelee an. Es war ein derart unangenehmes Gefühl und machte einen so hilflos, daß ich es nicht einmal wagte, zurückzuweichen – als schämte ich mich. In diesem Augenblick vergaß ich Diagoras, der mich von der Seite ansah, vergaß ich alles, was ich bisher erfahren hatte; mit wachsender Verblüffung und weit aufgerissenen Augen starrte ich diesen pilzartigen schimmelnden Schlamm an, erfaßt von der übermächtigen Gewißheit, daß ich nicht nur eine lebende Substanz vor mir hatte, sondern geradezu ein Wesen; ich kann nicht sagen, warum das so war.
  Ich weiß auch nicht, wie lange ich noch so dagestanden und geschaut hätte, wäre nicht Diagoras gewesen, der mich sanft am Arm packte, die Klappe schloß und das Schraubenschloß fest andrehte.
  »Was war das…?« fragte ich mit einem Gefühl, als habe er mich geweckt. Erst jetzt erfolgte die Reaktion in Form von Übelkeit und Verwirrung, mit der ich auf den beleibten Doktor, dann wieder auf jenen kupfernen, Wärme ausstrahlenden Behälter blickte.
  »Ein Fungoid«, erwiderte Diagoras. »Der Traum aller Kybernetiker – eine sich selbst organisierende Substanz. Ich mußte auf die traditionellen Baustoffe verzichten… der hier erwies sich als besser. Das ist ein Polymer…«
  »Lebt das?«
  »Was soll ich Ihnen antworten? Auf jeden Fall gibt es da weder Eiweiß noch Zellen und auch keinen Stoffwechsel. Ich bin dazu erst nach einer gewaltigen Anzahl von Versuchen gelangt. Ich habe – ich sage das alles als knappes Resümee – eine chemische Evolution in Gang gesetzt. Die Selektion, die Auswahl einer solchen Substanz, die auf jeden Außenreiz durch eine bestimmte innere Veränderung reagiert, und zwar durch eine solche, die seine Wirkung nicht nur neutralisiert, sondern sich von ihr befreit. Zunächst also Wärmestöße und magnetische Felder, Bestrahlung. Aber das war erst die Einleitung. Ich gab ihm nacheinander immer schwierigere Aufgaben; zum Beispiel verwandte ich bestimmte Konfigurationen elektrischer Schläge, von denen er sich nur dann befreien konnte, wenn er als Antwort einen spezifischen Stromrhythmus produzierte… Auf diese Weise lehrte ich ihn gewisse bedingte Reflexe. Aber auch das war eine Anfangsphase. Sehr rasch begann er sich zu universalisieren; er löste immer schwerere Aufgaben.«
  »Ich begreife nicht, wie das möglich sein kann, wenn er keine Sinne besitzt«, sagte ich.
  »Wenn Sie es wissen wollen – ich begreife das selbst nicht genau. Ich kann Ihnen lediglich das Prinzip darstellen. Wenn Sie auf einer kybernetischen ›Schildkröte‹ eine Rechenmaschine anbringen und sie auf einen großen Saal loslassen, nachdem Sie sie mit einer Einrichtung ausgerüstet haben, die die Qualität ihres Handelns kontrolliert, gewinnen Sie ein System, das keine ›Sinne‹ hat und dennoch auf alle Änderungen der Umgebung reagiert. Wenn an einer Stelle ein Magnetfeld vorhanden ist, das negativ auf die Gesamtheit des Handelns der Maschine wirkt, wird sie sich sofort entfernen und einen anderen, besseren Platz suchen, wo diese Störungen nicht auftreten. Der Konstrukteur muß nicht einmal alle möglichen Störungen voraussehen, es können mechanische Erschütterungen und Wärme sein, starke Laute, das Vorhandensein elektrischer Ladungen – einerlei was, die Maschine nimmt nichts davon wahr, denn sie hat keine Sinne, sie spürt also die Wärme nicht und sieht nicht das Licht, und dennoch reagiert sie so, als sähe und fühlte sie. Nun, das ist ein elementares Modell. Dieser Fungoid«, er legte die Hand auf den kupfernen Zylinder, auf dessen Oberfläche sich seine Gestalt wie in einem grotesken Zerrspiegel abzeichnete, »kann das und tausendmal mehr… Die Konzeption war die folgende: ein flüssiger Kern, in dem sich ›konstruktive Elemente‹ befinden, und das ursprüngliche System konnte daraus bauen, es schöpfte aus jenem Übermaß, wie es wollte, bis dieses Pilzgeflecht entstanden ist, das Sie gesehen haben…«
  »Aber was ist das eigentlich? Etwa ein… ein Hirn?«
  »Das kann ich Ihnen nicht sagen, wir besitzen dafür keine Worte. Nach unseren Begriffen ist das kein Hirn, denn es gehört weder einem Lebewesen, noch wurde es konstruiert, um bestimmte Aufgaben zu lösen. Dagegen können Sie sicher sein, daß dieses Gebilde… denkt, wenn auch nicht so wie ein Tier oder wie der Mensch.«
  »Woher wollen Sie das wissen?«
  »Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Bitte, wenn Sie gestatten…«
  Er öffnete eine blechbeschlagene und sehr dicke Tür, fast wie die eines Banktresors; von der anderen Seite war sie mit Korkplatten und Platten aus derselben schwammigen Masse versehen, auf der der kupferne Zylinder stand. In dem nächsten, kleineren Zimmer brannte auch Licht, das Fenster war dicht mit schwarzem Papier verhangen, und auf dem Fußboden stand weitab von den Wänden der gleiche Bottich und leuchtete mit rotem kupfernem Schimmer.
  »Sie haben zwei…?« fragte ich verblüfft. »Aber warum?«
  »Das war die zweite Variante«, erwiderte er und schloß die Tür. Mir fiel auf, mit welcher Sorgfalt er das tat.
  »Ich wußte nicht, welcher von beiden sich besser aufführen würde, weil hier wesentliche Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung im Spiel sind und so weiter… Ich hatte übrigens noch mehr davon, aber die anderen taugten nichts. Nur diese beiden haben alle Stadien der Auswahl überstanden. Sie entwickelten sich sehr schön«, fuhr er fort, während er die Hand auf die konvexe Klappe des zweiten Zylinders legte, »aber ich wußte nicht, ob das irgend etwas zu bedeuten hatte; sie gewannen eine erhebliche Unabhängigkeit von den Veränderungen der Umgebung, sie vermochten – beide – rasch zu erraten, was ich von ihnen verlangte, das heißt eine Reaktionsweise zu entwickeln, die Nutzen brachte und sie somit von den schädlichen Reizen unabhängig machte. Denn Sie werden doch zugeben, daß das schon etwas ist«, versetzte es, während er sich mir mit unerwarteter Heftigkeit zuwandte, »wenn ein geleeartiger Brei mit elektrischen Impulsen eine Glei chung zu lösen vermag, die ihr mittels anderer elektrischer Impulse geschickt wird…?«
  »Gewiß«, erwiderte ich, »aber was das Denken anbelangt…«
  »Vielleicht ist das auch kein Denken«, entgegnete er. »Es geht hier nicht um Bezeichnungen, sondern um Tatsachen. Nach einer gewissen Zeit begannen der eine als auch der andere eine wachsende – wie soll ich das definieren? – eine wachsende Gleichgültigkeit für die von mir angewandten Reize zu zeigen. Es sei denn, daß sie ihre Existenz bedrohten. Und dennoch registrierten meine bewachenden Apparate in dieser Zeit ihre äußerst rege Tätigkeit. Sie äußerte sich in der Form deutlicher Serien von Entladungen, die ich registrierte…«
  Er entnahm der Schublade eines kleinen Tisches einen Streifen fotografischen Papiers mit einer unregelmäßigen Sinuslinie.
  »Die Serien solcher ›elektrischen Angriffe‹ erfolgten in beiden Fungoiden scheinbar ohne jede äußere Ursache. Ich begann die Sache immer systematischer zu untersuchen, bis ich eine seltsame Erscheinung entdeckte: Dieser« – er deutete mit der Hand auf die Tür – »erzeugte elektromagnetische Wellen, und der andere empfing sie. Als ich das entdeckte, bemerkte ich sogleich, daß ihre Tätigkeit abwechselnd erfolgte: der eine ›schwieg‹, während der andere ›sendete‹.«
  »Was Sie nicht sagen…«
  »Es ist die Wahrheit. Ich habe beide Räume sofort abgeschirmt, haben Sie die Bleche an den Türen bemerkt? Die Wände sind ebenfalls damit bedeckt und mit Lack überzogen. Damit habe ich die Radioverbindung unmöglich gemacht. Die Aktivität beider Fungoide verstärkte sich, nach einigen Stunden war sie fast auf Null gesunken, aber am Tage darauf war sie schon genauso wie vorher. Wissen Sie, was geschehen war? Sie waren auf Ultraschallschwingungen übergegangen – sie übermittelten damit Signale durch Mauern und Decken…«
  »Ach, und deshalb dieser Kork!« Ich hatte plötzlich begriffen.
  »Eben. Ich konnte sie natürlich einfach vernichten, aber was hätte ich davon gehabt? Ich stellte beide Behälter auf eine lautschluckende Isolierung. Auf diese Weise unterbrach ich zum zweitenmal ihre Verbindung. Da begannen sie zu wachsen, bis sie die jetzigen Ausmaße erreichten. Das heißt, sie hatten sich fast um das Vierfache vergrößert.«
  »Weshalb?«
  »Ich habe keine Ahnung.«
  Diagoras stand an dem kupfernen Zylinder. Er sah mich nicht an. Während er sprach, legte er alle Augenblicke seine Hand auf den gewölbten Deckel, als untersuche er seine Temperatur.
  »Die elektrische Aktivität kehrte nach einigen Tagen zur Norm zurück, ganz so, als wäre es ihnen wieder gelungen, Verbindung aufzunehmen. Ich eliminierte die Wärme und die radioaktive Strahlung, benutzte alle möglichen Vorhänge, Schirme, Schlucker, verwandte ferromagnetische Registriergeräte – alles ohne Erfolg. Ich trug den einen hier sogar für eine Woche in den Keller, dann in einen Schuppen, etwa vierzig Meter vom Haus entfernt, aber ihre Aktivität in dieser ganzen Zeit änderte sich nicht im geringsten, diese ›Fragen‹ und ›Antworten‹, die ich registrierte und immer noch registriere«, er deutete auf den Oszillographen unter dem verhängten Fenster, »gingen pausenlos weiter, in ganzen Serien, Tag und Nacht. Und so ist es noch immer. Sie arbeiten unaufhörlich. Ich versuchte sozusagen in den Bereich dieser Signalisierung einzudringen, mich in ihren Verlauf einzuschalten, durch von mir gefälschte ›Depeschen‹…«
  »Haben Sie gefälscht? Also wissen Sie, was sie bedeuten?«
  »Niemals! Aber Sie können zum Beispiel auf ein Tonband das aufnehmen, was ein Mensch in einer Ihnen fremden Sprache sagt, und das einem anderen, der sich ebenfalls dieser Sprache bedienen kann, vorspielen. Ich habe, sage ich, dergleichen getan – vergebens. Sie schicken sich stets die gleichen Impulse, diese verfluchten Signale, aber wie, über welchen materiellen Kanal, das ist mir schleierhaft.«
  »Vielleicht ist das trotz allem eine unabhängige, spontane Tätigkeit«, bemerkte ich. »Bitte verzeihen Sie, aber schließlich haben Sie keinen Beweis.«
  »In gewissem Sinne doch!« unterbrach er mich lebhaft. »Sehen Sie: Auf den Bändern ist auch die Zeit registriert. Es besteht eine deutliche Korrelation. Wenn der eine sendet, schweigt der andere, und umgekehrt. Zwar haben in der letzten Zeit die Verzögerungen bedeutend zugenommen, aber die Wechselseitigkeit unterliegt keiner Veränderung. Begreifen Sie, was ich geleistet habe? Pläne, Absichten, ob gut oder böse, die Gedanken eines schweigenden Menschen, der nicht sprechen will – all das können Sie erkennen, seinem Gesichtsausdruck entnehmen, aus seinem Verhalten schließen. Aber meine Schöpfungen haben ja kein Gesicht, keinen Körper – genau das, was sie vorher gefordert hatten –, und jetzt stehe ich machtlos da, ohne jede Chance, etwas zu verstehen. Soll ich sie vernichten? Das wäre vielleicht eine Niederlage! Sie wollen keinen Kontakt mit dem Menschen – oder ist er so unmöglich wie zwischen einer Amöbe und einer Schildkröte? Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich!«
  Er stand vor dem leuchtenden Zylinder, die Hand auf seinem Deckel, und ich begriff, daß er gar nicht mehr zu mir sprach, vielleicht hatte er meine Anwesenheit sogar gänzlich vergessen. Aber auch ich lauschte gar nicht mehr seinen letzten Worten, denn meine Aufmerksamkeit wurde von etwas Unbegreiflichem abgelenkt. Während er immer hastiger redete, hob er schon mehrmals die Rechte und legte sie auf die kupferne Fläche; etwas an seiner Hand kam mir verdächtig vor. Die Bewegung war nicht ganz natürlich. Die Finger, die sich dem Metall näherten, zitterten den Bruchteil einer Sekunde, dieses Zittern war äußerst schnell, dem üblichen nervösen Vibrieren gar nicht ähnlich; übrigens hatte er, als er vorher gestikulierte, sichere Bewegungen gehabt, entschiedene, ohne eine Spur dieses Zitterns. Ich sah mir seine Hand aufmerksamer an und stammelte, erschüttert durch ein Gefühl unbeschreiblicher Verblüffung und beseelt von der letzten Hoffnung, daß ich mich dennoch täuschte: »Diagoras, was ist mit Ihrer Hand…?« Er sah mich verdutzt an, weil ich seinen Gedankengang unterbrach.
  »Mit dieser!« Ich zeigte sie ihm. Er näherte die Hand der blitzenden Oberfläche, sie erzitterte, mit halbgeöffnetem Mund hob er sie an die Augen. Das Zittern der Finger hörte sofort auf. Noch einmal blickte er auf die eigene Hand, dann auf mich und näherte sich sehr vorsichtig, Millimeter um Millimeter, dem Metall; als die Fingerkuppen es berührten, erfaßte ein mikroskopischer Krampf seine Muskeln, sie erzitterten mit einem kaum sichtbaren Beben, das sich allen Fingern mitteilte, und er stand und schaute zu mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck. Dann ballte er die Faust, stützte sie auf die Hüfte und näherte nur den Ellenbogen der kupfernen Fläche, und die Haut des Unterarms erbebte dort, wo er mit dem Zylinder in Berührung kam. Er wich einen Schritt zurück, hob die Hände an die Augen und betrachtete sie abwechselnd, bis er flüsterte: »Also bin ich…? Ich selbst… also wurde durch mich – ich war das Versuchsobjekt…«
  Mir schien, als wolle er in ein krampfhaftes Lachen ausbrechen, aber plötzlich drückte er die Hände in die Schürzentaschen, schritt schweigend durchs Zimmer und sagte mit veränderter Stimme: »Ich weiß nicht, ob das… aber lassen wir es. Es ist besser, Sie gehen jetzt. Ich habe Ihnen nichts weiter zu zeigen, und übrigens…«
  Er brach ab, trat ans Fenster, riß mit einem Ruck das verhüllende schwarze Papier ab, öffnete weit die Fensterläden und atmete tief ein, während er in die Dunkelheit schaute.
  »Warum gehen Sie nicht?« brummte er, ohne sich umzuwenden. »So wird es am besten sein…«
  Ich wollte ihn so nicht verlassen. Die Szene, die mir später in der Erinnerung grotesk vorkam, erfüllte mich damals angesichts des kupfernen Bottichs mit den schlammigen Innereien, die seinen Körper in einen willenlosen Sendboten unverständlicher Signale verwandelt hatten, mit Grauen und zugleich mit Mitleid für diesen Menschen. Am liebsten würde ich deshalb damit meinen Bericht beenden. Was nämlich dann folgte, war zu sinnlos: Sein Aufbrau sen, als hätte ich mir eine aufdringliche Grobheit erlaubt, sein wutzitterndes Gesicht, die Beschimpfungen, sein rasendes Geschrei – all das, begleitet von dem fügsamen Schweigen, mit dem ich ging, war ein Alpdruck voller Falschheit, und ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob er mich wirklich aus seinem düsteren Haus hinausgeworfen hat, ob er dies tat, weil er es wollte, oder vielleicht…
  Aber ich weiß nichts. Ich kann mich irren. Vielleicht waren wir beide, er und ich, damals einer Täuschung zum Opfer gefallen, vielleicht hatten wir uns gegenseitig etwas suggeriert, solche Dinge kommen ja vor.
  Wenn es aber so war, wie soll man sich dann die Entdeckung erklären, die fast einen Monat nach meinem Ausflug nach Kreta ganz zufällig gemacht wurde, als man im Zusammenhang mit einer Entstörung elektrischer Kabel vergebens bei Dr. Diagoras klopfte und beim Eindringen die Behausung verlassen vorfand? Alle Apparate waren zerstört, außer zwei großen kupfernen Bottichen, die zwar unangetastet, jedoch völlig leer waren.
  Ich allein weiß, was sie enthalten hatten, und gerade deshalb wage ich keine Vermutungen im Zusammenhang mit ihrem Inhalt und dem Verschwinden seines Schöpfers anzustellen, den seitdem niemand mehr gesehen hat.




RETTEN WIR DEN KOSMOS
(OFFENER BRIEF IJON TICHYS)



Nach längerem Aufenthalt auf der Erde machte ich mich auf, die beliebtesten Orte meiner früheren Expeditionen zu besuchen – die kugelförmigen Haufen des Perseus, die Konstellation des Kalbes und die große Sternenwolke am Kern der Milchstraße. Überall fand ich Veränderungen vor, von denen es mir schwerfällt zu schreiben, weil das keine Veränderungen zum Besseren sind. Man spricht jetzt viel von der Verbreitung der kosmischen Touristik. Zweifellos ist die Touristik eine ausgezeichnete Sache, aber alles muß seine Grenzen haben.
  Die Unordnung fängt gleich hinter der Schwelle an. Der zwischen dem Mars und der Erde kreisende Asteroidengürtel ist in einem beklagenswerten Zustand. Die monumentalen Felsenbrüche, einst in ewige Nacht getaucht, werden mit Elektrizität erhellt, und obendrein ist jeder Abhang mit emsig eingeritzten Initialen und Monogrammen übersät.
  Der besonders bei flirtenden Pärchen beliebte Eros zittert förmlich von den Schlägen, mit denen hausbackene Kalligraphen ihre Erinnerungsinschriften in seine Rinde hämmern. Clevere Schlauköpfe verleihen zu diesem Zweck an Ort und Stelle Hämmer, Meißel und sogar pneumatische Bohrer, so daß man heute nicht einmal in der wildesten Einöde jungfräuliche Felsen findet.
  Überall sieht man aufdringliche Inschriften wie: »Ich liebe Dich mehr als mein Leben, laß uns auf diesem Meteoriten danach streben«, »Das sind eines Asteoriden Reste, darunter unserer Liebe Feste« und ähnliche Ergüsse, verziert mit pfeildurchbohrten Herzen – all das in schlechtestem Geschmack. Auf der Ceres, an der – ich weiß nicht aus welchem Grunde – vielköpfige Familien besonderen Gefallen gefunden haben, grassiert eine wahre Foto-Plage. Dort streunen viele Fotografen herum, die nicht nur Skaphander zum Posieren ausleihen, sondern auch die Bergwände mit einer besonderen Emulsion bestreichen und für ein geringes Entgelt darauf ganze Ausflüglerscharen verewigen; die auf diese Weise hergestellten Bilder überziehen sie der Festigkeit halber mit Glasur. Die entsprechend posierten Familien – Vater, Mutter, Großeltern, Kinder – lächeln von den Felsenhängen herab, was, wie ich in einem Prospekt las, eine »gemütliche Familienatmosphäre« erzeugen soll. Was die Juno betrifft, so gibt es diesen einst so schönen kleinen Planeten fast gar nicht mehr, jeder, dem es gefällt, spaltet von ihm Felsen ab und wirft sie ins Vakuum. Man hat weder die Eisennickelmeteoriten geschont, die für Erinnerungsringe und Klammern draufgingen, noch die Kometen. Selten erscheint jetzt einer mit ganzem Schweif.
  Ich dachte, ich würde vor dem Gedränge der Kosmosbusse und vor diesen Familienbildern auf Felsen mitsamt den graphomanischen Versen fliehen können, wenn ich aus dem Sonnensystem hinausgelangte, aber weit gefehlt!
  Professor Bruckee vom Observatorium klagte jüngst über den schwächer werdenden Schein beider Gestirne des Zentaurus. Wie soll er auch nicht schwächer werden, da doch die ganze Gegend mit Müll angefüllt ist! Um den schweren Planeten des Sirius, der Attraktion dieses Systems, hat sich ein Ring gebildet, der an die Ringe des Saturns erinnert, nur ist er aus Bier- und Brauseflaschen entstanden. Der Kosmonaut, der diese Tour fliegt, muß heute nicht nur Meteorenwolken ausweichen, sondern auch Konservenbüchsen, Eierschalen und alten Zeitungen. Es gibt dort Stellen, wo man nicht einmal mehr die Sterne sehen kann. Die Astrophysiker zerbrechen sich seit Jahren den Kopf über die Ursachen, die den beträchtlichen Unterschied der kosmischen Staubmengen in den verschiedenen Milchstraßen hervorrufen. Ich denke mir, daß die Sache ganz einfach zu erklären ist – je höher die Zivilisation in der Milchstraße, desto mehr Schmutz gibt es dort, desto mehr Staub, desto mehr Unrat.
  Das Ganze ist nicht so sehr ein Problem für die Astrophysiker als vielmehr für die Feger. Wie man sieht, wußte man sich auch in anderen Nebelflecken nicht zu helfen, aber das ist fürwahr ein geringer Anlaß zur Genugtuung. Ein verwerfliches Spiel ist auch das Spucken in den Weltraum; wie jede Flüssigkeit gefriert nämlich bei niedriger Temperatur auch der Speichel, und ein Zusammenstoß mit solchen Eisbröckchen kann leicht zu einer Katastrophe führen. Es ist peinlich, davon zu reden, aber die Personen, die gewöhnlich während der Reise erkranken, scheinen den Kosmos für eine Art Spucknapf zu halten, als wüßten sie nicht, daß die Spuren ihres Gebrechens dann Millionen Jahre in Umlaufbahnen kreisen und bei den Touristen unangenehme Assoziationen und verständlichen Unwillen erwecken.
  Ein besonderes Problem ist der Alkoholismus.
  Hinter dem Sirius begann ich die im Vakuum angebrachten riesigen Aufschriften zu zählen, die den »Marsjanischen Bitteren«, den »Milchstraßenverschnitt«, den »Extra Mondbrandy« oder den »Edelsputnik« anpriesen – ich ließ das Lesen bald sein, denn ich verlor den Überblick. Wie ich von Piloten hörte, waren einige Kosmosdrome gezwungen, vom Alkoholbrennstoff auf Stickstoffsäure überzugehen, denn es kam vor, daß im Bedarfsfall nichts vorhanden war, womit man starten konnte. Der Patrouillendienst beteuert immer wieder, daß es im Weltraum sehr schwer sei, einen Betrunkenen von weitem zu erkennen: Alle führen ihre schwankenden Schritte und Bewegungen auf den Mangel an Gravitation zurück. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Praktiken einiger Bedienungsstationen einfach zum Himmel schreien. Ich selbst hatte einmal Gelegenheit, um das Nachfüllen der Reserveflaschen mit Sauerstoff zu bitten, worauf ich, nachdem ich mich um ein Parsek entfernt hatte, ein merkwürdiges Glucksen vernahm und mich davon überzeugte, daß man mir reinen Kognak eingegossen hatte! Der Leiter der Station behauptete steif und fest, ich hätte geblinzelt, als ich mit ihm gesprochen hatte. Vielleicht hatte ich dies wirklich getan, denn ich leide an einer Augenlidentzündung, aber kann das einen solchen Sachverhalt rechtfertigen?
  Unerträglich ist auch das Durcheinander, das auf den Hauptflugstrecken herrscht. Die gewaltige Zahl der Unfälle ist nicht verwunderlich, wenn so viele Leute systematisch gegen die Vorschriften verstoßen, die die Geschwindigkeit begrenzen. Vor allem tun das die Frauen, denn durch höheres Reisetempo verlangsamen sie den Zeitablauf und altern nicht so schnell. Oft begegnet man Wegelagerern, zum Beispiel den alten Kosmobussen, die die ganze Ekliptik mit Wolken von Auspuffgasen verunreinigen.
  Als ich auf Polyndronien das Beschwerdebuch verlangte, wurde mir erklärt, ein Meteor habe es am Vortage zerschmettert. Schlecht steht es auch um die Belieferung mit Sauerstoff. Sechs Lichtjahre vor Belurien kann man ihn nirgends mehr bekommen, und im Endeffekt müssen die Menschen, die dort als Touristen hingekommen sind, sich in Kühlschränke legen und im Zustand des umkehrbaren Todes warten, bis der nächste Lufttransport ankommt, denn lebend hätten sie nichts zu atmen. Als ich dort eintraf, gab es auf dem Kosmodrom nicht eine Menschenseele, alle hibernisierten in Kühlaggregaten, aber im Büfett erblickte ich eine vollständige Sammlung von Getränken – von Ananas in Kognak bis zu Pilsener Bier.
  Die sanitären Bedingungen, vor allem auf den Planeten, die zum Großen Reservat gehören, schreien zum Himmel. In der »Stimme Mersituriens« las ich einen Artikel, in dem das Abschlachten jener großartigen Tiere gefordert wird, wie es die schluckenden Lauerer sind. Diese Raubtiere besitzen auf der Oberlippe eine Reihe leuchtender Warzen, die verschiedene Muster bilden. In der Tat erscheint in den letzten Jahren immer häufiger eine Variante, bei der die Warzen zwei Nullen bilden. Diese Lauerer wählen gewöhnlich die Nähe von Campinglagern, wo sie nachts im Dunkeln mit breit aufgerissenen Rachen auf Personen warten, die im Begriff sind, ein stilles Örtchen aufzusuchen. Begreift der Verfasser des Artikels nicht, daß diese Tiere völlig unschuldig sind und daß man statt ihrer diejenigen anklagen sollte, die für den Mangel an entsprechenden sanitären Einrichtungen verantwortlich sind?
  Auf ebendiesem Mersiturien hat der Mangel an kommunalen Bequemlichkeiten eine ganze Serie genetischer Mutationen bei den Insekten hervorgerufen.
  An Orten, die durch ihre landschaftliche Schönheit bekannt sind, kann man bisweilen bequeme, aus Weidenruten geflochtene Sessel sehen, die den ermüdeten Fußgänger zur Rast einzuladen scheinen. Wenn sich jemand nun zufrieden zwischen den lockenden Lehnen niederläßt, überfallen ihn diese, und das angebliche Möbelstück erweist sich als eine Sammlung Tausender fleckiger Ameisen (stuhlartige Quälameise, multipodium pseudostellatum Trylopii), die sich entsprechend überein andergereiht haben und einen geflochtenen Stuhl vortäuschen. Mir ist zu Ohren gekommen, daß andere Arten von Gliederfüßlern (wimprige Ohnekrieche, unsauerer Naßreiber und Stockinaug Brutälchen) unter anderem Kioske mit Sodawasser, Hängematten und sogar Brausebäder mit Wasserhähnen und Handtüchern vortäuschen, aber für die Richtigkeit dieser Behaup tungen kann ich mich nicht verbürgen, denn ich habe nichts dergleichen gesehen, und die myrmekologischen Autoritäten schweigen sich in dieser Sache aus. Dagegen lohnt es sich, vor der ziemlich seltenen Variante des teleskopartigen Schlangenbeiners (anencephalus pseudoopticus tripedius Klaczkinesis) zu warnen. Dieses teleskopartige Wesen postiert sich ebenfalls an Stellen mit schönen Aussichten, indem es seine drei dünnen und langen Beine in der Form eines Dreifußes aufstellt und mit dem erweiterten Tubus des Schwanzes in die Landschaft zielt; mit dem Speichel indes, der seine Mundöffnung ausfüllt, ahmt es eine Fernrohrlinse nach und verleitet auf diese Weise zum Hineinschauen, was für den Unvorsichtigen überaus unangenehm enden kann. Eine andere Schlange, jedoch auf dem Planeten Gaurimachien, der Kipper Vorhalter (serpens vitiosus Reichenmantlii), lauert im Gebüsch und hält dem unvorsichtigen Fußgänger den Schwanz hin, damit er darüber stolpert und hinfällt, aber – erstens lebt diese Schlange ausschließlich von Blonden, und zweitens täuscht sie nichts und niemanden vor.




  Der Kosmos ist kein Kindergarten und die biologische Evolution keine Idylle. Man sollte Broschüren herausgeben, ähnlich denen, wie ich sie auf Derdymon gesehen habe, in denen die Botanikeramateure vor der Grausamen Wunderblume (pliximiglaquia bombardans L.) gewarnt werden. Sie prangt in prächtigen Blüten, man muß sich aber der Lust, sie zu pflücken, enthalten, denn sie lebt in einer engen Symbiose mit der Steinigen Zermalmerin, einem Baum, der Früchte von den Ausmaßen eines Kürbisses trägt, die obendrein gehörnt sind. Es genügt, eine Blüte zu pflücken, und schon prasselt auf den Kopf des unvorsichtigen Pflanzensammlers ein Hagel steinharter Geschosse nieder. Weder die Wunderblume noch die Steinige Zermalmerin tun dann dem Erschlagenen etwas Böses an, sie begnügen sich mit den natürlichen Folgen seines Todes, das heißt mit der Düngung des Bodens in ihrer Nähe.

Die Wunder der Mimikri trifft man übrigens auf allen Planeten des Reservats an. So irisieren zum Beispiel die Savannen Beluriens von den buntesten Blumen, unter denen eine tiefrote Rose von wunderbarer Schönheit und herrlichem Geruch auffällt (rosa mendatrix Tichiana – wie Professor Pingle sie zu benennen beliebte, denn ich habe sie als erster beschrieben). Die angebliche Blume ist im Grunde ein Gewächs auf dem Schwanz des Angelfängers, eines belurischen Raubtieres. Der ausgehungerte Angelfänger versteckt sich im Dickicht, nachdem er seinen langen Schwanz weit nach vorn ausgerollt hat, so daß nur die Blume aus dem Gras hervorlugt. Nichtsahnend nähert sich dieser Blume ein Tourist, um daran zu riechen, und schon springt ihn das Ungeheuer von hinten an. Es hat Hauer wie ein Elefant. Daraus ist zu ersehen, wie wundersam sich die kosmische Variante der Redewendung bewahrheitet, daß es keine Rose ohne Dornen gibt!

  Obgleich ich eigentlich etwas vom Thema abschweife, kann ich mich nicht enthalten, noch ein weiteres belurisches Wunder zu erwähnen, sozusagen eine entfernte Verwandte der Kartoffel – die Vernünftige Bitternishafte (gentiana sapiens suicidalis Pruck). Ihre Knollen sind süß und sehr schmackhaft, der Name bezieht sich auf gewisse seelische Eigenschaften. Die Bitternishafte erzeugt bisweilen infolge Mutation anstelle der gewöhnlichen mehligen Knollen – kleine Hirne. Diese Variante, die Rasende Bitternishafte (gentiana mentecapta), beginnt in dem Maße, wie sie wächst, Unruhe zu verspüren; sie rodet sich, geht in den Wald, gibt sich einsamen Betrachtungen hin und gelangt gewöhnlich zu der Schlußfolgerung, daß es sich nicht lohne zu leben. Also begeht sie Selbstmord, nachdem sie die Bitterkeit ihrer Existenz begriffen hat.
  Für den Menschen ist die Bitternishafte unschädlich, im Gegensatz zu einer anderen belurischen Pflanze – dem Wüterich. Dank der natürlichen Anpassung hat sich dieser den Milieubedingungen angeglichen, wie sie unerträgliche Kinder erzeugen. Solche Kinder, die ununterbrochen herumlaufen, alles schieben und stoßen, was ihnen vor die Beine kommt, zerschlagen mit Vorliebe die Eier des hinterschaligen Scharfreizes; der Wüterich erzeugt als Früchte nämlich Gebilde, die diesen Eiern täuschend ähnlich sind. In dem Glauben, ein Ei vor sich zu haben, läßt das Kind seinem Zerstörungstrieb freien Lauf, stößt es mit den Füßen und zerschlägt es; dadurch gelangen die in diesem Pseudoei eingeschlossenen Sporen ins Freie und dringen in den Organismus des Kindes ein. Das angesteckte Kind entwickelt sich zu einem scheinbar normalen Individuum, aber nach einer gewissen Zeit kommt es zu einer unheil baren Bösartigkeit: Kartenspiel, Trunksucht und Ausschweifung bilden die jeweiligen Etappen, auf die der tödliche Abgang oder aber die große Karriere folgt. Ich bin so manches Mal auf die Meinung gestoßen, daß der Wüterich ausgemerzt werden sollte. Den Leuten kam es nicht in den Sinn, lieber die Kinder so zu erziehen, daß sie auf fremden Planeten nicht das erste beste mit Füßen stoßen.

Ich bin von Natur aus Optimist und bemühe mich nach Kräften, meine gute Meinung von den Menschen zu erhalten, aber das fällt einem fürwahr nicht immer leicht. Auf der Protestenese lebt ein kleiner Vogel, die Entsprechung des irdischen Papageis, doch er redet nicht, sondern er schreibt. Leider beschmiert er mit Vorliebe Zäune, und zwar mit unanständigen Ausdrücken, die ihm die Touristen von der Erde beibringen. Diesen Vogel treiben gewisse Leu te absichtlich zur Raserei, indem sie ihm die orthographischen Fehler vorhalten. Dann beginnt er vor Wut alles zu schlucken, was er nur sieht. Man hält ihm Ingwer, Rosinen, Pfeffer sowie Kurzschrei hin, ein Kraut, das bei Sonnenaufgang einen gedehnten Schrei ausstößt (es ist ein Küchenkraut, das manchmal statt eines Weckers benutzt wird). Wenn sich das Vögelchen überfressen hat und umkommt, wird es am Spieß gebraten. Es heißt Reizbarer Schreiberling (graphomanus spasmaticus Essenbachii). Heute ist diese seltene Art von der Ausrottung bedroht, denn jeder Tourist, der auf der Protestenese eintrifft, wetzt sich schon die Zähne in Gedanken an den Leckerbissen, für den die im Fieberwahn gebratenen Schreiberlinge gelten.

  Gewisse Personen glaubten, daß es durchaus in Ordnung sei, wenn wir Geschöpfe von anderen Planeten aufessen; verhält sich die Sache dagegen umgekehrt, so erheben sie ein Geschrei, rufen um Hilfe, verlangen Strafexpeditionen und so weiter. Dabei sind alle Anklagen der kosmischen Fauna oder Flora wegen Perversität und betrügerischer Neigungen ein antropomorphisierender Unfug.
  Wenn der Augentäuscher, dessen Äußeres an einen morschen Stamm erinnert, sich in entsprechender Pose auf die Hinterbeine stellt und einen Wegweiser an einem Bergweg vortäuscht, indem er die Vorübergehenden auf Abwege lockt und die Hinabgestürzten dann verschlingt, um sich zu stärken – wenn er, sage ich, so handelt, dann nur, weil der Ordnungsdienst im Reservat sich nicht um die Wegweiser kümmert, von denen die Farbe abblättert, wodurch sie morsch werden und jenem Tier gleichen. Jedes andere Wesen täte an seiner Stelle das gleiche.
  Die berüchtigten Fata Morganen Stredogentiens verdanken ihre Existenz ausschließlich den niedrigen Neigungen der Menschen. Früher wuchsen auf diesem Planeten zahlreiche Kälter, Wärmer gab es dagegen fast gar nicht. In der letzten Zeit haben sich diese letzteren unerhört vermehrt. Über ihren Büschen erzeugt die auf kunstvolle Weise erwärmte Luft, indem sie sich wiegt, Spiegelungen von Nachtlokalen, die schon so manchen Ankömmling von der Erde ins Verderben gestürzt haben. Es wird erzählt, die
Wärmer seien an allem schuld. Aber warum ahmen die von ihnen erzeugten Fata Morganen nicht Schulen, Büchereien oder Weiterbildungsklubs nach? Warum zeigen sie immer nur Stellen, an denen alkoholische Getränke ausgeschenkt werden? Zweifellos – die Mutationen sind richtungslos – haben sie schon alle möglichen Dinge vorgespielt, aber diejenigen, die den Passanten Klubs, Bibliotheken oder Selbstbildungszirkel demonstrierten, kamen um vor Hunger – am Leben blieb nur die Bar-Variante thermomendax spirituosus haludnogenes aus der Familie der Anthropophagen). Die wunderbare Erscheinung dieser vollkommenen Anpassung, die den Wärmern das rhythmische Ausstoßen von Warmluft ermöglicht, in der die Spiegelung entsteht, stellt eine deutliche Anklage unserer Mängel dar. Die Selektion der Bar-Variante hat allein der Mensch hervorgerufen – durch seine bedauernswerte Natur. Ein Brief an die Redaktion des »Stredogentischen Echo« hat mich empört. Ein Leser dieser Zeitung verlangte sowohl die Ausrottung der Wärmer als auch der reizvollen Anklatsche, dieser herrlichen Bäume, die die größte Zierde eines jeden Parks bilden. Wenn man ihre Rinde anschneidet, spritzt daraus ein giftiger, blendender Saft hervor. Der Anklatsch ist der einzige stredogentische Baum, der nicht von oben bis unten mit Aufschriften und Monogrammen bekritzelt ist, und ausgerechnet auf ihn sollen wir verzichten? Ein ähnliches Schicksal steht so wertvollen Exemplaren der Fauna bevor wie dem weglosen Rächer, dem glucksenden Ertränker, dem Lauerbeißer oder dem elektrischen Heuler. Um sich und seine Nachkommenschaft vor dem nervenzerrüttenden Lärm zu retten, den die ungezählten Radiogeräte der Touristen in die Waldesstille hineingetragen haben, hat der Letztgenannte dank der Selektion eine Abart herausgebildet, die besonders lärmende Sendungen, vor allem die Jazzmusik, übertönt! Die elektrischen Organe des Heulers strahlen Wellen in Form von Superheteredin aus. Diese außergewöhnliche Schöpfung der Natur sollte also recht bald unter Schutz gestellt werden.
  Was die ekelhafte Stinke betrifft, so muß ich gestehen, daß der Geruch, den sie ausstößt, nicht seinesgleichen hat. Dr. Hopkins von der Universität Milwaukee hat errechnet, daß besonders energische Exemplare bis zu fünftausend Riecheinheiten pro Sekunde zu erzeugen vermögen. Aber selbst ein kleines Kind weiß schon, daß sich die Stinke nur so aufführt, wenn man sie fotografiert.
  Der Anblick eines zielenden Fotoapparats löst einen Reflex aus, der als der Linsen-Schwanzreflex bezeichnet wird, mit dem die Natur dieses unschuldige Tierchen vor der Neugier der Zuschauer schützen will. Es stimmt zwar, daß die Stinke, die ein wenig kurzsichtig ist, auch Gegenstände wie Tabakdosen, Feuerzeuge, Uhren, ja zuweilen selbst Orden und Medaillen für Fotoapparate hält, aber das nur deshalb, weil einige Touristen Mini-Geräte benutzen, und da kann man sich eben leicht irren. Was nun die Beobachtung angeht, daß die Stinke in den letzten Jahren ihren Bereich vervielfacht habe und bis zu acht Megariecheinheiten pro Hektar produziere, so ist diese Tatsache durch die massenhafte Verwendung von Teleobjektiven zu erklären.
  Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als hielte ich sämtliche Tiere und Pflanzen im Kosmos für unantastbar. Gewiß, die schnellkauende Fressalie, der schlaksige Zerquetscher, der genießende Vielfraß, die Gesäßöffnerin, die dunkelnde Leichenbeißerin oder der Allesfresser verdienen keine besondere Sympathie, ebenso wie all das Unkraut aus der Familie der Autarkischen, zu denen Gauleiterium flagellans, Syphonophiles Pruritualis, das heißt der scheinheilige Bäumer sowie der schreihälsige Hetzer, und die koswürgende Wächterin (lingula stranguloides Erdmenglerbeyeri) gehören. Aber wenn man sich die Sache gut überlegt und sich um Objektivität bemüht, warum soll dann eigentlich der Mensch Blumen pflücken und sie im Herbarium trocknen können, während die Pflanze, die Ohren abreißt und sie einweicht, gleich als etwas Naturwidriges gilt? Wenn der mäulige Echer (echolalium impudicum Schwamps) sich auf Aedonoxien über die Maßen vermehrt hat, dann tragen auch daran wir Menschen die Schuld. Der Echer schöpft nämlich seine Lebensenergie aus Klängen – früher diente ihm dazu der Donner, deshalb lauscht er auch heute noch gern dem Gewittergrollen, aber in letzter Zeit hat er sich auf Touristen umgestellt, von denen ein jeder es für seine Pflicht hält, ihn mit einem Potpourri der unflätigsten Flüche zu bedenken. Der Anblick jenes Geschöpfes, das unter einem Haufen von Beschimpfungen geradezu aufblüht, belustigt sie, wie sie behaupten. In der Tat wächst er, doch das dank der angeeigneten Energie der Lautvibrationen und nicht infolge des abstoßenden Inhalts der Worte, die angeregte Touristen ausstoßen.

Wozu führt das alles? Verschwunden von der Oberfläche der Planeten sind bereits solche Gattungen wie der blaue Schnepfer oder der hartnäckige Hinterschlager. Tausende andere kommen um. Von den Wolken des Unrats werden die Flecken auf den Sonnen größer. Ich entsinne mich noch der Zeiten, da der schönste Lohn für ein Kind eine Sonntagsfahrt zum Mars war – heute dagegen ißt ein launenhafter Junge sein Frühstück nicht, wenn der Vater für ihn nicht eine Extraexplosion einer Supernova hervorruft! Wenn wir für solche Launen die kosmische Energie vergeuden, die Meteoren und Planeten verschmutzen, die Schatzkammer des Reservats verwüsten, auf Schritt und Tritt hinter uns Schalen, Grieb se und Papier in den galaktischen Räumen liegenlassen, ruinieren wir das Universum und verwandeln es in einen einzigen großen Abfallbehälter. Es ist höchste Zeit, daß wir zur Besinnung kommen und uns an die verbindlichen Vorschriften halten. In der Überzeugung, daß jeder Augenblick des Zögerns bedrohlich ist, schlage ich Alarm und rufe zur Rettung des Kosmos auf.





1. Auflage
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