EINUNDZWANZIGSTE REISE




Als ich nach meiner Rückkehr aus dem 27. Jahrhundert I. Tichy zu Rosenbeißer schickte, damit er den durch mich frei gewordenen Posten im TEOPAGHIP einnahm, was er übrigens höchst unwillig tat, und obendrein erst nach einer Woche voller Jagd und Streit im kleinen Zeitkreis – als das also erledigt war, stand ich vor einem ernsten Dilemma.
  Alles was recht ist, aber das Ausbessern der Geschichte hatte ich nun gründlich satt. Dabei war es durchaus möglich, daß dieser Tichy das Projekt wiederum in eine Sackgasse treiben und daß Rosenbeißer ihn ein weiteres Mal nach mir schicken würde. Ich beschloß also, nicht untätig zu warten, sondern mich in die Galaxis zu begeben, und das möglichst weit weg. Ich reiste in größter Eile ab, weil ich befürchtete, daß die MOIRA meine Pläne durchkreuzen könnte, doch dort herrschte nach meinem Weggang offenbar ein völliges Durcheinander, denn niemand interessierte sich für mich. Selbstredend wollte ich nicht an den ersten besten Ort fliehen, deshalb nahm ich eine Menge neuer Reiseführer und den Galaktischen Almanach mit, der während meiner Abwesenheit stark angewachsen war. Nachdem ich mich um ein paar Parsek von der Sonne abgesetzt hatte, begann ich diese Literatur in aller Ruhe auszuwerten.
  Wie ich mich bald überzeugte, brachte sie viel Neues. So hatte Dr. Hopfstoßer, der Bruder jenes bekannten Tichologen, eine periodische Tabelle der Kosmoszivilisationen in Anlehnung an drei Prinzipien ausgearbeitet, die es gestatteten, untrüglich die am höchsten entwickelten Gesellschaften zu entdecken, und zwar handelte es sich um das Prinzip des Schmutzes, das des Rauschens und das der Flecke. Jede Zivilisation, die in der technischen Phase steckt, beginnt allmählich in den Abfällen zu versinken, die ihr gewaltige Sorgen bereiten, bis sie schließlich die Müllplätze in den kosmischen Raum verlagert. Damit diese nun nicht übermäßig die Raumfahrt behindern, werden sie auf einer besonders isolierten Umlaufbahn untergebracht. Auf diese Weise entsteht ein ständig wachsender Ring von Aufschüttungen, und eben daran läßt sich die höhere Fortschrittsära erkennen.
  Nach einer gewissen Zeit jedoch ändern die Aufschüttungen ihren Charakter. In dem Maße nämlich, wie sich die Intellektronik entwickelt, ist man gezwungen, immer größere Mengen vom Komputerschrott loszuwerden, dem sich alte Sonden, Sputniks und so weiter anschließen. Diese »denkenden« Abfälle wollen sich nicht bis in alle Ewigkeit in einem Ringmüllhaufen bewegen und stieben auseinander, wobei sie die Umgebung des Planeten und sogar sein ganzes System ausfüllen; diese Phase führt zur Verunreinigung des Milieus durch den Intellekt. Die einzelnen Zivilisationen versuchen zunächst, dieses Problem unterschiedlich zu bekämpfen; bisweilen kommt es zum sogenannten Komputerzid, so werden zum Beispiel im All besondere Fallen, Fangnetze, Schlingen und Klemmen gegen die psychischen Wracks angebracht, aber solche Aktionen haben noch schlimmere Folgen, denn nur die in geistiger Hinsicht am tiefsten stehenden Wracks lassen sich dadurch einfangen. Somit setzt diese Taktik das Überdauern des »klügsten« Mülls voraus – er schließt sich zu Gruppen und Banden zusammen, verübt Überfälle und führt Kampfdemonstrationen durch, wobei er schwer zu erfüllende Postulate vorbringt, denn er verlangt Ersatzteile und Lebensraum. Wird ihm das abgelehnt, so übertönt der Unrat die Rundfunkverbindungen, schaltet sich in Sendungen ein, verbreitet eigene Proklamationen, so daß der Planet auf dieser Entwicklungsstufe schließlich von einem solchen Krachen und Heulen im Äther umgeben ist, daß einem die Trommelfelle platzen. Und eben an diesem Krachen kann man sogar aus weiter Entfernung jene Zivilisationen erkennen, die von der intellektuellen Befleckung geplagt sind. Es mutet eigenartig an, wie lange die irdischen Astronomen nicht begriffen haben, woran es liegt, daß der Kosmos von Geräuschen und anderem sinnlosen Lärm widerhallt, wenn man ihn mit Radioteleskopen abhört; es handelt sich eben um diese Störsendungen, eine Folge der genannten Konflikte, und sie erschweren erheblich die Aufnahme von interstellaren Verbindungen.
  Schließlich verraten auch Sonnenflecken, jedoch solche von besonderer Form und von einer besonderen chemischen Zusammensetzung, die sich spektroskopisch feststellen läßt, das Vorhandensein der am höchsten entwickelten Zivilisationen, die sowohl die Barriere des Mülls als auch die des Rauschens durchstoßen haben. Diese Flecken entstehen, wenn gewaltige Mengen dieser in Jahrhunderten angewachsenen Abfälle sich von selbst gleich Motten in die Flammen der lokalen Sonne stürzen, um selbstmörderisch darin umzukommen. Diese Manie wird durch besondere depressive Mittel ausgelöst, denen alles erliegt, was elektrisch denkt. Die Methode des Ausstreuens solcher Mittel ist höchst grausam, doch die Existenz im Kosmos und gar das Errichten von Zivilisationen darin ist leider keine Idylle.
  Nach Dr. Hopfstoßers Theorie bilden diese drei aufeinanderfolgenden Entwicklungsetappen die eherne Gesetzmäßigkeit menschenförmiger Zivilisationen. Was die anderen betrifft, so weist die periodische Tabelle des Wissenschaftlers noch gewisse Lücken auf. Mir machte das nichts aus, denn aus verständlichen Gründen interessierte ich mich gerade für Wesen, die uns am meisten ähneln. Daher verfertigte ich mir auf der Grundlage der Beschreibung, die Hopfstoßer im Almanach veröffentlicht hatte, einen Detektor für »WC« (wesentliche Zivilisationen) und tauchte bald in der großen Gruppe der Hyaden unter. Von dort ertönte nämlich ein besonders starkes störendes Rauschen, dort waren die meisten Planeten von Müllringen umgeben, und dort bedeckte auch ein fleckiger Aussatz mit einem Spektrum seltener Elemente einige Sonnen – der stumme Ausdruck für die Vernichtung künstlichen Verstandes.
  Da die letzte Nummer des Almanachs Fotos von Geschöpfen aus Dychthonien enthielt, die den Menschen so sehr glichen wie ein Wassertropfen dem anderen, beschloß ich, auf diesem Planeten zu landen. Zwar mochten diese Fotos, die von Dr. Hopfstoßer über Funk empfangen worden waren, im Hinblick auf die beträchtliche Entfernung von tausend Lichtjahren etwas veraltet sein, aber dennoch näherte ich mich auf einer Hyperbel voller Optimismus Dychthonien und ersuchte, nachdem ich auf eine Kreisumlaufbahn gegangen war, um Landeerlaubnis.
  Eine solche Erlaubnis zu erlangen ist im allgemeinen schwieriger, als galaktische Räume zu überwinden, denn die Entwicklung der Bürokratie ist durch einen höheren Exponenten gekennzeichnet als die Navigation; daher sind Formulare, ohne die man an ein Einreisevisum nicht denken kann, viel wichtiger als ein Photonenreaktor, als Bildschirme, Brennstoff, Sauerstoff und anderes. Ich bin mit alledem vertraut, also war ich auf ein langes, ja monatelanges Kreisen um Dychthonien gefaßt, nicht aber darauf, was mir dort widerfuhr.
  Wie ich bald feststellte, erinnerte der Planet mit seinem Blau an die Erde; er war von Ozeanen bedeckt und hatte drei Kontinente, die sicherlich zivilisiert waren: Schon auf einem fernen Perimeter mußte ich tüchtig zwischen Kontroll- und Beobachtungssputniks, zwischen solchen, die hereinschauten und dumpfes Schweigen wahrten, lavieren; die letzteren mied ich auf jeden Fall mit äußerster Sorgfalt. Niemand antwortete auf meine Petitionen; dreimal reichte ich Gesuche ein, aber niemand verlangte, daß ich meine Papiere über das Fernsehen zeigte, nur von einem Kontinent – er hatte die Form einer Niere – schoß man mir eine Art Triumphbogen aus synthetischem Tannengrün, umwickelt von bunten Bändern und Fähnchen, entgegen, der offenbar mit ermunternden Aufschriften versehen war, aber sie waren so allgemein gefaßt, daß ich mich nicht entschließen konnte, durch dieses Tor zu fliegen. Der nächste Kontinent, über und über mit Städten bedeckt, schleuderte mir eine milchweiße Pulverwolke entgegen, die alle meine Bordkomputer so verwirrte, daß sie unverzüglich versuchten, das Raumschiff auf die Sonne zu richten – ich mußte sie also ausschalten und zur Handsteuerung übergehen. Der dritte Kontinent, der schwächer urbanisiert zu sein schien und in üppigem Grün versank, der größte, schoß mir nichts entgegen, begrüßte mich mit gar nichts, also suchte ich mir einen abgelegenen Platz aus, bremste und setzte die Rakete vorsichtig in einem Panorama malerischer Hügel und Felder nieder, die mit Kohlrabi oder mit Sonnenblumen bewachsen zu sein schienen; ich konnte das aus der Höhe nicht gut ausmachen.
  Wie gewöhnlich klemmte die Tür, weil sie von der atmosphärischen Reibung erhitzt war, und ich mußte eine gute Weile warten, bevor es mir gelang, sie zu öffnen. Ich sah hinaus, atmete die frische, belebende Luft ein und stellte unter Einhaltung der unerläßlichen Vorsichtsmaßnahmen meinen Fuß auf die unbekannte Welt.
  Ich befand mich am Rande eines offenbar bestellten Ackers, aber das, was darauf wuchs, hatte nichts mit Sonnenblumen oder mit Kohlrabi gemein, es waren überhaupt keine Pflanzen, sondern Nachtschränkchen, also eine Art Möbel – und als ob das noch nicht genügte, waren hier und dort zwischen ihren recht gleichmäßigen Reihen Vitrinen und Hocker oder Schemel zu sehen. Nach einiger Überlegung gelangte ich zu dem Schluß, daß dies Produkte einer biotischen Zivilisation waren; solchen war ich schon früher begegnet. Die alpdruckhaften Visionen, die gewisse Futurologen bisweilen von einer Zukunftswelt entwerfen, die durch Abgase vergiftet, vollgeraucht und in der energetischen oder thermischen Barriere steckengeblieben ist, sind unsinnig: In der nachindustriellen Entwicklungsphase bildet sich eine biotische Ingenieurkunst heraus, die alle Probleme dieser Art liquidiert. Die Beherrschung der Lebenserscheinungen gestattet es, künstliche Keimlinge zu produzieren, die man überall pflanzen kann: Man beträufelt sie mit einer Handvoll Wasser, und im Nu wächst das erforderliche Objekt daraus hervor. Um die Frage, woher ein solcher Keimling die Kenntnisse und die Energie für eine Radio- oder Schrankgenese nimmt, braucht man sich ebensowenig zu kümmern, wie wir uns nicht dafür interessieren, woher Unkrautsamenkorn die Kraft und das Wissen nimmt, aufzugehen.
  Deshalb wunderte ich mich nicht über das Feld voller Vitrinen und Nachtschränkchen, sondern über den Umstand, daß sie völlig entartet waren. Das Nachtschränkchen, das mir am nächsten war und das ich zu öffnen versuchte, hätte mir mit seiner gezahnten Schublade beinahe die Hand abgebissen; ein zweites, das neben ihm wuchs, zitterte in dem sanften Hauch des Windes wie Gelee, und ein Taburett, an dem ich vorbeiging, stellte mir ein Bein, so daß ich der Länge nach hinschlug. So dürfen sich Möbel nun wirklich nicht benehmen; etwas war mit dieser Aufzucht also nicht in Ordnung. Während ich weiterging, nunmehr mit der größten Vorsicht, den Finger am Abzug des Blasters, stieß ich in einer flachen Bodensenke auf ein Dickicht im Stil Louis XV, aus dem ein wildgewordenes Kanapee auf mich losstürzte und mich wahrscheinlich mit seinen vergoldeten Hufen getreten hätte, wenn ich es nicht mit einem gezielten Schuß niedergestreckt hätte. Ich kroch eine Zeitlang zwischen den Büschen von Möbelgarnituren umher, die nicht nur eine Hybridisierung von Stilen, sondern auch von Sinnen verrieten; da wucherten Mischungen aus Anrichten und Ottomanen, gabelförmige Regale, und die weit geöffneten und gewissermaßen in ihr tiefes Inneres einladenden Schränke waren gar raubtierhaft, wenn man nach den Überresten urteilen wollte, die zu ihren Füßen lagen.
  Da ich immer deutlicher erkannte, daß das kein geordneter Anbau, sondern ein Chaos war, suchte ich mir, müde und erhitzt von der Glut, denn die Sonne stand im Zenit, einen ausnahmsweise ruhigen Sessel aus und setzte mich darauf, um über meine Lage nachzudenken. Ich saß so im Schatten einiger großer, wenn auch verwildeter Kommoden mit zahlreichen Trieben in Gestalt von Kleiderbügeln, als etwa hundert Schritt von mir entfernt, inmitten hoch wuchernder Gardinenstangen ein Kopf auftauchte, ein Kopf und mit ihm der Rumpf eines Geschöpfes. Es sah mir nicht nach einem Menschen aus, hatte aber bestimmt nichts mit Möbeln gemein. Aufrecht stand es da, sein blondes Fell glänzte; das Gesicht sah ich nicht, denn es war von einer breiten Hutkrempe beschattet. Statt eines Bauches hatte es eine Art Tamburin, die Arme waren spitzig und gingen in doppelte Hände über; es summte leise und schien sich auf dieser Bauchtrommel zu begleiten. Es tat einen, dann einen zweiten Schritt nach vorn, so daß sich seine ganze Ges talt zeigte. Jetzt erinnerte es an einen Zentauren, an einen barfüßigen, ohne Hufe. Hinter dem zweiten Beinpaar zeigte sich ein drittes, dann ein viertes, und als das Geschöpf im Sprung losstürmte und ins Dickicht stürzte, wo es mir aus den Augen geriet, konnte ich nicht weiterzählen, doch hundert Beine waren es nun auch wieder nicht, das stand fest.
  Ich ruhte auf dem gepolsterten Sessel, verdutzt über die seltsame Begegnung, bis ich mich erhob und weiterging, immer darauf bedacht, daß ich mich nicht zu weit von der Rakete entfernte. Zwischen ausgewachsenen Sofas, die alle hochkant standen, erblickte ich steinerne Trümmer und dahinter so etwas wie einen Kanaleingang. Als ich näher trat, um in die dunkle Tiefe zu blicken, vernahm ich hinter mir ein Geräusch; ich wollte mich umdrehen, aber ein Tuch fiel mir auf den Kopf, ich zappelte, doch vergebens, denn schon hielten mich stählerne Arme umfangen. Jemand griff nach meinen Kniekehlen, und ich spürte, während ich erfolglos strampelte, wie man mich hochhob und dann an den Schultern und an den Beinen packte. Man trug mich wahrscheinlich irgendwo hinunter, ich hörte den Widerhall von Schritten auf steinernen Platten, eine Tür ächzte, man warf mich auf die Knie und riß mir den Stoff vom Kopf.
  Ich befand mich in einem kleinen Raum, der von weißen Lampen erhellt war; sie hingen an der Decke, hatten Schnurrbärte und Füße und wechselten von Zeit zu Zeit den Ort. Ich kniete am Boden, im Nacken hielt mich jemand fest, der hinter mir stand, vor mir war ein Tisch aus ungehobeltem Holz, dahinter saß eine Gestalt in einer grauen Kapuze, die auch das Gesicht verhüllte. Die Kapuze hatte Augenöffnungen, die von durchsichtigen Scheibchen verschlossen waren. Die Gestalt schob ein Buch beiseite, in dem sie wohl gerade geblättert hatte, sah mich flüchtig an und sagte mit ruhiger Stimme zu dem, der mich noch immer festhielt: »Zieh ihm die Saite heraus.«
  Jemand ergriff mich am Ohr und zog daran, so daß ich vor Schmerz aufschrie. Noch zweimal versuchte man, mir die Ohrmuschel abzureißen, aber als das nicht gelang, trat eine gewisse Be stürzung ein. Derjenige, der mich festhielt und mich an den Ohren zog – er war ebenfalls in grobes graues Leinen gehüllt –, rechtfertigte sich mit der Bemerkung, daß es sich um ein neues Modell handeln müsse. Ein anderer Kerl trat an mich heran und versuchte, mir der Reihe nach die Nase, die Brauen und schließlich den ganzen Kopf abzudrehen; als auch das nicht die erwartete Wirkung zeitigte, befahl der Mann am Tisch, mich loszulassen.
  »Wie tief bist du versteckt?« fragte er.
  »Wie bitte?« fragte ich verdutzt. »Ich verstecke mich nirgends, und ich begreife auch nichts. Warum quält ihr mich?«
  Das Wesen stand auf, ging um den Tisch herum und faßte mich an den Schultern – mit Händen von menschlicher Form, die jedoch in Stoffhandschuhen staken. Nachdem es meine Knochen ertastet hatte, stieß es einen kleinen Schrei der Verwunderung aus. Auf ein Zeichen führte man mich durch einen Gang, an dessen Decke Lampen entlangwanderten, die sich offenbar langweilten. Ich kam in eine andere Zelle oder eigentlich in eine Kammer, die finster war wie ein Grab. Ich wollte nicht hineingehen, wurde aber mit Gewalt hineingestoßen; die Tür knallte hinter mir zu, etwas rauschte, und ich vernahm eine Stimme hinter einer unsichtbaren Schranke, die wie in himmlischer Ekstase rief: »Gott sei Dank! Ich kann alle seine Knochen zählen!« Nachdem ich diese Stimme vernommen hatte, widersetzte ich mich noch heftiger denen, die mich gleich wieder aus dem finsteren Loch herauszerrten; als ich aber sah, wie sie mir gänzlich unerwartet Achtung zollten, wie sie mich mit höflichen Gesten einluden und mir mit ihrer ganzen Haltung Reverenz erwiesen, ließ ich mich weiter in den unterirdischen Gang führen, der einem städtischen Abwässerkanal ähnelte, obwohl er sauber war – die Wände waren gekalkt, und feiner sauberer Sand bedeckte den Boden. Die Hände hatte ich bereits frei, so daß ich mir unterwegs die schmerzenden Stellen im Gesicht und am Körper zu massieren begann.
  Zwei Wesen in bodenlangen grauen Gewändern und Kapuzen, mit einer Schnur umwunden, öffneten vor mir eine aus Brettern gezimmerte Tür. Im Hintergrund der Zelle, die etwas größer war als jene, in der man versucht hatte, mir Nase und Ohren abzuschrauben, stand sichtlich gerührt eine maskierte Gestalt, die mich offenbar erwartete. Nach einer Unterhaltung, die eine Viertelstunde dauerte, stellte sich mir die Lage ungefähr folgendermaßen dar: Ich befand mich im Hospiz eines lokalen Ordens, der sich entweder vor Verfolgung versteckte oder der verbannt war; man hatte mich für ein »provozierendes« Lockmittel gehalten, weil mein Aussehen – Gegenstand der Anerkennung der Brüder des Destruktianerordens – nach dem Gesetz verboten war. Der Prior – ihn hatte ich vor mir – erläuterte mir folgendes: Wäre ich ein Köder gewesen, so hätte ich aus Segmenten bestanden, die zerfallen wären, wenn man mir mit dem Ohr die »innere Saite« herausgerissen hätte. Was die andere Frage betrifft, die mir der untersuchende Mönch (ein älterer Pförtnerbruder) gestellt hatte, so war er der Annahme gewesen, ich sei eine Art Plastikmannequin mit eingebautem Komputer. Erst die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen hatte den Sachverhalt geklärt.
  Der Prior, Pater Dyzz Darg, entschuldigte sich sehr herzlich für das peinliche Mißverständnis und fügte hinzu, daß er zwar bereit sei, mir die Freiheit wiederzugeben, mir aber nicht rate, an die Oberfläche hinaufzugehen, weil ich dort in ernste Gefahr geraten würde – ich sei nämlich absolut zensurwidrig. Es wäre auch kein Schutz für mich, wenn man mich mit einer Wämpe und mit angesaugten Rüpsen versähe, da ich mich dieser Tarnung nicht bedienen könne. Es gebe für mich also keinen besseren Ausweg, als bei ihnen, den Destruktianermönchen, zu bleiben, und zwar als teurer und lieber Gast. Nach Maßgabe ihrer leider bescheidenen Möglichkeiten würden sie sich bemühen, mir meine Zwangslage zu versüßen.
  Das sagte mir nicht gerade zu, aber der Prior erweckte in mir durch seine Würde, seine Ruhe und durch die sachliche Sprache Vertrauen, obwohl ich mich nicht an seine verhüllte Gestalt gewöhnen konnte; er war gekleidet wie alle anderen Mönche. Ich wagte es nicht, ihn sogleich mit Fragen zu bestürmen, also unter hielten wir uns über das Wetter auf der Erde und auf Dychthonien, denn er wußte bereits von mir, woher ich gekommen war, dann über die Mühsal der kosmischen Reisen, und schließlich sagte er mir, er vermute, daß ich hinsichtlich der lokalen Angelegenheiten eine gewisse Neugier verspüre, aber damit habe es keine Eile, da ich mich ohnedies vor den Organen der Zensur verbergen müsse. Ich würde, als ein geehrter Gast, eine eigene Zelle erhalten, würde einen jungen Mönchsbruder zu meiner Verfügung haben, der angewiesen sei, mir mit Rat und Hilfe beizustehen; überdies stünde mir die ganze Ordensbibliothek offen. Und da sie unzählige Prohibita und Raritäten enthalte, die sich auf schwarzen Listen befänden, würde ich aus dem Zufall, der mich in die Katakomben geführt habe, vielleicht mehr Nutzen ziehen als woanders.
  Ich dachte, daß wir uns nunmehr trennen würden, denn der Prior war aufgestanden, aber er fragte mich nach einem gewissen Zögern, ob ich ihm gestatte, mein »Wesen« zu berühren. Tief seufzend, als empfände er unsagbares Leid oder unfaßbare Sehnsucht, berührte er mit seinen harten Fingern in Handschuhen meine Nase, meine Stirn, meine Wangen, und als er mir über das Haar strich (ich hatte den Eindruck, daß die Faust dieses Geistlichen aus Eisen sei), schluchzte er sogar leise. Diese Symptome von unterdrückter Rührung betörten mich vollends. Ich wußte nicht, wonach ich zuerst fragen sollte, nach den verwilderten Möbeln oder nach dem vielfüßigen Zentaurus oder auch nach der Zensur, aber ich zwang mich zu vernünftiger Geduld und schwieg. Der Prior versicherte mir, daß die Ordensbrüder die Tarnung der Rakete auf sich nehmen würden, und zwar wolle man eine an Elephantiasis erkrankte Orgel vortäuschen. Danach schieden wir, Höflichkeitsfloskeln tauschend, voneinander.
  Die Zelle, die mir zugewiesen wurde, war nicht groß, aber behaglich, das Lager jedoch verteufelt hart. Erst nahm ich an, die Destruktianermönche hätten eine solche strenge Regel, aber dann erwies es sich, daß man mir das Bett aus reiner Zerstreutheit nicht gepolstert hatte. Vorerst verspürte ich keinen Hunger, abgesehen von dem nach Information. Der junge Bruder, der mir beigegeben war, brachte mir einen ganzen Armvoll historischer und philosophischer Werke; ich vertiefte mich darin bis in die späte Nacht hinein. Zunächst störte mich bei der Lektüre, daß sich die Lampe einmal näherte, dann wieder in die andere Ecke des Raumes verzog. Später erst erfuhr ich, daß sie ab und zu ein Bedürfnis verrichten ging und daß man ihr zuschnalzen müsse, um sie an die vorherige Stelle zurückzubeordern.
  Der junge Mönchsbruder riet mir, die Studien mit dem kurzen, aber instruktiven Werk über die dychthonische Geschichte von Abus Grags zu beginnen, einem offiziellen, aber, wie er sich ausdrückte, »relativ objektiven« Geschichtsschreiber. Ich folgte seinem Rat.
  Noch um das Jahr 2300 glichen die Dychthonen wie Zwillinge den Menschen. Obschon der Fortschritt der Wissenschaft von einer Laizisierung des Lebens begleitet war, hatte dennoch der Duismus, ein Glaube, der auf Dychthonien zwanzig Jahrhunderte lang fast ungeteilt herrschte, auch die weitere Zivilisationsbewegung geprägt. Der Duismus verkündet, daß jedes Leben zwei Tode habe, einen vorderen und einen hinteren, das heißt den vor der Geburt und den nach der Agonie. Die dychthonischen Theologen schlugen vor Verwunderung die Hände zusammen, als sie dann von mir hörten, daß man auf der Erde nicht so dächte und daß es Kirchen gäbe, die sich nur für ein Dasein interessierten, nämlich für das nach dem Tode. Sie konnten nicht begreifen, daß den Menschen zwar der Gedanke, es werde sie dereinst nicht mehr geben, unangenehm sei, nicht dagegen die Vorstellung, daß es sie vorher auch nicht gegeben habe.
  Der Duismus änderte im Laufe der Jahrhunderte seinen dogmatischen Kern, aber immer zeigte er großes Interesse für die eschatologische Problematik, was nach Professor Grags eben zu den frühen Versuchen führte, eine Unsterblichkeitstechnologie in Gang zu bringen. Bekanntlich sterben wir durch das Altern; wir werden alt und unterliegen einem körperlichen Verfall, weil wir eine unerläßliche Information verlieren: Die Zellen vergessen mit der Zeit, was sie tun müssen, um nicht zu zerfallen. Die Natur liefert auf die Dauer ein solches Wissen nur den Geschlechtszellen, denn die anderen gehen sie nichts an. So gesehen ist das Altern also das Vergeuden einer lebenswichtigen Information.
  Bragger Fizz, der Erfinder des ersten Immortalisators, baute ein Aggregat, das sich um den Mechanismus des Menschen sorgte (ich werde diesen Ausdruck benutzen, wenn ich die Dychthonier meine, weil das praktischer ist) und jede Prise Information sammelte, die die körperlichen Zellen verloren. Er sammelte sie und führte sie ihnen erneut zu. Der erste Dychthonier, Dgunder Brabs, an dem man das verewigende Experiment durchführte, wurde nur für ein Jahr unsterblich. Länger konnte er nicht durchhalten, denn er wurde von sechzig Maschinen überwacht, die mit Myriaden unsichtbarer goldener Drähtchen in alle Winkel seines Organismus eindrangen. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren und führte ein trauriges Leben inmitten einer wahren Fabrik (der sogenannten Perpetuale). Dobder Gwarg, der nächste Kandidat auf die Unsterblichkeit, konnte sich zwar schon bewegen und hin und her gehen, aber ihn begleitete auf seinen Spaziergängen eine Kolonne schwerer Traktoren, die mit der unsterblich machenden Apparatur beladen waren. Auch er beging Selbstmord infolge Frustration.
  Es gab die Meinung, daß im Zuge weiterer Fortschritte in dieser Technik Mikroperpetuatoren entstehen würden, aber Has Berdergar wies mathematisch nach, daß solch ein PUAP (Persönlicher Unsterblichmacher, der automatisch perpetuiert) mindestens einhundertneunundsechzigmal soviel wiegen müsse wie der Unsterblichkeitskandidat, sofern er entsprechend dem typischen Evolutionsplan angefertigt worden sei. Denn die Natur – das sagte ich schon, und das wissen auch unsere Gelehrten – sorgt sich bei jedem nur um die Handvoll Geschlechtszellen, um den Rest kümmert sie sich überhaupt nicht.
  Der Beweis, den Has erbrachte, machte einen gewaltigen Eindruck und stürzte die Gesellschaft in tiefe Depression; man begriff nämlich, daß man die Schranke der Sterblichkeit nicht ohne gleichzeitiges Verwerfen des Körpers überschreiten konnte, den die Natur schuf. In der Philosophie bildete die berühmte Doktrin des großen dychthonischen Denkers Donderwars die Reaktion auf Berdergars Schlußfolgerung. Donderwars schrieb, daß man den spontanen Tod nicht als natürlich bezeichnen dürfe. Natürlich sei das, was schicklich sei, die Sterblichkeit dagegen sei ein Skandal und eine Schande im kosmischen Maßstab. Die Allgemeingültigkeit dieses Vergehens mindere um keinen Deut seine Scheußlichkeit. Für die Beurteilung des Vergehens sei es auch von keinerlei Bedeutung, ob man seinen Urheber fassen könne. Die Natur verfahre mit uns wie ein Schurke, der Unschuldige auf eine angenehme, im Grunde jedoch verlorene Mission schicke. Je klüger jemand im Leben werde, desto mehr nähere er sich dem Grabe.
  Da kein moralisches Individuum das Recht habe, sich Mördern anzuschließen, sei eine Kollaboration mit der liederlichen Natur unzulässig. Indessen sei die Beerdigung eine Kollaboration durch Versteckspiel. Es handele sich darum, das Opfer irgendwo zu verbergen, wie das gewöhnlich bei einem Verbrechen geschieht; auf die Grabsteine würden verschiedene belanglose Dinge eingraviert, nicht aber das einzig Wesentliche: Wenn die Menschen nämlich den Mut hätten, der Wahrheit ins Auge zu schauen, würden sie dort ein paar kräftige Flüche an die Adresse der Natur einritzen, die uns das beschert habe. Statt dessen sagt niemand auch nur ein Wort, als kämen einem Mörder, der so geschickt ist, daß er sich stets verflüchtigt, dafür noch besondere Rücksichten zu. Statt »memento mori« sollte man immer wieder sagen »estote ultores« strebt die Unsterblichkeit an, selbst um den Preis des Verlustes eures traditionellen Äußeren – so lautete das ontologische Testament dieses hervorragenden Philosophen.
  Als ich das gelesen hatte, erschien der junge Bruder, um mich im Namen des Priors zum Abendbrot zu bitten. Ich nahm es nur in seiner Gesellschaft ein. Pater Darg selbst aß nichts, er trank nur von Zeit zu Zeit Wasser aus einem kristallenen Becher. Der Imbiß war bescheiden: ein Tischbeinfrikassee, ziemlich sehnig; wie ich mich überzeugte, werden die Möbel des Waldes in der Umgebung meist fleischig, wenn sie verwildern. Ich fragte jedoch nicht, warum sie eigentlich nicht holzig werden, denn ich strebte bei meiner Lektüre nach höheren Dingen, und so kam es zu einem ersten Gespräch mit dem Prior über theologische Themen.
  Er erklärte mir, daß es sich bei dem Duismus um einen Glauben an Gott handele, jedoch ohne Dogmen, die allmählich im Verlaufe der biotischen Revolutionen zerbröckelt seien. Am schwersten war die Krise der Kirche, die durch die Zerstörung des Dogmas von der Unsterblichkeit der Seele hervorgerufen wurde, aufgefaßt im Sinne der Perspektive eines ewigen Lebens. Die Dogmatik wurde im 25. Jahrhundert von drei aufeinanderfolgenden Techniken angegriffen, von der des Einfrierens, des Umkehrens und des Umgeistigens. Die erste bestand darin, daß man den Menschen zu Eis gefrieren ließ, die zweite darin, daß man die Richtung der Ontogenese umkehrte, und die dritte darin, daß man das Bewußtsein beliebig manipulierte. Den Angriff der Frigidisierung konnte man noch abwehren, indem man behauptete, daß der Tod, in den der erfrorene und dann wiederbelebte Mensch verfalle, nicht identisch sei mit jenem Tod, von dem die Heilige Schrift spreche, daß nämlich die Seele danach ins Jenseits davonfliege. Diese Auslegung war unerläßlich, denn wenn es sich um einen gewöhnlichen Tod handelte, müßte der Wiederauferstandene etwas darüber wissen, wo er mit seiner Seele während der hundert oder sechshundert Jahre seines Hingeschiedenseins geweilt habe.
  Einige Theologen, unter ihnen Gauger Drebdar, meinten, daß der wirkliche Tod erst nach dem Verfall eintrete (»zu Staub wirst du werden«), aber diese Version konnte nicht aufrechterhalten werden, nachdem das sogenannte Resurrektionsfeld erfunden worden war, das den lebenden Menschen eben aus der Asche, das heißt aus dem zu Atomen zerfallenen Körper, zusammensetzte, und auch dann wußte der Wiederbelebte nichts davon, daß seine Seele in der Zwischenzeit irgendwo anders gewesen sei. Das Dogma wurde durch eine Vogel-Strauß-Taktik gewahrt, indem man jeder Definition der Frage auswich, wann der Tod so vollständig sei, daß sich danach die Seele bestimmt aus dem Körper entferne. Dann jedoch kam die umkehrbare Ontogenese; ihre Technik war nicht absichtlich gegen die Glaubensdogmatik gerich tet, aber sie erwies sich als zwingend für die Liquidierung der Entstellungen einer Entwicklung durch Zeugung: Man lernte es, die Entwicklung anzuhalten und umzukehren; nach einer Wendung um einhundertachtzig Grad begann man noch einmal bei der befruchteten Zelle. Bald geriet das Dogma von der unbefleckten Empfängnis ins Wanken und mit ihm das von der Unsterblichkeit der Seele; in einem Zuge sozusagen, denn dank der retroembryonalisierenden Technologie kann man jeden Organismus durch alle vorhergehenden Stadien zurückdrehen, sogar so weit, daß die befruchtete Zelle, aus der er entstanden war, sich erneut in Ei und Keim trennte.
  Das führte zu großem Ärger, denn das Dogma verkündete, daß Gott die Seele im Augenblick der Befruchtung erschaffe, aber wenn man die Befruchtung rückgängig machen und damit annullieren konnte, indem man ihre beiden Bestandteile trennte, was sollte dann mit der bereits erschaffenen Seele geschehen? Ein Nebenprodukt dieser Technik war die Klonbildung, das heißt die Anregung zur Entwicklung beliebiger Zellen in einen normalen Organismus, die einem lebenden Körper entnommen wurden, zum Beispiel der Nase, der Ferse, der Mundschleimhaut und so weiter. Da dies ohne jede Befruchtung zu machen war, funktionierte die Biotechnik der unbefleckten Empfängnis, die man denn auch im Industriemaßstab in Betrieb nahm. Die Embryogenese konnte man ebenfalls schon umkehren, beschleunigen oder so ablenken, daß sich zum Beispiel eine menschliche Frucht in eine Affenfrucht verwandelte. Wie war es nun mit der Seele bestellt – wurde sie so zusammengedrückt und auseinandergezogen wie eine Ziehharmonika, oder verschwand sie bei der Umleitung der Fruchtentwicklung vom Menschen zum Affen irgendwo unterwegs?
  Nach dem Dogma konnte eine Seele, wenn sie einmal entstanden war, weder verschwinden noch kleiner werden, denn sie war eine unteilbare Einheit. Man überlegte schon, ob man die Befruchtungsingenieure nicht mit einem Bannfluch belegen sollte, aber man tat dies nicht, und zwar mit Recht, denn nun verbreitete sich die Ektogenese. Zunächst wurde kaum einer und schließlich niemand mehr aus der Verbindung eines Mannes mit einer Frau geboren, sondern aus einer Zelle, die im Uterator (einer künstlichen Gebärmutter) eingeschlossen war, und man konnte schwerlich der gesamten Menschheit die Sakramente mit der Begründung verwehren, daß sie durch Jungfernzeugung entstanden war. Obendrein folgte schon die nächste Technologie – die des Bewußtseins. Mit dem Problem des Geistes in der Maschine, der durch die Intellektronik und ihre vernünftigen Komputer geboren wurde, wußte man sich noch zu helfen, aber danach kam die nächste, die des Bewußtseins und der Psyche in Flüssigkeiten; man synthetisierte kluge und denkende Lösungen, die man in Flaschen abfüllen, umgießen, zusammenschütten konnte, und jedesmal entstand eine Persönlichkeit, mitunter vergeistigter und klüger als alle Dychthonier zusammengenommen.
  Um die Frage, ob eine Maschine oder eine Lösung so etwas wie eine Seele haben könne, gab es dramatische Auseinandersetzungen auf der Synode im Jahre 2479, bis man dort ein neues Dogma aufstellte, das von der mittelbaren Schöpfung, welches besagte, Gott habe den von ihm erschaffenen vernünftigen Wesen die Macht der Zeugung von Intellekten des nächsten Wurfes verliehen, aber das war noch nicht das Ende der Wandlungen, denn bald stellte es sich heraus, daß die künstlichen Intelligenzen andere, nächstfolgende produzieren konnten oder auch nach eigenem Kalkül menschenförmige Wesen oder gar normale Menschen aus einem beliebigen Haufen Materie zu synthetisieren vermochten. Man unternahm später weitere Versuche, das Dogma von der Unsterblichkeit zu retten, aber sie brachen im Feuer der weiteren Entdeckungen zusammen, die in wahren Lawinen über das 26. Jahrhundert hereinstürzten; kaum hatte man das Dogma mit einer abgewandelten Auslegung abgestützt, da entstand bereits die sie negierende Bewußtseinstechnologie.
  Es kam zu einer Reihe von Ketzereien und zur Entstehung von Sekten, die den allgemein bekannten Tatsachen widersprachen; die duistische Kirche indes behielt nur ein Dogma bei, das der mittel baren Schöpfung. Was hingegen das Überdauern nach dem Tode, den Glauben an die Fortsetzung der individuellen Persönlichkeiten, betraf, so ließ sich dies nicht mehr vor der Vernichtung retten, denn weder die Persönlichkeit noch die Individualität blieben zeitlich erhalten. Man konnte bereits zwei oder mehr Geister in einem zusammenfassen, bei den Maschinen, bei den Lösungen und auch bei den Menschen; man konnte dank der Personetik ganze in Maschinen eingeschlossene Welten produzieren, in denen vernünftige Daseinsformen entstanden, die ihrerseits in dieser Abgeschiedenheit den nächsten Wurf intelligenter Personen zu konstruieren vermochten, man konnte Intelligenzen potenzieren, teilen, vervielfachen, reduzieren und so weiter. Dem Verfall der Dogmatik folgte der Verfall der Glaubensautorität, es erloschen auch die Hoffnungen auf die früher verbürgten Verheißungen vom ewigen Licht, zumindest für einzelne Individuen.
  Als die Synode des Jahres 2542 sah, daß sie in der theologischen Bewegung nicht mit dem technischen Fortschritt Schritt hielt, gründete sie den Orden der Prognositen, der sich mit futurologischen Arbeiten im Bereich des heiligen Glaubens befassen sollte. Das Bedürfnis nach einer Antizipierung seiner weiteren Geschicke war nämlich sehr dringend. Die Unmoral vieler neuer Biotechnologien erschreckte nicht nur die Gläubigen; dank der Klonisierung zum Beispiel konnte man neben normalen Personen biologische Wesen produzieren, die fast hirnlos waren und sich für mechanische Arbeiten eigneten, oder gar Wesen mit entsprechend gezüchteten Geweben, die vom menschlichen oder tierischen Körper stammten. Man konnte Zimmer und Wände auslegen, Einlagen, Stecker, Verstärker oder Abschwächer von Intelligenz erzeugen, mystische Zustände von Begeisterung in einem Komputer, in einer Flüssigkeit erwecken, ein Ei aus dem Froschlaich in einen Weisen verwandeln, versehen mit einem menschlichen, einem tierischen oder einem solchen Körper, den es bislang noch nicht gegeben hatte, weil ihn die Befruchtungsexperten absichtlich projektiert hatten. Das alles rief von Seiten der Weltlichkeit Widerspruch hervor, sogar sehr heftigen. Aber vergebens.
  Pater Darg erzählte mir das alles mit der größten Ruhe, als spräche er von augenscheinlichen Dingen; im übrigen waren sie für ihn wirklich Selbstverständlichkeiten, denn sie waren ein Teil der dychthonischen Geschichte. Obwohl ich unzählige Fragen auf den Lippen hatte, hielt ich es nicht für geboten, Aufdringlichkeit zu zeigen, und so kehrte ich nach dem Abendbrot in meine Zelle zurück und vertiefte mich in den zweiten Band der Arbeit von Prof. A. Grags, in einen Band, der, wie ein Vermerk auf der ersten Seite bezeugte, ein verbotenes Werk war.
  Ich erfuhr, daß im Jahre 2401 Byg Brogar, Dyrr Daagard und Mor Darr weit das Tor zur uneingeschränkten autoevolutiven Freiheit aufstießen; diese Gelehrten glaubten zutiefst daran, daß der dank ihrer Entdeckung entstandene Homo Autofac Sapiens, das heißt der vernünftige Selbstformer, volle Harmonie und Glück erreichen werde, wenn er sich solche Formen des Körpers und solche Eigenschaften der Seele verleihe, die er als die vollkommensten erkenne, daß er die Barriere der Unsterblichkeit durchstoßen werde, sobald er dies beschließe – mit einem Wort, sie zeigten im Verlaufe der zweiten biotischen Revolution (der ersten verdankte man die Keimlinge, die Verbrauchsgüter erzeugten) einen Maximalismus und Optimismus, wie sie für die Geschichte der Wissenschaften typisch sind. Denn ähnliche Hoffnungen verbindet man gewöhnlich mit dem Aufkommen jeder großen Technologie.
  Zunächst entwickelte sich die autoevolutive Ingenieurkunst, das heißt die sogenannte Befruchtungsbewegung im Sinne ihrer aufgeklärten Entdecker. Die Ideale der Gesundheit, der Harmonie, der geistig-körperlichen Schönheit wurden verbreitet, die Verfassungsgesetze garantierten jedem Bürger das Recht, solche psychosomatischen Merkmale zu besitzen, die für die wertvollsten gehalten wurden. Bald wurden auch alle Entartungen und angeborenen Gebrechen sowie Häßlichkeit und Dummheit zu überlebten Anachronismen. Jedoch die Entwicklung hat es an sich, daß die fortschrittliche Bewegung sie immer weitertreibt, also war es damit nicht getan. Die Anfänge der weiteren Veränderungen wirkten vorerst noch harmlos. Die Mädchen verschönten sich dank der Zucht von Hautbijouterie und anderer Schönheitsprodukte des Körpers (Ohren in Herzform, Perlen aus Fingernägeln), die Burschen protzten mit Seiten- und Rückenbärten, mit Kämmen auf dem Kopf, mit Kiefern, die ein doppeltes Gebiß hatten, und ähnlichen Dingen.
  Zwanzig Jahre später entstanden die ersten politischen Parteien. Ich kam beim Lesen nicht gleich darauf, daß »Politik« auf Dychthonien etwas anderes bedeutete als bei uns. Das Gegenteil des politischen Programms, das die Vervielfältigung der Körperformen postuliert, ist das monotische Programm, das den Reduktionismus verkündet, das heißt das Bedürfnis, sich der Organe zu entäußern, die von den Monotikern der jeweiligen Vereinigung für überflüssig gehalten werden. Als ich bis zu dieser Stelle der faszinierenden Lektüre gelangt war, stürzte mein junger Mönchsbruder, ohne anzuklopfen, in die Zelle und befahl mir voll unverhohlener Angst, sie sofort zu verlassen, der Pförtner habe eine Gefahr angekündigt. Ich fragte: »Was für eine?«, doch er trieb mich nur an und rief, es sei jetzt keine Zeit zu verlieren. Ich hatte keine persönlichen Sachen da, also klemmte ich nur das Buch unter den Arm und rannte meinem Wegführer hinterdrein.
  Im unterirdischen Refektorium machten sich schon alle Destruktianermönche fieberhaft zu schaffen; über eine Steinrinne glitten ganze Berge von Büchern herunter, die oben von den Bibliothekarbrüdern mit Stangen hinuntergestoßen wurden; man verlud sie in Behälter und ließ sie in größter Eile in die Tiefe des Brunnens hinab, der in den rohen Felsen gehauen war; vor meinen staunenden Augen hatten sich die Mönche im Nu nackt ausgezogen und warfen rasch auch ihre Kutten und Kapuzen in die verschalte Öffnung – sie alle waren menschenförmige Roboter. Daraufhin nahm sich eine ganze Schar meiner an, indem sie mir wunderliche Schößlinge von ballonartiger und schlangenartiger Form an den Leib klebten, Schwänze oder Extremitäten – ich fand mich darin nicht zurecht, so sehr beeilten sie sich. Der Prior legte mir selbst eine Wämpe auf den Kopf, die aussah wie eine aufgeblähte und ge platzte Küchenschabe; die einen leimten noch, während die anderen mich schon mit Gürteln oder Streifen bemalten. Da es ringsum keine Spiegel und keine glänzende Oberfläche gab, weiß ich nicht, wie ich aussah, aber die Mönche schienen mit ihrem Werk zufrieden zu sein.
  Ich wurde hin und her geschoben und fand mich schließlich in einer Ecke wieder. Erst da bemerkte ich, daß ich eher an einen Vierbeiner oder gar an einen Sechsbeiner erinnerte als an ein Wesen mit aufrechter Haltung. Sie hießen mich hinkauern und sagten mir, ich solle auf alle Fragen, ganz gleich, wer sie an mich richte, nur durch Blöken antworten. Gleich darauf wurde entsetzlich laut an die Tür getrommelt; die Mönchsroboter stürzten an irgendwelche in der Mitte des Refektoriums aufgestellten Geräte, die an Nähmaschinen (aber nur auf den ersten Blick) erinnerten, und im Nu hallte der ganze Raum vom Rattern ihrer vorgetäuschten Arbeit wider. Über die steinernen Stufen stieg eine Kontrollstreife zu uns herab. Fast hätten meine vier Beine unter mir nachgegeben, als ich die Wesen aus der Nähe betrachtete. Ich wußte nicht, ob sie angezogen oder nackt waren; jeder einzelne sah anders aus.
  Schwänze hatten wohl alle, sie mündeten in eine haarige Quaste, die eine solide Faust verbarg; sie trugen sie im allgemeinen lässig über der Schulter, sofern man die kugelige Wölbung, die von großen Warzen umgeben war, als Schulter bezeichnen konnte; inmitten dieser Kugel war die Haut weiß wie Milch; bunte Stigmata erschienen darauf – ich begriff nicht gleich, daß sie sich sowohl mit der Stimme als auch mit Hilfe jenes körperlichen Bildschirms verständigten, auf den sie verschiedene Aufschriften und Abkürzungen ausstrahlten. Ich versuchte wenigstens ihre Beine zu zählen, sie hatten mindestens zwei, aber es gab auch ein paar Dreibeinige und einen Fünfbeinigen; ich gewann jedoch den Eindruck: Je mehr Beine, desto schwerer fiel dem Betreffenden das Gehen. Sie machten einen Rundgang um den ganzen Saal, sahen im Vorbeigehen den Mönchen zu, die sich über die Maschinen beugten und mit größter Verbissenheit arbeiteten, bis ein Kontrolleur, der größer war als die anderen – er hatte eine gewaltige orangefarbene Krause rings um die Wämpe, die sich aufblähte und schwach leuchtete, wenn er sprach –, bis dieser Kontrolleur einem kleinen Individuum, das nur zwei Beine und ein kurzes Schwänzchen hatte, sicherlich einem Kanzlisten, den Befehl gab, die Triefeln zu untersuchen. Sie schrieben sich etwas auf, vermaßen etwas, ohne ein Wort an die Mönchsroboter zu richten, und waren bereits im Aufbruch, als ein grünlicher Dreibeiner meine Anwesenheit bemerkte; er zupfte an einem der befransten Schößlinge, und ich gab für alle Fälle ein leises Blöken von mir.
  »Ach, das ist der alte Gwarndlist, er hat die achtzehn – in Ruhe lassen!« sagte der Größere und wurde hell. Der Kleine erwiderte rasch: »Jawohl, Euer Körperlichkeit!«
  Mit einem Apparat, der einer Taschenlampe ähnelte, leuchteten sie noch in alle Ecken des Refektoriums, aber dem Brunnen näherte sich keiner. Das Ganze sah mir immer deutlicher wie eine nachlässig durchgeführte Formalität aus. Binnen zehn Minuten waren sie verschwunden, die Maschinen wurden in eine dunkle Ecke geschoben, die Mönche begannen die Behälter hochzuhieven, sie wrangen ihre durchnäßten Kutten aus und hängten sie zum Trocknen auf eine Schnur. Die Bibliothekare waren besorgt, denn in einen undichten Behälter war Wasser geraten, also mußte man sogleich die durchnäßten Seiten der Altdrucke mit Seidenpapier belegen, und der Prior, das heißt der Pater Roboter, ich wußte selbst nicht mehr, was ich von ihm halten sollte, wandte sich mit großer Freundlichkeit an mich: Gott sei Dank habe alles ein gutes Ende genommen, aber in Zukunft solle ich mehr auf der Hut sein. Bei diesen Worten zeigte er mir das Geschichtswerk, das ich in dem allgemeinen Durcheinander fallen gelassen hatte. Er selbst hatte während der Revision darauf gesessen.
  »Der Besitz von Büchern ist also verboten?« fragte ich.
  »Kommt drauf an«, erwiderte der Prior. »Uns ja! Und ganz besonders der Besitz solcher Bücher wie dieses hier! Wir gelten als veraltete Maschinen, die seit der ersten biotischen Revolution überflüssig sind; man toleriert uns, genauso wie alles, was in die Katakomben geht, weil dies eine – übrigens inoffizielle – Sitte seit der Regierungszeit Glaubons ist.«
  »Und was ist ein ›Gwarndlist‹?« fragte ich.
  Der Prior schien ein wenig verlegen zu sein.
  »Das ist ein Anhänger von Bghis Gwarndl, einem Großherrscher, der vor neunzig Jahren regierte. Es ist mir peinlich, davon zu sprechen… dieser unglückselige Gwarndlist hatte bei uns Zuflucht gesucht, also hatten wir ihm Asyl gewährt; der Arme saß immer in dieser Ecke und täuschte einen Wahnsinnigen vor; deshalb galt er für unzurechnungsfähig und konnte sagen, was er wollte… vor einem Monat ließ er sich einfrieren, um ›bessere Zeiten‹ zu erleben… so hatte ich daran gedacht, daß man Sie notfalls verkleiden könnte… nicht wahr? Ich wollte Sie davon unterrichten, aber ich hatte nicht mehr die Zeit dazu. Ich hatte nicht angenommen, daß ausgerechnet heute eine Kontrolle kommen würde, es gibt ab und zu welche, aber in letzter Zeit sind sie ziemlich selten.«
  Ich begriff kein Wort von alledem. Übrigens harrten meiner erst jetzt unangenehme Mühen, denn der Klebstoff, den die Destruktianermönche benutzt hatten, um mich in den »Gwarndlisten« zu verwandeln, haftete schrecklich; ich hatte den Eindruck, daß sie mir zusammen mit den künstlichen Rüpsen und Grenseln ganze Stücke lebenden Fleisches vom Leib rissen; ich schwitzte, stöhnte, bis ich endlich wieder halbwegs menschlich aussah und mich zur Ruhe begeben konnte. Der Prior erwog später, mich vielleicht körperlich umzuwandeln, auf eine natürlich umkehrbare Weise, aber als man mir auf einer Zeichnung zeigte, wie ich dann aussehen würde, entschied ich mich doch für das weitere Risiko der Zensurwidrigkeit. Die gesetzlich empfohlenen Formen waren in meinen Augen nicht nur monströs, sondern auch höchst unbequem; man konnte sich mit ihnen zum Beispiel nicht hinlegen, sondern mußte hängend schlafen.
  Da ich mich erst spät zur Ruhe begab, war ich nicht genügend ausgeschlafen, als mir mein junger Beschützer das Frühstück in die Zelle brachte und mich weckte; nun begriff ich erst richtig, wie groß die Gastfreundlichkeit war, die man mir angedeihen ließ, denn die Mönche selbst aßen nichts. Was das Wasser betrifft, so hatten sie wahrscheinlich einen Akkumulatorenantrieb und gebrauchten destilliertes Wasser, aber für den ganzen Tag reichten ihnen ein paar Tropfen. Um mich beköstigen zu können, mußten sie dagegen Ausflüge in den Möbelhain unternehmen. Diesmal bekam ich eine nicht schlecht zubereitete Sessellehne. Wenn ich sage, daß sie gut gekocht war, so heißt das noch lange nicht, daß sie mir schmeckte, aber ich änderte angesichts der mühevollen kulinarischen Umstände schon beim Essen meine Meinung über dieses Problem.
  Ich stand noch immer unter dem Eindruck der nächtlichen Kontrolle und konnte sie nicht mit dem vereinbaren, was ich bisher in dem Geschichtswerk gelesen hatte. Gleich nach dem Frühstück machte ich mich deshalb an das weitere Studium.
  Seit dem Beginn der Autoevolution spalteten tiefe Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen Fragen das Lager des körperlichen Fortschritts. Die Opposition der Konservativen verschwand bereits vierzig Jahre nach der großen Entdeckung; man nannte sie finstere Rückschrittler. Die Fortschrittlichen hingegen zerfielen in die Imnudisten, Zielophilen, Vermenger, Linierer, Knetianer und in viele andere Parteien, deren Namen und Programme ich nicht behalten habe. Die Imnudisten verlangten, die Obrigkeit müsse einen vollkommenen körperlichen Prototyp festlegen, der dann mit einem Schlag eingeführt werden solle. Die Zielophilen, die kritischer eingestellt waren, glaubten, daß sich eine solche Vollkommenheit nicht sofort erreichen lasse, sie sprachen sich daher eher für einen Weg zum idealen Körper aus, aber es war nicht eindeutig, was für ein Weg das sein sollte und vor allem, inwieweit er für die Übergangsgenerationen unangenehm sein konnte. In dieser Frage zerfielen sie in zwei Gruppen. Andere, zum Beispiel die Linierer und die Vermenger, behaupteten, daß es sich lohne, bei verschiedenen Anlässen unterschiedlich auszusehen, und sie sagten auch, daß der Mensch nicht schlechter sei als die Insekten. Wenn sie in ihrem Leben Metamorphosen durchlaufen, dann könnte dies auch der Mensch – das Kind, der Halbwüchsige, der Jüngling, der erfahrene Mann seien Verkörperungen grundsätzlich verschiedener Muster. Die Knetianer hingegen waren Radikale; sie bezeichneten das Skelett als altmodisches Überbleibsel, verkündeten das Abgehen vom Wirbelsäulenbau und priesen die weiche Allplastizität. Ein Knetianer konnte sich selbst so modellieren oder körperlich kneten, wie es ihm gefiel; wenigstens im Gedränge war das praktisch und auch hinsichtlich der fertigen Kleidung in verschiedenen Größen; einige von ihnen walkten und rollten sich in die wunderlichsten Formen, indem sie je nach Lage und Geisteszustand ihre Stimmungen in Selbstgliederung ausdrücken wollten; ihre Widersacher verliehen ihnen den verächtlichen Schimpfnamen Pfützer.
  Um der Gefahr der körperlichen Anarchie vorzubeugen, wurde das BÜPROKÖPS ins Leben gerufen, ein Büro für Projekte des Körpers und der Psyche, das den Markt mit verschiedenen, aber stets erprobten Varianten von Körpergestaltungsplänen beliefern sollte. Dennoch gab es noch immer kein Einvernehmen hinsichtlich der Hauptrichtung der Autoevolution: Sollte man Körper anfertigen, mit denen man möglichst angenehm leben konnte, oder solche, die den Individuen das Einleben in das gesellschaftliche Sein besonders erleichterten, sollte man den Funktionalismus oder die Ästhetik vorziehen, die Kraft des Geistes oder die der Muskeln potenzieren; denn man konnte zwar gut in Gemeinplätzen über Harmonie und Perfektion reden, die Praxis indes wies nach, daß nicht alle wertvollen Merkmale sich vereinen ließen; zahlreiche schlossen einander aus.
  Auf jeden Fall kam es auf der ganzen Linie zur Abkehr vom natürlichen Menschen. Die Experten überboten einander in der Beweisführung, wie primitiv und schlecht er doch von der Natur erschaffen sei; die Körpermetrie und die somatische Ingenieurkunst der Zeit wiesen in ihrem Schrifttum deutlich Einflüsse der Doktrin von Donderwars auf; die Hinfälligkeit des natürlichen Organismus, seine senilisierende Bewegung zum Tode, die Tyrannei der alten Triebe über den später entstandenen Verstand waren harter Kritik ausgesetzt, und das Schrifttum wimmelte von Vor würfen über die Flachfüßigkeit, die Tumore, das Herausfallen von Wirbeln und über tausend andere Leiden, die durch die evolutive Pfuscherei und Nachlässigkeit, genannt »Maulwurfsarbeit«, der verschwenderisch-ideenlosen, weil blinden Evolution des Lebens hervorgerufen wurden.
  Die späten Nachkommen schienen an der Natur Revanche nehmen zu wollen für das düstere Schweigen, mit dem ihre Urgroßväter die Enthüllungen über die Affenabkunft des Dychthoniers schlucken mußten; man verspottete die sogenannte arboreale Passage, das heißt die These, daß zuerst irgendwelche Tiere auf den Bäumen Schutz suchten, aber dann, als die Wälder durch die Versteppung verschwanden, zu rasch auf den Erdboden herunterkriechen mußten. Einigen Kritikern zufolge hatten die Erdbeben die Anthropogenese verursacht, denn wer lebte, stürzte dadurch aus dem Geäst, also entstanden die Menschen gewissermaßen wie Falläpfel. All das waren natürlich grobe Vereinfachungen, aber das Schimpfen auf die Evolution gehörte zum guten Ton. BÜPROKÖPS vervollkommnete unterdessen die inneren Organe, stärkte die Wirbelsäule, machte sie elastischer, verfertigte Reserveherzen und Reservenieren, aber all das befriedigte die Extremisten nicht, die mit demagogischen Losungen wie »Weg mit dem Kopf« (weil er zu eng sei), »Das Hirn in den Bauch« (weil darin mehr Platz sei) und so weiter auftraten.
  Der hitzigste Streit entbrannte um die geschlechtlichen Fragen, denn während die einen meinten, all dies sei höchst geschmacklos und man müsse »etwas von Blumen und Schmetterlingen« nehmen, verlangten andere dagegen, indem sie die Verlogenheit der Platoniker anprangerten, sogar eine Ausweitung und Eskalation dessen, was vorhanden war. Unter dem Druck der extremen Gruppierungen richtete BÜPROKÖPS Briefkästen für Rationalisierungseinfälle in den Städten und Siedlungen ein; Lawinen von Entwürfen wurden gemacht, die Etatstellen wuchsen zu einer Macht an, und nach einer Dekade hatte die Bürokratie die Autokreation dermaßen an die Wand gedrückt, daß BÜPROKÖPS in Vereinigungen zerfiel und dann in Institute wie KWUG (Kommis sion für Fragen Wundervoller Gesichter), ZIVÄEX (Zentrales Institut für volle Ästhetisierung der Extremitäten), IVRANA (Institut für Verallgemeinerung einer Radikal Neuen Anatomie) und viele andere. Es wimmelte von Kongressen und Konferenzen zur Frage der Gestaltung der Finger, man diskutierte über den Rang und die Zukunft der Nase, über die Perspektive der Rücken, wobei das Ganze aus dem Blickfeld verschwand, bis schließlich das, was von der einen Abteilung entworfen wurde, nicht mehr zur Produktion der anderen paßte. Niemand mehr erfaßte ganz die neue Problematik, die kurz AU genannt wurde (Automorphe Explosion). Um diesen Wirrwarr zu beseitigen, wurde schließlich die Machtbefugnis auf dem Gebiet der Biotik einem SOMPSUTER (Somatisch-Psychischer Komputer) anvertraut.
  Mit dieser Information schloß der Band der Allgemeinen Geschichte. Als ich nach dem nächsten griff, betrat der junge Mönch die Zelle, um mich zum Mittagessen zu bitten. Ich genierte mich, in Gegenwart des Priors zu essen, denn ich wußte bereits, daß es von seiner Seite eine Höflichkeit war und daß er wertvolle Zeit vergeudete. Die Einladung war jedoch so zwingend, daß ich ihr ohne Zögern folgte. In dem kleinen Refektorium befand sich neben Pater Darg, der am Tisch auf mich wartete, ein kleines Gefährt, das unseren Gepäckwagen ähnelte; es handelte sich um Pater Memnar, den General des Prognositenordens (ich habe mich schlecht ausgedrückt: Selbstverständlich war nicht der Wagen der Pater und General des Ordens, sondern ein sechseckiger Komputer, der auf diesem Wagengestell ruhte). Ich denke, daß ich keine Unhöflichkeit durch unverhohlenes Staunen begangen oder während der Begrüßung gestottert habe. Ich aß mit Verlegenheit, aber ich mußte es tun, weil mein Organismus es verlangte. Um mich zu animieren und zu ermutigen, trank der ehrenwerte Prior während der Mahlzeit ununterbrochen Wasser in kleinen Schlückchen, und das gar aus zwei Kristallkannen zugleich. Pater Memnar hingegen brummte nur leise vor sich hin; ich dachte mir, daß er Gebete murmelte, aber als das Gespräch wieder auf die Theologie kam, erwies es sich, daß ich mich geirrt hatte.
  »Ich bin gläubig«, sagte Pater Memnar zu mir, »und wenn mein Glaube begründet ist, so weiß das der, an den ich glaube, auch dann, wenn ich keine offiziellen Erklärungen abgebe. Der Geist erzeugt in der Geschichte verschiedene Modelle des Gottes und hält jedes einzelne für das richtige, was ein Fehler ist, denn das Modellieren ist eine Kodifikation, und ein kodifiziertes Geheimnis hört auf, ein Geheimnis zu sein. Die Dogmen scheinen nur am Anfang des Weges in die zivilisatorische Ferne ewig zu sein. Zunächst hatte man sich Gott als einen strengen Vater vorgestellt, dann als einen Hirten und Züchter, dann als einen Künstler, der in das Geschaffene verliebt ist, also sollten die Menschen demgemäß die Rolle einer artigen Kinderschar spielen, dann gehorsame Schäfchen und schließlich die begeisterte Claque Gottes. Daher ist es eine Kinderei, anzunehmen, daß Gott deshalb etwas geschaffen habe, damit das Erschaffene ihm von früh bis spät schmeichele, damit es ihn im vorhinein dafür liebe, was dort sein wird, wenn das nicht gefällt, was hier ist, als sei er ein Virtuose und bereite für immer neue Gebetsbravos ewige Dacapos des Lebens nach der zeitlichen Darbietung vor und hebe sich somit die beste Nummer für die Zeit nach dem Niedergehen des tödlichen Vorhangs auf. Diese theatralische Version der Theodizee ist unsere entlegene Vergangenheit.
  Wenn Gott allwissend ist, dann weiß er alles über mich, und das seit unendlich langer Zeit, bevor ich aus dem Nichtsein aufgetaucht bin. Er weiß auch, was er über meine und deine Angst oder Erwartung bestimmen wird, denn er hat auch hinsichtlich aller eigenen künftigen Entscheidungen genaue Kenntnis: Im entgegengesetzten Fall gäbe es kein Allwissen. Es gibt für ihn keinen Unterschied zwischen dem Denken eines Höhlenbewohners und dem des Geistes, den die Ingenieure in einer Milliarde Jahren dort erbauen werden, wo heute nur Lava und Flammen sind. Ich weiß nicht, warum die äußere Form der Glaubensbekenntnisse für ihn von besonderem Wert sein sollte, ja selbst die Frage, ob jemand ihn anbetet oder Unwillen gegen ihn hegt. Wir halten ihn nicht für einen Produzenten, der von seinem Produkt Billigung erwartet, denn die Geschichte hat uns dorthin geführt, wo sich die Authentizität des Denkens durch nichts vom künstlich entfachten Denken unterscheidet, was bedeutet, daß es keinen Unterschied zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen gibt; diese Grenze liegt bereits außerhalb. Ich bitte dich, daran zu denken, daß wir beliebige Personen und Denkweisen schaffen können. Wir könnten zum Beispiel Wesen entstehen lassen, die eine mystische Ekstase aus dem Sein schöpfen, sei es mit der Methode der Kristallisation, der Klonbildung oder mit hundert anderen Methoden, und in ihrer an die Transzendenz gerichteten Bewunderung wäre gewissermaßen die Absicht verwirklicht, die den einstigen Stoßgebeten eigen war. Aber eine solche Vervielfältigung von Gläubigen müßte uns wie eitler Hohn vorkommen. Bedenke, daß wir nicht gegen Mauern anrennen, die gegen unsere Wünsche durch körperliche und angeborene Beschränkungen errichtet worden sind, weil wir sie zertrümmert haben und in den Raum absoluter kreativer Freiheit getreten sind. Ein Kind kann jetzt einen Toten wiedererwecken, kann Staub und Schrott Geist einflößen, kann Sonnen zerstören und entfachen, denn solche Techniken gibt es – der Umstand hingegen, daß nicht ein jeder Zutritt zu ihnen hat, ist, wie du wohl begreifen wirst, kein Problem für das theologische Denken. Die Grenze des Handelns, die durch den Buchstaben der Schriften gesetzt worden war, wurde erreicht und damit übertreten. Die Grausamkeiten der alten Beschränkungen wurden durch die Grausamkeit ihres völligen Fehlens ersetzt. Wir glauben nicht, daß der Schöpfer seine Liebe zu uns hinter der Maske dieser beiden alternativen Qualen verbirgt und uns deshalb harten Prüfungen unterzieht, damit er schwieriger zu erraten sei; und die Aufgabe der Kirche liegt nicht darin, daß sie beide Niederlagen – die der Sklaverei und die der Freiheit – als Wechsel auf die Offenbarung bezeichnet, die die himmlische Buchhaltung mit einem Überschuß decken wird. Die Vision des Himmels als Zahlkasse und der Hölle als Gefängnis für zahlungsunfähige Schuldner ist in der Glaubensgeschichte eine zeitweilige Sinnestäuschung. Die Theodizee ist kein sophistisches Praktikantentum der Verteidigung des Herrgotts und der Glaube auch keine Ermutigung, daß es am Ende schon irgendwie gehen wird. Die Kirche ändert sich, und der Glaube ändert sich; beide nämlich sind in der Geschichte gelagert: Man muß also das Kommende vorwegnehmen, und eben dieser Aufgabe dient mein Orden.«
  Diese Worte verwirrten mich gehörig. Ich fragte, wie denn die duistische Theologie das, was auf dem Planeten geschehe (wohl doch nichts Gutes, obwohl ich das nicht genau wüßte, da ich in der Lektüre erst bis zum 26. Jahrhundert gekommen sei), mit der offenbarten Schrift (von der ich keine Kenntnis hätte) in Einklang bringe.
  Pater Memnar antwortete mir darauf, während der Prior schwieg: »Der Glaube ist absolut notwendig und zugleich völlig unmöglich. Unmöglich ist er, wenn er ein für allemal gültig sein soll, denn es gibt kein solches Dogma, in dem sich das Denken mit der Gewißheit verwurzeln kann, daß es für immer geschehe. Wir haben die Heilige Schrift fünfundzwanzig Jahrhunderte hindurch mit der Taktik elastischer Rückzüge verteidigt, mit immer vageren Interpretationen des Buchstabens – so lange, bis wir verloren hatten. Wir haben keine Buchhaltervision von der Transzendenz mehr, Gott ist weder ein Tyrann noch ein Hirte, auch kein Künstler, kein Polizist, kein Hauptbuchhalter des Daseins. Der Glaube an Gott muß sich jeglicher Interessiertheit entäußern, allein schon dadurch, daß ihn niemals etwas honorieren wird. Wenn es sich erweisen sollte, daß Gott imstande ist, das zu bewirken, was im Widerspruch zu den Sinnen und der Logik steht, wird das eine düstere Überraschung sein. Er war es doch – wer denn sonst? –, der uns die Formen des logischen Denkens gegeben hat, und außer diesem Denken besitzen wir nichts zum Erkennen. Wie können wir also behaupten, daß der Glaubensakt ein Akt der Entäußerung des logischen Verstandes sei? Wozu denn erst den Verstand geben, wenn man ihm dann mit Widersprüchen, die er selbst auf seinem Weg findet, hohnspricht?
  Um sich in Geheimnisse und Rätsel zu hüllen? Um uns zuerst zu gestatten, die Diagnose zu stellen, daß es dort nichts gibt, und dann, wie ein Falschspieler, der eine Karte aus dem Ärmel zieht, das Paradies hervorzuholen? So denken wir nicht. Deshalb verlangen wir von Gott keine Leistungen auf Grund unseres Glaubens; wir stellen keine Ansprüche an ihn, denn wir haben die Theodizee begraben, die sich auf das Modell einer Handelstransaktion und den Austausch von Dienstleistungen stützte: ›Ich rufe dich ins Sein, du wirst mir dienen und mich preisen.‹«
  Unter diesen Umständen fragte ich immer hartnäckiger, was sie, die Mönche und Theologen, denn eigentlich täten, wie sie sich zu Gott stellten, wenn sie weder die Dogmatik, die Liturgie noch den Gottesdienst praktizierten, wenn ich sie richtig verstanden hätte.
  »Da wir im Grunde nichts mehr haben«, erwiderte der General der Prognositen, »haben wir alles. Lies, lieber Ankömmling, die weiteren Bände der dychthonischen Geschichte, damit du begreifst, was es eigentlich bedeutet, völlige Freiheit in der Sphäre der Körper- und Geistesverwaltung zu erlangen, die beide biotische Revolutionen mit sich gebracht haben. Ich halte es für überaus wahrscheinlich, daß dich die hier sichtbare Lage in der Tiefe deiner Seele belustigt, denn Wesen wie du, die Blut vom Blute und Knochen vom Knochen entstanden sind, die die volle Gewalt über sich besitzen, haben eben dadurch, daß sie bereits den Glauben wie eine Lampe in sich löschen und entfachen können, den Glauben verloren. Übernommen haben ihn ihre Werkzeuge, die deshalb denken konnten, weil sie in einer gewissen Phase der industriellen Entwicklung notwendig waren. Gegenwärtig sind wir schon überflüssig, und eben wir, die wir von ihrem Standpunkt dort oben Schrott sind – wir glauben. Sie tolerieren uns, denn sie haben wichtigere Dinge auf ihren Wämpen, aber von der Obrigkeit ist uns alles gestattet mit Ausnahme des Glaubens.«
  »Das ist sehr sonderbar«, sagte ich. »Man verbietet euch den Glauben? Warum?«
  »Das ist sehr einfach. Der Glaube ist das einzige, das man einer bewußten Existenz nicht wegnehmen kann, solange sie bewußt darin verharrt. Die Obrigkeit könnte uns nicht nur zerschmettern, sondern auch so umformen, daß wir nach der Umprogrammierung nicht mehr glauben – sie tut das nicht, sicherlich weil sie uns geringschätzt und verachtet oder aber aus Gleichgültigkeit. Sie lechzt nach direkter Herrschaft, denn jede Bresche in dieser Herrschaft würde sie für eine Einschränkung halten. Deshalb müssen wir uns mit unserem Glauben verbergen. Du hast nach seinem Wesen gefragt. Er ist, dieser unser Glaube – wie soll ich dir das sagen –, völlig nackt und völlig wehrlos. Wir hegen keine Hoffnungen, wir verlangen nichts, wir rechnen mit nichts, wir glauben einfach nur.
  Stelle mir bitte keine weiteren Fragen, sondern bedenke lieber, was ein solcher Glaube bedeutet. Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen und aus irgendwelchen Anlässen gläubig ist, so hört sein Glaube auf, souverän zu sein; daß zwei und zwei vier ist, weiß ich bestimmt, deshalb muß ich nicht daran glauben. Aber ich weiß nichts darüber, wie Gott ist, deshalb kann ich nur glauben. Was gibt mir dieser Glaube? Nach früheren Überlegungen nichts. Er besänftigt nicht mehr die Angst vor dem Nichts und buhlt auch nicht um die Gunst Gottes, indem er sich zwischen der Angst vor der Verdammnis und der Hoffnung auf das Paradies an die himmlische Klinke hängt. Er beruhigt nicht den Verstand, der durch die Widersprüche des Daseins gequält ist, er wattiert nicht seine Kanten – ich sage dir: Er ist zu nichts nütze! Das bedeutet, daß er keiner Sache dient. Wir dürfen nicht einmal verkünden, daß wir etwa deshalb glauben, weil dieser Glaube zur Absurdität führe, denn wer so spricht, verkündet damit die Überzeugung, daß er zwischen dem, was absurd und was nicht absurd ist, genau unterscheiden kann und daß er sich deshalb selbst für das Absurde ausspricht, weil nach seiner Meinung Gott auf dieser Seite steht. Wir reden nicht so. Unser Glaubensakt liegt weder im Gebet noch in der Danksagung, auch nicht in der Demut oder in der Kühnheit, er besteht einfach, und weiter läßt sich nichts über ihn sagen.«
  Verblüfft über das, was ich zu hören bekam, kehrte ich in die Zelle zurück und las weiter, nunmehr den nächsten Band der dychthonischen Geschichte. Er, beschrieb die Ära der Zentralisierung des Körperformismus. Der Sompsuter betätigte sich zunächst zur allgemeinen Zufriedenheit, dann aber tauchten auf dem Planeten neue Wesen auf – doppelte, dreifache, vierfache, dann achtfache, schließlich auch solche, die überhaupt nicht in zählbarer Weise enden wollten, weil ihnen während des Lebens immer etwas Neues wuchs. Das war eine Folge von Defekten, das heißt einer falschen Programmierung, einfach gesagt: Die Maschine hatte zu stottern begonnen. Da jedoch der Kult ihrer Vollkommenheit herrschte, versuchte man sogar, diese automorphen Entstellungen zu loben, indem man zum Beispiel erklärte, daß eben das unaufhörliche Knospen und Aufspalten der eigentliche Ausdruck der proteischen Natur des Menschen sei. Dieses Preisen brachte es mit sich, daß die Ausbesserungsarbeiten verspätet einsetzten, und führ te zur Entstehung sogenannter Nichtender oder Penter (poly-Nter), die die Orientierung im eigenen Körper verloren, weil es davon so viele gab; sie verloren sich darin, indem sie sogenannte Knötel bildeten; manchmal konnte man sie ohne den Rettungsdienst gar nicht entwirren. Die Reparatur des Computers brachte keinen Erfolg – »Kaputter« genannt, wurde er schließlich in die Luft gesprengt. Die Erleichterung, die danach herrschte, währte nicht lange, denn die bedrückende Frage, was weiter mit dem Körper geschehen sollte, stellte sich immer wieder.
  Zum erstenmal fragten damals schüchterne Stimmen, ob es sich nicht lohnen würde, zum alten Aussehen zurückzukehren, aber sie wurden als reaktionär verurteilt. In den Wahlen des Jahres 2520 siegten die »Belieber« oder Relativisten, denn ihr demagogisches Programm setzte sich durch, wonach jeder so aussehen möge, wie er es wünsche; Beschränkungen des Aussehens sollten nur funktionell sein: Der Bezirkskörperarchitekt bestätigte die Projekte, die für ein leistungsfähiges Existieren geeignet waren, und um den Rest kümmerte er sich nicht. Diese Projekte warf der BÜPROKÖPS in wahren Lawinen auf den Markt. Die Historiker bezeichnen die Periode der Automorphie unter dem Sompsuter als die Epoche der Zentralisierung und die späteren Jahre – als Reprivatisierung.
  Der Umstand, daß das individuelle Aussehen der privaten Initiative überlassen wurde, führte nach einigen Dekaden zu einer neuen Krise. Allerdings verkündeten bereits einige Philosophen folgendes: Je größer der Fortschritt ist, desto mehr Krisen gibt es, und wenn es an Krisen fehlen sollte, müßte man sie gar auslösen, denn sie aktivieren, vereinen, wecken den schöpferischen Eifer und Kampfeswillen und verbinden geistig sowie materiell – mit einem Wort, sie regen die Gesellschaft zur Zusammenarbeit an, und wenn es an ihnen gebricht, dann grassieren Stagnation, Marasmus und andere Zerfallserscheinungen. Diese Anschauungen vertrat die Schule der sogenannten Optisemisten, das heißt die Philosophen, die aus der pessimistischen Einschätzung der Wirklichkeit Optimismus für die Zukunft schöpften.
  Die Periode der privaten Initiative des Körperwesens währte ein Dreivierteljahrhundert. Zunächst genoß man die wiedergewonnene Freiheit der Automorphie in vollen Zügen, wieder ging die Jugend voran mit den Keuchern und den Lärmern der Burschen, mit den Ziergliedern der Mädchen, aber bald traten Reibungen zwischen den Generationen auf, denn es kam zu Konflikten unter dem Zeichen der Askese. Die jungen Leute warfen den älteren Lebensgier vor, ein passives, rein konsumptionelles Verhältnis zum Körper, seichten Hedonismus, vulgären Wettlauf nach Sinnenlust und nahmen, um sich von ihnen zu unterscheiden, absichtlich abscheuliche Formen an, die höchst unbequem, geradezu scheußlich waren (Spreizer, Gweidler). Sie demonstrierten Verachtung gegenüber jeglicher Utilität und brachten sich Augen unter den Achseln an, während das junge biotische Aktiv zahllose gezüchtete Klangorga ne benutzte (Trömmler, Harfensträhner, Gulgongs, Mandolklimper). Es wurden Massenbrüllstunden organisiert, bei denen die Solisten, die man Nachtigeiler nannte, die begeisterte Menge in krampfartige Zuckungen versetzten. Dann kam die Mode oder vielmehr die Manie auf, lange Greifarme zu tragen, die in ihrem Kaliber und in der Greifkraft einer Eskalation nach dem typisch jugendlichen, brüstenden Prinzip »Ich werd’s dir zeigen!« unterlagen. Da aber niemand diese Schlangengeflechte selbst tragen konnte, fügte man sich selbst sogenannte Folger (Schwanzträger) bei, das heißt einen selbstschreitenden Behälter, der aus dem Kreuz herauswuchs und auf zwei festen Waden die Last der Greifarme hinter ihrem Eigentümer herschleppte. Ich fand in dem Lehrbuch Holzschnitte, die die Stutzer zeigten, hinter denen die Folger die Greifarmbündel auf der Promenade hertrugen; das war schon der Niedergang der Manifestation und eigentlich ihr völliger Zusammenbruch, denn sie verfolgte keine eigenen Ziele, sondern war lediglich eine revoltierende Reaktion auf den orgiastischen Barock der Epoche.




  Dieser Barock hatte seine Apologeten und Theoretiker, die verkündeten, daß es den Körper deshalb gäbe, damit man die größte Menge an Annehmlichkeiten an vielen Stellen auf einmal haben könne. Merg Barb, sein führender Vertreter, erläuterte, daß die Natur die Zentren der angenehmen Empfindungen im Körper – übrigens recht geizig – deshalb angebracht habe, damit er leben könne; daher sei nach ihrem Gebot keine Empfindung autonom, sondern eine jede diene einem bestimmten Ziel: sei es, um in der Nachkommenschaft die Fortsetzung der Art sicherzustellen und so weiter. Mit diesem aufgezwungenen Pragmatismus müsse man radikal brechen; die bisherige Passivität bei der Projektierung der Körper sei ein Symptom des Mangels an perspektivischer Phantasie; die lukullischen oder erotischen Genüsse seien ein klägliches Nebenprodukt der Befriedigung angeborener Instinkte, das heißt der Tyrannei der Natur; die Befreiung des Geschlechts, deren Zeugnis die Ektogenese sei, genüge nicht, denn der Sex habe weder eine erhebliche kombinatorische noch konstruktive Zukunft vor sich; was es dort auszudenken gebe, habe man längst verwirklicht, und nicht darin liege der Sinn der automorphen Freiheit, daß sie geradlinig dies oder jenes erweitere, indem sie einfach plagierende Vergrößerungen von sexuellem Gerümpel mache. Man müsse sich völlig neue Organe ausdenken, die ausschließlich darum funktionieren sollen, damit ihr Besitzer es gut, immer besser, lustvoll, geradezu himmlisch habe.
  Barb wurde von einer Gruppe junger fähiger Projektanten aus dem BÜPROKÖPS unterstützt, die das Rüpsen und das Handen erfanden; man verkündete sie mit großem Aufwand in Reklameschriften, die garantierten, daß die früheren Freuden des Magens oder Geschlechts ein dümmliches In-der-Nase-Bohren im Vergleich zum Rüpsen und zum Handen seien; in die Hirne wurden Zentren des ekstatischen Empfindens eingebaut, die speziell von den Ingenieuren der Nervenwege programmiert wurden, wobei man sie etagenförmig einrichtete. So entstand der Hande- und der Rüpsetrieb sowie die diesen Instinkten eigentümlichen Tätigkeiten mit einer überaus reichen und differenzierten Skala, denn man konnte abwechselnd oder gleichzeitig, solo, im Duett, im Terzett, und dann, nach dem Anstückeln der Rastler, auch in Gruppen von mehreren Dutzend Personen rüpsen und handen. Es entstanden auch neue Kunstarten, denn es tauchten Artisten auf, die rüpsten und handeten, aber auch das war noch nicht alles; gegen Ende des 26. Jahrhunderts erschienen Barockformen von Zungentretern, große Erfolge hatte ein Fersenbeißer, und der berühmte Ondur Steredon, der gleichzeitig handen, rüpsen und Mandel spielen konnte, während er mit Wirbelflügeln flog, wurde von der Menge vergöttert.

Auf dem Höhepunkt der Barockperiode kam der Sex aus der Mode; ihn pflegten nur kleine Vereinigungen, die der Komassaten und der Separatisten. Die Separatisten, die die Zügellosigkeit befehdeten, vertraten die Ansicht, daß es sich nicht schicke, mit demselben Mund Kohl zu essen, mit dem man den Geliebten küsse. Unerläßlich sei ein besonderer, der sogenannte platonische Mund, und am besten wäre es, wenn man gleich einen ganzen Satz davon hätte, je nach Bestimmung (für Verwandte, Bekannte und für die auserwählte Person). Die Komassaten, die dem Funktiona lismus huldigten, wirkten im umgekehrten Sinne, sie verbanden alles, was sich verbinden ließ, zur Vereinfachung des Organismus und des Lebens. Der Niedergang dieses Stils, wie gewöhnlich extravagant und wunderlich, schuf so eigenartige Gestalten wie die kokette Taburette und den Sechsling, der an einen Zentauren erinnerte, aber statt Hufe vier nackte Füße hatte, die mit den Zehen einander zugekehrt waren: Man nannte ihn auch Stampfer, nach einem Tanz, bei dem energisches Stampfen ein Grundelement bildete. Jedoch der Markt zeigte Sättigung und Ermüdung. Es fiel schwer, mit einem neuartigen Körper aufzufallen; man benutzte Ohrenklappen aus natürlichem Horn; Ohrmuscheln, die stigmatische Bilder durchscheinen ließen, fächelten mit blassem Rosa die Wangen der Damen aus der Gesellschaft; und man versuchte, auf gekrümmten Quasibeinen zu gehen. BÜPROKÖPS lieferte aus purer Trägheit weitere Projekte, man spürte jedoch das nahende Ende dieser Formation.

  Vertieft in die Lektüre, war ich inmitten der Bücher, in dem Licht der Lampen, die über mir an der Decke herumkrochen, eingenickt, ohne zu wissen, wann. Erst der ferne Klang der Morgenglocken weckte mich. Sogleich erschien auch mein junger Mönch, um zu fragen, ob ich vielleicht eine Abwechslung wünsche – wenn ja, so bitte der Prior, daß ich ihn bei seiner Rundreise durch die ganze Diözese an der Seite des Paters Memnar begleite. Die Aussicht, die finsteren Katakomben zu verlassen, erfreute mich, daher gab ich meine Zustimmung.
  Die Rundreise sah indes anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. An die Oberfläche gelangten wir überhaupt nicht; die Mönche hatten niedrige Lasttiere für den Weg hergerichtet, die bis zur Erde mit Tüchern, grau wie ihre Kutten, zugedeckt waren; sie setzten sich ohne Sattel darauf, und so zuckelten wir langsam durch den unterirdischen Gang. Das waren, wie ich schon vermutet hatte, und diese Vermutung fand ihre Bestätigung, seit Jahrhunderten nicht mehr benutzte Kanäle der Metropole, die sich hoch über uns mit einem guten Tausend halbverfallener Hochhäuser ausbreitete. Die rhythmischen Bewegungen meines Reittieres hatten etwas Wunderliches an sich; ich gewahrte auch unter dem Stoff, der es bedeckte, keine Spur von einem Kopf; nachdem ich diskret unter das Leinen geschaut hatte, überzeugte ich mich, daß es eine Maschine war, eine Art vierbeiniger Roboter, überaus primitiv; bis zum Mittag hatten wir nicht einmal zwanzig Meilen zurückgelegt. Es fiel übrigens schwer, sich über die Länge des zurückgelegten Weges zu orientieren, er schlängelte sich nämlich durch das Labyrinth der Kanäle, schwach erhellt von Lampen, die in kleiner Schar über uns hochflatterten oder gegen die gewölbte Decke schlugen und an die Spitze der Kolonne eilten, wohin man sie durch Schnalzen lockte.
  Endlich erreichten wir den Sitz der Prognositenmönche, wo wir mit Ehren empfangen wurden, vor allem ich stand im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Da der Möbelwald weit entfernt war, mußten sich die Prognositenpater besonders tummeln, um meinetwegen einen anständigen Imbiß zu bereiten. Ihn lieferten die Magazine der verlassenen Metropole, in Gestalt von Tüten mit Keimlingen; man stellte Schüsseln vor mich hin, die eine leer, die andere voll Wasser, und ich konnte mich zum erstenmal von der Wirkung der Produkte der biotischen Zivilisation überzeugen.
  Die Mönche entschuldigten sich bei mir wegen der fehlenden Suppe; der Mönch, der durch einen Kanalisationsschacht an die Oberfläche der Erde geschickt worden war, hatte es einfach nicht verstanden, die richtige Tüte zu finden; mit dem Kotelett jedoch gab es keine Panne: Der Keimling, mit einigen Löffeln Wasser übergossen, schwoll an und verflachte, so daß ich nach einer Weile eine köstlich gebräunte Kalbsscheibe vor mir hatte, ganz in Butter, die zischend vor Wärme aus den Fleischporen drang. In dem Kaufhaus, aus dem diese Spezialität stammte, mußten chaotische Zustände herrschen, denn zwischen die Päckchen mit gastronomischen Keimlingen waren andere geraten: Anstelle des Nachtisches wuchs auf meinem Teller ein Magnetophon, aber es eignete sich auch nicht für den Gebrauch, weil es an den Spulen Gummibänder von Unterhosen hatte. Man erklärte mir, das sei ein Effekt der Hybridisierung, die immer vorkomme, denn unbeaufsichtigte Au tomaten produzierten Keimlinge von immer schlechterer Qualität; diese biotischen Produkte können sich kreuzen, und es entstehen auf diese Weise die unheimlichsten Mischungen. Bei dieser Gelegenheit kam ich endlich dem Geheimnis auf die Spur, was es mit den wilden Möbeln auf sich hatte.
  Die ehrwürdigen Pater wollten einen der jüngeren Mönche sogleich ein zweites Mal in die Ruinen der Stadt schicken, damit er mir etwas zum Nachtisch holte, aber ich widersetzte mich dem eifrig. Mir war an einem Gespräch weit mehr gelegen als an einem Nachtisch.
  Das Refektorium, einst eine große Kläranlage der städtischen Kanalisation, war peinlich sauber; weißer Sand bedeckte den Boden, zahlreiche Lampen brannten, sie waren bei den Prognositen übrigens von anderer Art als bei den Destruktianern. Sie blinzelten nämlich und waren gestreift, als stammten sie von gewaltig vergrößerten Wespen. Wir saßen an einem langen Tisch, abwechselnd ein Destruktianer und ein Prognosit auf seinem Chassis; ich war maßlos verlegen, weil ich als einziger ein entblößtes Gesicht und bloße Hände hatte – in Gegenwart der verhüllten Gestalten der Roboterpater in ihren Wergkutten mit Glas in den Augenöffnungen und in Gegenwart der Computermönche, die mit ihren kantigen Formen nicht im geringsten an Lebewesen erinnerten; einige von ihnen waren unter dem Tisch durch Kabelschnüre verbunden, aber ich wagte nicht, nach dem Sinn dieser Verbindungen zu fragen.
  Das Gespräch, das sich bei diesem einsamen Mittagessen entspann – denn ich allein nahm es ein –, hatte sich wieder der transzendentalen Thematik zugewandt. Ich wollte erfahren, was die letzten Gläubigen Dychthoniens über die Fragen von Gut und Böse, Gott und Teufel dachten, und als ich diese Frage stellte, trat eine längere Stille ein. Nur die gestreiften Lampen summten leise in den Ecken des Refektoriums, vielleicht war das auch der Strom der Prognositenpater.
  Schließlich ergriff ein mir gegenübersitzender älterer Computer das Wort, der, wie ich später von Pater Darg erfuhr, Religionshistoriker war.
  »Das Ziel fest vor Augen, würde ich unsere Anschauungen so formulieren«, sagte er. »Der Satan ist das, was wir in Gott nicht begreifen. Das bedeutet nicht, daß wir glauben, Gott selbst bilde eine Allianz des höheren und des niederen Elements, des Guten und des Bösen, der Liebe und des Hasses, der Macht des Schaffens und der Gier, etwas zu zerstören. Der Satan ist der Gedanke, daß man Gott einschränken, klassifizieren, absondern kann, indem man eine fraktionierte Destillation so durchführt, daß er das und nur das wird, was wir akzeptieren können und wovor wir uns nicht mehr schützen wollen. Dieser Gedanke läßt sich innerhalb der Geschichte nicht aufrechterhalten, denn seine unvermeidliche Konsequenz wäre die Schlußfolgerung, daß es kein anderes Wissen gibt als jenes, das vom Satan herrührt, und daß er sich so lange ausdehnt, bis er alles, was sich Wissen aneignet, vollends verschluckt hat. Und das darum, weil das Wissen nach und nach die Direktiven vernichtet, die als die offenbarten Gebote bezeichnet werden. Es gestattet, zu töten, ohne daß man tötet, und zu zerstören – jedoch so, daß dieses Zerstören Neues schafft; es verflüchtigen sich durch seine Vermittlung Personen, denen Ehre gebühren sollte, so zum Beispiel der Vater und die Mutter, und es stürzen dadurch Dogmen ein, wie das von der übernatürlichen unbefleckten Empfängnis und von der unsterblichen Seele.
  Wenn das Versuchungen des Teufels gewesen sind, dann ist alles, was man berührt, eine teuflische Versuchung, und man könnte nicht einmal behaupten, daß der Teufel die Zivilisation verschlungen habe, nicht aber die Kirche, weil die Kirche nach und nach, obwohl widerstrebend, die Zustimmung zum Erlangen des Wissens erteilt, und es gibt auf diesem Wege keine Stelle, an der sie sagen könnte »bis hierher und nicht weiter!«, denn niemand, sei es innerhalb oder außerhalb der Kirche, vermag zu wissen, worin die Folgen des heute Erkannten bestehen werden. Die Kirche kann dem Fortschritt von Zeit zu Zeit Schlachten liefern, aber wenn sie eine Front verteidigt, sagen wir die Unantastbarkeit der Empfängnis, vollzieht der Fortschritt, anstatt einen frontalen Kampf zu führen, ein Umkreisungsmanöver, mit dem er den Sinn der verteidigten Positionen liquidiert. Vor tausend Jahren verteidigte unsere Kirche die Mutterschaft, und da liquidierte das Wissen den Begriff der Mutter, indem es zunächst den Akt der Mutterschaft in zwei Teile spaltete, indem es ihn dann aus dem Körper verlegte, nach außen also, und indem es schließlich eine Synthese des Keims vollzog, so daß nach drei Jahrhunderten ihre Verteidigung jeglichen Sinn verloren hatte. Damals mußte die Kirche der Befruchtung aus der Entfernung und der Empfängnis im Laboratorium zustimmen, der Geburt in einer Maschine und dem Geist in der Maschine und der Maschine selbst, die der Sakramente teilhaftig wurde, und dem Verschwinden des Unterschieds zwischen dem natürlich geschaffenen und dem künstlichen Sein. Beharrte sie auf ihrem Standpunkt, dann müßte sie eines Tages erkennen, daß es keinen anderen Gott als den Satan gibt.
  Um Gott zu retten, haben wir die Historizität des Satans anerkannt, das heißt seine Evolution als die sich in der Zeit verändernde Projektion all jener Merkmale, die uns im Erschaffenen zugleich entsetzen und niederstauchen. Der Satan ist der naive Gedanke, daß man zwischen Gott und Nichtgott unterscheiden könne wie zwischen Tag und Nacht. Gott ist ein Geheimnis, der Satan besteht in den zu einer Person vereinigten, teilweise abgesonderten Zügen dieses Geheimnisses. Es gibt für uns keinen überhistorischen Satan. Das einzige, was an ihm dauerhaft ist und was für eine Person gehalten wird, rührt von der Freiheit her. Du aber, lieber Gast und Ankömmling aus fernen Gegenden, mußt, wenn du mir zuhörst, die Kategorien deines Denkens vergessen, das sich in einer anderen Geschichte als der unsrigen geformt hat Freiheit bedeutet für uns etwas ganz anderes als für dich. Sie bedeutet den Wegfall jeglicher Beschränkungen des Handelns, das heißt das Verschwinden all jener Widerstände, denen das Leben in seinem verstandesmäßigen Dämmerzustand begegnet. Diese Widerstände formen den Verstand, denn sie holen ihn aus den vegetativen Ab gründen an die Oberfläche. Da sich diese Widerstände recht spürbar bemerkbar machen, träumt die historische Vernunft von der Fülle der Freiheiten als der Erfüllung, und deshalb strebt sie eben mit zivilisatorischen Schritten in diese Richtung. Es gibt da den Schritt der Meißelung steinerner Urnen und den Schritt der Wiedererweckung von den Toten, und es gibt den Schritt des Verlöschens der Sonnen, und zwischen ihnen gibt es keine unüberwundenen Hindernisse.
  Die Freiheit, von der ich spreche, ist nicht der bescheidene Zustand, den sich Menschen wünschen, wenn andere sie peinigen. Dann ist nämlich der Mensch für den Menschen das Gitter, die Wand, das Netz und der Abgrund. Die Freiheit, die ich meine, liegt weiter, sie erstreckt sich hinter dieser Zone der wechselseitigen sozialen Behinderungen, denn durch diese Zone kann man unversehrt hindurchgehen, aber dann, auf der Suche nach neuen Widerständen, weil Menschen sie für Menschen nicht mehr errichten, findet man sie in der Welt und in sich selbst wieder und wählt sich und die Welt zum Widersacher, um mit beiden zu kämpfen und um sich beide unterzuordnen. Und wenn auch das gelingt, klafft vor uns der Abgrund der Freiheit, denn je mehr man tun kann, desto weniger weiß man, was zu tun ist. Zunächst lockt die Klugheit, aber aus dem Wasserkrug in der Wüste wird sie zu einem Krug mitten in einem See, wo sie aneigbar ist wie Wasser und wo man Eisenschrott und Froschlaich mit ihr ausstatten kann.
  Wenn aber das Streben nach Weisheit würdig erscheint, so gibt es für die Flucht aus der Weisheit keine würdigen Argumente; niemand verkündet dann nämlich laut, daß er nach Stumpfsinn lechzt, und selbst wenn er es wollte und den Mut hätte, dies zu bekennen, wie weit sollte er dann zurückweichen? Es gibt ja keine angeborenen Abgründe mehr zwischen dem Verstand und dem Unverstand, denn die Wissenschaft hat sie verquantet und aufgelöst, und deshalb wartet auch auf den Deserteur des Wissens die Freiheit, er muß nämlich eine Verkörperung wählen, die ihm zusagt, und vor ihm stehen mehr Chancen, als es Sterne am Himmel gibt. Ein schrecklich Kluger wird unter seinesgleichen zur Karika tur der Klugheit, so wie eine Bienenkönigin ohne Bienenkorb die Karikatur der Mutter wird, wenn die Unmenge Eier, die ihren Leib zum Bersten bringt, zu nichts nütze ist.
  Es kommt also zur Flucht von dieser Stelle, heimlich und mit größter Scham oder gewaltsam und in größter Panik. Dort, wo jeder so sein muß, wie er ist, bleibt er auch notgedrungen bei dem Seinen. Dort, wo jeder anders sein kann, als er ist, wird er sein Schicksal mit Sprüngen existentieller Umsteigemanöver zerstückeln. Eine solche Gesellschaft gleicht von oben einem Insektenschwarm auf einer glühenden Platte. Von weitem mutet ihre Qual wie eine Farce an, denn es belustigen einen die Sprünge von der Weisheit in den Stumpfsinn und die Früchte des Verstandes, die dazu benutzt werden, auf dem Bauch wie auf einer Trommel zu spielen, auf hundert Beinen zu laufen oder Wände mit Hirn zu tapezieren. Wenn man ein geliebtes Wesen doublieren kann, gibt es keine geliebten Wesen mehr, sondern einen Hohn auf die Liebe, und wenn man jeder sein und beliebige Überzeugungen nähren kann, ist man niemand mehr und hat keine Überzeugungen. Daher geht unsere Geschichte auf den Grund und springt von diesem Grund wieder ab, wobei sie wie ein Hampelmann an einer Schnur hüpft, und deshalb wirkt sie so unsagbar komisch.
  Die Obrigkeit reglementiert die Freiheit, aber sie markiert auf diese Weise unechte Grenzen, die der Aufruhr angreift, weil man einmal vollzogene Entdeckungen nicht wieder zudecken kann. Wenn ich also sage, daß der Satan die Verkörperung der Freiheit ist, so will ich damit den Gedanken ausdrücken, daß er jene Seite des Werkes Gottes darstellt, die uns am meisten als Scheideweg der Macht des Kontinuums entsetzt, an dem wir, gelähmt durch das erreichte Ziel, stehenbleiben. Gemäß dem naiven philosophischen Denken ›sollte‹ die Welt uns so beschränken, wie eine Zwangsjacke einen Verrückten einschränkt, und die zweite Stimme in der gleichen Philosophie des Seins sagt, daß diese Fesseln in uns selbst stecken ›sollten‹. Wer so spricht, der lechzt nach Grenzen der Freiheit, die entweder in der Welt oder in ihm selbst markiert werden, denn er will, daß ihn die Welt in gewissen Richtungen nicht durchläßt oder daß ihn seine eigene Natur zurückhält. Aber Gott hat uns weder die ersten noch die zweiten Grenzen gegeben. Und er hat sie nicht nur nicht gegeben, sondern er hat die Stellen geglättet, an denen wir sie einst erwartet hatten, damit wir selbst nicht wissen, daß wir gerade im Begriff sind, sie zu überschreiten.«
  Ich fragte, ob daraus etwa die These resultiere, daß Gott nach den Auffassungen des Duismus identisch mit dem Satan sei. Ich beobachtete, wie eine unmerkliche Bewegung die Anwesenden erfaßte. Der Historiker schwieg, und der General des Ordens sagte: »Es ist so, wie du sagst, aber nicht so, wie du denkst. Wenn du sagst ›Gott ist Satan‹, so verleihst du diesen Worten den drohenden Sinn der Nichtswürdigkeit des Schöpfers. Was du gesagt hast, ist dann eine Unwahrheit – aber nur in deinem Munde. Wenn ich das sagte oder einer der hier anwesenden Pater, dann würden diese Worte etwas ganz anderes bedeuten. Sie würden nur bedeuten, daß es solche Gaben Gottes gibt, die wir ohne Widerstreben annehmen können, und solche, die wir nicht tragen können. Sie würden bedeuten: Gott hat uns in nichts, aber auch in gar nichts beschränkt, nicht geschmälert und nicht gefesselt. Bedenke bitte, daß die Welt, die zu lauter Gutem gezwungen ist, das gleiche Asyl der Unfreiheit ist wie die Welt, die man zu lauter Bösem zwingt. Stimmst du mir zu, Dagdor?«
  Der Historiker, an den diese Frage gerichtet war, bestätigte das und ergriff das Wort.
  »Mir als dem Historiker der Glaubenslehren sind Theogonien bekannt, denen zufolge Gott eine nicht völlig vollkommene Welt eingerichtet habe, die jedoch in gerader oder in einer Zickzacklinie oder auch in einer Spirale zur Vollendung strebe, das heißt, mir sind Lehren bekannt, denen zufolge Gott ein sehr großes Kind ist, das Spielzeug zu seiner eigenen Freude in der ›richtigen‹ Richtung in Gang setzt. Ich kenne auch Doktrinen, die das als vollkommen bezeichnen, was schon ist, und die, damit die Rechnung dieser Vollkommenheit in der Bilanz stimmt, darin eine Korrektur vornehmen, und diese Korrektur trägt den Namen des Teufels. Aber sowohl das Modell des Seins als Spiel mit Eisenbahnen und der auseinanderschnellenden Sprungfeder des ewigen Fortschritts, der das Erschaffene immer leistungsfähiger dorthin bewegt, wo es immer besser ist, als auch das Seinsmodell, in dem die Welt ein Boxkampf des Lichten mit den Mächten des Dunklen ist, die vor dem göttlichen Ringrichter kämpfen, wie auch das Modell der Welt, in der Eingriffe durch Wunder unerläßlich sind, das heißt, wo das Erschaffene wie eine Uhr ist, die entzweigeht, und das Wunder die göttliche Pincette, die das Sternwerk berührt, um das Erforderliche festzuschrauben, wie letztlich auch das Modell der Welt als eine schmackhafte Torte, in die Gräten teuflischer Versuchungen hineingesteckt sind – sie alle stellen Bilder aus einem Lesebuch der vernünftigen Gattung dar, das heißt aus einem Büchlein, das das gereifte Alter mit gerührter Melancholie, aber mit einem Achselzucken auf die Regale des Kinderzimmers stellt. Es gibt keine Dämonen, wenn man nicht die Freiheit für einen Dämon hält; es gibt eine Welt, und es gibt einen Gott, und es gibt einen Glauben, lieber Gast, der Rest ist Schweigen.«
  Ich wollte fragen, worin nach ihrer Auffassung die positiven Merkmale Gottes und der Welt bestünden, denn bisher hatte ich immer nur gehört, was Gott nicht sei, und nach der Darlegung zum Thema der Eschatologie der Freiheit brummte und schwirrte mir der Kopf – aber wir mußten ja zu unserem weiteren Weg aufbrechen. Als wir uns wieder auf unseren eisernen Rossen wiegten, fragte ich Pater Darg, von einem unverhofften Gedanken durchzuckt, warum sein Orden eigentlich den Namen »Destruktianer« trage.
  »Das hängt mit dem Thema unseres Tischgespräches zusammen«, erwiderte er. »Dieser Name, der historischer Herkunft ist, bezeichnet die Zustimmung zum Sein als Ganzem, einem Ganzen, das von Gott herrührt, sowohl darin, was in ihm Schöpfertum ist, als auch darin, was uns als sein Gegenteil erscheint. Er bedeutet nicht«, beeilte er sich hinzuzufügen, »daß wir uns für die Zerstörung, für die Destruktion aussprechen; gewiß würde jetzt niemand den Orden so taufen, aber dieser Name ist die Frucht eines gewis sen theologischen Trotzes, der die bereits überwundenen Krisen der Kirche widerspiegelt.«
  Ich kniff die Augen zusammen, denn wir waren an eine Stelle gelangt, an der der Kanal durch einen Gewölbeeinsturz teilweise an die Bodenoberfläche hinausführte, und ich konnte lange nicht die Lider heben, so sehr war ich der Sonne entwöhnt. Wir befanden uns auf einer Ebene, die keinerlei Spuren von Vegetation zeigte; die Stadt stand mit der bläulichen Silhouette der Hochhäuser am Horizont, glatte, breite Straßen, die in verschiedene Richtungen führten, durchschnitten den Raum; sie schienen aus silbrigem Metall gegossen zu sein und waren völlig leer, ebenso wie der Himmel, über den nur ein paar bauchige weiße Wolken zogen.
  Unsere Reittiere, die sich nun besonders unbeholfen bewegten, denn die Straße war für hohe Geschwindigkeiten geschaffen, schritten langsam, quietschend dahin, auch sie schienen von den Strahlen der Sonne geblendet zu sein, an die sie nicht gewöhnt waren. Wir näherten uns einer Wegverkürzung, die den Mönchen vertraut war, doch bevor wir die Betonrinne erreichten, die von neuem in den Boden drang, tauchte zwischen den Bögen eines Viadukts ein kleines Gebäude von smaragdener und goldener Farbe auf, sicherlich eine Tankstelle, sagte ich mir. Daneben stand ein Fahrzeug, flach wie eine große Küchenschabe; die Form war offenbar der Geschwindigkeit angepaßt. Das Gebäude hatte keine Fenster, nur halbdurchsichtige Wände, durch die das Sonnenlicht in das Innere drang wie durch ein Kirchenfenster. Als unsere weit auseinandergezogene Kolonne etwa sechzig Schritt davon entfernt war, vernahm ich von dort ein so schreckliches Stöhnen und Röcheln, daß sich mir die Haare sträubten. Die Stimme – es war eine menschliche, das stand für mich fest – röchelte und stöhnte abwechselnd, und ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß es sich um die Schreie eines Gemarterten handelte, vielleicht wurde sogar jemand umgebracht. Ich sah meine Gefährten an, aber die schenkten dem nicht die geringste Beachtung.
  Ich wollte ihnen zurufen, daß wir uns beeilen sollten, aber das Entsetzen darüber, daß ihnen das Schicksal eines Gefolterten so gleichgültig sein konnte, nahm mir die Stimme, also sprang ich von dem eisernen Vierbeiner herunter und rannte los, ohne mich umzusehen. Noch ehe ich das Gebäude erreicht hatte, trat nach einem kurzen, röchelnden Aufschrei Stille ein. Das Gebäude war ein Pavillon mit beschwingten Formen, eine Tür war nicht zu sehen; ich umkreiste ihn einmal und blieb wie angewurzelt vor einer Wand aus durchsichtigem bläulichem Glas stehen: Auf einem blutbespritzten Tisch ruhte eine nackte Gestalt zwischen irgendwelchen Apparaten, die funkelnde Röhrchen oder Zangenarme in den menschlichen Körper bohrten, der in einer so verkrampften Stellung dalag, daß ich die Arme nicht von den Beinen unterscheiden konnte. Ich sah auch den Kopf nicht oder das, was an seiner Stelle war; dieser Teil der Gestalt war von einem schweren Metallgehäuse umschlossen, das von oben heruntergelassen war, gespickt mit nadelförmigen Dornen. Aus den zahllosen Wunden des Leichnams floß kein Blut mehr, das Herz hatte zu schlagen aufgehört. An den Füßen spürte ich den von der Sonne erhitzten Sand, in meinen Ohren tönten noch immer die anklagenden Schreie dieses Dychthoniers; ich stand da, bestürzt über die Greueltat, betroffen vor Angst, völlig konsterniert angesichts dieser unbegreiflichen Szenerie, denn die Leiche war allein – ich spähte in alle Winkel dieser Stätte der maschinellen Folterung, ohne jemanden zu erblicken. Dann näherte sich mir von hinten eine Kapuzengestalt – ich spürte es eher, als ich es hörte –, und als ich aus dem Augenwinkel erkannte, daß es der Prior war, versetzte ich heiser: »Was ist das? Wer hat ihn getötet? Was…?«
  Er verharrte wie eine Bildsäule neben mir, und mir versagte die Stimme – mir wurde bewußt, daß es ja wirklich nur eine eiserne Bildsäule war; unter der Erde hatten die verhüllten Gestalten der Mönche in ihren spitzen Kapuzen nicht so unheimlich fremd ausgesehen wie hier, im Sonnenlicht, inmitten der weißen Geometrie der Wege, vor dem klaren Hintergrund des Horizonts. Die Leiche dort, hinter der Glaswand, die sich in den Griffen des Metalls krümmte, erschien mir nun vertraut und nah, da ich ganz allein zwischen den kalten, logischen Maschinen stand, die zu nichts anderem fähig waren als zu abstrakten Überlegungen. Mich erfaßte ein Unwillen, mehr noch, das Verlangen, mich wortlos zu entfernen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, denn zwischen mir und ihnen hatte sich in diesem einen Augenblick ein unüberwindlicher Abgrund aufgetan. Ich blieb jedoch stehen, neben dem Prior, der schwieg, als ob er auf etwas wartete.
  In dem Raum mit dem bläulichen Licht, das durch das Glas der Decke und der Wände gefiltert wurde, bewegte sich etwas. Die funkelnden Arme der Geräte begannen sich über dem Erstarrten zu regen. Sie richteten vorsichtig die Glieder des zu Tode Gemarterten und begossen seine Wunden mit einer wasserhellen Flüssigkeit, die dampfte, während sie das Blut abspülte. Der Tote ruhte jetzt flach, wie zur ewigen Ruhe gebettet, doch nun blitzten Schneiden auf, so daß ich schon glaubte, sie würden ihn sezieren, und obwohl er tot war, wollte ich doch hineinstürzen, um ihn vor der Zerstückelung zu bewahren, aber der Prior legte mir seine eiserne Hand auf die Schulter. So rührte ich mich nicht.
  Die glänzende Glocke hob sich, und ich erblickte ein menschenunähnliches Gesicht; nun arbeiteten alle Maschinen gleichzeitig, und zwar so schnell, daß ich nur ein Flimmern und die Bewegung der gläsernen Pumpe über dem Tisch sah, in der rote Flüssigkeit siedete. Inmitten dieses Wirrwarrs hob und senkte sich plötzlich die Brust des Liegenden, vor meinen Augen vernarbten seine Wunden, sein ganzer Körper begann sich zu bewegen und zu strecken.
  »Ist er auferstanden?« fragte ich leise.
  »Ja«, erwiderte der Prior. »Um noch einmal zu sterben.«
  Der Liegende sah sich um, packte mit seiner weichen, knochenlosen Hand einen Griff, der an der Seite hervorragte, und zog daran – die Glocke glitt wieder auf seinen Kopf, die schrägen Zangen stießen aus ihren Scheiden hervor, packten den Leib, und dann ertönten die gleichen Schreie wie vorher. Ich begriff so wenig von alledem, daß ich mich willenlos zu der geduldig wartenden Karawane der Verhüllten führen ließ. Wie erstarrt bestieg ich das Reit tier und lauschte den Worten, die an mich gerichtet waren – der Prior erklärte mir, daß der Pavillon ein besonderer Dienstleistungsbetrieb sei, in dem man seinen eigenen Tod erleben könne. Es gehe dabei um die Empfindung möglichst erschütternder Eindrücke, die jedoch keinerlei Qualen verursachten, denn durch einen Reiztransformator verwandelte sich der Schmerz in unsagbare Wollust. All das rühre daher, daß den Dychthoniern dank gewissen Typen der Automorphie sogar Todesqualen lieb seien, und wem das eine Mal nicht genüge, der könne sich nach der Wiedererweckung erneut totschlagen lassen, um die unheimliche Erschütterung ein zweites Mal zu erleben. Und in der Tat, unsere eiserne Karawane entfernte sich von diesem Ort der »Dienstleistungshinrichtung« langsam genug, so daß das Röcheln und Stöhnen des Liebhabers starker Erregung noch lange zu uns drang. Diese besondere Technik trug die Bezeichnung »Agonanie«.
  Es ist eine Sache, in einem historischen Werk von blutigen Unruhen der Geschichte zu lesen, und eine andere, mit eigenen Augen auch nur einen Bruchteil davon zu sehen und zu erleben. Mir war der Aufenthalt auf der Oberfläche, in der prallen Sonne, inmitten der silbernen Bögen der Autostraßen derart vergällt, und der in der Ferne flimmernde Funke des Pavillons jagte mir solch ein Entsetzen ein, daß ich mit unsagbarer Erleichterung in die Finsternisse des Kanals hinabstieg, der uns mit kühlem, beschützendem Schweigen empfing. Der Prior ahnte wohl, wie tief meine Erschütterung war, er sagte nichts. Bis zum Abend besuchten wir noch die Einsiedelei eines Anachoreten und den Orden der »Kleineren Brüder«, der das Klarbecken der Kanäle des Villenviertels bewohnte. Schließlich, zu später nächtlicher Stunde, beendeten wir die Rundreise durch die Diözese und kehrten zum Sitz der Destruktianermönche zurück. Ihnen gegenüber empfand ich nun eine seltsame Scham, wenn ich an den Augenblick dachte, da ich so über sie erschrocken war und sie so gehaßt hatte.
  Die kleine Zelle erschien mir nun wie ein trautes Zuhause; von einem fürsorglichen Mönchsbruder zubereitet, harrte meiner schon eine gespickte kalte Schublade, und nachdem ich sie rasch verschlungen hatte, schlug ich den Band der dychthonischen Geschichte auf, der sich mit der Neuzeit beschäftigte.
  Das erste Kapitel berichtete von den autopsychischen Bewegungen des 29. Jahrhunderts. Die Ermüdung durch die Allveränderlichkeit war damals so groß gewesen, daß die Idee von der Abkehr vom Körper und von der Beschäftigung mit der Formung des Geistes die Gesellschaft gewissermaßen verjüngte und sie aus dem Marasmus riß. So begann die Wiedergeburt. Ihr standen die Genialiten vor, mit ihrem Plan, alle Lebenden in Weise zu verwandeln. Dieses Vorhaben entfachte im Nu einen ungeheuren Wissensdurst, es interessierte die wissenschaftliche Forschung, führte zu interstellaren Verbindungen mit anderen Zivilisationen, jedoch das lawinenhafte Anwachsen der Kenntnisse zwang zu weiteren Umgestaltungen des Körpers, denn das Wissen fand nun nicht einmal mehr im Bauch Platz; die Gesellschaft genialisierte sich zunehmend, wahre Wellen der Gelehrsamkeit umspülten den Planeten. Diese Renaissance, die den Sinn des Daseins in der Erkenntnis sah, währte siebzig Jahre. Es wimmelte von Denkern, von Professoren, Superfessoren, Ultrafessoren, schließlich auch von Kontrafessoren.
  Und da es immer unbequemer wurde, das mächtiger werdende Hirn auf dem Folger mit sich herumzuschleppen, verwandelte das Leben selbst – nach einer kurzen Phase der sogenannten »Doppeltdenkenden« (sie besaßen zwei körperliche Schubkarren, einen vorderen und einen hinteren, für höhere und niedere Überlegungen) – die Genialiten in Immobilien. Jeder steckte gewissermaßen in einem Turm seiner eigenen Intelligenz, umwunden von den Schlangen der Kabel wie eine Gorgo; die Gesellschaft erinnerte an eine Pflasterscheibe wie Honig gesammelter Weisheit, in der die lebende menschliche Brut stak. Man verständigte sich ohne Leitungen und stattete einander Telebesuche ab; die weitere Eskalation führte zum Konflikt der Verfechter des Vereinigens der individuellen Vorräte mit den Sammlern des Wissens, die jede Information zu ihrem Eigentum machen wollten. Es kam zu den verschiedensten Praktiken: zum Belauschen fremder Überlegungen, zum Abfangen glänzenderer Konzeptionen, zum Anlegen von Gruben unter den Türmen der Widersacher in der Philosophie und in den Künsten, zum Verfälschen der Daten, zum Anzapfen der Kabel und schließlich sogar zu Versuchen, die fremden psychischen Güter samt der Persönlichkeit ihrer Eigentümer zu annektieren.
  Die Reaktion auf all dies war heftig. Unsere irdischen mittelalterlichen Stiche, die Drachen und überseeische Wundertiere darstellen, sind eine Kinderei im Vergleich zu der körperlichen Zügellosigkeit, die den Globus erfaßte. Die letzten Genialiten, halb blind von der Sonne, krochen unter den Ruinen hervor, um die Städte zu verlassen, Einreißer, Strömer und Zersplitterer grassierten in dem allgemeinen Chaos. Es entstanden Vereinigungen von Körpern und Apparaten, die im Buhlen geübt waren (Maschiner, Kahlwagen, Draisiner), höhnische Karikaturen auf die Geistlichkeit tauchten auf – Schabermönch mit Schabernonne – und sogar ein »Raupner« und ein »Bauchstier«.
  Damals verbreitete sich auch das Freisterben, es kam zu einer tiefgreifenden Verkümmerung der Zivilisation. Horden muskulärer Würger poussierten in den Wäldern mit Kriecherinnen herum, in abgeschiedenen Trichtern lauerten Schwabbler. Nichts zeugte mehr davon, daß der Planet einst die Wiege der Vernunft in Menschengestalt gewesen war. In den Parks, in denen Tischunkraut und wilder Tafelaufsatz wucherten, ruhten zwischen den Büschen des Tischtuchstrauchs die Häufer, das heißt wahre Berge atmenden Fleisches. Die meisten dieser monströsen Formen entstanden nicht durch bewußte Auswahl und Planung, sondern sie waren eine grauenvolle Folge von Defekten an körpererzeugenden Maschinen: Sie schufen nicht das, was ihnen aufgegeben worden war, sondern entartete, invalide Ungeheuer. In dieser Zeit der gesellschaftlichen Monstrolyse, wie Professor Grags schreibt, schien die Vorgeschichte eine wundersame Revanche an den späten Nachkommen zu üben, denn das, was dem ursprünglichen Vorstellungsvermögen lediglich als ein Alpdruck der Mythen erschienen war, der Begriff Grauen, wurde in der blind entfachten biotischen Maschinerie zu Fleisch.
  Mit dem Beginn des 30. Jahrhunderts übernahm Dsomber Glaubon die diktatorische Gewalt über den Planeten und setzte innerhalb von zwanzig Jahren eine körperliche Vereinheitlichung, Normalisierung und Standardisierung durch, die zunächst als Erlösung betrachtet wurden. Er war ein Verfechter des aufgeklärten und humanitären Absolutismus, daher ließ er es nicht zur völligen Ausrottung der degenerierten Formen aus dem 29. Jahrhundert kommen, sondern er empfahl, sie in besonderen Reservaten zu konzentrieren; übrigens befand sich am Rande eines solchen Reservats unter den Ruinen der einstigen Provinzhauptstadt das unterirdische Kloster der Destruktianermönche, in dem ich Schutz gefunden hatte. Nach dem Beschluß D. Glaubons sollte jeder Bürger ein solcher Eingeschlechtiger sein, der von vorn und von hinten gleich aussah. Glaubon verfaßte die »Gedanken«, ein Werk, in dem er sein Programm darlegte. Er nahm der Bevölkerung das Geschlecht, weil er darin die Ursachen des Niedergangs sah; die Wollustzentren beließ er seinen Untertanen nach ihrer Vergesellschaftung. Er beließ ihnen auch den Verstand, denn er wollte nicht über Schwachsinnige herrschen, sondern als Erneuerer der Zivilisation gelten.
  Aber Verstand bedeutet im Grunde die Existenz verschiedener, also auch unorthodoxer Ideen. Die illegale Opposition ging in den Untergrund und widmete sich düsteren, gegen die Geschlechtslosigkeit gerichteten Orgien – das behauptete wenigstens die Regierungspresse. Glaubon verfolgte zwar die Oppositionellen nicht, aber Pater Darg versicherte mir, daß die Regierungspresse in ihrem Eifer übertrieb. Die Oppositionellen nahmen demonstrativ neue Formen an (Streifige, Hintrige), und schließlich sollen im Untergrund auch sogenannte Doppelhintrige gewirkt haben, die verkündeten, man brauche den Verstand nur, um zu begreifen, daß man sich seiner so schnell wie möglich entledigen müsse, denn er sei der Urheber aller historischen Niederlagen. An die Stelle des Kopfes setzten sie das, was wir für sein Gegenteil halten; sie behaupteten, er sei störend, schädlich, ja banal. Den Hintrigen gefiel der Kopf nicht, also verwarfen sie ihn, und das Hirn verlegten sie nach unten. Von dort schaute es mit einem Bauchnabelauge in die Welt und mit einem zweiten, das hinten angebracht war, noch etwas tiefer.
  Nachdem eine gewisse Ordnung eingeführt worden war, verkündete Glaubon den Plan einer tausendjährigen Stabilisierung der Gesellschaft dank der sogenannten Hedalgetik. Ihrer Einführung ging eine große Pressekampagne unter der Losung »Der Sex im Dienste der Arbeit!« voraus. Jedem Bürger wurde ein Arbeitsplatz zugewiesen, und die Ingenieure der Nervenwege verbanden die Neuronen seines Hirns dergestalt, daß er nur dann Wollust empfand, wenn er gehörig arbeitete. Ob also jemand Bäume pflanzte oder Wasser schleppte, er schwamm förmlich in Wonne, und je mehr er arbeitete, desto intensiver war die Ekstase, die er empfand. Aber die dem Verstand eigene Durchtriebenheit untergrub auch diese, wie man meinen möchte, untrügliche soziotechnische Methode. Die Nonkonformisten zum Beispiel betrachteten das bei der Arbeit empfundene Glücksgefühl als eine Form des Zwanges. Sie widersetzten sich der Arbeitslust (Laboribido) und taten entge gen dem Verlangen, das sie zu der ihnen empfohlenen Arbeit drängte, nicht das, wozu ihr Trieb sie lockte, sondern das Gegenteil: Wer Wasserträger sein sollte, sägte Holz, und wer Holz zerkleinern sollte, schleppte Wasser – alles im Rahmen der regierungsfeindlichen Manifestationen. Die Verstärkung der vergesellschafteten Lustgefühle, die auf Glaubons Befehl mehrfach vorgenommen wurde, fruchtete nichts, sie hatte lediglich zur Folge, daß die Historiker die Jahre der Glaubon-Herrschaft als die Ära der Märtyrer bezeichneten. Der Biolizei fiel es immer schwerer, schuldhafte Ausschreitungen zu erkennen, denn wer in flagranti beim Empfinden von Qualen ertappt wurde, behauptete heuchlerisch, er stöhne vor Wonne. Glaubon zog sich tief enttäuscht aus dem biotischen Leben zurück, denn er sah, daß der Ruin seines großen Plans nicht mehr aufzuhalten war.
  Später, an der Wende vom 31. zum 32. Jahrhundert, kam es zu Diadochenkämpfen; der Planet zerfiel in Provinzen, die von Bürgern bewohnt wurden, welche nach den Empfehlungen der lokalen Behörden geformt waren. Das war bereits die Zeit der postmonstrolytischen Gegenreformation. Aus früheren Jahrhunderten waren die Anhäufungen der halbeingestürzten Städte und Zuchtstätten übriggeblieben, Reservate, die nur sporadisch von Kontrollstreifen aufgesucht wurden, verlassene Sexostraßen und andere Überreste der Vergangenheit, die manchmal noch auf halb invalide Weise funktionierten. Tetradoch Glambron führte eine Zensur der genetischen Codes ein, die bestimmte Arten von Genen für verboten erklärte, doch die zensurwidrigen Exemplare korrumpierten entweder die Kontrollorgane oder benutzten an öffentlichen Örtlichkeiten Masken, Ansatzhalter und ähnliche Dinge. Man klebte sich die Schwänze mit einem Pflaster am Rücken fest oder schob sie heimlich ins Hosenbein, und daß all dies praktiziert wurde, war ein offenes Geheimnis.
  Pentadoch Marmosel, der nach dem Prinzip »divide et impera« handelte, erweiterte die Anzahl der zugelassenen Geschlechter. Unter seiner Regierung führte man neben Mann und Frau den Drann und das Reib ein sowie zwei Hilfsgeschlechter – die Stützer und die Anreifer. Das Leben, vor allem das erotische, wurde unter diesem Herrscher sehr kompliziert. Geheime Organisationen, die sich zu Beratungen zusammenfanden, taten dies unter dem Vorwand des von der Obrigkeit empfohlenen »Sex zu sechst«, was dazu führte, daß ganze Teile des Projekts annulliert wurden: Heute existieren nur noch der Drann und das Reib.
  In der Ära der Hexadochen waren Anspielungen auf körperliche Formen gang und gäbe, mit denen die Chromosonenzensur umgangen wurde. Ich sah Konterfeis von Personen, bei denen die Ohrläppchen in kleine Waden übergingen – man wußte nicht, ob eine solche Person mit den Ohren wackelte oder ob es eine »anspielende Bewegung« war wie beim Ausschlagen. In bestimmten Kreisen schätzte man eine Zunge, die einen kleinen Huf an der Spitze hatte. Sie war zwar unbequem und zu nichts nütze, aber so manifestierte sich eben der Geist der somatischen Unabhängigkeit. Guryl Hapsodor, der als liberal galt, gestattete besonders verdienten Bürgern den Besitz eines zusätzlichen Beins; man betrachtete dies als ehrenvolle Auszeichnung, und später diente solch ein Bein, nachdem es seinen Fortbewegungscharakter verloren hatte, zur Kennzeichnung eines öffentlichen Amtes; höhere Beamte hatten bis zu neun Beine; dadurch konnte man den Rang eines jeden sogar im Bad sofort erkennen.
  Unter der Herrschaft des strengen Rondr Ischiolis wurden keine Genehmigungen für zusätzliche Körpererweiterungen mehr vergeben, und denen, die sich Ausschreitungen zuschulden kommen ließen, konfiszierte man sogar einzelne Beine; wie es heißt, wollte er alle Extremitäten und Organe liquidieren mit Ausnahme derer, die für das Leben unerläßlich waren. Außerdem beabsichtigte er, eine Mikrominiaturisierung einzuführen, denn es wurden immer kleinere Wohnungen gebaut, aber Bghis Gwarndl, der nach Ischiolis die Macht übernahm, annullierte diese Direktiven und ließ sogar den Schwanz wieder zu unter dem Vorwand, man könne mit seiner Quaste die Wohnung fegen. Später, unter Gondl Gurwa, kamen die sogenannten unteren Abweichler in Mode, die ihre Extremitäten gesetzwidrig vermehrten, und in der nächsten Phase, in der die Herrschaft strenger wurde, tauchten Zungennägel und andere provozierende Organellen auf, oder vielmehr, sie wurden versteckt. Schwankungen dieser Art dauerten noch an, als ich nach Dychthonien kam. Was sich durchaus nicht körperlich verwirklichen ließ, das drückte die sogenannte pornographische Literatur der Biotik aus, ein illegales Schrifttum, das zu den verbotenen Werken gehörte, von denen die Klosterbibliothek Unmengen enthielt. Ich blätterte zum Beispiel ein Manifest durch, das zu dem sogenannten Maider aufforderte, der auf den Haaren gehen sollte, und die Frucht eines anderen anonymen Autors, der Diskanter, sollte nach dem Prinzip eines Luftkissens über dem Boden dahinschweben.
  Nachdem ich auf diese Weise die Geschichte des Planeten in groben Zügen kennengelernt hatte, machte ich mich mit der laufenden wissenschaftlichen Literatur vertraut. Das wichtigste Projektierungs- und Forschungsorgan war zur Zeit die Kommission zur Abstimmung der Körperlich-Psychischen Projekte (KAKÖPSYP). Dank der Zuvorkommenheit des Bibliothekspaters lernte ich die jüngsten Arbeiten dieses Organs kennen. So war zum Beispiel Körper-Ing. Dergard Wnich der Autor eines Prototyps, der den vorläufigen Namen Polymon oder Allbereiter trug. Prof. Dr.-Ing. Magister Dband Rabor stand einem großen Gremium vor, das an dem kühnen und umstrittenen Projekt des sogenannten Polyrobs arbeitete, der eine funktionelle Verbindung des Weges in drei Dimensionen sein sollte: des kommunikativen Weges, des geschlechtlichen Weges und des Weges in die blaue Ferne. Auch mit den futurologischen Arbeiten der dychthonischen Körperkenner konnte ich mich vertraut machen und gewann den Eindruck, daß sich die Automorphie insgesamt auf einem toten Punkt ihrer Entwicklung befand, obwohl sich die Experten bemühten, die Stagnation zu durchbrechen; einen Artikel des Professors Sakkobert Graus, des Direktors des KAKÖPSYP, im Monatsheft »Die Stimme des Körpers« beschlossen die Worte: »Wie kann man sich nicht umgestalten, wenn man sich umgestalten kann?«
  Ich war von dem intensiven Studium all dieser Werke so erschöpft, daß ich den letzten Stoß Bücher in die Bibliothek zurücktrug und dann eine ganze Woche nichts weiter tat, als mich im Möbelhain zu sonnen.
  Ich fragte den Prior, was er von der biotischen Situation halte. Nach seiner Ansicht gab es für die Dychthonier keine Rückkehr zu menschlichen Formen, denn sie hatten sich zu weit davon entfernt. Diese Formen riefen infolge der Jahrhunderte währenden Indoktrination solche Vorurteile und eine so allgemeine Abscheu hervor, daß sogar sie – die Roboter – ihre Gestalt ganz verhüllen mußten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigten. Ich fragte ihn dann – wir waren allein nach dem Abendbrot im Refektorium –, welches der eigentliche Sinn der Ordenstätigkeit und des Glaubens innerhalb einer solchen Zivilisation sei.
  Der Prior lächelte.
  »Diese Frage habe ich erwartet«, sagte er. »Ich werde dir darauf zweimal antworten. Das eine Mal ganz einfach, das andere Mal subtiler. Der Duismus ist zunächst nichts weiter als eine Doppeldeutigkeit. Gott ist ein Geheimnis in einem solchen Maße, daß man keine volle Gewißheit selbst in der Frage seiner Existenz haben kann. So gibt es ihn also entweder, oder es gibt ihn nicht, und daher rührt die ethymologische Wurzel der Bezeichnung für unseren Glauben. Und nun noch einmal, aber tiefer gefaßt: Gott als Gewißheit ist kein vollkommenes Geheimnis, wenn man ihn zumindest darin fassen und vollständig einschränken kann, daß er ist. Sein garantiertes Sein ist soviel wie eine Oase, ein Ort der Beruhigung, Trägheit des Geistes, denn gerade aus den Büchern der Religionsgeschichte kannst du vor allem die unaufhörliche, bis zum Äußersten gespannte, bis zum Wahnsinn reichende Anstrengung eines Denkens herauslesen, das stets Argumente und Beweise seiner Existenz sammelte und sie jedesmal, wenn sie in Bruchstücke zerfallen waren, erneut aus den Überresten aufbaute. Wir haben dich nicht damit belästigt, dir unsere theologischen Bücher vorzulegen, aber wenn du da hineinschautest, würdest du jene weiteren Etappen der natürlichen Entwicklung des Glaubens sehen, die die jüngeren Zivilisationen noch nicht besitzen. Die Phase der Dogmatik bricht nicht plötzlich ab, sondern geht vom Zustand des Verschlossenseins in das des Offenseins über, wenn, ganz dialektisch, nach dem Dogma von der Untrüglichkeit des Hauptes der Kirche das Dogma von der unvermeidlichen Fehlbarkeit jeglichen Denkens in den Fragen des Glaubens begründet wird, das kurz und bündig so formuliert ist: ›Nichts von dem, was hier gesagt werden kann, entspricht dem, was dort währt.‹ Es kommt zu einer weiteren Hebung des Abstraktionsniveaus: Bedenke bitte, daß die Distanz zwischen Gott und dem Verstand sich im Verlauf der Zeit überall und immer vergrößert.
  Nach der altertümlichen Offenbarung hatte sich Gott stets in alles eingemischt, die Guten nahm er lebendig in den Himmel, die Bösen übergoß er mit Schwefel, er kauerte hinter dem ersten besten Strauch. Erst später begann das Sichentfernen, Gott verlor die Augenscheinlichkeit, seine Menschengestalt, die Bärtigkeit, es verschwanden die Schulhilfsmittel der Wunder und so anschauliche Demonstrationen wie die Umsiedlung von Dämonen in Schafböcke oder die Kontrollbesuche der Engel; mit einem Wort – der Glaube kam ohne die Zirkusmetaphysik aus; so ging er aus der Sphäre der Sinne in die Sphäre der Abstraktionen über. Es fehlte auch dann nicht an Beweisen für seine Existenz, weder an Sanktoren, ausgedrückt in der Sprache der höheren Algebra, noch an der mehr als elitären Hermeneutik. Diese Abstraktionen gelangen schließlich an den Punkt, an dem der Tod Gottes verkündet wird, um jene Art von eiserner, eisiger und herzzerreißender Ruhe zu erreichen, die den Lebenden gebührt, wenn die am meisten Geliebten sie für immer verlassen.
  Das Manifest über den Tod Gottes ist somit ein weiteres Manöver, das uns, allerdings vernichtend, von der metaphysischen Mühsal befreien soll. Wir sind allein, und wir werden tun, was wir wollen, oder das, wozu uns unsere weiteren Entdeckungen führen werden. Der Duismus freilich ist bereits weiter gegangen; in ihm bist du gläubig, wenn du zweifelst, und du zweifelst, indem du glaubst; aber auch dieser Zustand kann nicht endgültig sein. Eini gen Prognositenpatern zufolge verlaufen Evolutionen und Revolutionen, das heißt Wendungen und Umstürze im Glauben, nicht im ganzen Kosmos identisch, es soll mächtige Zivilisationen geben, die im Rahmen einer antigöttlichen Provokation Einfluß auf die gesamte Kosmogonie zu erlangen trachten. Nach dieser Vermutung gibt es in den Sternen Völker, die versuchen, das schreckliche Schweigen Gottes durch eine an ihn gerichtete Herausforderung zu brechen, das heißt mit der Drohung eines KOSMOZIDS: Der ganze Kosmos soll sich an einem Punkt zusammenballen und sich selbst im Feuer eines solchen endgültigen Zusammenkrampfens verbrennen. Mit dem Aus-den-Angeln-Heben von Gottes Werk wollen sie also gewissermaßen irgendeine Reaktion von ihm erzwingen. Wir wissen zwar nichts Genaues darüber, aber in psychologischer Hinsicht erscheint mir diese Absicht durchaus möglich. Zugleich jedoch vergeblich: Kreuzzüge mit Antimaterie gegen den Herrgott zu veranstalten dürfte keine vernünftige Methode sein, einen Dialog mit ihm anzuknüpfen.«
  Ich konnte mich nicht einer Bemerkung enthalten, die sich mir auf die Lippen drängte. Eigentlich, so meinte ich, sei der Duismus ein Agnostizismus oder auch ein »sich seiner nicht vollkommen sicherer Atheismus« oder ein unaufhörliches Schwanken zwischen den Polen: Es gibt ihn, es gibt ihn nicht. Doch wenn in ihm wenigstens die Spur eines Glaubens an Gott sei, wozu diene dann das klösterliche Dasein? Wem nütze es, daß man in Katakomben hause?
  »Zu viele Fragen auf einmal«, sagte Pater Darg. »Moment mal. Was sollten wir denn deiner Vorstellung nach tun?«
  »Wieso? Zum Beispiel eine Missionstätigkeit entfalten.«
  »Also begreifst du noch immer nichts! Du bist noch immer so weit von mir entfernt wie zum Zeitpunkt deines Erscheinens«, sagte der Prior tieftraurig. »Du glaubst, daß wir uns mit der Verbreitung des Glaubens befassen sollten? Mit der Missionstätigkeit? Konvertiten schaffen? Bekehren?«
  »Bist du denn nicht dieser Meinung, Pater? Wie ist das möglich? Macht das nicht zu allen Zeiten eure Sendung aus?« fragte ich erstaunt.
  »Auf Dychthonien«, entgegnete der Prior, »ist eine Million Dinge möglich, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst. Man kann bei uns durch ein einfaches Verfahren den ganzen Inhalt eines Personengedächtnisses wegwischen und das entleerte Gehirn mit einem neuen synthetischen Gedächtnis aufladen, das dann bei dem Operierten so wirkt, als habe er das, was er nicht erlebt hat, erlebt, als habe er empfunden, was er nicht empfand, mit einem Wort, man kann aus ihm einen anderen machen als den, der er vor dem Eingriff gewesen ist. Man kann den Charakter und die Persönlichkeit ändern, also kann man geile Gewalttäter in sanfte Samariter umwandeln und umgekehrt; Atheisten in Heilige oder Asketen in Zügellose; man kann Weise abstumpfen und Dummköpfe zu Genies machen; begreife bitte, daß das alles sehr leicht ist und nichts Materielles solchen Umarbeitungen im Wege steht. Und jetzt achte bitte darauf, was ich dir zu sagen habe.
  Nehmen wir an, ein starrsinniger Atheist könnte den Argumenten unserer Prediger Glauben schenken. Und nehmen wir ferner an, solche goldmündigen Sendboten unserer Orden bekehrten verschiedene Personen. Das Endstadium dieser missionarischen Bemühungen wäre, daß infolge von Veränderungen, die in ihren Köpfen erfolgt sind, ungläubige Menschen gläubig würden. Das ist offenkundig, nicht wahr?«
  Ich bejahte.
  »Ausgezeichnet. Und jetzt bedenke, daß diese Personen in Fragen des Glaubens neue Überzeugungen vertreten werden, weil wir ihnen vermittels beseelter Worte und Kanzelgesten Informationen lieferten und so ihre Hirne in bestimmter Weise bearbeitet haben. Dieses Endstadium nun – Hirne, die von tiefem Glauben und vom Verlangen nach Gott belebt sind – kann man millionmal schneller und sicherer erreichen, wenn man eine entsprechend gewählte Skala biotischer Mittel anwendet. Warum also sollten wir mit alt modischer Überzeugung, mit Predigten, Vorlesungen, Vorträgen missionarische Arbeit leisten, wenn diese modernen Mittel uns zur Verfügung stehen?«
  »Das sagst du doch wohl nicht im Ernst, Pater!« rief ich. »Das verstieße doch gegen die Ethik!«
  Der Prior zuckte mit den Achseln.
  »Du redest so, weil du ein Kind einer anderen Epoche bist. Sicherlich glaubst du, wir würden dann mit List und Zwang handeln, das heißt mit der Taktik einer ›Kryptokonversion‹, indem wir heimlich irgendwelche Chemikalien ausstreuen oder mit Wellen oder Schwingungen die Köpfe verbilden. Aber so ist es ja gar nicht! Einst gab es Dispute zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, und das einzige Instrument, die einzige benutzte Waffe auf beiden Seiten war die Wortgewalt des Arguments (ich denke nicht an ›Dispute‹, bei denen das Argument der Marterpfahl, der Scheiterhaufen oder das Beil waren). Gegenwärtig würde sich ein analoger Disput mit den Mitteln der technischen Argumentation vollziehen. Wir würden mit bekehrenden Instrumenten wirken, und die verhärteten Opponenten würden mit Mitteln zum Gegenangriff übergehen, die uns in ihrem Sinne umwandeln oder zumindest sie gegen diese Art des Missionierens widerstandsfähig machen sollten. Die Chancen beider Seiten auf den Sieg würden von der Wirksamkeit der verwendeten Techniken abhängen, so wie einst die Siegeschancen im Disput von der Wirksamkeit der Ausführungen abhingen. Bekehren heißt nämlich soviel wie eine zum Glauben zwingende Information vermitteln.«
  »Und dennoch«, versteifte ich mich, »wäre das kein echtes Bekehren! Ein Präparat, das das Verlangen nach Glauben und den Hunger nach Gott hervorruft, verfälscht ja den Geist, es spricht nicht seine Freiheit an, sondern übt Zwang auf ihn aus und vergewaltigt ihn!«
  »Du vergißt, mit wem und wo du sprichst«, erwiderte der Prior. »Seit sechshundert Jahren gibt es bei uns keinen einzigen ›natürlichen‹ Verstand mehr. Also gibt es auch nicht die Möglichkeit, zwi schen aufgezwungenem und natürlichem Denken zu unterscheiden, denn niemand braucht einem den heimlichen Gedanken aufzuzwingen. Man zwingt etwas Ursprüngliches und zugleich Endgültiges auf – das Hirn!«
  »Aber auch dieses aufgezwungene Hirn besitzt seine unangetastete Logik!« erwiderte ich.
  »Das stimmt. Aber eine Gleichsetzung der einstigen und der gegenwärtigen Dispute über Gott würde nur dann ihren Sinn verlieren, wenn zugunsten des Glaubens eine logisch unwiderlegbare Argumentation existierte, die den Geist mit der gleichen Macht zur Billigung des Resultats zwänge, wie das die Mathematik tut. Nach unserer Theodizee kann es eine solche Argumentation nicht geben. Daher kennt die Glaubensgeschichte Apostasen und Häresien, während die Geschichte der Mathematik keine analoge Abtrünnigkeit aufweist, denn es gab nie jemanden, der nicht eingesehen hätte, daß es nur eine Methode gibt, eins und eins zu addieren, und daß das Ergebnis dieser Operation die Zahl zwei ist. Aber Gott kann man nicht mathematisch beweisen. Ich werde dir schildern, was vor zweihundert Jahren geschehen ist.
  Ein Computerpater war mit einem ungläubigen Computer zusammengestoßen. Der letztere, als das neuere Modell, verfügte über Mittel informativen Wirkens, die unserem Geistlichen unbekannt waren. Er hörte sich also dessen Argumentation an und sagte dann: ›Sie haben mich informiert, und jetzt werde ich Sie informieren, was nicht den millionsten Teil einer Sekunde dauern wird – warten wir nach meiner Erklärung auf Ihre Verklärung!‹ Danach informierte er unseren Pater aus der Entfernung blitzschnell um, so daß dieser den Glauben verlor. Was sagst du nun?«
  »Nun, wenn das kein Zwang war, dann weiß ich nicht!« rief ich. »Bei uns heißt das Manipulation des Geistes.«
  »Manipulation des Geistes«, sagte Pater Darg, »bedeutet, dem Geist unsichtbare Bande nach der gleichen Methode anzulegen, wie man sie dem Körper sichtbar anlegen kann. Das Denken ist wie die Schrift, die aus der Hand fließt, und die Manipulation des Geistes ist wie ein Festhalten der schreibenden Hand, damit sie andere Zeichen setzt. Das ist offensichtliche Gewalt. Aber jener Computer handelte nicht so. Jede Schlußfolgerung wird aus Daten errichtet; und in der Diskussion zu überzeugen bedeutet, mit den gesprochenen Worten Daten im Kopf des Opponenten zu verschieben. Der Computer tat ebendies, aber nicht mit dem gesprochenen Wort. In informatorischer Hinsicht tat er also nichts anderes als ein gewöhnlicher früherer Disputant, nur daß die Übermittlung anders vor sich ging. Und er konnte so verfahren, weil er dank seiner Fähigkeit den Geist unseres Paters durch und durch kannte. Stell dir vor, daß ein Schachspieler nur das Schachbrett mit den Figuren sieht, während der andere außerdem die Gedanken des Gegners wahrnimmt. Dieser wird jenen bestimmt besiegen, obwohl er ihn in nichts vergewaltigen wird. Was meinst du, was haben wir mit unserem Geistlichen getan, als er zu uns zurückkehrte?«
  »Ihr habt doch hoffentlich so gehandelt, daß er wieder glauben konnte…«, sagte ich zögernd.
  »Wir haben es nicht getan, denn er verweigerte seine Zustimmung. Wir konnten es also nicht tun.«
  »Jetzt begreife ich nichts mehr! Ihr hättet doch genauso gehandelt wie sein Widersacher, nur umgekehrt.«
  »Aber nein. Nicht mehr, denn dieser unser ehemaliger Pater wünschte sich keine weiteren Dispute. Der Begriff ›Disput‹ hat sich gewandelt und erheblich erweitert, bedenke das. Wer jetzt in die Schranken tritt, muß nicht nur auf Wortangriffe gefaßt sein. Unser Pater hatte leider eine traurige Ignoranz und Naivität bewiesen; er war gewarnt worden, jener hatte ihm im voraus seine Überlegenheit angekündigt, aber es wollte ihm nicht in den Sinn, daß sein unerschütterlicher Glaube jemals unterliegen könnte. In theoretischer Hinsicht gibt es einen Ausweg aus dieser eskalatorischen Falle: Man müßte ein Hirn so präparieren, daß es zur Berücksichtigung aller Varianten aller möglichen Daten fähig wäre, da aber ihre Anzahl von unendlicher Potenz ist, könnte nur ein unendlicher Geist metaphysische Gewißheit erlangen. Und ein solcher läßt sich bestimmt nicht konstruieren. Denn wie auch immer wir bauen – wir bauen in endlicher Weise, und wenn es einen unendlichen Computer gibt, so ist das nur Er.
  So kann also auf der neuen zivilisatorischen Ebene der Streit um Gott nicht nur mit neuen Techniken geführt werden, sondern er muß damit geführt werden, wenn man ihn überhaupt führen will. Die informatorische Waffe hat sich nämlich auf beiden Seiten genauso verändert, die Kampfsituation wäre symmetrisch und dadurch identisch mit der Situation in den mittelalterlichen Disputen. Das neue Missionieren kann man nur dann als unmoralisch ansehen, wenn man das alte Bekehren der Heiden oder die Streitigkeiten der früheren Theologen mit den Atheisten für unmoralisch hält. Ein anderer Modus für die Missionsarbeit ist gegenwärtig nicht mehr möglich, denn wer heute gläubig werden möchte, wird bestimmt gläubig werden, und wer gläubig ist und den Glauben verlieren möchte, wird ihn bestimmt verlieren – und zwar dank den richtigen Eingriffen.«
  »Also könnte man nun auf das Willensorgan einwirken, um den Wunsch nach Glauben zu erzeugen?« fragte ich.
  »So ist es in der Tat. Wie du weißt, wurde einst die Äußerung geprägt, Gott sei auf seiten der stärkeren Bataillone. Gegenwärtig würde er sich, im Sinne der technogenen Kreuzzüge, auf der Seite der stärkeren Bekehrungsapparate befinden, aber wir glauben nicht, daß es unsere Aufgabe ist, uns in einen solchen Wettlauf von theodiktischen, sakral-antisakralen Rüstungen einzulassen, wir wollen nicht den Weg einer Eskalation beschreiten, die dahin führt, daß wir einen Konvertor bauen und sie einen Antikonvertor, daß wir bekehren und sie das rückgängig machen. Dieses Ringen würde Jahrhunderte hindurch gehen, wir würden unsere Klöster in Schmieden immer wirksamerer Mittel und Taktiken zum Wecken von Glaubensdurst verwandeln!«
  »Ich kann nicht begreifen«, sagte ich, »wie es möglich ist, daß es keinen anderen Weg gibt außer dem, den du mir zeigst, Pater. Aller Vernunft ist doch die gleiche Logik gemeinsam? Und der natürliche Verstand?«
  »Die Logik ist ein Werkzeug«, erwiderte der Prior, »und aus einem Werkzeug resultiert nichts. Es muß einen Schaft und die lenkende Hand haben. Diesen Schaft und diese Hand kann man bei uns formen, wie es einen gelüstet. Und was den natürlichen Verstand betrifft – sind denn etwa ich und meine Mönchsbrüder natürlich? Wie ich dir bereits gesagt habe, stellen wir Schrott dar, und unser Credo ist für jene, die uns zunächst angefertigt und später weggeworfen haben, nur ein Nebenprodukt, das Gestammel dieses Schrotts. Wir haben die Freiheit des Denkens erhalten, weil die Industrie, für die man uns gebaut hat, das eben erforderte. Höre aufmerksam zu. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen, das ich sonst niemandem anvertrauen würde. Ich weiß, daß du uns bald verlassen wirst und daß du es nicht an die Behörden. weitervermitteln wirst: Wir würden nicht mit heiler Haut davonkommen.
  Die Mönchsbrüder eines entfernten Ordens, die sich der Wissenschaft widmen, haben Mittel einer solchen Einwirkung auf den Willen und das Denken entdeckt, mit denen wir im Nu den ganzen Planeten bekehren könnten, denn es gibt dagegen kein Antidotum. Diese Mittel betäuben nicht, sie machen nicht stumpfsinnig, sie rauben die Freiheit nicht, sie tun dem Geist dasselbe an, was die Hand, die uns zwingt, den Kopf zum Himmel zu recken, den Augen antut, und die Stimme, die sagt: ›Sieh!‹ Das einzige Drängen, die einzige Gewalt bestünde darin, daß man nicht die Augen schließen kann. Diese Mittel zwingen, dem Geheimnis ins Gesicht zu schauen, und wer es so erblickt, der wird es nicht mehr loswerden, denn es prägt in ihm unverwischbare Spuren. Das wäre so, ich sage das nur zum Vergleich, als führte ich dich an den Rand eines Vulkans und verleitete dich, in die Tiefe zu schauen. Der einzige Zwang dabei wäre, daß du dies nicht mehr vergessen kannst. Somit sind wir jetzt schon allmächtig in der Konversion, denn wir haben auf dem Gebiet des Bekehrens zum Glauben die höchste Stufe der Freiheit des Handelns erreicht, die gleiche, die die Zivilisation auf einem anderen, dem der materiell-körperlichen Fertigkeit, erreicht hat. Wir können also schließlich… begreifst du? Wir besitzen diese missionarische Allmacht und wir werden nichts tun. Denn das einzige, worin sich unser Glaube noch offenbaren kann, ist die Weigerung zu diesem Schritt. Ich sage vor allem: Non agam. Nicht nur Non serviam, sondern auch: Ich werde nicht handeln. Ich werde es nicht tun, weil ich mit Gewißheit handeln kann und mit diesem Handeln alles erreichen kann, was ich will. Es bleibt uns somit nichts, als hier bei den versteinerten Rattenüberresten, im Gewimmel der ausgetrockneten Kanäle weiter zu existieren.«
  Ich fand keine Entgegnung auf diese Worte. Da ich die Fruchtlosigkeit eines weiteren Aufenthaltes auf dem Planeten erkannte, belud ich, nachdem ich mich von den ehrbaren Patern voll Rührung und Bedauern verabschiedet hatte, die Rakete, die glücklich unter der Tarnung überdauert hatte, und trat den Rückflug an. Ich fühlte, daß ich ein anderer Mensch war als jener, der vor gar nicht so langer Zeit auf diesem Planeten gelandet war.






ZWEIUNDZWANZIGSTE REISE




Ich bin jetzt viel damit beschäftigt, die Andenken, die ich von meinen Reisen in die entferntesten Winkel des Alls mitgebracht habe, systematisch zu ordnen. Seit langem schon trage ich mich mit der Absicht, diese in ihrer Art wohl einmalige Kollektion dem Museum zu übergeben; unlängst erst teilte mir der Kustos mit, er wolle dafür einen besonderen Saal bereitstellen.
  Nicht alle Exemplare sind mir gleich teuer; manche rufen heitere Erinnerungen in mir wach, andere hingegen lassen unheimliche, grauenvolle Begebenheiten wieder vor mir erstehen, alle zusammen jedoch stellen sie ein Zeugnis dar, das die Glaubwürdigkeit meiner Reisen vollauf bestätigt. Zu den Exponaten, die besonders intensive Erinnerungen erwecken, gehört ein Zahn, der auf einem kleinen Seidenkissen unter Glas ruht; er hat zwei große Wurzeln und ist völlig gesund; den hab ich mir gelegentlich eines Empfanges bei Oktopus, dem Herrscher der Memnogen vom Planeten Urtama, ausgebissen; dort wurden köstliche Speisen serviert, aber sie waren unerhört zäh.
  Der gleiche Ehrenplatz in der Sammlung gebührt meiner in zwei ungleiche Teile zerbrochenen Tabakspfeife; sie fiel mir aus der Rakete, während ich einen steinigen Globus aus der Sternenfamilie des Pegasus überflog. Da ich sie nicht missen mochte, verbrachte ich anderthalb Tage damit, sie in den Schluchten dieses zerklüfteten Felsenparadieses zu suchen.
  Nicht weit entfernt davon liegt ein Schächtelchen, das einen erbsengroßen Kieselstein beherbergt. Seine Geschichte ist höchst merkwürdig. Als ich einst nach Xerusien aufbrach, dem wohl entlegensten Gestirn im Zwillingsnebel NGC 887, hatte ich meine Kräfte fast überschätzt; die Reise dauerte nämlich so lange, daß ich schon dem Zusammenbruch nahe war; besonders stark quälte mich das Heimweh, und ich konnte kein ruhiges Plätzchen in der Rakete finden. Gott weiß, was noch alles daraus geworden wäre, wenn ich nicht am 268. Reisetag plötzlich gemerkt hätte, daß mich an der linken Ferse etwas drückte; ich zog den Schuh aus und schüttelte unter Tränen ein Steinchen aus der Socke, ein Krümelchen von waschechtem irdischem Kies. Es war wohl auf dem Flugplatz hineingeraten, während ich die Stufen zur Rakete erklomm. Ich preßte dieses winzige und doch so teure Stückchen Erde an die Brust und erreichte, nunmehr seelisch gefestigt, das Ziel. Dieses Andenken habe ich besonders in mein Herz geschlossen.
  Auf einem Samtkissen ruht daneben ein gewöhnlicher gebrannter Lehmziegel, gelbrosa, ein wenig rissig und an einem Ende leicht abgebröckelt. Nur dem Zufall und meiner Geistesgegenwart ist es zu danken, daß ich nicht durch ihn umgekommen bin und so von meiner Expedition zum Nebel der Jagdhunde zurückkehren konnte. Ich führte diesen Ziegelstein stets auf meinen Fahrten in die kältesten Gegenden des Weltraums mit. Vor dem Schlafengehen pflegte ich ihn eine Weile in den Atommotor zu stecken, um ihn dann gut vorgewärmt ins Bett zu legen. Im linken oberen Quadranten der Milchstraße, dort, wo sich die Sternwolke des Orion mit den Sternbildern des Schützen vereinigt, wurde ich, mit geringer Geschwindigkeit fliegend, Zeuge des Zusammenstoßes zweier Riesenmeteore. Das Schauspiel dieser feurigen Explosion in der Finsternis erregte mich so sehr, daß ich nach einem Handtuch langte, um mir die Stirn zu wischen. Ich vergaß, daß ich zuvor den Ziegelstein hineingewickelt hatte, hob also den Arm voller Schwung – und hätte mir beinahe den Schädel zerschmettert. Zum Glück vermochte ich die Gefahr mit dem mir angeborenen Scharfsinn rechtzeitig zu erfassen.
  Gleich neben dem Ziegelstein steht ein Holzkästchen; es birgt mein Taschenmesser, den treuen Gefährten ungezählter Flüge. Wie sehr ich an ihm hänge, mag die Geschichte bezeugen, die ich jetzt erzählen will; sie verdient es fürwahr.

Ich verließ Satellina um zwei Uhr nachmittags mit heftigem Schnupfen. Der dortige Arzt, den ich konsultierte, hatte sich erboten, mir die Nase abzuschneiden – ein für die Bewohner jenes Planeten geringfügiger Eingriff, da bei ihnen die Nasen nachwachsen wie bei uns die Fingernägel. Empört über dieses Ansinnen, begab ich mich stracks zum Flugplatz, um Himmelsgegenden aufzusuchen, in denen die Medizin weiter ist. Die Reise stand unter einem unglücklichen Stern. Schon zu Beginn, als ich mich kaum 900.000 Kilometer von dem Planeten entfernt hatte, fing ich das Rufzeichen einer Rakete auf und fragte per Funk, wer dort fliege. Zur Antwort erhielt ich den gleichen Satz. »Sag du’s zuerst!« erwiderte ich schärfer, gereizt durch die Unhöflichkeit des Fremden. »Sag du’s zuerst«, entgegnete jener. Dieses Nachäffen erzürnte mich solchermaßen, daß ich die Unverschämtheit des unbekannten Reisenden beim Namen nannte. Er blieb mir nichts schuldig; das Wortgefecht artete immer mehr aus, bis ich nach etwa fünfzehn Minuten, als mein Zorn den Gipfelpunkt erreicht hatte, feststellen mußte, daß gar keine zweite Rakete vorhanden und die Stimme, die ich vernommen hatte, einfach das Echo meiner eigenen Funksignale war. Sie wurden von der Oberfläche des Satellitenmondes reflektiert, an dem ich gerade vorbeizog. Ich hatte ihn bisher nicht gesehen, denn er kehrte mir seine dunkle Nachtseite zu.
  Als ich mir eine Stunde später einen Apfel schälen wollte, bemerkte ich, daß mein Taschenmesser fehlte. Doch fiel mir gleich ein, wo ich es zuletzt gebraucht hatte: im Ausschank auf dem Flugplatz der Satellina; ich hatte es auf das schräge Büfett gelegt, und es war wohl in einer Ecke heruntergerutscht. Ich sah das so greifbar vor mir, daß ich es mit verbundenen Augen gefunden hätte. Ich schwenkte die Rakete herum, doch hier erst zeigte sich die wahre Schwierigkeit: Der ganze Himmel war übersät mit flimmernden Lichtern, und ich wußte nicht, welches davon die Satellina war.
  Dies ist einer von 1480 Planeten, die um die Sonne Eripelase kreisen. Die meisten besitzen obendrein je zehn bis fünfzehn Monde, groß wie Planeten, was die Orientierung noch mehr erschwert. In meiner Hilflosigkeit versuchte ich die Satellina durch Funk zu rufen. Darauf meldeten sich ungefähr hundert Stationen gleichzeitig, so daß ein fürchterlicher Wellensalat entstand; man muß nämlich wissen, daß die Bewohner des Eripelasesystems ebenso liebenswürdig wie liederlich sind und wohl zweihundert Planeten auf den Namen »Satellina« getauft haben. Ich betrachtete also durch meine Fensterluke die Myriaden winziger Lichtfünkchen; einer davon beherbergte mein Taschenmesser. Sicherlich wäre es jedoch leichter gewesen, eine Stecknadel in einem Heuschober als den richtigen Planeten in diesem Sterngewimmel ausfindig zu machen. Zu guter Letzt überließ ich es dem Zufall und raste auf den Planeten zu, den meine Raketenspitze gerade anpeilte.
  Eine Viertelstunde später landete ich. Der Flughafen glich aufs Haar dem, von dem ich um zwei Uhr gestartet war; höchst erfreut also, daß mir das Glück so hold sei, begab ich mich geradenwegs zum Büfett. Wie groß war jedoch meine Enttäuschung, als ich das Messer trotz genauester Nachforschungen nicht wiederfand. Nach reiflicher Überlegung gelangte ich zu dem Schluß, daß es wohl jemand mitgenommen habe oder daß ich auf einem falschen Pla neten gelandet war. Als ich mich bei den Einheimischen erkundigt hatte, gab es keinen Zweifel mehr, daß die zweite Vermutung richtig war. Ich befand mich auf der Andrigona, einem alten, versandeten, völlig morschen Planeten, der längst aus dem Umlauf hätte gezogen werden müssen; aber man scherte sich wenig um ihn, denn er liegt weit entfernt von den Raketenmagistralen. Im Hafen wurde ich gefragt, welche Satellina ich suchte, denn die Himmelskörper dieses Namens seien numeriert. Jetzt saß ich erst richtig in der Klemme, ich hatte nämlich die Nummer vergessen. Durch die Direktion des Flughafens in Kenntnis gesetzt, marschierten indessen die örtlichen Behörden auf, um mich feierlich willkommen zu heißen.
  Es war ein großer Tag für die Andrigonen; in den Schulen wurden gerade Reifeprüfungen abgehalten. Ein Regierungsvertreter fragte, ob ich nicht ein solches Examen mit meiner Anwesenheit beehren wollte; da man mich sehr gastlich empfangen hatte, konnte ich die Bitte nicht abschlagen. So fuhren wir denn mit einer Schlunke (das sind schlangenähnliche Reptilien ohne Gliedmaßen, die dort allgemein als Reittiere benutzt werden) stracks in die Stadt. Der Regierungsvertreter stellte mich der zahlreich versammelten Jugend und dem Lehrkörper als einen Gast vom Planeten Erde vor und verließ daraufhin den Saal. Die Lehrer führten mich zu dem Ehrenplatz an der Nährte (einer Art Tisch), und die Prüfungen wurden fortgesetzt. Zunächst fühlten sich die Schüler durch meine Anwesenheit beengt und stotterten verwirrt, ich suchte ihnen durch herzliches Lächeln Mut einzuflößen und sagte diesem oder jenem gar ein Wort vor. So war bald das Eis gebrochen. Zum Schluß antworteten sie immer besser. Als letzter trat ein junger Andrigone vor die Prüfungskommission, der mit so schönen Scheußein (austerähnliche Gebilde, die als Kleidung verwendet werden) bewachsen war, wie ich sie lange nicht gesehen hatte, und hob an, mit unerreichbarer Beredsamkeit die Fragen zu beantworten. Ich hörte ihm wohlgefällig zu und konstatierte, daß sich der hiesige Wissensstand durchaus sehen lassen konnte.
  Plötzlich fragte der Prüfer: »Können Sie beweisen, warum es kein Leben auf der Erde geben kann?«
  Nach einer leichten Verbeugung setzte der Jüngling zu seiner erschöpfenden, logisch aufgebauten Argumentation an. Im einzelnen führte er aus, daß der größte Teil der Erde von kalten, unermeßlich tiefen Gewässern bedeckt sei, deren Temperatur durch schwimmende Eisberge um den Nullpunkt gehalten werde; daß nicht nur die Pole, sondern auch die umliegenden Gebiete Orte ewiger Kälte seien und daß dort das halbe Jahr lang Nacht herrsche; daß, wie man durch die astronomischen Apparate sehr gut beobachten könne, sogar Kontinente mit wärmerem Klima viele Monate mit gefrorenem Wasserdampf, dem sogenannten Schnee, bedeckt seien, der in dicken Schichten Berge und Täler verhülle; daß der große Erdmond ständig Flut- und Ebbegezeiten erzeuge, die eine zerstörende Erosionstätigkeit ausübten; daß man durch gigantische Teleskope feststellen könne, wie riesige Flächen des Planeten häufig von Halbdämmer befallen werden, was eine Folge der Wolkendecke sei, und daß entsetzliche Zyklone, Taifune und Gewitter in der Atmosphäre entständen. All das zusammengenommen schließe die Möglichkeit aus, daß es dort Leben in irgendeiner Form gebe. Wenn nun, so endete der junge Andrigone mit klangvoller Stimme, irgendwelche Lebewesen auf der Erde landeten, so würden sie unweigerlich den Tod erleiden, zermalmt von dem gewaltigen Druck der Atmosphäre, die in Höhe des Meeresspiegels ein Kilogramm pro Quadratzentimeter, das heißt 760 Millimeter Quecksilbersäule betrage.
  Diese erschöpfende Antwort fand die allgemeine Anerkennung der Kommission. Ich indes saß völlig niedergeschmettert da, und erst als der Prüfer die nächste Frage vortrug, rief ich: »Verzeiht, würdige Andrigonen, aber… ich komme ja gerade von der Erde; und ihr werdet doch gewiß nicht bezweifeln, daß ich lebe. Ihr habt ja auch gehört, wie man mich hier vorgestellt hat…«
  Verlegenes Schweigen. Die Lehrer waren durch mein taktloses Auftreten betroffen und hielten sich nur mit Mühe zurück; die Jugend, die ihre Gefühle noch nicht so gut verbergen kann, musterte mich mit unverkennbarem Widerwillen.
  Schließlich sagte der Prüfer eisig: »Verzeih, Fremder, aber überforderst du nicht unsere Gastfreundschaft? Genügen dir noch nicht der feierliche Empfang, die Festlichkeiten und die Beweise unserer Hochachtung? Haben wir dich durch Zulassung zur Hohen Nährte des Abituriums nicht zufriedengestellt, daß du noch mehr willst und von uns verlangst, allein deinetwegen das… Schulprogramm umzustoßen?«
  »Aber… die Erde ist doch tatsächlich bewohnt…«, murmelte ich verwirrt.
  »Wäre es an dem«, entgegnete der Prüfer und schaute mich an, als wäre ich aus Glas, »so bedeutete das nur eine Entartung der Natur.«
  Da ich das als Beleidigung meiner Mutter Erde auffaßte, verließ ich grußlos den Saal, stieg auf die erste Schlunke, die mir in den Weg kam, und ritt zum Flugplatz. So schüttelte ich den Staub der Andrigona von meinen Füßen und startete, um weiter nach meinem Taschenmesser zu forschen.
  Auf diese Weise landete ich nacheinander auf fünf Planeten der Lindenbladgruppe, auf den Gestirnen der Stereopropen und Melazianer, auf sieben großen Körpern aus der Planetenfamilie der Kassiopeiasonne, besuchte Osterilien, Averanzien, Meltonien, Laternis, sämtliche Arme des großen Andromedanebels, die Systeme des Plesiomachos, des Gastroklantius, der Eutrema, der Symenophora und der Paralbyda; im darauffolgenden Jahr durchsuchte ich systematisch die nähere Umgebung aller Sterne der Sappo und der Melenwaga sowie die Himmelskugeln Erytrodonien, Arrhenois, Äodozien, Artenurien sowie den Stroglon mit seinen achtzig Monden, von denen manche so klein sind, daß kaum eine Rakete Platz darauf hätte; auf dem Kleinen Bären konnte ich nicht landen, weil dort gerade Inventur gemacht wurde; dann kamen die Cepheiden und Ardeniden an die Reihe; der Verzweiflung nahe, landete ich durch einen Irrtum noch einmal auf dem Lindenblad. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf und suchte weiter, wie es einem echten Forscher ansteht. Nach drei Wochen entdeckte ich einen Planeten, der jener denkwürdigen Satellina täuschend ähnlich sah; mein Herz schlug höher, als ich ihn auf einer immer engeren Spirale umkreiste; aber vergebens forschte ich nach jenem Flugplatz. Schon wollte ich in den Weltenraum zurück, da bemerkte ich, daß mir da unten eine kleine Gestalt Zeichen gab. Ich schaltete den Antrieb aus, glitt schnell abwärts und setzte mein Gefährt in der Nähe einer malerischen Felsengruppe auf, die von einem ansehnlichen Bau aus behauenem Stein überragt wurde. Zu meiner Begrüßung kam ein rüstiger Greis in weißem Dominikanerhabitus herbeigeeilt. Es war, wie sich herausstellte, Pater Lazimon, der Chef aller Missionen, die auf den angrenzenden Sternbildern im Umkreis von 600 Lichtjahren wirkten. Die Gegend zählte etwa fünf Millionen Planeten, darunter 2400.000 bewohnte. Als Pater Lazimon von dem Mißgeschick erfuhr, das mich in seine Gefilde verschlagen hatte, drückte er mir sein Mitleid aus, zugleich aber auch seine Freude, denn ich war, wie er sagte, der erste Mensch, den er seit sieben Monaten zu Gesicht bekam.
  »Ich habe mich bereits so an die Bräuche der Meodraziten – der Bewohner dieses Planeten – gewöhnt, daß ich mich oft bei einer merkwürdigen Fehlreaktion ertappe: Wenn ich aufmerksam zuhören will, hebe ich die Arme wie sie…« Die Meodraziten haben bekanntlich die Ohren in den Achselhöhlen.
  Pater Lazimon zeigte sich sehr gastfreundlich und lud mich zum Mittagessen ein, das aus örtlichen Speisen zusammengestellt war (glabbrige Bisquäppchen in Wacklaise, geschichtete Trümmer und zum Nachtisch Rührlinge – ein lang entbehrter Genuß); danach gingen wir auf die Veranda des Missionshauses. Die lila Sonne sandte ihre warmen Strahlen, die Pterodaktylen, von denen es auf dem Planeten nur so wimmelte, zwitscherten im Gebüsch, und in dieser mittäglichen Stille hob der greise Dominikanerprior an, mir sein sorgenschweres Herz auszuschütten; er klagte über die Schwierigkeiten, die in diesen Regionen jede Missionsarbeit hemmen. Die Quintolen zum Beispiel, die auf der heißen Antilene leben und schon bei 600 Grad Celsius frieren, wollen vom Paradies nichts wissen, hingegen stoßen die Schilderungen der Hölle bei ihnen auf lebhaftes Interesse, weil dort die Bedingungen so günstig seien (siedendes Pech, Flammen). Überdies weiß man nicht so recht, wer von ihnen in den Priesterstand treten darf, da sie fünf verschiedene Geschlechter haben; das ist für die Theologen ein heikles Problem.
  Ich äußerte mein Bedauern; Pater Lazimon fuhr achselzuckend fort: »Ach, das ist noch gar nichts. Die Bischuten zum Beispiel halten die Auferstehung für etwas Alltägliches wie das Ankleiden und wollen diese Erscheinung unter keinen Umständen als Wunder anerkennen. Die Dartriden von der Ägilla haben weder Hände noch Füße, sie können sich nur mit dem Schwanz bekreuzigen, aber ob das statthaft ist, vermag ich allein nicht zu entscheiden; ich warte auf die Antwort vom Apostolischen Stuhl – doch der Vatikan hüllt sich schon seit zwei Jahren in Schweigen… Und haben Sie von dem grauenvollen Ende gehört, das der bedauernswerte Pater Oribas aus unserer Mission genommen hat?«
  Ich verneinte.
  »So lassen Sie sich’s berichten. Schon die ersten Entdecker der Urtama waren des Lobes voll über ihre Bewohner, die mächtigen Memnogen. Allgemein herrscht die Auffassung, daß diese vernunftbegabten Altruisten zu den gefälligsten, sanftesten und gutmütigsten Geschöpfen des ganzen Universums gehören. In der Meinung also, auf solchem Boden müsse die Saat des Glaubens besonders gut aufgehen, sandten wir Pater Oribas zu den Memnogen und ernannten ihn zum Bischof in partibus infidelium. Der Ankömmling wurde von den Memnogen so herzlich empfangen, wie man es sich nicht besser wünschen konnte; sie umgaben ihn mit allen Ehren und waren rührend besorgt um ihn, hingen an seinen Lippen, lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, nahmen lechzend seine Lehren auf – mit einem Wort: Er hatte sie völlig in der Hand. In den Briefen, die ich von ihm erhielt, fand er keine Worte, sie zu loben, der Unglückselige…«
  Hier wischte sich der Dominikaner mit dem Zipfel seines Habitus eine Träne aus dem Auge.
  »In dieser günstigen Atmosphäre wurde Pater Oribas es Tag und Nacht nicht müde, die Glaubenssätze zu verkünden. Nachdem er die Memnogen mit der Geschichte des Alten und des Neuen Testaments, mit der Apokalypse und den Apostelbriefen vertraut gemacht hatte, ging er zu den Heiligenleben über; besonderen Eifer verwandte er darauf, die heiligen Märtyrer zu lobpreisen. Der Arme… es war schon immer seine Schwäche gewesen…«
  Pater Lazimon wurde mühsam seiner Rührung Herr und fuhr mit bebender Stimme fort:
  »Er predigte ihnen also vom heiligen Johannes, der des Himmelreichs teilhaftig wurde, als man ihn bei lebendigem Leibe in Öl sott, von der heiligen Agnes, die sich um des Glaubens willen den Kopf abschlagen ließ, vom heiligen Sebastian, der, von vielen Pfeilen durchbohrt, grausame Qualen erlitt und dafür im Paradies von Engelsang empfangen wurde, von heiligen Jünglingen, die gevierteilt, gewürgt, aufs Rad geflochten und über kleinem Feuer geröstet wurden. Bewundernd hörten sie ihn über diese Qualen berichten, wußten sie doch, daß sie auf diese Weise einen Platz zur Rechten des Herrn aller himmlischen Heerscharen erwerben würden. Als er ihnen noch viele solche nachahmenswerte Lebensläufe erzählt hatte, sahen die Memnogen, dem Sinn seiner Worte lauschend, einander verstohlen an, der größte von ihnen aber faßte sich ein Herz und fragte zaghaft: ›Hochwürden, Gottesprediger und geschätzter Pater, sage uns bitte, falls du dich zu deinen nichtswürdigen Dienern herablassen willst, ob die Seele eines jeden, der zum Martyrium bereit ist, in den Himmel kommt?‹
  ›Zweifellos, mein Sohn‹, entgegnete Pater Oribas.
  ›Sooo? Sehr gut…‹, sagte der Memnoge gedehnt. ›Und möchtest auch du, geistlicher Vater, in den Himmel gelangen?‹
  ›Dies ist mein innigster Wunsch, mein Sohn.‹
  ›Würdest du auch ein Heiliger werden wollen?‹ fragte der große Memnoge weiter.
  ›Lieber Sohn, wer möchte das nicht, aber wie könnte ich armer Sünder einer so hohen Ehrung teilhaftig werden? Es gilt, alle Kräfte einzusetzen und unbeirrt in tiefster Demut des Herzens zu streben – will man diesen Weg beschreiten…‹
  ›Du willst also Heiliger werden?‹ vergewisserte sich der Memnoge noch einmal und blickte ermunternd zu seinen Gefährten hinüber, die sich halb von ihren Plätzen erhoben hatten.
  ›Ei gewiß, mein Sohn.‹
  ›Nun, so wollen wir dir dabei behilflich sein!‹
  ›Wie das, ihr lieben Schäflein?‹ fragte Pater Oribas lächelnd, denn der kindliche Eifer seiner ihm treu ergebenen Herde freute ihn sehr.
  Darauf faßten ihn die Memnogen sanft, aber entschieden unter die Arme und sagten: ›Also, teurer Pater, wie Ihr uns gelehrt!‹
  Wonach sie ihm zunächst die Haut vom Rücken rissen und diese Stelle mit Pech einsalbten, wie das der Henker Irlands dem heiligen Hyazinth angetan hatte. Dann hackten sie ihm das linke Bein ab, wie die Heiden mit dem heiligen Pafnuzius verfahren sind, schlitzten ihm den Bauch auf und steckten einen Strohwisch hinein, wie das mit der seliggesprochenen Elisabeth von der Normandie geschah; darauf pfählten sie ihn wie die Emalkiten den heiligen Hugo, brachen ihm alle Rippen wie die Syrakuser dem heiligen Heinrich von Padua und verbrannten ihn bei kleiner Flamme, wie die Burgunder die Jungfrau von Orleans. Sodann verschnauften sie, wuschen sich die Hände und vergossen bittere Tränen um ihren verlorenen Hirten. Bei diesem Tun traf ich sie an – ich bereiste damals gerade alle Gestirne der Diözese, und so führte mich mein Weg auch in ihre Pfarrgemeinde. Als ich vernahm, was geschehen war, standen mir die Haare zu Berge. Händeringend schrie ich: ›Nichtswürdige Verbrecher! Die Hölle ist noch viel zu gut für euch! Wißt ihr denn überhaupt, daß ihr damit eure Seelen der ewigen Verdammnis ausgeliefert habt?‹
  ›Ja freilich!‹ erwiderten sie schluchzend.
  Der große Memnoge stand auf und richtete an mich die Worte: ›Ehrwürdiger Vater, wir waren uns sehr wohl im klaren, daß wir bis zum Jüngsten Tag verdammt sein werden und ewige Qualen erdulden müssen, ehe wir uns zu diesem Entschluß durchringen konnten; doch Pater Oribas predigte unablässig, es gäbe nichts, was ein guter Christ nicht für seinen Nächsten täte, man müsse alles opfern und zu allem bereit sein. So verzichteten wir denn in tiefster Verzweiflung auf unsere eigene Erlösung, einzig darauf bedacht, daß unser über alles geliebter Pater Oribas die Märtyrerkrone und den Heiligenschein erlangen solle. Ich vermag es nicht zu schildern, wie schwer uns das gefallen ist; bevor nämlich der Pater zu uns kam, konnte keiner von uns auch nur einer Fliege etwas zuleide tun. Wir erneuerten also unser Flehen, baten ihn händeringend, doch Nachsicht mit uns zu üben und die Strenge der Gebote ein wenig zu mildern, er jedoch behauptete kategorisch, aus Liebe zu seinem Nächsten müsse man alles tun, ohne jede Ausnahme. Und wir waren nicht imstande, es ihm abzuschlagen. Uns war klar: Vor diesem frommen Manne bedeuteten wir unwürdigen Geschöpfe nichts. Er hatte ein Recht auf unsere Entsagung. Wir glauben zuversichtlich, daß die Unternehmung geglückt ist und Pater Oribas nunmehr im Himmel herrscht. Hiermit überreichen wir dir, Hochwürden, einen Sack Geldes, das für die Kanonisation gesammelt wurde, denn so lautet die Vorschrift, wie es Pater Oribas auf unsere Fragen hin erläuterte. Ich muß sagen, daß wir nur seine Lieblingstorturen angewandt haben, von denen er uns stets in höchster Verzückung predigte. Wir nahmen also an, sie würden ihm willkommen sein, er jedoch sträubte sich, und besonders heftigen Widerwillen äußerte er, als er siedendes Blei hinunterschlingen sollte. Aber wir verwarfen den Gedanken, dieser Priester könnte etwas gepredigt haben, worüber er selbst ganz anders dachte. Sein Schreien war lediglich der Beweis für die Unzufriedenheit der niederen, körperlichen Teilchen seines Wesens, und wir überhörten es daher im Sinne der Lehre, daß der Leib erniedrigt werden müsse, damit der Geist um so höher steige. In dem Bemühen, ihm Halt zu geben, riefen wir ihm die Grundsätze ins Gedächtnis, die er verkündet hatte, worauf uns Pater Oribas nur ein einziges Wort entgegnete, das uns völlig unverständlich ist; wir können uns nicht vorstellen, was es bedeutet, denn wir fanden es weder in den Gebetbüchern noch in der Heiligen Schrift.‹«
  Als Pater Lazimon geendet hatte, wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn, Wir saßen und redeten nicht; schließlich brach der greise Dominikaner die Stille: »Nun sagen Sie mir, wie kann man unter solchen Umständen Seelenhirt sein? Oder was soll man mit dieser Geschichte anfangen?« Pater Lazimon schlug mit der flachen Hand auf einen Brief, der vor ihm ausgebreitet lag. »Pater Hippolyt berichtet von der Arpetusa, einem kleinen Planeten in der Waage, daß dessen Bewohner aufgehört hätten, Ehen zu schließen; sie zeugen keine Kinder mehr, und so droht die Gefahr, daß sie restlos aussterben.«
  »Wieso denn das?« fragte ich verblüfft.
  »Nun, da sie hörten, fleischlicher Verkehr wäre Sünde, verlangte es sie so heftig nach Erlösung, daß sie allesamt die Gelübde ablegten und das Zölibat einhalten! Seit zwei Jahrtausenden verkündet die Kirche den Vorrang der Seelenrettung vor den zeitlichen Dingen, aber niemand hat das wörtlich genommen, so wahr mir Gott helfe! Nun kommen die Arpetusaner und fühlen wie ein Mann in sich die Berufung, treten massenhaft in die Klöster ein, befolgen musterhaft die Regeln, beten, fasten und kasteien sich, während Industrie und Landwirtschaft darniederliegen, Hungersnöte den Planeten heimsuchen und die Bevölkerung auszusterben droht. Ich habe nach Rom Bericht erstattet, aber wie gewöhnlich ist die Antwort Schweigen…«
  »Es ist ja auch sehr riskant«, bemerkte ich, »die Religion auf andere Planeten zu tragen…«
  »Was sollten wir tun? Die Kirche hat es bekanntlich nicht eilig, Ecclesia non festinat, denn Sein Königreich ist nicht von dieser Welt, aber während das Kardinalskollegium beratschlagte und zauderte, schossen auf den Planeten Missionen der Kalvinisten, Baptisten, Redemptoristen, Mariaviten, Adventisten und wie sie sonst noch heißen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen. Wir mußten also retten, was zu retten war. Nun, mein Wertester, wenn ich das alles schon erzählt habe… so kommen Sie mal mit.«
  Pater Lazimon führte mich in sein Arbeitszimmer. Die riesige blaue Karte des Sternenhimmels nahm hier eine ganze Wand ein, die rechte Hälfte war mit Papier überklebt.
  »Schauen Sie!« Er wies auf den verdeckten Teil.
  »Was bedeutet das?«
  »Den Untergang, mein Lieber. Den endgültigen Untergang. Diese Gebiete sind von Völkern bewohnt, deren Intelligenz auf unerhört hoher Stufe steht. Sie propagieren den Materialismus und den Atheismus und empfehlen, alle Anstrengungen auf die Entfaltung der Wissenschaft und Technik sowie die Vervollkommnung der Lebensbedingungen auf den Planeten zu richten. Wir sandten unsere klügsten Missionare zu ihnen aus, Salesianerpater, Benediktiner, Dominikaner, ja selbst Jesuiten, alles begnadete Verkünder von Gottes Wort, mit honigsüßer Beredsamkeit ausgestattet; und alle kehrten sie zurück als Atheisten!«
  Pater Lazimon trat erregt an den Tisch heran.
  »Wir hatten da einen Pater Bonifazius bei uns, ich habe ihn als einen sehr frommen Mönch in Erinnerung; Tag und Nacht verbrachte er im Gebet, auf dem Kreuze liegend. Staub war für ihn alles Weltliche, er kannte keine andere Beschäftigung als den Rosenkranz herzusagen, und nichts bereitete ihm mehr Freude als die Messe, doch schon nach dreiwöchigem Aufenthalt dort« – Pater Lazimon wies auf den überklebten Teil der Himmelskarte – »nahm er das Studium an einem Polytechnikum auf und verfaßte dieses Buch!« Pater Lazimon nahm einen dicken Band vom Tisch und warf ihn gleich angewidert zurück. Ich las den Titel: »Über neue Methoden der Erhöhung der Flugsicherheit von Raketen.«
  »Die Sicherheit des armseligen Leibes der Sicherung der Seele vorzuziehen! Ist das nicht ungeheuerlich? Wir schickten alarmierende Berichte, und diesmal zauderte der Apostolische Stuhl nicht. Unter Mitarbeit von Experten der amerikanischen Botschaft zu Rom gab die Päpstliche Akademie diese Werke heraus.« Pater Lazimon schritt auf eine große Kiste zu und hob den Deckel: lauter Folianten im Quartformat.
  »Hier liegen etwa zweihundert Bücher, die mit größter Genauigkeit die Methoden der Gewalt, des Terrors, der Suggestion, der Erpressung, des Zwanges, der Hypnose, der Giftmischerei, der Torturen und der bedingten Reflexe abhandeln, wie sie jene zur Unterdrückung des Glaubens benutzen. Die Haare standen mir zu Berge, als ich das durchblätterte. Da sind Fotos, Geständnisse, Protokolle, Beweismittel, Berichte von Augenzeugen und Gott weiß was noch alles. Ich frage mich, wie haben die das nur so schnell gemacht? Was heißt das doch: amerikanische Technik! Aber mein Wertester… die Wirklichkeit ist viel, viel schrecklicher!«
  Pater Lazimon trat dicht an mich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin hier an Ort und Stelle und muß es folglich am besten wissen… lieber Mann. Die hier quälen nicht, zwingen keinen, sie foltern nicht und drehen auch keine Schrauben in den Kopf, sie lehren einfach nur, was das Universum ist, wo das Leben herkommt, wie das Bewußtsein entsteht und wie man die Wissenschaft zum Nutzen der Allgemeinheit anzuwenden hat. Sie können beweisen, daß die ganze Welt – so wie zwei mal zwei gleich vier – ausschließlich von materieller Beschaffenheit ist. Von allen meinen Missionaren hat nur einer den Glauben bewahrt, Pater Servazius, und das allein, weil er taub ist wie eine Nuß und gar nicht hören konnte, was zu ihm gesprochen wurde! Ja, das ist schlimmer als alle Foltern, mein Teurer! Ich hatte hier eine junge Nonne, Karmeliterin, ein durchgeistigtes Kind, nur dem Himmel ergeben; sie fastete ununterbrochen, kasteite sich, bekam die Wundmale und auch Visionen, verkehrte mit Heiligen. Sie hatte die heilige Melanie besonders liebgewonnen und wählte sie sich zum Vorbild; mehr noch, von Zeit zu Zeit zeigte sich ihr sogar der Erzengel Gabriel… Eines Tages machte sie sich auf die Reise dorthin.« Pater Lazimon deutete auf die rechte Hälfte der Karte. »Ich erlaubte ihr das mit ruhigem Gewissen, denn sie war arm an Geist, und solchen gehört ja das Reich Gottes; wenn ein Mensch erst anfängt zu überlegen; wie, was, woher, dann tun sich gleich die Abgründe der Ketzerei auf. Ich war sicher, daß die Argumente von der Weisheit jener bei ihr nicht einschlagen würden; doch kaum war sie dort eingetroffen, da wurde sie nach ihrer ersten Schauvision in religiöser Ekstase für neurotisch erklärt oder wie das sonst heißen mag; man behandelte sie mit Bädern, beschäftigte sie im Garten, gab ihr Puppen und anderes Spielzeug. Nach vier Monaten kam sie zurück – aber in welchem Zustand!«
Pater Lazimon zitterte.
»Was war denn mit ihr geschehen?« fragte ich mitleidig.
  »Sie hatte keine Visionen mehr, besuchte einen Lehrgang für Raketenpiloten und ist nun mit einer Forschungsexpedition zum Kern der Milchstraße abgeflogen, das arme Kind! Unlängst hörte ich, im Traum sei ihr die heilige Melanie erschienen, und mein Herz schlug ob dieser freudigen Botschaft, aber es stellte sich heraus, daß sie nur von ihrer Tante geträumt hatte. Ich sage Ihnen: Das ist der Ruin, der Untergang. Wie naiv sind doch die amerikanischen Experten; sie kündigen mir weitere fünf Tonnen Bücher und sonstige Literatur über die Grausamkeiten unserer Feinde wider den Glauben an. Ja, wenn diese die Religion verfolgten, wenn sie die Kirchen schlössen und die Gläubigen auseinanderjagten, doch das tun sie ja leider nicht. Sie lassen alles zu: den Gottesdienst und die geistlichen Lehranstalten, nur daß sie auch ihre eigenen Theorien und Beweise verbreiten. Eine Zeitlang probierten wir diese Methode aus« – Pater Lazimon deutete auf die Karte –, »aber ohne Erfolg.«
  »Verzeihung, welche Methode?«
  »Na, wir klebten diesen Teil des Universums mit Papier zu und ignorierten seine Existenz, aber das half nicht. Gegenwärtig wird in Rom von einem Kreuzzug zum Schutze des Glaubens gesprochen.«
  »Und was halten Sie davon, Pater?«
  »Nun, das wäre so übel nicht; wenn man ihre Planeten in die Luft sprengte, ihre Städte zerstörte, ihre Bücher verbrennte und sie selbst ausrottete, vielleicht gelänge es dann, die Lehre von der Nächstenliebe zu retten. Aber wer sollte diesen Kreuzzug führen? Die Memnogen? Oder die Arpetusaner etwa? Es ist einfach zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre!«
  Ein drückendes Schweigen nistete sich ein. Von herzlichem Mitleid erfaßt, legte ich dem abgehärmten Priester die Hand auf die Schulter, um ihm mit dieser freundschaftlichen Geste Mut einzuflößen; in diesem Augenblick rutschte mir ein funkelnder Gegens tand aus dem Ärmel und polterte zu Boden. Wer vermag meine Überraschung zu schildern, als ich darin mein Taschenmesser erkannte. Es hatte die ganze Zeit unter dem Jackenfutter gesteckt, wo es durch ein kleines Loch in der Tasche hineingeraten war!






DREIUNDZWANZIGSTE REISE




In der »Kosmozoologie«, Professor Tarantogas berühmtem Werk, habe ich von einem Planeten gelesen, der um den Doppelstern Erpeya kreist und angeblich so klein ist, daß seine Bewohner nur auf einem Bein stehend Platz darauf fänden, wollten sie alle auf einmal ihre Wohnungen verlassen. Professor Tarantoga gilt zwar unumstritten als Autorität, aber diese Behauptung schien mir doch übertrieben, und ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die Fahrt verlief recht abwechslungsreich; an der Veränderlichen
463 hatte mein Antrieb einen Defekt, und die Rakete begann auf den Stern unter mir hinabzusinken, was mich beunruhigte, denn die Temperatur dieses Cepheiden beträgt 600.000 Grad Celsius. Die Hitze wuchs mit jeder Sekunde und wurde schließlich so unerträglich, daß ich mich in den kleinen Kühlschrank, in dem ich meine Lebensmittel frisch halte, verkriechen mußte, um weiterarbeiten zu können – fürwahr ein sonderbarer Zufall, denn wo hätte ich jemals angenommen, daß ich mich bald in einer ähnlichen Situation befinden sollte. Zum Glück hatte ich den Schaden, rasch behoben und gelangte nun ohne weitere Behinderungen zur Erpeya. Dieser Doppelstern besteht aus zwei Sonnen: Die eine ist groß, rot wie ein glühender Ofen und nicht übermäßig heiß, die andere hingegen ist blau und strahlt eine fürchterliche Hitze aus. Der Planet selbst ist tatsächlich so klein, daß ich ihn erst fand, nachdem ich den gesamten umliegenden Weltraum abgeklappert hatte. Seine Bewohner, die Bischuten, nahmen mich sehr freundlich auf.
  Wunderbar sind die Auf- und Untergänge der beiden Sonnen, die nacheinander erfolgen, ein eigenartiges Schauspiel gibt es auch bei den Verfinsterungen. Die Hälfte der Tageseinheit scheint die rote Sonne, und dann sieht alles wie in Blut gebadet aus, in der anderen Hälfte leuchtet die blaue, und zwar so intensiv, daß man ständig die Augen zukneifen muß; trotzdem ist die Sicht noch ganz erträglich. Da die Bischuten überhaupt keine Dunkelheit kennen, nennen sie die blaue Zeit Tag und die rote Nacht. Raum gibt es auf dem Planeten in der Tat unglaublich wenig, aber die Bischuten, die sehr intelligente Wesen sind und über erhebliche Kenntnisse, vor allem physikalische, verfügen, werden glänzend mit dieser Schwierigkeit fertig; die Methode, die sie dabei anwenden, zeichnet sich allerdings durch besondere Eigenart aus. Von jedem Planetenbewohner wird in dem entsprechenden Amt mit Hilfe eines Röntgenpräzisionsgeräts eine sogenannte atomare Personenbeschreibung angefertigt, das heißt ein genauer Plan, der sämtliche Materiemoleküle, Eiweißteilchen und chemischen Verbindungen verzeichnet, aus denen sich der Körper des jeweiligen Bischuten zusammensetzt. Wenn die Schlafenszeit naht, kriecht dieser durch ein Türchen in einen Apparat, der ihn in winzige Atome zerstäubt. In dieser Gestalt verbringt er auf kleinstem Raum die Nacht, morgens setzt dann ein Wecker den Apparat zur vorherbestimmten Stunde in Gang, der fügt laut atomarer Personenbeschreibung alle Partikel in der richtigen Ordnung und Reihenfolge wieder zusammen, die Tür öffnet sich, und der wiederaufgelebte Bischute begibt sich nach mehrmaligem Gähnen an die Arbeit.
  Die Bischuten priesen mir die Vorzüge dieses Brauches: Schlaflosigkeit, Angstträume oder Alpdrücken könnten gar nicht mehr vorkommen, betonten sie, denn der Apparat pulverisiere ja den Körper zu Atomen und nehme ihm somit Leben und Bewußtsein. Dasselbe Verfahren wird in den verschiedensten Situationen angewandt, zum Beispiel in Warteräumen von Ärzten oder Behörden, wo an Stelle der Stühle kleine rosa und blau bemalte Kisten mit Apparaten stehen, ferner bei diversen Sitzungen und Versammlungen, mit einem Wort überall da, wo man zu Untätigkeit und Langeweile verurteilt ist und, ohne Nützliches zu verrichten, durch seine bloße Anwesenheit den anderen den Platz wegnimmt. In der gleichen sinnvollen Weise befriedigen die Bischuten ihre Reiselust: Man schreibt die Zieladresse auf ein Kärtchen, klebt es auf eine Kassette, stellt diese unter den Apparat, bevor man sich hineinbegibt, und gelangt zerstäubt in das Behältnis. Es besteht eine eigens für diesen Zweck eingerichtete Institution – unserer Post vergleichbar –, die solche Sendungen an die jeweilige Adresse schickt. Hat es einer besonders eilig, dann wird seine atomare Personenbeschreibung zum Bestimmungsort gedrahtet und dort nachgestaltet, dieweil der Originalbischute pulverisiert ins Archiv eingeliefert wird. Diese telegrafische Reisemethode hat, der Zeitersparnis und ihrer Einfachheit wegen, viel Verlockendes, birgt jedoch auch manche Gefahren.
  Am Tage meiner Ankunft wußte die Presse gerade einen unerhörten Vorfall zu melden. Ein junger Bischute namens Termofeles gedachte auf der anderen Hemisphäre seines Planeten zu heiraten. Da er so schnell wie möglich zu seiner Erwählten gelangen wollte – eine bei Verliebten verständliche Ungeduld –, ging er zur Post und ließ sich drahten; kaum war dies geschehen, wurde der Schalterbeamte in einer dringenden Angelegenheit abberufen, und sein Vertreter telegrafierte nichtsahnend noch einmal dieselbe Personenbeschreibung, so daß sich nun bei der schmachtenden Braut zwei Termofelesse meldeten, einander so ähnlich wie zwei Wassertropfen. Die Verwirrung und Ratlosigkeit der Unglücklichen und der ganzen Hochzeitsgesellschaft läßt sich kaum beschreiben. Man wollte einen der beiden Termofelesse überreden, sich wieder pulverisieren zu lassen, um so die leidige Situation zu bereinigen, doch alle Bemühungen schlugen fehl, denn beide behaupteten hartnäckig, der richtige, der einzig wahre Termofeles zu sein. Die Angelegenheit kam vor Gericht und durchlief verschiedene Instanzen. Leider fällte das höchste Gericht seinen Spruch erst nach meiner Abreise, so daß ich nicht schildern kann, wie die Sache ausging.*
  Die Bischuten redeten mir freundlich zu, doch auch einmal ihre Art des Ruhens und Reisens zu probieren, sie beteuerten, Irrtümer wie der oben erwähnte zählten zu den größeren Seltenheiten, und

*
Anmerkung der Redaktion: Wie wir erfahren haben, sah das Urteil die Pulverisierung beider Verlobter vor und danach die Wiederherstellung eines Individuums; ein wahrhaft salomonisches Urteil.
der Vorgang als solcher enthalte nichts Rätselhaftes oder Widernatürliches, denn die lebenden Organismen seien, wie jeder wisse, aus der gleichen Materie zusammengesetzt wie alle uns umgebenden Gegenstände, Planeten und Sterne; der Unterschied liege lediglich in der wechselseitigen Verbindung zwischen den Teilchen und ihrem System. Ihre Argumente leuchteten mir ohne weiteres ein, dennoch stellte ich mich taub gegen alle Bitten.
  Eines Abends hatte ich ein seltsames Erlebnis. Ich trat in das Haus eines mir bekannten Bischuten, ohne mich telefonisch angemeldet zu haben. Da ich den Raum leer fand, öffnete ich auf der Suche nach dem Hausherrn der Reihe nach verschiedene Türen (bei der unglaublichen, für die Wohnverhältnisse der Bischuten jedoch normalen Enge!), machte schließlich eine Tür auf, die kleiner war als alle andren, und erblickte das Innere eines Kühlschranks oder dergleichen, das leer war mit Ausnahme eines Faches. Dort stand eine mit aschgrauem Pulver gefüllte Kassette. Gedankenlos nahm ich eine Handvoll davon, da schlug eine Tür, und ich ließ das Pulver vor Schreck fallen.
  »Was tust du, verehrter Fremder?« Es war das Söhnchen des Bischuten. »Gib acht, du verschüttest meinen Papa!«
  Als ich das hörte, erschrak ich und war zutiefst betrübt, doch der Kleine rief: »Das macht nichts, gräm dich nicht!« Er rannte hinaus und kam wenige Minuten später mit einem Stück Kohle, einer Tüte Zucker, einer Prise Schwefel, einem kleinen Nagel und einer Handvoll Sand wieder; das alles warf er in die Kassette, schloß die Tür und drückte auf den Schalter. Ich vernahm ein dumpfes Seufzen oder Schmatzen, das Türchen ging auf, und mein Bekannter trat heraus, belustigt über meine Verwirrung, gesund und völlig intakt. Später fragte ich ihn, ob ich ihm dadurch, daß ich einen Teil seiner Materie verschüttete, einen Schaden zugefügt hätte, und wie sein Sohn die Sache so leicht habe in Ordnung bringen können.
  »Ach, das ist überhaupt nicht der Rede wert«, meinte er, »Du hast mir in keiner Weise geschadet, wie solltest du! Die Ergebnisse der physiologischen Untersuchungen dürften dir, lieber Fremdling, ja bekannt sein. Sie besagen, daß sämtliche Atome unseres Körpers ständig durch neue ausgetauscht werden, die einen Verbindungen zerfallen, andere wieder entstehen; was abgeht, wird durch aufgenommene Nahrung und Getränke sowie durch die Atmungsprozesse ersetzt. Das alles zusammen heißt Stoffwechsel. Die Atome also, aus denen dein Leib vor einem Jahr bestand, haben ihn längst verlassen und schweben in fernen Gefilden; unveränderlich bleibt einzig die allgemeine Struktur des Organismus, das wechselseitig bedingte System der Stoffmoleküle. In der Art, wie mein Kleiner den zu meiner Wiederherstellung notwendigen Stoffvorrat ergänzt hat, liegt nichts Außergewöhnliches, unsere Körper bestehen doch aus Kohle, Schwefel, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und einer Spur Eisen. Die Substanzen, die er gebracht hat, enthalten die genannten Elemente. Bitte versuch es einmal, und du wirst sehen, wie harmlos der ganze Vorgang ist…«
  Vorläufig schlug ich das freundliche Anerbieten aus. Lange noch konnte ich mich nicht entscheiden; am Ende jedoch rang ich mich zu dem kühnen Entschluß durch – es kostete mich allerhand Überwindung! Ich ließ mich im Röntgeninstitut durchleuchten und meine atomare Personenbeschreibung anfertigen, danach begab ich mich zu meinem Bekannten. Ich hatte einige Schwierigkeiten, mich mit meiner recht ansehnlichen Leibesfülle in den Apparat zu quetschen, und bedurfte der tatkräftigen Unterstützung des höflichen Hausherrn und seiner ganzen Familie. Doch es gelang: Die Tür schloß, und es wurde dunkel.
  Was hinterher geschah, ist mir unbekannt. Ich fühlte nur meine höchst unbequeme Lage; die Kante des Faches drückte gegen mein Ohr. Doch bevor ich mich zu rühren wagte, öffnete sich die Tür, und ich war frei. Auf meine Frage, warum man das Experiment nicht ausgeführt habe, erklärte der Hausherr mit heiterem Lächeln, das sei ein Irrtum. Ein Blick auf die Wanduhr belehrte mich, daß ich tatsächlich zehn Stunden bewußtlos in dem Pulverisator verweilt hatte. Die einzige, übrigens geringfügige Unstimmigkeit bestand darin, daß meine Taschenuhr nicht weitergegangen war; aber wie sollte es anders sein, war sie doch ebenso wie ich in Atome zerstäubt worden.
  Die Bischuten, mit denen mich bald eine überaus herzliche Freundschaft verband, erzählten mir, daß der Apparat noch bei anderen Gelegenheiten verwendet würde: Bei ihnen herrsche der Brauch, daß sich hervorragende Gelehrte fünfzig und mehr Jahre darin aufhalten, wenn ihnen ein unlösbares Problem keine Ruhe läßt, sodann wiederauferstehen, um in der Welt herumzufragen, ob das betreffende Problem schon gelöst sei. Wenn nicht, so lassen sie sich von neuem atomisieren, bis sie ihr Ziel schließlich einmal erreichen.
  Da mein erstes Experiment so positiv abgelaufen war, überwand ich meine Ängstlichkeit und fand so viel Geschmack an dieser ungewohnten Schlafmethode, daß ich nicht nur die Nächte, sondern jeden freien Augenblick in atomisiertem Zustand verbrachte. Ich hatte auch im Park und auf der Straße Gelegenheit dazu, denn überall standen die briefkastenähnlichen Apparate mit den kleinen Türen. Man durfte nur nicht vergessen, den Wecker auf die richtige Zeit zu stellen; Zerstreute versäumen das bisweilen, und sie könnten in alle Ewigkeit so ruhen, wären nicht Kontrolleure eingesetzt, die allmonatlich sämtliche Pulverisatoren überprüfen.
  Als meine Abreise kurz bevorstand, fand der Brauch der Planetenbewohner bereits meine uneingeschränkte Begeisterung, und ich wandte ihn, wie gesagt, auf Schritt und Tritt an. Diese Unbesonnenheit mußte ich jedoch büßen. Als ich nämlich wieder einmal einen Apparat benutzte, klemmte dieser, und als der Wecker morgens die Kontakte einschaltete, gewann ich nicht meine gewohnte Gestalt zurück, sondern sah mich als Napoleon Bonaparte in Kaiseruniform wieder, mit der Trikoloreschärpe der Ehrenlegion, einen Säbel an der Seite, einen goldbeschwerten Dreispitz auf dem Haupt, Zepter und Reichsapfel in der Hand – und so trat ich vor meine erstaunten Bischuten. Sie rieten mir, mich im nächsten einwandfrei arbeitenden Gerät umbilden zu lassen, was auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen würde, da meine getreue Personenbeschreibung ja vorliege, aber ich empfand plötzlich solchen Wider willen gegen die Idee des Pulverisierens an sich, daß ich mich damit begnügte, den Dreispitz in eine Ohrenkappe, den Säbel in ein Eßbesteck und das Zepter nebst Apfel in einen Regenschirm umzuwandeln. Als ich wieder am Steuer meiner Rakete saß und der Planet hinter mir im Dunkel der ewigen Nacht versank, kam es mir plötzlich in den Sinn, daß ich leichtfertig gehandelt hatte, mich solcher greifbaren Beweise zu berauben – sie hätten meine Worte bekräftigen können! Aber es war schon zu spät.






VIERUNDZWANZIGSTE REISE




Tausendsechs Tage, nachdem ich das Lokalsystem im Nebelfleck der Nereide verlassen hatte, bemerkte ich auf dem Leuchtschirm meiner Rakete einen Fleck, den ich mit einem Lederlappen abzureiben versuchte. Mangels anderer Beschäftigung polierte und putzte ich vier Stunden an dem Schirm, bis ich dahinterkam, daß der Fleck ein Planet war, der sehr rasch größer wurde. Bei der Umkreisung dieses Himmelskörpers beobachtete ich mit nicht geringem Erstaunen, daß seine weiten Kontinente von regelmäßigen geometrischen Mustern und Dessins überzogen waren. Ich landete unter Einhaltung der nötigen Vorsichtsmaßregeln mitten in einer offenen Wüste. Sie war von kleinen runden Scheiben bedeckt, jede von etwa einem halben Meter Durchmesser; hart und glänzend, wie gewalzt, zogen sie sich in langen Reihen nach verschiedenen Seiten hin in figürlicher Anordnung, wie ich sie zuvor aus beträchtlicher Höhe gesichtet hatte. Ich unterbrach vorerst meine Nachforschungen, setzte mich ans Steuer und glitt dicht über dem Boden dahin, nach einer Lösung des Rätsels Ausschau haltend, das mich höchlich beschäftigte. Auf dem zweistündigen Flug entdeckte ich drei schöne große Städte; in einer stieg ich aus – sie war leer; Häuser, Türme und Plätze – alles war wie ausgestorben, nirgends eine Spur Leben, dabei gab es keine Anzeichen eines gewaltsamen Eingriffs oder einer Naturkatastrophe. Mit wachsender Verwirrung setzte ich den Flug fort. Gegen Mittag kurvte ich über einem ausgedehnten Hochplateau. Als ich einen funkelnden Bau bemerkte, in dessen Umgebung sich etwas bewegte, landete ich. Aus der steinigen Ebene ragte ein Palast auf, der in seiner vollen Größe strahlte, als wäre er aus einem einzigen Diamanten geschnitzt; eine breite Marmortreppe führte zu seinem goldenen Portal, davor schwärmte eine etwa hundertköpfige Menge mir unbekannter Wesen. Ich betrachtete sie von nahem und gelangte zu dem Schluß, daß sie, wenn mich meine Augen nicht täuschten, zweifellos lebendig waren; überdies glichen sie uns Menschen, zumal von weitem, fast aufs Haar, so daß ich ihnen unverzüglich den Namen animal hominiforme gab; unterwegs hatte ich mir nämlich schon verschiedene Bezeichnungen zurechtgelegt, um sie für solche Gelegenheiten bereit zu haben. Animal hominiforme, das traf tatsächlich zu, denn die Geschöpfe liefen auf zwei Beinen, hatten Hände, Kopf, Augen, Ohren und Mund; allerdings saß der Mund mitten auf der Stirn, die Ohren waren unter dem Kinn (paarweise zu beiden Seiten), und Augen gab es gleich zehn, die in Kränzen auf den Wangen prangten; aber für einen Weltreisenden, der wie ich auf seinen Fahrten die sonderbarsten Gebilde kennengelernt hatte, mußten diese Wesen eine überraschende Menschenähnlichkeit haben.

  Als ich mich ihnen auf eine annehmbare Entfernung genähert hatte, fragte ich sie nach ihrem Treiben. Statt zu antworten, starrten sie eifrig in die Diamantspiegel, die auf der untersten Stufe aufgestellt waren. Ich versuchte, sie aus dieser Tätigkeit herauszureißen, einmal, zweimal, dreimal; als ich aber sah, daß dies überhaupt keinen Erfolg hatte, rüttelte ich vor Ungeduld einen von ihnen heftig an der Schulter. Nun wandten sie sich alle nach mir um, betrachteten verwundert mich und meine Rakete, als hätten sie beide erst jetzt bemerkt, und stellten einige Fragen, die ich bereitwillig beantwortete. Da sie alle Augenblicke das Gespräch unterbrachen, um in die Diamantspiegel zu schauen, fürchtete ich schon, sie nicht gründlich ausforschen zu können, doch ließ sich endlich einer von ihnen bewegen, gewissenhaft meine Neugier zu befriedigen. Mit diesem Indioten nun – so hießen sie, wie er mir sagte – hockte ich mich unweit der Treppe auf einen Stein. Ich durfte froh sein, daß mir der Zufall ihn zum Gesprächspartner bestimmt hatte, denn er zeichnete sich durch überdurchschnittliche Intelligenz aus, wie der Glanz seiner zehn strahlenden Augen verriet. Nachdem er die Ohrlöffel hinter den Schultern angelegt hatte, schilderte er mir die Geschichte seines Stammes. Hier der Bericht: »O fremder Wanderer! Wisse, daß wir ein Volk mit einer langen, herrlichen Vergangenheit sind. Die Bevölkerung dieses Planeten ist seit Urzeiten in Spiriten, Erlauchte und Minderlinge, aufgeteilt. Die Spiriten vertieften sich in das Wesen des Großen Inda, der in einem schöpferischen Willensakt die Indioten erschuf, sie auf dieser Weltenkugel seßhaft machte und diese in seiner unerforschlichen Gnade mit Sternen umgab, die in den Nächten scheinen; ferner entfachte er das Sonnenfeuer, auf daß es unsere Tage erhelle und uns wohltuende Wärme spende. Die Erlauchten setzten die Abgaben fest, legten die Staatsgesetze aus und nahmen sich der Fabriken an, in denen die Minderlinge bescheiden ihr Tagewerk verrichteten. So arbeiteten alle gemeinsam zum Wohle der Allgemeinheit. Wir lebten in Frieden, Eintracht und Harmonie; unsere Zivilisation stand bald in hoher Blüte. Im Laufe der Jahrhunderte bauten die Erfinder Maschinen, die die Arbeit erleichterten, und dort, wo im Altertum hundert Minderlinge ihre schweißüberströmten Rücken beugen mußten, bedienten Jahrhunderte später nur noch zwei oder drei eine Maschine. Unsere Gelehrten vervollkommneten die Maschinen immer mehr, und das Volk freute sich; jedoch die nahenden Ereignisse bewiesen, wie fehl am Platze diese Freude gewesen war. Ein gelehrter Konstrukteur hatte Neue Maschinen geschaffen, so vortrefflich, daß sie ganz selbständig zu arbeiten vermochten, ohne jede Kontrolle. Und da fing die Katastrophe an. Je mehr Neue Maschinen in den Fabriken auftauchten, desto mehr Minderlinge verloren ihren Arbeitsplatz, und da nun der Lohn ausblieb, waren die Massen vom Hungertode bedroht…«
  »Erlaube mir eine Frage, Indiote… Was geschah mit dem Gewinn, den die Fabriken brachten?«
  »Wieso?« entgegnete der Partner. »Der Gewinn fiel doch den rechtmäßigen Eigentümern zu, den Erlauchten. Wie gesagt, eine Katastrophe stand bevor…«