EINUNDZWANZIGSTE REISE
Als ich nach meiner Rückkehr aus dem 27.
Jahrhundert I. Tichy zu Rosenbeißer schickte, damit er den durch
mich frei gewordenen Posten im TEOPAGHIP einnahm, was er übrigens
höchst unwillig tat, und obendrein erst nach einer Woche voller
Jagd und Streit im kleinen Zeitkreis – als das also erledigt war,
stand ich vor einem ernsten Dilemma.
Alles was recht ist, aber das
Ausbessern der Geschichte hatte ich nun gründlich satt. Dabei war
es durchaus möglich, daß dieser Tichy das Projekt wiederum in eine
Sackgasse treiben und daß Rosenbeißer ihn ein weiteres Mal nach mir
schicken würde. Ich beschloß also, nicht untätig zu warten, sondern
mich in die Galaxis zu begeben, und das möglichst weit weg. Ich
reiste in größter Eile ab, weil ich befürchtete, daß die MOIRA
meine Pläne durchkreuzen könnte, doch dort herrschte nach meinem
Weggang offenbar ein völliges Durcheinander, denn niemand
interessierte sich für mich. Selbstredend wollte ich nicht an den
ersten besten Ort fliehen, deshalb nahm ich eine Menge neuer
Reiseführer und den Galaktischen Almanach mit, der während meiner
Abwesenheit stark angewachsen war. Nachdem ich mich um ein paar
Parsek von der Sonne abgesetzt hatte, begann ich diese Literatur in
aller Ruhe auszuwerten.
Wie ich mich bald überzeugte,
brachte sie viel Neues. So hatte Dr. Hopfstoßer, der Bruder jenes
bekannten Tichologen, eine periodische Tabelle der
Kosmoszivilisationen in Anlehnung an drei Prinzipien ausgearbeitet,
die es gestatteten, untrüglich die am höchsten entwickelten
Gesellschaften zu entdecken, und zwar handelte es sich um das
Prinzip des Schmutzes, das des Rauschens und das der Flecke. Jede
Zivilisation, die in der technischen Phase steckt, beginnt
allmählich in den Abfällen zu versinken, die ihr gewaltige Sorgen
bereiten, bis sie schließlich die Müllplätze in den kosmischen Raum
verlagert. Damit diese nun nicht übermäßig die Raumfahrt behindern,
werden sie auf einer besonders isolierten Umlaufbahn untergebracht.
Auf diese Weise entsteht ein ständig wachsender Ring von
Aufschüttungen, und eben daran läßt sich die höhere Fortschrittsära
erkennen.
Nach einer gewissen Zeit jedoch
ändern die Aufschüttungen ihren Charakter. In dem Maße nämlich, wie
sich die Intellektronik entwickelt, ist man gezwungen, immer
größere Mengen vom Komputerschrott loszuwerden, dem sich alte
Sonden, Sputniks und so weiter anschließen. Diese »denkenden«
Abfälle wollen sich nicht bis in alle Ewigkeit in einem
Ringmüllhaufen bewegen und stieben auseinander, wobei sie die
Umgebung des Planeten und sogar sein ganzes System ausfüllen; diese
Phase führt zur Verunreinigung des Milieus durch den Intellekt. Die einzelnen Zivilisationen
versuchen zunächst, dieses Problem unterschiedlich zu bekämpfen;
bisweilen kommt es zum sogenannten Komputerzid, so werden zum
Beispiel im All besondere Fallen, Fangnetze, Schlingen und Klemmen
gegen die psychischen Wracks angebracht, aber solche Aktionen haben
noch schlimmere Folgen, denn nur die in geistiger Hinsicht am
tiefsten stehenden Wracks lassen sich dadurch einfangen. Somit
setzt diese Taktik das Überdauern des »klügsten« Mülls voraus – er
schließt sich zu Gruppen und Banden zusammen, verübt Überfälle und
führt Kampfdemonstrationen durch, wobei er schwer zu erfüllende
Postulate vorbringt, denn er verlangt Ersatzteile und Lebensraum.
Wird ihm das abgelehnt, so übertönt der Unrat die
Rundfunkverbindungen, schaltet sich in Sendungen ein, verbreitet
eigene Proklamationen, so daß der Planet auf dieser
Entwicklungsstufe schließlich von einem solchen Krachen und Heulen
im Äther umgeben ist, daß einem die Trommelfelle platzen. Und eben
an diesem Krachen kann man sogar aus weiter Entfernung jene
Zivilisationen erkennen, die von der intellektuellen Befleckung
geplagt sind. Es mutet eigenartig an, wie lange die irdischen
Astronomen nicht begriffen haben, woran es liegt, daß der Kosmos
von Geräuschen und anderem sinnlosen Lärm widerhallt, wenn man ihn
mit Radioteleskopen abhört; es handelt sich eben um diese
Störsendungen, eine Folge der genannten Konflikte, und sie
erschweren erheblich die Aufnahme von interstellaren
Verbindungen.
Schließlich verraten auch
Sonnenflecken, jedoch solche von besonderer Form und von einer
besonderen chemischen Zusammensetzung, die sich spektroskopisch
feststellen läßt, das Vorhandensein der am höchsten entwickelten
Zivilisationen, die sowohl die Barriere des Mülls als auch die des
Rauschens durchstoßen haben. Diese Flecken entstehen, wenn
gewaltige Mengen dieser in Jahrhunderten angewachsenen Abfälle sich
von selbst gleich Motten in die Flammen der lokalen Sonne stürzen,
um selbstmörderisch darin umzukommen. Diese Manie wird durch
besondere depressive Mittel ausgelöst, denen alles erliegt, was
elektrisch denkt. Die Methode des Ausstreuens solcher Mittel ist
höchst grausam, doch die Existenz im Kosmos und gar das Errichten
von Zivilisationen darin ist leider keine Idylle.
Nach Dr. Hopfstoßers Theorie
bilden diese drei aufeinanderfolgenden Entwicklungsetappen die
eherne Gesetzmäßigkeit menschenförmiger Zivilisationen. Was die
anderen betrifft, so weist die periodische Tabelle des
Wissenschaftlers noch gewisse Lücken auf. Mir machte das nichts
aus, denn aus verständlichen Gründen interessierte ich mich gerade
für Wesen, die uns am meisten ähneln. Daher verfertigte ich mir auf
der Grundlage der Beschreibung, die Hopfstoßer im Almanach
veröffentlicht hatte, einen Detektor für »WC« (wesentliche
Zivilisationen) und tauchte bald in der großen Gruppe der Hyaden
unter. Von dort ertönte nämlich ein besonders starkes störendes
Rauschen, dort waren die meisten Planeten von Müllringen umgeben,
und dort bedeckte auch ein fleckiger Aussatz mit einem Spektrum
seltener Elemente einige Sonnen – der stumme Ausdruck für die
Vernichtung künstlichen Verstandes.
Da die letzte Nummer des
Almanachs Fotos von Geschöpfen aus Dychthonien enthielt, die den
Menschen so sehr glichen wie ein Wassertropfen dem anderen,
beschloß ich, auf diesem Planeten zu landen. Zwar mochten diese
Fotos, die von Dr. Hopfstoßer über Funk empfangen worden waren, im
Hinblick auf die beträchtliche Entfernung von tausend Lichtjahren
etwas veraltet sein, aber dennoch näherte ich mich auf einer
Hyperbel voller Optimismus Dychthonien und ersuchte, nachdem ich
auf eine Kreisumlaufbahn gegangen war, um Landeerlaubnis.
Eine solche Erlaubnis zu erlangen
ist im allgemeinen schwieriger, als galaktische Räume zu
überwinden, denn die Entwicklung der Bürokratie ist durch einen
höheren Exponenten gekennzeichnet als die Navigation; daher sind
Formulare, ohne die man an ein Einreisevisum nicht denken kann,
viel wichtiger als ein Photonenreaktor, als Bildschirme,
Brennstoff, Sauerstoff und anderes. Ich bin mit alledem vertraut,
also war ich auf ein langes, ja monatelanges Kreisen um Dychthonien
gefaßt, nicht aber darauf, was mir dort widerfuhr.
Wie ich bald feststellte,
erinnerte der Planet mit seinem Blau an die Erde; er war von
Ozeanen bedeckt und hatte drei Kontinente, die sicherlich
zivilisiert waren: Schon auf einem fernen Perimeter mußte ich
tüchtig zwischen Kontroll- und Beobachtungssputniks, zwischen
solchen, die hereinschauten und dumpfes Schweigen wahrten,
lavieren; die letzteren mied ich auf jeden Fall mit äußerster
Sorgfalt. Niemand antwortete auf meine Petitionen; dreimal reichte
ich Gesuche ein, aber niemand verlangte, daß ich meine Papiere über
das Fernsehen zeigte, nur von einem Kontinent – er hatte die Form
einer Niere – schoß man mir eine Art Triumphbogen aus synthetischem
Tannengrün, umwickelt von bunten Bändern und Fähnchen, entgegen,
der offenbar mit ermunternden Aufschriften versehen war, aber sie
waren so allgemein gefaßt, daß ich mich nicht entschließen konnte,
durch dieses Tor zu fliegen. Der nächste Kontinent, über und über
mit Städten bedeckt, schleuderte mir eine milchweiße Pulverwolke
entgegen, die alle meine Bordkomputer so verwirrte, daß sie
unverzüglich versuchten, das Raumschiff auf die Sonne zu richten –
ich mußte sie also ausschalten und zur Handsteuerung übergehen. Der
dritte Kontinent, der schwächer urbanisiert zu sein schien und in
üppigem Grün versank, der größte, schoß mir nichts entgegen,
begrüßte mich mit gar nichts, also suchte ich mir einen abgelegenen
Platz aus, bremste und setzte die Rakete vorsichtig in einem
Panorama malerischer Hügel und Felder nieder, die mit Kohlrabi oder
mit Sonnenblumen bewachsen zu sein schienen; ich konnte das aus der
Höhe nicht gut ausmachen.
Wie gewöhnlich klemmte die Tür,
weil sie von der atmosphärischen Reibung erhitzt war, und ich mußte
eine gute Weile warten, bevor es mir gelang, sie zu öffnen. Ich sah
hinaus, atmete die frische, belebende Luft ein und stellte unter
Einhaltung der unerläßlichen Vorsichtsmaßnahmen meinen Fuß auf die
unbekannte Welt.
Ich befand mich am Rande eines
offenbar bestellten Ackers, aber das, was darauf wuchs, hatte
nichts mit Sonnenblumen oder mit Kohlrabi gemein, es waren
überhaupt keine Pflanzen, sondern Nachtschränkchen, also eine Art
Möbel – und als ob das noch nicht genügte, waren hier und dort
zwischen ihren recht gleichmäßigen Reihen Vitrinen und Hocker oder
Schemel zu sehen. Nach einiger Überlegung gelangte ich zu dem
Schluß, daß dies Produkte einer biotischen Zivilisation waren;
solchen war ich schon früher begegnet. Die alpdruckhaften Visionen,
die gewisse Futurologen bisweilen von einer Zukunftswelt entwerfen,
die durch Abgase vergiftet, vollgeraucht und in der energetischen
oder thermischen Barriere steckengeblieben ist, sind unsinnig: In
der nachindustriellen Entwicklungsphase bildet sich eine biotische
Ingenieurkunst heraus, die alle Probleme dieser Art liquidiert. Die
Beherrschung der Lebenserscheinungen gestattet es, künstliche
Keimlinge zu produzieren, die man überall pflanzen kann: Man
beträufelt sie mit einer Handvoll Wasser, und im Nu wächst das
erforderliche Objekt daraus hervor. Um die Frage, woher ein solcher
Keimling die Kenntnisse und die Energie für eine Radio- oder
Schrankgenese nimmt, braucht man sich ebensowenig zu kümmern, wie
wir uns nicht dafür interessieren, woher Unkrautsamenkorn die Kraft
und das Wissen nimmt, aufzugehen.
Deshalb wunderte ich mich nicht
über das Feld voller Vitrinen und Nachtschränkchen, sondern über
den Umstand, daß sie völlig entartet waren. Das Nachtschränkchen,
das mir am nächsten war und das ich zu öffnen versuchte, hätte mir
mit seiner gezahnten Schublade beinahe die Hand abgebissen; ein
zweites, das neben ihm wuchs, zitterte in dem sanften Hauch des
Windes wie Gelee, und ein Taburett, an dem ich vorbeiging, stellte
mir ein Bein, so daß ich der Länge nach hinschlug. So dürfen sich
Möbel nun wirklich nicht benehmen; etwas war mit dieser Aufzucht
also nicht in Ordnung. Während ich weiterging, nunmehr mit der
größten Vorsicht, den Finger am Abzug des Blasters, stieß ich in
einer flachen Bodensenke auf ein Dickicht im Stil Louis XV, aus dem
ein wildgewordenes Kanapee auf mich losstürzte und mich
wahrscheinlich mit seinen vergoldeten Hufen getreten hätte, wenn
ich es nicht mit einem gezielten Schuß niedergestreckt hätte. Ich
kroch eine Zeitlang zwischen den Büschen von Möbelgarnituren umher,
die nicht nur eine Hybridisierung von Stilen, sondern auch von
Sinnen verrieten; da wucherten Mischungen aus Anrichten und
Ottomanen, gabelförmige Regale, und die weit geöffneten und
gewissermaßen in ihr tiefes Inneres einladenden Schränke waren gar
raubtierhaft, wenn man nach den Überresten urteilen wollte, die zu
ihren Füßen lagen.
Da ich immer deutlicher erkannte,
daß das kein geordneter Anbau, sondern ein Chaos war, suchte ich
mir, müde und erhitzt von der Glut, denn die Sonne stand im Zenit,
einen ausnahmsweise ruhigen Sessel aus und setzte mich darauf, um
über meine Lage nachzudenken. Ich saß so im Schatten einiger
großer, wenn auch verwildeter Kommoden mit zahlreichen Trieben in
Gestalt von Kleiderbügeln, als etwa hundert Schritt von mir
entfernt, inmitten hoch wuchernder Gardinenstangen ein Kopf
auftauchte, ein Kopf und mit ihm der Rumpf eines Geschöpfes. Es sah
mir nicht nach einem Menschen aus, hatte aber bestimmt nichts mit
Möbeln gemein. Aufrecht stand es da, sein blondes Fell glänzte; das
Gesicht sah ich nicht, denn es war von einer breiten Hutkrempe
beschattet. Statt eines Bauches hatte es eine Art Tamburin, die
Arme waren spitzig und gingen in doppelte Hände über; es summte
leise und schien sich auf dieser Bauchtrommel zu begleiten. Es tat
einen, dann einen zweiten Schritt nach vorn, so daß sich seine
ganze Ges talt zeigte. Jetzt erinnerte es an einen Zentauren, an
einen barfüßigen, ohne Hufe. Hinter dem zweiten Beinpaar zeigte
sich ein drittes, dann ein viertes, und als das Geschöpf im Sprung
losstürmte und ins Dickicht stürzte, wo es mir aus den Augen
geriet, konnte ich nicht weiterzählen, doch hundert Beine waren es
nun auch wieder nicht, das stand fest.
Ich ruhte auf dem gepolsterten
Sessel, verdutzt über die seltsame Begegnung, bis ich mich erhob
und weiterging, immer darauf bedacht, daß ich mich nicht zu weit
von der Rakete entfernte. Zwischen ausgewachsenen Sofas, die alle
hochkant standen, erblickte ich steinerne Trümmer und dahinter so
etwas wie einen Kanaleingang. Als ich näher trat, um in die dunkle
Tiefe zu blicken, vernahm ich hinter mir ein Geräusch; ich wollte
mich umdrehen, aber ein Tuch fiel mir auf den Kopf, ich zappelte,
doch vergebens, denn schon hielten mich stählerne Arme umfangen.
Jemand griff nach meinen Kniekehlen, und ich spürte, während ich
erfolglos strampelte, wie man mich hochhob und dann an den
Schultern und an den Beinen packte. Man trug mich wahrscheinlich
irgendwo hinunter, ich hörte den Widerhall von Schritten auf
steinernen Platten, eine Tür ächzte, man warf mich auf die Knie und
riß mir den Stoff vom Kopf.
Ich befand mich in einem kleinen
Raum, der von weißen Lampen erhellt war; sie hingen an der Decke,
hatten Schnurrbärte und Füße und wechselten von Zeit zu Zeit den
Ort. Ich kniete am Boden, im Nacken hielt mich jemand fest, der
hinter mir stand, vor mir war ein Tisch aus ungehobeltem Holz,
dahinter saß eine Gestalt in einer grauen Kapuze, die auch das
Gesicht verhüllte. Die Kapuze hatte Augenöffnungen, die von
durchsichtigen Scheibchen verschlossen waren. Die Gestalt schob ein
Buch beiseite, in dem sie wohl gerade geblättert hatte, sah mich
flüchtig an und sagte mit ruhiger Stimme zu dem, der mich noch
immer festhielt: »Zieh ihm die Saite heraus.«
Jemand ergriff mich am Ohr und
zog daran, so daß ich vor Schmerz aufschrie. Noch zweimal versuchte
man, mir die Ohrmuschel abzureißen, aber als das nicht gelang, trat
eine gewisse Be stürzung ein. Derjenige, der mich festhielt und
mich an den Ohren zog – er war ebenfalls in grobes graues Leinen
gehüllt –, rechtfertigte sich mit der Bemerkung, daß es sich um ein
neues Modell handeln müsse. Ein anderer Kerl trat an mich heran und
versuchte, mir der Reihe nach die Nase, die Brauen und schließlich
den ganzen Kopf abzudrehen; als auch das nicht die erwartete
Wirkung zeitigte, befahl der Mann am Tisch, mich
loszulassen.
»Wie tief bist du versteckt?«
fragte er.
»Wie bitte?« fragte ich verdutzt.
»Ich verstecke mich nirgends, und ich begreife auch nichts. Warum
quält ihr mich?«
Das Wesen stand auf, ging um den
Tisch herum und faßte mich an den Schultern – mit Händen von
menschlicher Form, die jedoch in Stoffhandschuhen staken. Nachdem
es meine Knochen ertastet hatte, stieß es einen kleinen Schrei der
Verwunderung aus. Auf ein Zeichen führte man mich durch einen Gang,
an dessen Decke Lampen entlangwanderten, die sich offenbar
langweilten. Ich kam in eine andere Zelle oder eigentlich in eine
Kammer, die finster war wie ein Grab. Ich wollte nicht hineingehen,
wurde aber mit Gewalt hineingestoßen; die Tür knallte hinter mir
zu, etwas rauschte, und ich vernahm eine Stimme hinter einer
unsichtbaren Schranke, die wie in himmlischer Ekstase rief: »Gott
sei Dank! Ich kann alle seine Knochen zählen!« Nachdem ich diese
Stimme vernommen hatte, widersetzte ich mich noch heftiger denen,
die mich gleich wieder aus dem finsteren Loch herauszerrten; als
ich aber sah, wie sie mir gänzlich unerwartet Achtung zollten, wie
sie mich mit höflichen Gesten einluden und mir mit ihrer ganzen
Haltung Reverenz erwiesen, ließ ich mich weiter in den
unterirdischen Gang führen, der einem städtischen Abwässerkanal
ähnelte, obwohl er sauber war – die Wände waren gekalkt, und feiner
sauberer Sand bedeckte den Boden. Die Hände hatte ich bereits frei,
so daß ich mir unterwegs die schmerzenden Stellen im Gesicht und am
Körper zu massieren begann.
Zwei Wesen in bodenlangen grauen
Gewändern und Kapuzen, mit einer Schnur umwunden, öffneten vor mir
eine aus Brettern gezimmerte Tür. Im Hintergrund der Zelle, die etwas größer war als jene, in der man
versucht hatte, mir Nase und Ohren abzuschrauben, stand sichtlich
gerührt eine maskierte Gestalt, die mich offenbar erwartete. Nach
einer Unterhaltung, die eine Viertelstunde dauerte, stellte sich
mir die Lage ungefähr folgendermaßen dar: Ich befand mich im Hospiz
eines lokalen Ordens, der sich entweder vor Verfolgung versteckte
oder der verbannt war; man hatte mich für ein »provozierendes«
Lockmittel gehalten, weil mein Aussehen – Gegenstand der
Anerkennung der Brüder des Destruktianerordens – nach dem Gesetz
verboten war. Der Prior – ihn hatte ich vor mir – erläuterte mir
folgendes: Wäre ich ein Köder gewesen, so hätte ich aus Segmenten
bestanden, die zerfallen wären, wenn man mir mit dem Ohr die
»innere Saite« herausgerissen hätte. Was die andere Frage betrifft,
die mir der untersuchende Mönch (ein älterer Pförtnerbruder)
gestellt hatte, so war er der Annahme gewesen, ich sei eine Art
Plastikmannequin mit eingebautem Komputer. Erst die Durchleuchtung
mit Röntgenstrahlen hatte den Sachverhalt geklärt.
Der Prior, Pater Dyzz Darg,
entschuldigte sich sehr herzlich für das peinliche Mißverständnis
und fügte hinzu, daß er zwar bereit sei, mir die Freiheit
wiederzugeben, mir aber nicht rate, an die Oberfläche
hinaufzugehen, weil ich dort in ernste Gefahr geraten würde – ich
sei nämlich absolut zensurwidrig. Es wäre auch kein Schutz für
mich, wenn man mich mit einer Wämpe und mit angesaugten Rüpsen
versähe, da ich mich dieser Tarnung nicht bedienen könne. Es gebe
für mich also keinen besseren Ausweg, als bei ihnen, den
Destruktianermönchen, zu bleiben, und zwar als teurer und lieber
Gast. Nach Maßgabe ihrer leider bescheidenen Möglichkeiten würden
sie sich bemühen, mir meine Zwangslage zu versüßen.
Das sagte mir nicht gerade zu,
aber der Prior erweckte in mir durch seine Würde, seine Ruhe und
durch die sachliche Sprache Vertrauen, obwohl ich mich nicht an
seine verhüllte Gestalt gewöhnen konnte; er war gekleidet wie alle
anderen Mönche. Ich wagte es nicht, ihn sogleich mit Fragen zu
bestürmen, also unter hielten wir uns über das Wetter auf der Erde
und auf Dychthonien, denn er wußte bereits von mir, woher ich
gekommen war, dann über die Mühsal der kosmischen Reisen, und
schließlich sagte er mir, er vermute, daß ich hinsichtlich der
lokalen Angelegenheiten eine gewisse Neugier verspüre, aber damit
habe es keine Eile, da ich mich ohnedies vor den Organen der Zensur
verbergen müsse. Ich würde, als ein geehrter Gast, eine eigene
Zelle erhalten, würde einen jungen Mönchsbruder zu meiner Verfügung
haben, der angewiesen sei, mir mit Rat und Hilfe beizustehen;
überdies stünde mir die ganze Ordensbibliothek offen. Und da sie
unzählige Prohibita und Raritäten enthalte, die sich auf schwarzen
Listen befänden, würde ich aus dem Zufall, der mich in die
Katakomben geführt habe, vielleicht mehr Nutzen ziehen als
woanders.
Ich dachte, daß wir uns nunmehr
trennen würden, denn der Prior war aufgestanden, aber er fragte
mich nach einem gewissen Zögern, ob ich ihm gestatte, mein »Wesen«
zu berühren. Tief seufzend, als empfände er unsagbares Leid oder
unfaßbare Sehnsucht, berührte er mit seinen harten Fingern in
Handschuhen meine Nase, meine Stirn, meine Wangen, und als er mir
über das Haar strich (ich hatte den Eindruck, daß die Faust dieses
Geistlichen aus Eisen sei), schluchzte er sogar leise. Diese
Symptome von unterdrückter Rührung betörten mich vollends. Ich
wußte nicht, wonach ich zuerst fragen sollte, nach den verwilderten
Möbeln oder nach dem vielfüßigen Zentaurus oder auch nach der
Zensur, aber ich zwang mich zu vernünftiger Geduld und schwieg. Der
Prior versicherte mir, daß die Ordensbrüder die Tarnung der Rakete
auf sich nehmen würden, und zwar wolle man eine an Elephantiasis
erkrankte Orgel vortäuschen. Danach schieden wir,
Höflichkeitsfloskeln tauschend, voneinander.
Die Zelle, die mir zugewiesen
wurde, war nicht groß, aber behaglich, das Lager jedoch verteufelt
hart. Erst nahm ich an, die Destruktianermönche hätten eine solche
strenge Regel, aber dann erwies es sich, daß man mir das Bett aus
reiner Zerstreutheit nicht gepolstert hatte. Vorerst verspürte ich
keinen Hunger, abgesehen von dem nach Information. Der junge
Bruder, der mir beigegeben war, brachte mir einen ganzen Armvoll
historischer und philosophischer Werke; ich vertiefte mich darin
bis in die späte Nacht hinein. Zunächst störte mich bei der
Lektüre, daß sich die Lampe einmal näherte, dann wieder in die
andere Ecke des Raumes verzog. Später erst erfuhr ich, daß sie ab
und zu ein Bedürfnis verrichten ging und daß man ihr zuschnalzen
müsse, um sie an die vorherige Stelle zurückzubeordern.
Der junge Mönchsbruder riet mir,
die Studien mit dem kurzen, aber instruktiven Werk über die
dychthonische Geschichte von Abus Grags zu beginnen, einem
offiziellen, aber, wie er sich ausdrückte, »relativ objektiven«
Geschichtsschreiber. Ich folgte seinem Rat.
Noch um das Jahr 2300 glichen die
Dychthonen wie Zwillinge den Menschen. Obschon der Fortschritt der
Wissenschaft von einer Laizisierung des Lebens begleitet war, hatte
dennoch der Duismus, ein Glaube, der auf Dychthonien zwanzig
Jahrhunderte lang fast ungeteilt herrschte, auch die weitere
Zivilisationsbewegung geprägt. Der Duismus verkündet, daß jedes
Leben zwei Tode habe, einen vorderen und einen hinteren, das heißt
den vor der Geburt und den nach der Agonie. Die dychthonischen
Theologen schlugen vor Verwunderung die Hände zusammen, als sie
dann von mir hörten, daß man auf der Erde nicht so dächte und daß
es Kirchen gäbe, die sich nur für ein Dasein interessierten,
nämlich für das nach dem Tode. Sie konnten nicht begreifen, daß den
Menschen zwar der Gedanke, es werde sie dereinst nicht mehr geben,
unangenehm sei, nicht dagegen die Vorstellung, daß es sie vorher
auch nicht gegeben habe.
Der Duismus änderte im Laufe der
Jahrhunderte seinen dogmatischen Kern, aber immer zeigte er großes
Interesse für die eschatologische Problematik, was nach Professor
Grags eben zu den frühen Versuchen führte, eine
Unsterblichkeitstechnologie in Gang zu bringen. Bekanntlich sterben
wir durch das Altern; wir werden alt und unterliegen einem
körperlichen Verfall, weil wir eine unerläßliche Information
verlieren: Die Zellen vergessen mit der Zeit, was sie tun müssen,
um nicht zu zerfallen. Die Natur liefert auf die Dauer ein solches
Wissen nur den Geschlechtszellen, denn die anderen gehen sie nichts
an. So gesehen ist das Altern also das Vergeuden einer
lebenswichtigen Information.
Bragger Fizz, der Erfinder des
ersten Immortalisators, baute ein Aggregat, das sich um den
Mechanismus des Menschen sorgte (ich werde diesen Ausdruck
benutzen, wenn ich die Dychthonier meine, weil das praktischer ist)
und jede Prise Information sammelte, die die körperlichen Zellen
verloren. Er sammelte sie und führte sie ihnen erneut zu. Der erste
Dychthonier, Dgunder Brabs, an dem man das verewigende Experiment
durchführte, wurde nur für ein Jahr unsterblich. Länger konnte er
nicht durchhalten, denn er wurde von sechzig Maschinen überwacht,
die mit Myriaden unsichtbarer goldener Drähtchen in alle Winkel
seines Organismus eindrangen. Er konnte sich nicht von der Stelle
rühren und führte ein trauriges Leben inmitten einer wahren Fabrik
(der sogenannten Perpetuale). Dobder Gwarg, der nächste Kandidat
auf die Unsterblichkeit, konnte sich zwar schon bewegen und hin und
her gehen, aber ihn begleitete auf seinen Spaziergängen eine
Kolonne schwerer Traktoren, die mit der unsterblich machenden
Apparatur beladen waren. Auch er beging Selbstmord infolge
Frustration.
Es gab die Meinung, daß im Zuge
weiterer Fortschritte in dieser Technik Mikroperpetuatoren
entstehen würden, aber Has Berdergar wies mathematisch nach, daß
solch ein PUAP (Persönlicher Unsterblichmacher, der automatisch
perpetuiert) mindestens einhundertneunundsechzigmal soviel wiegen
müsse wie der Unsterblichkeitskandidat, sofern er entsprechend dem
typischen Evolutionsplan angefertigt worden sei. Denn die Natur –
das sagte ich schon, und das wissen auch unsere Gelehrten – sorgt
sich bei jedem nur um die Handvoll Geschlechtszellen, um den Rest
kümmert sie sich überhaupt nicht.
Der Beweis, den Has erbrachte,
machte einen gewaltigen Eindruck und stürzte die Gesellschaft in
tiefe Depression; man begriff nämlich, daß man die Schranke der
Sterblichkeit nicht ohne gleichzeitiges Verwerfen des Körpers
überschreiten konnte, den die Natur schuf. In der Philosophie
bildete die berühmte Doktrin des großen dychthonischen Denkers
Donderwars die Reaktion auf Berdergars Schlußfolgerung. Donderwars
schrieb, daß man den spontanen Tod nicht als natürlich bezeichnen
dürfe. Natürlich sei das, was schicklich sei, die Sterblichkeit
dagegen sei ein Skandal und eine Schande im kosmischen Maßstab. Die
Allgemeingültigkeit dieses Vergehens mindere um keinen Deut seine
Scheußlichkeit. Für die Beurteilung des Vergehens sei es auch von
keinerlei Bedeutung, ob man seinen Urheber fassen könne. Die Natur
verfahre mit uns wie ein Schurke, der Unschuldige auf eine
angenehme, im Grunde jedoch verlorene Mission schicke. Je klüger
jemand im Leben werde, desto mehr nähere er sich dem
Grabe.
Da kein moralisches Individuum
das Recht habe, sich Mördern anzuschließen, sei eine Kollaboration
mit der liederlichen Natur unzulässig. Indessen sei die Beerdigung
eine Kollaboration durch Versteckspiel. Es handele sich darum, das
Opfer irgendwo zu verbergen, wie das gewöhnlich bei einem
Verbrechen geschieht; auf die Grabsteine würden verschiedene
belanglose Dinge eingraviert, nicht aber das einzig Wesentliche:
Wenn die Menschen nämlich den Mut hätten, der Wahrheit ins Auge zu
schauen, würden sie dort ein paar kräftige Flüche an die Adresse
der Natur einritzen, die uns das beschert habe. Statt dessen sagt
niemand auch nur ein Wort, als kämen einem Mörder, der so geschickt
ist, daß er sich stets verflüchtigt, dafür noch besondere
Rücksichten zu. Statt »memento mori« sollte man immer wieder sagen
»estote ultores« strebt die Unsterblichkeit an, selbst um den Preis
des Verlustes eures traditionellen Äußeren – so lautete das
ontologische Testament dieses hervorragenden Philosophen.
Als ich das gelesen hatte,
erschien der junge Bruder, um mich im Namen des Priors zum
Abendbrot zu bitten. Ich nahm es nur in seiner Gesellschaft ein.
Pater Darg selbst aß nichts, er trank nur von Zeit zu Zeit Wasser
aus einem kristallenen Becher. Der Imbiß war bescheiden: ein
Tischbeinfrikassee, ziemlich sehnig; wie ich mich überzeugte,
werden die Möbel des Waldes in der Umgebung meist fleischig, wenn
sie verwildern. Ich fragte jedoch nicht, warum sie eigentlich nicht
holzig werden, denn ich strebte bei meiner Lektüre nach höheren
Dingen, und so kam es zu einem ersten Gespräch mit dem Prior über
theologische Themen.
Er erklärte mir, daß es sich bei
dem Duismus um einen Glauben an Gott handele, jedoch ohne Dogmen,
die allmählich im Verlaufe der biotischen Revolutionen zerbröckelt
seien. Am schwersten war die Krise der Kirche, die durch die
Zerstörung des Dogmas von der Unsterblichkeit der Seele
hervorgerufen wurde, aufgefaßt im Sinne der Perspektive eines
ewigen Lebens. Die Dogmatik wurde im 25. Jahrhundert von drei
aufeinanderfolgenden Techniken angegriffen, von der des
Einfrierens, des Umkehrens und des Umgeistigens. Die erste bestand
darin, daß man den Menschen zu Eis gefrieren ließ, die zweite
darin, daß man die Richtung der Ontogenese umkehrte, und die dritte
darin, daß man das Bewußtsein beliebig manipulierte. Den Angriff
der Frigidisierung konnte man noch abwehren, indem man behauptete,
daß der Tod, in den der erfrorene und dann wiederbelebte Mensch
verfalle, nicht identisch sei mit jenem Tod, von dem die Heilige
Schrift spreche, daß nämlich die Seele danach ins Jenseits
davonfliege. Diese Auslegung war unerläßlich, denn wenn es sich um
einen gewöhnlichen Tod handelte, müßte der Wiederauferstandene
etwas darüber wissen, wo er mit seiner Seele während der hundert
oder sechshundert Jahre seines Hingeschiedenseins geweilt
habe.
Einige Theologen, unter ihnen
Gauger Drebdar, meinten, daß der wirkliche Tod erst nach dem
Verfall eintrete (»zu Staub wirst du werden«), aber diese Version
konnte nicht aufrechterhalten werden, nachdem das sogenannte
Resurrektionsfeld erfunden worden war, das den lebenden Menschen
eben aus der Asche, das heißt aus dem zu Atomen zerfallenen Körper,
zusammensetzte, und auch dann wußte der Wiederbelebte nichts davon,
daß seine Seele in der Zwischenzeit irgendwo anders gewesen sei.
Das Dogma wurde durch eine Vogel-Strauß-Taktik gewahrt, indem man
jeder Definition der Frage auswich, wann der Tod so vollständig
sei, daß sich danach die Seele bestimmt aus dem Körper entferne.
Dann jedoch kam die umkehrbare Ontogenese; ihre Technik war nicht
absichtlich gegen die Glaubensdogmatik gerich tet, aber sie erwies
sich als zwingend für die Liquidierung der Entstellungen einer
Entwicklung durch Zeugung: Man lernte es, die Entwicklung
anzuhalten und umzukehren; nach einer Wendung um einhundertachtzig
Grad begann man noch einmal bei der befruchteten Zelle. Bald geriet
das Dogma von der unbefleckten Empfängnis ins Wanken und mit ihm
das von der Unsterblichkeit der Seele; in einem Zuge sozusagen,
denn dank der retroembryonalisierenden Technologie kann man jeden
Organismus durch alle vorhergehenden Stadien zurückdrehen, sogar so
weit, daß die befruchtete Zelle, aus der er entstanden war, sich
erneut in Ei und Keim trennte.
Das führte zu großem Ärger, denn
das Dogma verkündete, daß Gott die Seele im Augenblick der
Befruchtung erschaffe, aber wenn man die Befruchtung rückgängig
machen und damit annullieren konnte, indem man ihre beiden
Bestandteile trennte, was sollte dann mit der bereits erschaffenen
Seele geschehen? Ein Nebenprodukt dieser Technik war die
Klonbildung, das heißt die Anregung zur Entwicklung beliebiger
Zellen in einen normalen Organismus, die einem lebenden Körper
entnommen wurden, zum Beispiel der Nase, der Ferse, der
Mundschleimhaut und so weiter. Da dies ohne jede Befruchtung zu
machen war, funktionierte die Biotechnik der unbefleckten
Empfängnis, die man denn auch im Industriemaßstab in Betrieb nahm.
Die Embryogenese konnte man ebenfalls schon umkehren, beschleunigen
oder so ablenken, daß sich zum Beispiel eine menschliche Frucht in
eine Affenfrucht verwandelte. Wie war es nun mit der Seele bestellt
– wurde sie so zusammengedrückt und auseinandergezogen wie eine
Ziehharmonika, oder verschwand sie bei der Umleitung der
Fruchtentwicklung vom Menschen zum Affen irgendwo
unterwegs?
Nach dem Dogma konnte eine Seele,
wenn sie einmal entstanden war, weder verschwinden noch kleiner
werden, denn sie war eine unteilbare Einheit. Man überlegte schon,
ob man die Befruchtungsingenieure nicht mit einem Bannfluch belegen
sollte, aber man tat dies nicht, und zwar mit Recht, denn nun
verbreitete sich die Ektogenese. Zunächst wurde kaum einer und
schließlich niemand mehr aus der Verbindung eines Mannes mit einer
Frau geboren, sondern aus einer Zelle, die im Uterator (einer
künstlichen Gebärmutter) eingeschlossen war, und man konnte
schwerlich der gesamten Menschheit die Sakramente mit der
Begründung verwehren, daß sie durch Jungfernzeugung entstanden war.
Obendrein folgte schon die nächste Technologie – die des
Bewußtseins. Mit dem Problem des Geistes in der Maschine, der durch
die Intellektronik und ihre vernünftigen Komputer geboren wurde,
wußte man sich noch zu helfen, aber danach kam die nächste, die des
Bewußtseins und der Psyche in Flüssigkeiten; man synthetisierte
kluge und denkende Lösungen, die man in Flaschen abfüllen,
umgießen, zusammenschütten konnte, und jedesmal entstand eine
Persönlichkeit, mitunter vergeistigter und klüger als alle
Dychthonier zusammengenommen.
Um die Frage, ob eine Maschine
oder eine Lösung so etwas wie eine Seele haben könne, gab es
dramatische Auseinandersetzungen auf der Synode im Jahre 2479, bis
man dort ein neues Dogma aufstellte, das von der mittelbaren
Schöpfung, welches besagte, Gott habe den von ihm erschaffenen
vernünftigen Wesen die Macht der Zeugung von Intellekten des
nächsten Wurfes verliehen, aber das war noch nicht das Ende der
Wandlungen, denn bald stellte es sich heraus, daß die künstlichen
Intelligenzen andere, nächstfolgende produzieren konnten oder auch
nach eigenem Kalkül menschenförmige Wesen oder gar normale Menschen
aus einem beliebigen Haufen Materie zu synthetisieren vermochten.
Man unternahm später weitere Versuche, das Dogma von der
Unsterblichkeit zu retten, aber sie brachen im Feuer der weiteren
Entdeckungen zusammen, die in wahren Lawinen über das 26.
Jahrhundert hereinstürzten; kaum hatte man das Dogma mit einer
abgewandelten Auslegung abgestützt, da entstand bereits die sie
negierende Bewußtseinstechnologie.
Es kam zu einer Reihe von
Ketzereien und zur Entstehung von Sekten, die den allgemein
bekannten Tatsachen widersprachen; die duistische Kirche indes
behielt nur ein Dogma bei, das der mittel baren Schöpfung. Was
hingegen das Überdauern nach dem Tode, den Glauben an die
Fortsetzung der individuellen Persönlichkeiten, betraf, so ließ
sich dies nicht mehr vor der Vernichtung retten, denn weder die
Persönlichkeit noch die Individualität blieben zeitlich erhalten.
Man konnte bereits zwei oder mehr Geister in einem zusammenfassen,
bei den Maschinen, bei den Lösungen und auch bei den Menschen; man
konnte dank der Personetik ganze in Maschinen eingeschlossene
Welten produzieren, in denen vernünftige Daseinsformen entstanden,
die ihrerseits in dieser Abgeschiedenheit den nächsten Wurf
intelligenter Personen zu konstruieren vermochten, man konnte
Intelligenzen potenzieren, teilen, vervielfachen, reduzieren und so
weiter. Dem Verfall der Dogmatik folgte der Verfall der
Glaubensautorität, es erloschen auch die Hoffnungen auf die früher
verbürgten Verheißungen vom ewigen Licht, zumindest für einzelne
Individuen.
Als die Synode des Jahres 2542
sah, daß sie in der theologischen Bewegung nicht mit dem
technischen Fortschritt Schritt hielt, gründete sie den Orden der
Prognositen, der sich mit futurologischen Arbeiten im Bereich des
heiligen Glaubens befassen sollte. Das Bedürfnis nach einer
Antizipierung seiner weiteren Geschicke war nämlich sehr dringend.
Die Unmoral vieler neuer Biotechnologien erschreckte nicht nur die
Gläubigen; dank der Klonisierung zum Beispiel konnte man neben
normalen Personen biologische Wesen produzieren, die fast hirnlos
waren und sich für mechanische Arbeiten eigneten, oder gar Wesen
mit entsprechend gezüchteten Geweben, die vom menschlichen oder
tierischen Körper stammten. Man konnte Zimmer und Wände auslegen,
Einlagen, Stecker, Verstärker oder Abschwächer von Intelligenz
erzeugen, mystische Zustände von Begeisterung in einem Komputer, in
einer Flüssigkeit erwecken, ein Ei aus dem Froschlaich in einen
Weisen verwandeln, versehen mit einem menschlichen, einem
tierischen oder einem solchen Körper, den es bislang noch nicht
gegeben hatte, weil ihn die Befruchtungsexperten absichtlich
projektiert hatten. Das alles rief von Seiten der Weltlichkeit
Widerspruch hervor, sogar sehr heftigen. Aber vergebens.
Pater Darg erzählte mir das alles
mit der größten Ruhe, als spräche er von augenscheinlichen Dingen;
im übrigen waren sie für ihn wirklich Selbstverständlichkeiten,
denn sie waren ein Teil der dychthonischen Geschichte. Obwohl ich
unzählige Fragen auf den Lippen hatte, hielt ich es nicht für
geboten, Aufdringlichkeit zu zeigen, und so kehrte ich nach dem
Abendbrot in meine Zelle zurück und vertiefte mich in den zweiten
Band der Arbeit von Prof. A. Grags, in einen Band, der, wie ein
Vermerk auf der ersten Seite bezeugte, ein verbotenes Werk
war.
Ich erfuhr, daß im Jahre 2401 Byg
Brogar, Dyrr Daagard und Mor Darr weit das Tor zur
uneingeschränkten autoevolutiven Freiheit aufstießen; diese
Gelehrten glaubten zutiefst daran, daß der dank ihrer Entdeckung
entstandene Homo Autofac Sapiens, das heißt der vernünftige
Selbstformer, volle Harmonie und Glück erreichen werde, wenn er
sich solche Formen des Körpers und solche Eigenschaften der Seele
verleihe, die er als die vollkommensten erkenne, daß er die
Barriere der Unsterblichkeit durchstoßen werde, sobald er dies
beschließe – mit einem Wort, sie zeigten im Verlaufe der zweiten
biotischen Revolution (der ersten verdankte man die Keimlinge, die
Verbrauchsgüter erzeugten) einen Maximalismus und Optimismus, wie
sie für die Geschichte der Wissenschaften typisch sind. Denn
ähnliche Hoffnungen verbindet man gewöhnlich mit dem Aufkommen
jeder großen Technologie.
Zunächst entwickelte sich die
autoevolutive Ingenieurkunst, das heißt die sogenannte
Befruchtungsbewegung im Sinne ihrer aufgeklärten Entdecker. Die
Ideale der Gesundheit, der Harmonie, der geistig-körperlichen
Schönheit wurden verbreitet, die Verfassungsgesetze garantierten
jedem Bürger das Recht, solche psychosomatischen Merkmale zu
besitzen, die für die wertvollsten gehalten wurden. Bald wurden
auch alle Entartungen und angeborenen Gebrechen sowie Häßlichkeit
und Dummheit zu überlebten Anachronismen. Jedoch die Entwicklung
hat es an sich, daß die fortschrittliche Bewegung sie immer
weitertreibt, also war es damit nicht getan. Die Anfänge der
weiteren Veränderungen wirkten vorerst noch harmlos. Die Mädchen
verschönten sich dank der Zucht von Hautbijouterie und anderer
Schönheitsprodukte des Körpers (Ohren in Herzform, Perlen aus
Fingernägeln), die Burschen protzten mit Seiten- und Rückenbärten,
mit Kämmen auf dem Kopf, mit Kiefern, die ein doppeltes Gebiß
hatten, und ähnlichen Dingen.
Zwanzig Jahre später entstanden
die ersten politischen Parteien. Ich kam beim Lesen nicht gleich
darauf, daß »Politik« auf Dychthonien etwas anderes bedeutete als
bei uns. Das Gegenteil des politischen Programms, das die
Vervielfältigung der Körperformen postuliert, ist das monotische
Programm, das den Reduktionismus verkündet, das heißt das
Bedürfnis, sich der Organe zu entäußern, die von den Monotikern der
jeweiligen Vereinigung für überflüssig gehalten werden. Als ich bis
zu dieser Stelle der faszinierenden Lektüre gelangt war, stürzte
mein junger Mönchsbruder, ohne anzuklopfen, in die Zelle und befahl
mir voll unverhohlener Angst, sie sofort zu verlassen, der Pförtner
habe eine Gefahr angekündigt. Ich fragte: »Was für eine?«, doch er
trieb mich nur an und rief, es sei jetzt keine Zeit zu verlieren.
Ich hatte keine persönlichen Sachen da, also klemmte ich nur das
Buch unter den Arm und rannte meinem Wegführer
hinterdrein.
Im unterirdischen Refektorium
machten sich schon alle Destruktianermönche fieberhaft zu schaffen;
über eine Steinrinne glitten ganze Berge von Büchern herunter, die
oben von den Bibliothekarbrüdern mit Stangen hinuntergestoßen
wurden; man verlud sie in Behälter und ließ sie in größter Eile in
die Tiefe des Brunnens hinab, der in den rohen Felsen gehauen war;
vor meinen staunenden Augen hatten sich die Mönche im Nu nackt
ausgezogen und warfen rasch auch ihre Kutten und Kapuzen in die
verschalte Öffnung – sie alle waren menschenförmige Roboter.
Daraufhin nahm sich eine ganze Schar meiner an, indem sie mir
wunderliche Schößlinge von ballonartiger und schlangenartiger Form
an den Leib klebten, Schwänze oder Extremitäten – ich fand mich
darin nicht zurecht, so sehr beeilten sie sich. Der Prior legte mir
selbst eine Wämpe auf den Kopf, die aussah wie eine aufgeblähte und
ge platzte Küchenschabe; die einen leimten noch, während die
anderen mich schon mit Gürteln oder Streifen bemalten. Da es
ringsum keine Spiegel und keine glänzende Oberfläche gab, weiß ich
nicht, wie ich aussah, aber die Mönche schienen mit ihrem Werk
zufrieden zu sein.
Ich wurde hin und her geschoben
und fand mich schließlich in einer Ecke wieder. Erst da bemerkte
ich, daß ich eher an einen Vierbeiner oder gar an einen Sechsbeiner
erinnerte als an ein Wesen mit aufrechter Haltung. Sie hießen mich
hinkauern und sagten mir, ich solle auf alle Fragen, ganz gleich,
wer sie an mich richte, nur durch Blöken antworten. Gleich darauf
wurde entsetzlich laut an die Tür getrommelt; die Mönchsroboter
stürzten an irgendwelche in der Mitte des Refektoriums
aufgestellten Geräte, die an Nähmaschinen (aber nur auf den ersten
Blick) erinnerten, und im Nu hallte der ganze Raum vom Rattern
ihrer vorgetäuschten Arbeit wider. Über die steinernen Stufen stieg
eine Kontrollstreife zu uns herab. Fast hätten meine vier Beine
unter mir nachgegeben, als ich die Wesen aus der Nähe betrachtete.
Ich wußte nicht, ob sie angezogen oder nackt waren; jeder einzelne
sah anders aus.
Schwänze hatten wohl alle, sie
mündeten in eine haarige Quaste, die eine solide Faust verbarg; sie
trugen sie im allgemeinen lässig über der Schulter, sofern man die
kugelige Wölbung, die von großen Warzen umgeben war, als Schulter
bezeichnen konnte; inmitten dieser Kugel war die Haut weiß wie
Milch; bunte Stigmata erschienen darauf – ich begriff nicht gleich,
daß sie sich sowohl mit der Stimme als auch mit Hilfe jenes
körperlichen Bildschirms verständigten, auf den sie verschiedene
Aufschriften und Abkürzungen ausstrahlten. Ich versuchte wenigstens
ihre Beine zu zählen, sie hatten mindestens zwei, aber es gab auch
ein paar Dreibeinige und einen Fünfbeinigen; ich gewann jedoch den
Eindruck: Je mehr Beine, desto schwerer fiel dem Betreffenden das
Gehen. Sie machten einen Rundgang um den ganzen Saal, sahen im
Vorbeigehen den Mönchen zu, die sich über die Maschinen beugten und
mit größter Verbissenheit arbeiteten, bis ein Kontrolleur, der
größer war als die anderen – er hatte eine gewaltige orangefarbene
Krause rings um die Wämpe, die sich aufblähte und schwach
leuchtete, wenn er sprach –, bis dieser Kontrolleur einem kleinen
Individuum, das nur zwei Beine und ein kurzes Schwänzchen hatte,
sicherlich einem Kanzlisten, den Befehl gab, die Triefeln zu
untersuchen. Sie schrieben sich etwas auf, vermaßen etwas, ohne ein
Wort an die Mönchsroboter zu richten, und waren bereits im
Aufbruch, als ein grünlicher Dreibeiner meine Anwesenheit bemerkte;
er zupfte an einem der befransten Schößlinge, und ich gab für alle
Fälle ein leises Blöken von mir.
»Ach, das ist der alte
Gwarndlist, er hat die achtzehn – in Ruhe lassen!« sagte der
Größere und wurde hell. Der Kleine erwiderte rasch: »Jawohl, Euer
Körperlichkeit!«
Mit einem Apparat, der einer
Taschenlampe ähnelte, leuchteten sie noch in alle Ecken des
Refektoriums, aber dem Brunnen näherte sich keiner. Das Ganze sah
mir immer deutlicher wie eine nachlässig durchgeführte Formalität
aus. Binnen zehn Minuten waren sie verschwunden, die Maschinen
wurden in eine dunkle Ecke geschoben, die Mönche begannen die
Behälter hochzuhieven, sie wrangen ihre durchnäßten Kutten aus und
hängten sie zum Trocknen auf eine Schnur. Die Bibliothekare waren
besorgt, denn in einen undichten Behälter war Wasser geraten, also
mußte man sogleich die durchnäßten Seiten der Altdrucke mit
Seidenpapier belegen, und der Prior, das heißt der Pater Roboter,
ich wußte selbst nicht mehr, was ich von ihm halten sollte, wandte
sich mit großer Freundlichkeit an mich: Gott sei Dank habe alles
ein gutes Ende genommen, aber in Zukunft solle ich mehr auf der Hut
sein. Bei diesen Worten zeigte er mir das Geschichtswerk, das ich
in dem allgemeinen Durcheinander fallen gelassen hatte. Er selbst
hatte während der Revision darauf gesessen.
»Der Besitz von Büchern ist also
verboten?« fragte ich.
»Kommt drauf an«, erwiderte der
Prior. »Uns ja! Und ganz besonders der Besitz solcher Bücher wie
dieses hier! Wir gelten als veraltete Maschinen, die seit der
ersten biotischen Revolution überflüssig sind; man toleriert uns,
genauso wie alles, was in die Katakomben geht, weil dies eine –
übrigens inoffizielle – Sitte seit der Regierungszeit Glaubons
ist.«
»Und was ist ein ›Gwarndlist‹?«
fragte ich.
Der Prior schien ein wenig
verlegen zu sein.
»Das ist ein Anhänger von Bghis
Gwarndl, einem Großherrscher, der vor neunzig Jahren regierte. Es
ist mir peinlich, davon zu sprechen… dieser unglückselige
Gwarndlist hatte bei uns Zuflucht gesucht, also hatten wir ihm Asyl
gewährt; der Arme saß immer in dieser Ecke und täuschte einen
Wahnsinnigen vor; deshalb galt er für unzurechnungsfähig und konnte
sagen, was er wollte… vor einem Monat ließ er sich einfrieren, um
›bessere Zeiten‹ zu erleben… so hatte ich daran gedacht, daß man
Sie notfalls verkleiden könnte… nicht wahr? Ich wollte Sie davon
unterrichten, aber ich hatte nicht mehr die Zeit dazu. Ich hatte
nicht angenommen, daß ausgerechnet heute eine Kontrolle kommen
würde, es gibt ab und zu welche, aber in letzter Zeit sind sie
ziemlich selten.«
Ich begriff kein Wort von
alledem. Übrigens harrten meiner erst jetzt unangenehme Mühen, denn
der Klebstoff, den die Destruktianermönche benutzt hatten, um mich
in den »Gwarndlisten« zu verwandeln, haftete schrecklich; ich hatte
den Eindruck, daß sie mir zusammen mit den künstlichen Rüpsen und
Grenseln ganze Stücke lebenden Fleisches vom Leib rissen; ich
schwitzte, stöhnte, bis ich endlich wieder halbwegs menschlich
aussah und mich zur Ruhe begeben konnte. Der Prior erwog später,
mich vielleicht körperlich umzuwandeln, auf eine natürlich
umkehrbare Weise, aber als man mir auf einer Zeichnung zeigte, wie
ich dann aussehen würde, entschied ich mich doch für das weitere
Risiko der Zensurwidrigkeit. Die gesetzlich empfohlenen Formen
waren in meinen Augen nicht nur monströs, sondern auch höchst
unbequem; man konnte sich mit ihnen zum Beispiel nicht hinlegen,
sondern mußte hängend schlafen.
Da ich mich erst spät zur Ruhe
begab, war ich nicht genügend ausgeschlafen, als mir mein junger
Beschützer das Frühstück in die Zelle brachte und mich weckte; nun
begriff ich erst richtig, wie groß die Gastfreundlichkeit war, die
man mir angedeihen ließ, denn die Mönche selbst aßen nichts. Was
das Wasser betrifft, so hatten sie wahrscheinlich einen
Akkumulatorenantrieb und gebrauchten destilliertes Wasser, aber für
den ganzen Tag reichten ihnen ein paar Tropfen. Um mich beköstigen
zu können, mußten sie dagegen Ausflüge in den Möbelhain
unternehmen. Diesmal bekam ich eine nicht schlecht zubereitete
Sessellehne. Wenn ich sage, daß sie gut gekocht war, so heißt das
noch lange nicht, daß sie mir schmeckte, aber ich änderte
angesichts der mühevollen kulinarischen Umstände schon beim Essen
meine Meinung über dieses Problem.
Ich stand noch immer unter dem
Eindruck der nächtlichen Kontrolle und konnte sie nicht mit dem
vereinbaren, was ich bisher in dem Geschichtswerk gelesen hatte.
Gleich nach dem Frühstück machte ich mich deshalb an das weitere
Studium.
Seit dem Beginn der Autoevolution
spalteten tiefe Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen Fragen
das Lager des körperlichen Fortschritts. Die Opposition der
Konservativen verschwand bereits vierzig Jahre nach der großen
Entdeckung; man nannte sie finstere Rückschrittler. Die
Fortschrittlichen hingegen zerfielen in die Imnudisten,
Zielophilen, Vermenger, Linierer, Knetianer und in viele andere
Parteien, deren Namen und Programme ich nicht behalten habe. Die
Imnudisten verlangten, die Obrigkeit müsse einen vollkommenen
körperlichen Prototyp festlegen, der dann mit einem Schlag
eingeführt werden solle. Die Zielophilen, die kritischer
eingestellt waren, glaubten, daß sich eine solche Vollkommenheit
nicht sofort erreichen lasse, sie sprachen sich daher eher für
einen Weg zum idealen Körper aus, aber es war nicht eindeutig, was
für ein Weg das sein sollte und vor allem, inwieweit er für die
Übergangsgenerationen unangenehm sein
konnte. In dieser Frage zerfielen sie in zwei Gruppen. Andere, zum
Beispiel die Linierer und die Vermenger, behaupteten, daß es sich
lohne, bei verschiedenen Anlässen unterschiedlich auszusehen, und
sie sagten auch, daß der Mensch nicht schlechter sei als die
Insekten. Wenn sie in ihrem Leben Metamorphosen durchlaufen, dann
könnte dies auch der Mensch – das Kind, der Halbwüchsige, der
Jüngling, der erfahrene Mann seien Verkörperungen grundsätzlich
verschiedener Muster. Die Knetianer hingegen waren Radikale; sie
bezeichneten das Skelett als altmodisches Überbleibsel, verkündeten
das Abgehen vom Wirbelsäulenbau und priesen die weiche
Allplastizität. Ein Knetianer konnte sich selbst so modellieren
oder körperlich kneten, wie es ihm gefiel; wenigstens im Gedränge
war das praktisch und auch hinsichtlich der fertigen Kleidung in
verschiedenen Größen; einige von ihnen walkten und rollten sich in
die wunderlichsten Formen, indem sie je nach Lage und
Geisteszustand ihre Stimmungen in Selbstgliederung ausdrücken
wollten; ihre Widersacher verliehen ihnen den verächtlichen
Schimpfnamen Pfützer.
Um der Gefahr der körperlichen
Anarchie vorzubeugen, wurde das BÜPROKÖPS ins Leben gerufen, ein
Büro für Projekte des Körpers und der Psyche, das den Markt mit
verschiedenen, aber stets erprobten Varianten von
Körpergestaltungsplänen beliefern sollte. Dennoch gab es noch immer
kein Einvernehmen hinsichtlich der Hauptrichtung der Autoevolution:
Sollte man Körper anfertigen, mit denen man möglichst angenehm
leben konnte, oder solche, die den Individuen das Einleben in das
gesellschaftliche Sein besonders erleichterten, sollte man den
Funktionalismus oder die Ästhetik vorziehen, die Kraft des Geistes
oder die der Muskeln potenzieren; denn man konnte zwar gut in
Gemeinplätzen über Harmonie und Perfektion reden, die Praxis indes
wies nach, daß nicht alle wertvollen Merkmale sich vereinen ließen;
zahlreiche schlossen einander aus.
Auf jeden Fall kam es auf der
ganzen Linie zur Abkehr vom natürlichen Menschen. Die Experten
überboten einander in der Beweisführung, wie primitiv und schlecht
er doch von der Natur erschaffen sei; die Körpermetrie und die
somatische Ingenieurkunst der Zeit wiesen in ihrem Schrifttum
deutlich Einflüsse der Doktrin von Donderwars auf; die
Hinfälligkeit des natürlichen Organismus, seine senilisierende
Bewegung zum Tode, die Tyrannei der alten Triebe über den später
entstandenen Verstand waren harter Kritik ausgesetzt, und das
Schrifttum wimmelte von Vor würfen über die Flachfüßigkeit, die
Tumore, das Herausfallen von Wirbeln und über tausend andere
Leiden, die durch die evolutive Pfuscherei und Nachlässigkeit,
genannt »Maulwurfsarbeit«, der verschwenderisch-ideenlosen, weil
blinden Evolution des Lebens hervorgerufen wurden.
Die späten Nachkommen schienen an
der Natur Revanche nehmen zu wollen für das düstere Schweigen, mit
dem ihre Urgroßväter die Enthüllungen über die Affenabkunft des
Dychthoniers schlucken mußten; man verspottete die sogenannte
arboreale Passage, das heißt die These, daß zuerst irgendwelche
Tiere auf den Bäumen Schutz suchten, aber dann, als die Wälder
durch die Versteppung verschwanden, zu rasch auf den Erdboden
herunterkriechen mußten. Einigen Kritikern zufolge hatten die
Erdbeben die Anthropogenese verursacht, denn wer lebte, stürzte
dadurch aus dem Geäst, also entstanden die Menschen gewissermaßen
wie Falläpfel. All das waren natürlich grobe Vereinfachungen, aber
das Schimpfen auf die Evolution gehörte zum guten Ton. BÜPROKÖPS
vervollkommnete unterdessen die inneren Organe, stärkte die
Wirbelsäule, machte sie elastischer, verfertigte Reserveherzen und
Reservenieren, aber all das befriedigte die Extremisten nicht, die
mit demagogischen Losungen wie »Weg mit dem Kopf« (weil er zu eng
sei), »Das Hirn in den Bauch« (weil darin mehr Platz sei) und so
weiter auftraten.
Der hitzigste Streit entbrannte
um die geschlechtlichen Fragen, denn während die einen meinten, all
dies sei höchst geschmacklos und man müsse »etwas von Blumen und
Schmetterlingen« nehmen, verlangten andere dagegen, indem sie die
Verlogenheit der Platoniker anprangerten, sogar eine Ausweitung und
Eskalation dessen, was vorhanden war. Unter dem Druck der extremen
Gruppierungen richtete BÜPROKÖPS Briefkästen für
Rationalisierungseinfälle in den Städten und Siedlungen ein;
Lawinen von Entwürfen wurden gemacht, die Etatstellen wuchsen zu
einer Macht an, und nach einer Dekade hatte die Bürokratie die
Autokreation dermaßen an die Wand gedrückt, daß BÜPROKÖPS in
Vereinigungen zerfiel und dann in Institute wie KWUG (Kommis sion
für Fragen Wundervoller Gesichter), ZIVÄEX (Zentrales Institut für
volle Ästhetisierung der Extremitäten), IVRANA (Institut für
Verallgemeinerung einer Radikal Neuen Anatomie) und viele andere.
Es wimmelte von Kongressen und Konferenzen zur Frage der Gestaltung
der Finger, man diskutierte über den Rang und die Zukunft der Nase,
über die Perspektive der Rücken, wobei das Ganze aus dem Blickfeld
verschwand, bis schließlich das, was von der einen Abteilung
entworfen wurde, nicht mehr zur Produktion der anderen paßte.
Niemand mehr erfaßte ganz die neue Problematik, die kurz AU genannt
wurde (Automorphe Explosion). Um diesen Wirrwarr zu beseitigen,
wurde schließlich die Machtbefugnis auf dem Gebiet der Biotik einem
SOMPSUTER (Somatisch-Psychischer Komputer) anvertraut.
Mit dieser Information schloß der
Band der Allgemeinen Geschichte. Als ich nach dem nächsten griff,
betrat der junge Mönch die Zelle, um mich zum Mittagessen zu
bitten. Ich genierte mich, in Gegenwart des Priors zu essen, denn
ich wußte bereits, daß es von seiner Seite eine Höflichkeit war und
daß er wertvolle Zeit vergeudete. Die Einladung war jedoch so
zwingend, daß ich ihr ohne Zögern folgte. In dem kleinen
Refektorium befand sich neben Pater Darg, der am Tisch auf mich
wartete, ein kleines Gefährt, das unseren Gepäckwagen ähnelte; es
handelte sich um Pater Memnar, den General des Prognositenordens
(ich habe mich schlecht ausgedrückt: Selbstverständlich war nicht
der Wagen der Pater und General des Ordens, sondern ein
sechseckiger Komputer, der auf diesem Wagengestell ruhte). Ich
denke, daß ich keine Unhöflichkeit durch unverhohlenes Staunen
begangen oder während der Begrüßung gestottert habe. Ich aß mit
Verlegenheit, aber ich mußte es tun, weil mein Organismus es
verlangte. Um mich zu animieren und zu ermutigen, trank der
ehrenwerte Prior während der Mahlzeit ununterbrochen Wasser in
kleinen Schlückchen, und das gar aus zwei Kristallkannen zugleich.
Pater Memnar hingegen brummte nur leise vor sich hin; ich dachte
mir, daß er Gebete murmelte, aber als das Gespräch wieder auf die
Theologie kam, erwies es sich, daß ich mich geirrt hatte.
»Ich bin gläubig«, sagte Pater
Memnar zu mir, »und wenn mein Glaube begründet ist, so weiß das
der, an den ich glaube, auch dann, wenn ich keine offiziellen
Erklärungen abgebe. Der Geist erzeugt in der Geschichte
verschiedene Modelle des Gottes und hält jedes einzelne für das
richtige, was ein Fehler ist, denn das Modellieren ist eine
Kodifikation, und ein kodifiziertes Geheimnis hört auf, ein
Geheimnis zu sein. Die Dogmen scheinen nur am Anfang des Weges in
die zivilisatorische Ferne ewig zu sein. Zunächst hatte man sich
Gott als einen strengen Vater vorgestellt, dann als einen Hirten
und Züchter, dann als einen Künstler, der in das Geschaffene
verliebt ist, also sollten die Menschen demgemäß die Rolle einer
artigen Kinderschar spielen, dann gehorsame Schäfchen und
schließlich die begeisterte Claque Gottes. Daher ist es eine
Kinderei, anzunehmen, daß Gott deshalb etwas geschaffen habe, damit
das Erschaffene ihm von früh bis spät schmeichele, damit es ihn im
vorhinein dafür liebe, was dort sein wird,
wenn das nicht gefällt, was hier ist, als
sei er ein Virtuose und bereite für immer neue Gebetsbravos ewige
Dacapos des Lebens nach der zeitlichen Darbietung vor und hebe sich
somit die beste Nummer für die Zeit nach dem Niedergehen des
tödlichen Vorhangs auf. Diese theatralische Version der Theodizee
ist unsere entlegene Vergangenheit.
Wenn Gott allwissend ist, dann
weiß er alles über mich, und das seit unendlich langer Zeit, bevor
ich aus dem Nichtsein aufgetaucht bin. Er weiß auch, was er über
meine und deine Angst oder Erwartung bestimmen wird, denn er hat
auch hinsichtlich aller eigenen künftigen Entscheidungen genaue
Kenntnis: Im entgegengesetzten Fall gäbe es kein Allwissen. Es gibt
für ihn keinen Unterschied zwischen dem Denken eines
Höhlenbewohners und dem des Geistes, den die Ingenieure in einer
Milliarde Jahren dort erbauen werden, wo heute nur Lava und Flammen
sind. Ich weiß nicht, warum die äußere Form der
Glaubensbekenntnisse für ihn von besonderem Wert sein sollte, ja
selbst die Frage, ob jemand ihn anbetet oder Unwillen gegen ihn
hegt. Wir halten ihn nicht für einen Produzenten, der von seinem
Produkt Billigung erwartet, denn die Geschichte hat uns dorthin
geführt, wo sich die Authentizität des Denkens durch nichts vom
künstlich entfachten Denken unterscheidet, was bedeutet, daß es
keinen Unterschied zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen
gibt; diese Grenze liegt bereits außerhalb. Ich bitte dich, daran
zu denken, daß wir beliebige Personen und Denkweisen schaffen
können. Wir könnten zum Beispiel Wesen entstehen lassen, die eine
mystische Ekstase aus dem Sein schöpfen, sei es mit der Methode der
Kristallisation, der Klonbildung oder mit hundert anderen Methoden,
und in ihrer an die Transzendenz gerichteten Bewunderung wäre
gewissermaßen die Absicht verwirklicht, die den einstigen
Stoßgebeten eigen war. Aber eine solche Vervielfältigung von
Gläubigen müßte uns wie eitler Hohn vorkommen. Bedenke, daß wir
nicht gegen Mauern anrennen, die gegen unsere Wünsche durch
körperliche und angeborene Beschränkungen errichtet worden sind,
weil wir sie zertrümmert haben und in den Raum absoluter kreativer
Freiheit getreten sind. Ein Kind kann jetzt einen Toten
wiedererwecken, kann Staub und Schrott Geist einflößen, kann Sonnen
zerstören und entfachen, denn solche Techniken gibt es – der
Umstand hingegen, daß nicht ein jeder Zutritt zu ihnen hat, ist,
wie du wohl begreifen wirst, kein Problem für das theologische
Denken. Die Grenze des Handelns, die durch den Buchstaben der
Schriften gesetzt worden war, wurde erreicht und damit übertreten.
Die Grausamkeiten der alten Beschränkungen wurden durch die
Grausamkeit ihres völligen Fehlens ersetzt. Wir glauben nicht, daß
der Schöpfer seine Liebe zu uns hinter der Maske dieser beiden
alternativen Qualen verbirgt und uns deshalb harten Prüfungen
unterzieht, damit er schwieriger zu erraten sei; und die Aufgabe
der Kirche liegt nicht darin, daß sie beide Niederlagen – die der
Sklaverei und die der Freiheit – als Wechsel auf die Offenbarung
bezeichnet, die die himmlische Buchhaltung mit einem Überschuß
decken wird. Die Vision des Himmels als Zahlkasse und der Hölle als
Gefängnis für zahlungsunfähige Schuldner ist in der
Glaubensgeschichte eine zeitweilige Sinnestäuschung. Die Theodizee
ist kein sophistisches Praktikantentum der Verteidigung des
Herrgotts und der Glaube auch keine Ermutigung, daß es am Ende
schon irgendwie gehen wird. Die Kirche ändert sich, und der Glaube
ändert sich; beide nämlich sind in der Geschichte gelagert: Man muß
also das Kommende vorwegnehmen, und eben dieser Aufgabe dient mein
Orden.«
Diese Worte verwirrten mich
gehörig. Ich fragte, wie denn die duistische Theologie das, was auf
dem Planeten geschehe (wohl doch nichts Gutes, obwohl ich das nicht
genau wüßte, da ich in der Lektüre erst bis zum 26. Jahrhundert
gekommen sei), mit der offenbarten Schrift (von der ich keine
Kenntnis hätte) in Einklang bringe.
Pater Memnar antwortete mir
darauf, während der Prior schwieg: »Der Glaube ist absolut
notwendig und zugleich völlig unmöglich. Unmöglich ist er, wenn er
ein für allemal gültig sein soll, denn es gibt kein solches Dogma,
in dem sich das Denken mit der Gewißheit verwurzeln kann, daß es
für immer geschehe. Wir haben die Heilige Schrift fünfundzwanzig
Jahrhunderte hindurch mit der Taktik elastischer Rückzüge
verteidigt, mit immer vageren Interpretationen des Buchstabens – so
lange, bis wir verloren hatten. Wir haben keine Buchhaltervision
von der Transzendenz mehr, Gott ist weder ein Tyrann noch ein
Hirte, auch kein Künstler, kein Polizist, kein Hauptbuchhalter des
Daseins. Der Glaube an Gott muß sich jeglicher Interessiertheit
entäußern, allein schon dadurch, daß ihn niemals etwas honorieren
wird. Wenn es sich erweisen sollte, daß Gott imstande ist, das zu
bewirken, was im Widerspruch zu den Sinnen und der Logik steht,
wird das eine düstere Überraschung sein. Er war es doch – wer denn
sonst? –, der uns die Formen des logischen Denkens gegeben hat, und
außer diesem Denken besitzen wir nichts zum Erkennen. Wie können
wir also behaupten, daß der Glaubensakt ein Akt der Entäußerung des
logischen Verstandes sei? Wozu denn erst den Verstand geben, wenn
man ihm dann mit Widersprüchen, die er selbst auf seinem Weg
findet, hohnspricht?
Um sich in Geheimnisse und Rätsel
zu hüllen? Um uns zuerst zu gestatten, die Diagnose zu stellen, daß
es dort nichts gibt, und dann, wie ein
Falschspieler, der eine Karte aus dem Ärmel zieht, das Paradies
hervorzuholen? So denken wir nicht. Deshalb verlangen wir von Gott
keine Leistungen auf Grund unseres Glaubens; wir stellen keine
Ansprüche an ihn, denn wir haben die Theodizee begraben, die sich
auf das Modell einer Handelstransaktion und den Austausch von
Dienstleistungen stützte: ›Ich rufe dich ins Sein, du wirst mir
dienen und mich preisen.‹«
Unter diesen Umständen fragte ich
immer hartnäckiger, was sie, die Mönche und Theologen, denn
eigentlich täten, wie sie sich zu Gott stellten, wenn sie weder die
Dogmatik, die Liturgie noch den Gottesdienst praktizierten, wenn
ich sie richtig verstanden hätte.
»Da wir im Grunde nichts mehr
haben«, erwiderte der General der Prognositen, »haben wir alles.
Lies, lieber Ankömmling, die weiteren Bände der dychthonischen
Geschichte, damit du begreifst, was es eigentlich bedeutet, völlige
Freiheit in der Sphäre der Körper- und Geistesverwaltung zu
erlangen, die beide biotische Revolutionen mit sich gebracht haben.
Ich halte es für überaus wahrscheinlich, daß dich die hier
sichtbare Lage in der Tiefe deiner Seele belustigt, denn Wesen wie
du, die Blut vom Blute und Knochen vom Knochen entstanden sind, die
die volle Gewalt über sich besitzen, haben eben dadurch, daß sie bereits den Glauben wie eine
Lampe in sich löschen und entfachen können, den Glauben verloren. Übernommen
haben ihn ihre Werkzeuge, die deshalb denken konnten, weil sie in
einer gewissen Phase der industriellen Entwicklung notwendig waren.
Gegenwärtig sind wir schon überflüssig, und eben wir, die wir von
ihrem Standpunkt dort oben Schrott sind – wir glauben. Sie
tolerieren uns, denn sie haben wichtigere Dinge auf ihren Wämpen,
aber von der Obrigkeit ist uns alles gestattet mit Ausnahme des
Glaubens.«
»Das ist sehr sonderbar«, sagte
ich. »Man verbietet euch den Glauben? Warum?«
»Das ist sehr einfach. Der Glaube
ist das einzige, das man einer bewußten Existenz nicht wegnehmen
kann, solange sie bewußt darin verharrt. Die Obrigkeit könnte uns
nicht nur zerschmettern, sondern auch so umformen, daß wir nach der
Umprogrammierung nicht mehr glauben – sie tut das nicht, sicherlich
weil sie uns geringschätzt und verachtet oder aber aus
Gleichgültigkeit. Sie lechzt nach direkter Herrschaft, denn jede
Bresche in dieser Herrschaft würde sie für eine Einschränkung
halten. Deshalb müssen wir uns mit unserem Glauben verbergen. Du
hast nach seinem Wesen gefragt. Er ist, dieser unser Glaube – wie
soll ich dir das sagen –, völlig nackt und völlig wehrlos. Wir
hegen keine Hoffnungen, wir verlangen nichts, wir rechnen mit
nichts, wir glauben einfach nur.
Stelle mir bitte keine weiteren
Fragen, sondern bedenke lieber, was ein solcher Glaube bedeutet.
Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen und aus irgendwelchen
Anlässen gläubig ist, so hört sein Glaube auf, souverän zu sein;
daß zwei und zwei vier ist, weiß ich bestimmt, deshalb muß ich
nicht daran glauben. Aber ich weiß nichts darüber, wie Gott ist,
deshalb kann ich nur glauben. Was gibt mir dieser Glaube? Nach
früheren Überlegungen nichts. Er besänftigt nicht mehr die Angst
vor dem Nichts und buhlt auch nicht um die Gunst Gottes, indem er
sich zwischen der Angst vor der Verdammnis und der Hoffnung auf das
Paradies an die himmlische Klinke hängt. Er beruhigt nicht den
Verstand, der durch die Widersprüche des Daseins gequält ist, er
wattiert nicht seine Kanten – ich sage dir: Er ist zu nichts nütze!
Das bedeutet, daß er keiner Sache dient. Wir dürfen nicht einmal
verkünden, daß wir etwa deshalb glauben, weil dieser Glaube zur
Absurdität führe, denn wer so spricht, verkündet damit die
Überzeugung, daß er zwischen dem, was absurd und was nicht absurd
ist, genau unterscheiden kann und daß er sich deshalb selbst für
das Absurde ausspricht, weil nach seiner Meinung Gott auf dieser
Seite steht. Wir reden nicht so. Unser Glaubensakt liegt weder im
Gebet noch in der Danksagung, auch nicht in der Demut oder in der
Kühnheit, er besteht einfach, und weiter
läßt sich nichts über ihn sagen.«
Verblüfft über das, was ich zu
hören bekam, kehrte ich in die Zelle zurück und las weiter, nunmehr
den nächsten Band der dychthonischen Geschichte. Er, beschrieb die
Ära der Zentralisierung des Körperformismus. Der Sompsuter
betätigte sich zunächst zur allgemeinen Zufriedenheit, dann aber
tauchten auf dem Planeten neue Wesen auf – doppelte, dreifache,
vierfache, dann achtfache, schließlich auch solche, die überhaupt
nicht in zählbarer Weise enden wollten, weil ihnen während des
Lebens immer etwas Neues wuchs. Das war eine Folge von Defekten,
das heißt einer falschen Programmierung, einfach gesagt: Die
Maschine hatte zu stottern begonnen. Da jedoch der Kult ihrer
Vollkommenheit herrschte, versuchte man sogar, diese automorphen
Entstellungen zu loben, indem man zum Beispiel erklärte, daß eben
das unaufhörliche Knospen und Aufspalten der eigentliche Ausdruck
der proteischen Natur des Menschen sei. Dieses Preisen brachte es
mit sich, daß die Ausbesserungsarbeiten verspätet einsetzten, und
führ te zur Entstehung sogenannter Nichtender oder Penter
(poly-Nter), die die Orientierung im eigenen Körper verloren, weil
es davon so viele gab; sie verloren sich darin, indem sie
sogenannte Knötel bildeten; manchmal konnte man sie ohne den
Rettungsdienst gar nicht entwirren. Die Reparatur des Computers
brachte keinen Erfolg – »Kaputter« genannt, wurde er schließlich in
die Luft gesprengt. Die Erleichterung, die danach herrschte, währte
nicht lange, denn die bedrückende Frage, was weiter mit dem Körper
geschehen sollte, stellte sich immer wieder.
Zum erstenmal fragten damals
schüchterne Stimmen, ob es sich nicht lohnen würde, zum alten
Aussehen zurückzukehren, aber sie wurden als reaktionär verurteilt.
In den Wahlen des Jahres 2520 siegten die »Belieber« oder
Relativisten, denn ihr demagogisches Programm setzte sich durch,
wonach jeder so aussehen möge, wie er es wünsche; Beschränkungen
des Aussehens sollten nur funktionell sein: Der
Bezirkskörperarchitekt bestätigte die Projekte, die für ein
leistungsfähiges Existieren geeignet waren, und um den Rest
kümmerte er sich nicht. Diese Projekte warf der BÜPROKÖPS in wahren
Lawinen auf den Markt. Die Historiker bezeichnen die Periode der
Automorphie unter dem Sompsuter als die Epoche der Zentralisierung
und die späteren Jahre – als Reprivatisierung.
Der Umstand, daß das individuelle
Aussehen der privaten Initiative überlassen wurde, führte nach
einigen Dekaden zu einer neuen Krise. Allerdings verkündeten
bereits einige Philosophen folgendes: Je größer der Fortschritt
ist, desto mehr Krisen gibt es, und wenn es an Krisen fehlen
sollte, müßte man sie gar auslösen, denn sie aktivieren, vereinen,
wecken den schöpferischen Eifer und Kampfeswillen und verbinden
geistig sowie materiell – mit einem Wort, sie regen die
Gesellschaft zur Zusammenarbeit an, und wenn es an ihnen gebricht,
dann grassieren Stagnation, Marasmus und andere
Zerfallserscheinungen. Diese Anschauungen vertrat die Schule der
sogenannten Optisemisten, das heißt die Philosophen, die aus der
pessimistischen Einschätzung der Wirklichkeit Optimismus für die
Zukunft schöpften.
Die Periode der privaten
Initiative des Körperwesens währte ein Dreivierteljahrhundert.
Zunächst genoß man die wiedergewonnene Freiheit der Automorphie in
vollen Zügen, wieder ging die Jugend voran mit den Keuchern und den
Lärmern der Burschen, mit den Ziergliedern der Mädchen, aber bald
traten Reibungen zwischen den Generationen auf, denn es kam zu
Konflikten unter dem Zeichen der Askese. Die jungen Leute warfen
den älteren Lebensgier vor, ein passives, rein konsumptionelles
Verhältnis zum Körper, seichten Hedonismus, vulgären Wettlauf nach
Sinnenlust und nahmen, um sich von ihnen zu unterscheiden,
absichtlich abscheuliche Formen an, die höchst unbequem, geradezu
scheußlich waren (Spreizer, Gweidler). Sie demonstrierten
Verachtung gegenüber jeglicher Utilität und brachten sich Augen
unter den Achseln an, während das junge biotische Aktiv zahllose
gezüchtete Klangorga ne benutzte (Trömmler, Harfensträhner,
Gulgongs, Mandolklimper). Es wurden Massenbrüllstunden organisiert,
bei denen die Solisten, die man Nachtigeiler nannte, die
begeisterte Menge in krampfartige Zuckungen versetzten. Dann kam
die Mode oder vielmehr die Manie auf, lange Greifarme zu tragen,
die in ihrem Kaliber und in der Greifkraft einer Eskalation nach
dem typisch jugendlichen, brüstenden Prinzip »Ich werd’s dir
zeigen!« unterlagen. Da aber niemand diese Schlangengeflechte
selbst tragen konnte, fügte man sich selbst sogenannte Folger
(Schwanzträger) bei, das heißt einen selbstschreitenden Behälter,
der aus dem Kreuz herauswuchs und auf zwei festen Waden die Last
der Greifarme hinter ihrem Eigentümer herschleppte. Ich fand in dem
Lehrbuch Holzschnitte, die die Stutzer zeigten, hinter denen die
Folger die Greifarmbündel auf der Promenade hertrugen; das war
schon der Niedergang der Manifestation und eigentlich ihr völliger
Zusammenbruch, denn sie verfolgte keine eigenen Ziele, sondern war
lediglich eine revoltierende Reaktion auf den orgiastischen Barock
der Epoche.
Dieser Barock hatte seine
Apologeten und Theoretiker, die verkündeten, daß es den Körper
deshalb gäbe, damit man die größte Menge an Annehmlichkeiten an
vielen Stellen auf einmal haben könne. Merg Barb, sein führender
Vertreter, erläuterte, daß die Natur die Zentren der angenehmen
Empfindungen im Körper – übrigens recht geizig – deshalb angebracht
habe, damit er leben könne; daher sei nach ihrem Gebot keine
Empfindung autonom, sondern eine jede diene einem bestimmten Ziel:
sei es, um in der Nachkommenschaft die Fortsetzung der Art
sicherzustellen und so weiter. Mit diesem aufgezwungenen
Pragmatismus müsse man radikal brechen; die bisherige Passivität
bei der Projektierung der Körper sei ein Symptom des Mangels an
perspektivischer Phantasie; die lukullischen oder erotischen
Genüsse seien ein klägliches Nebenprodukt der Befriedigung
angeborener Instinkte, das heißt der Tyrannei der Natur; die
Befreiung des Geschlechts, deren Zeugnis die Ektogenese sei, genüge
nicht, denn der Sex habe weder eine erhebliche kombinatorische noch
konstruktive Zukunft vor sich; was es dort auszudenken gebe, habe
man längst verwirklicht, und nicht darin liege der Sinn der
automorphen Freiheit, daß sie geradlinig dies oder jenes erweitere,
indem sie einfach plagierende Vergrößerungen von sexuellem Gerümpel
mache. Man müsse sich völlig neue Organe ausdenken, die
ausschließlich darum funktionieren sollen, damit ihr Besitzer es
gut, immer besser, lustvoll, geradezu himmlisch habe.
Barb wurde von einer Gruppe
junger fähiger Projektanten aus dem BÜPROKÖPS unterstützt, die das
Rüpsen und das Handen erfanden; man verkündete sie mit großem
Aufwand in Reklameschriften, die garantierten, daß die früheren
Freuden des Magens oder Geschlechts ein dümmliches
In-der-Nase-Bohren im Vergleich zum Rüpsen und zum Handen seien; in
die Hirne wurden Zentren des ekstatischen Empfindens eingebaut, die
speziell von den Ingenieuren der Nervenwege programmiert wurden,
wobei man sie etagenförmig einrichtete. So entstand der Hande- und
der Rüpsetrieb sowie die diesen Instinkten eigentümlichen
Tätigkeiten mit einer überaus reichen und differenzierten Skala,
denn man konnte abwechselnd oder gleichzeitig, solo, im Duett, im
Terzett, und dann, nach dem Anstückeln der Rastler, auch in Gruppen
von mehreren Dutzend Personen rüpsen und handen. Es entstanden auch
neue Kunstarten, denn es tauchten Artisten auf, die rüpsten und
handeten, aber auch das war noch nicht alles; gegen Ende des 26.
Jahrhunderts erschienen Barockformen von Zungentretern, große
Erfolge hatte ein Fersenbeißer, und der berühmte Ondur Steredon,
der gleichzeitig handen, rüpsen und Mandel spielen konnte, während
er mit Wirbelflügeln flog, wurde von der Menge
vergöttert.
Auf dem Höhepunkt der Barockperiode kam der
Sex aus der Mode; ihn pflegten nur kleine Vereinigungen, die der
Komassaten und der Separatisten. Die Separatisten, die die
Zügellosigkeit befehdeten, vertraten die Ansicht, daß es sich nicht
schicke, mit demselben Mund Kohl zu essen, mit dem man den
Geliebten küsse. Unerläßlich sei ein besonderer, der sogenannte
platonische Mund, und am besten wäre es, wenn man gleich einen
ganzen Satz davon hätte, je nach Bestimmung (für Verwandte,
Bekannte und für die auserwählte Person). Die Komassaten, die dem
Funktiona lismus huldigten, wirkten im umgekehrten Sinne, sie
verbanden alles, was sich verbinden ließ, zur Vereinfachung des
Organismus und des Lebens. Der Niedergang dieses Stils, wie
gewöhnlich extravagant und wunderlich, schuf so eigenartige
Gestalten wie die kokette Taburette und den Sechsling, der an einen
Zentauren erinnerte, aber statt Hufe vier nackte Füße hatte, die
mit den Zehen einander zugekehrt waren: Man nannte ihn auch
Stampfer, nach einem Tanz, bei dem energisches Stampfen ein
Grundelement bildete. Jedoch der Markt zeigte Sättigung und
Ermüdung. Es fiel schwer, mit einem neuartigen Körper aufzufallen;
man benutzte Ohrenklappen aus natürlichem Horn; Ohrmuscheln, die
stigmatische Bilder durchscheinen ließen, fächelten mit blassem
Rosa die Wangen der Damen aus der Gesellschaft; und man versuchte,
auf gekrümmten Quasibeinen zu gehen. BÜPROKÖPS lieferte aus purer
Trägheit weitere Projekte, man spürte jedoch das nahende Ende
dieser Formation.
Vertieft in die Lektüre, war ich
inmitten der Bücher, in dem Licht der Lampen, die über mir an der
Decke herumkrochen, eingenickt, ohne zu wissen, wann. Erst der
ferne Klang der Morgenglocken weckte mich. Sogleich erschien auch
mein junger Mönch, um zu fragen, ob ich vielleicht eine Abwechslung
wünsche – wenn ja, so bitte der Prior, daß ich ihn bei seiner
Rundreise durch die ganze Diözese an der Seite des Paters Memnar
begleite. Die Aussicht, die finsteren Katakomben zu verlassen,
erfreute mich, daher gab ich meine Zustimmung.
Die Rundreise sah indes anders
aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. An die Oberfläche gelangten
wir überhaupt nicht; die Mönche hatten niedrige Lasttiere für den
Weg hergerichtet, die bis zur Erde mit Tüchern, grau wie ihre
Kutten, zugedeckt waren; sie setzten sich ohne Sattel darauf, und
so zuckelten wir langsam durch den unterirdischen Gang. Das waren,
wie ich schon vermutet hatte, und diese Vermutung fand ihre
Bestätigung, seit Jahrhunderten nicht mehr benutzte Kanäle der
Metropole, die sich hoch über uns mit einem guten Tausend
halbverfallener Hochhäuser ausbreitete. Die rhythmischen Bewegungen
meines Reittieres hatten etwas Wunderliches an sich; ich gewahrte
auch unter dem Stoff, der es bedeckte, keine Spur von einem Kopf;
nachdem ich diskret unter das Leinen geschaut hatte, überzeugte ich
mich, daß es eine Maschine war, eine Art vierbeiniger Roboter,
überaus primitiv; bis zum Mittag hatten wir nicht einmal zwanzig
Meilen zurückgelegt. Es fiel übrigens schwer, sich über die Länge
des zurückgelegten Weges zu orientieren, er schlängelte sich
nämlich durch das Labyrinth der Kanäle, schwach erhellt von Lampen,
die in kleiner Schar über uns hochflatterten oder gegen die
gewölbte Decke schlugen und an die Spitze der Kolonne eilten, wohin
man sie durch Schnalzen lockte.
Endlich erreichten wir den Sitz
der Prognositenmönche, wo wir mit Ehren empfangen wurden, vor allem
ich stand im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Da der
Möbelwald weit entfernt war, mußten sich die Prognositenpater
besonders tummeln, um meinetwegen einen anständigen Imbiß zu
bereiten. Ihn lieferten die Magazine der verlassenen Metropole, in
Gestalt von Tüten mit Keimlingen; man stellte Schüsseln vor mich
hin, die eine leer, die andere voll Wasser, und ich konnte mich zum
erstenmal von der Wirkung der Produkte der biotischen Zivilisation
überzeugen.
Die Mönche entschuldigten sich
bei mir wegen der fehlenden Suppe; der Mönch, der durch einen
Kanalisationsschacht an die Oberfläche der Erde geschickt worden
war, hatte es einfach nicht verstanden, die richtige Tüte zu
finden; mit dem Kotelett jedoch gab es keine Panne: Der Keimling,
mit einigen Löffeln Wasser übergossen, schwoll an und verflachte,
so daß ich nach einer Weile eine köstlich gebräunte Kalbsscheibe
vor mir hatte, ganz in Butter, die zischend vor Wärme aus den
Fleischporen drang. In dem Kaufhaus, aus dem diese Spezialität
stammte, mußten chaotische Zustände herrschen, denn zwischen die
Päckchen mit gastronomischen Keimlingen waren andere geraten:
Anstelle des Nachtisches wuchs auf meinem Teller ein Magnetophon,
aber es eignete sich auch nicht für den Gebrauch, weil es an den
Spulen Gummibänder von Unterhosen hatte. Man erklärte mir, das sei
ein Effekt der Hybridisierung, die immer vorkomme, denn
unbeaufsichtigte Au tomaten produzierten Keimlinge von immer
schlechterer Qualität; diese biotischen Produkte können sich
kreuzen, und es entstehen auf diese Weise die unheimlichsten
Mischungen. Bei dieser Gelegenheit kam ich endlich dem Geheimnis
auf die Spur, was es mit den wilden Möbeln auf sich
hatte.
Die ehrwürdigen Pater wollten
einen der jüngeren Mönche sogleich ein zweites Mal in die Ruinen
der Stadt schicken, damit er mir etwas zum Nachtisch holte, aber
ich widersetzte mich dem eifrig. Mir war an einem Gespräch weit
mehr gelegen als an einem Nachtisch.
Das Refektorium, einst eine große
Kläranlage der städtischen Kanalisation, war peinlich sauber;
weißer Sand bedeckte den Boden, zahlreiche Lampen brannten, sie
waren bei den Prognositen übrigens von anderer Art als bei den
Destruktianern. Sie blinzelten nämlich und waren gestreift, als
stammten sie von gewaltig vergrößerten Wespen. Wir saßen an einem
langen Tisch, abwechselnd ein Destruktianer und ein Prognosit auf
seinem Chassis; ich war maßlos verlegen, weil ich als einziger ein
entblößtes Gesicht und bloße Hände hatte – in Gegenwart der
verhüllten Gestalten der Roboterpater in ihren Wergkutten mit Glas
in den Augenöffnungen und in Gegenwart der Computermönche, die mit
ihren kantigen Formen nicht im geringsten an Lebewesen erinnerten;
einige von ihnen waren unter dem Tisch durch Kabelschnüre
verbunden, aber ich wagte nicht, nach dem Sinn dieser Verbindungen
zu fragen.
Das Gespräch, das sich bei diesem
einsamen Mittagessen entspann – denn ich allein nahm es ein –,
hatte sich wieder der transzendentalen Thematik zugewandt. Ich
wollte erfahren, was die letzten Gläubigen Dychthoniens über die
Fragen von Gut und Böse, Gott und Teufel dachten, und als ich diese
Frage stellte, trat eine längere Stille ein. Nur die gestreiften
Lampen summten leise in den Ecken des Refektoriums, vielleicht war
das auch der Strom der Prognositenpater.
Schließlich ergriff ein mir
gegenübersitzender älterer Computer das Wort, der, wie ich später
von Pater Darg erfuhr, Religionshistoriker war.
»Das Ziel fest vor Augen, würde
ich unsere Anschauungen so formulieren«, sagte er. »Der Satan ist
das, was wir in Gott nicht begreifen. Das bedeutet nicht, daß wir
glauben, Gott selbst bilde eine Allianz des höheren und des
niederen Elements, des Guten und des Bösen, der Liebe und des
Hasses, der Macht des Schaffens und der Gier, etwas zu zerstören.
Der Satan ist der Gedanke, daß man Gott einschränken,
klassifizieren, absondern kann, indem man eine fraktionierte
Destillation so durchführt, daß er das und nur das wird, was wir
akzeptieren können und wovor wir uns nicht mehr schützen wollen.
Dieser Gedanke läßt sich innerhalb der Geschichte nicht
aufrechterhalten, denn seine unvermeidliche Konsequenz wäre die
Schlußfolgerung, daß es kein anderes Wissen gibt als jenes, das vom
Satan herrührt, und daß er sich so lange ausdehnt, bis er alles,
was sich Wissen aneignet, vollends verschluckt hat. Und das darum,
weil das Wissen nach und nach die Direktiven vernichtet, die als
die offenbarten Gebote bezeichnet werden. Es gestattet, zu töten,
ohne daß man tötet, und zu zerstören – jedoch so, daß dieses
Zerstören Neues schafft; es verflüchtigen sich durch seine
Vermittlung Personen, denen Ehre gebühren sollte, so zum Beispiel
der Vater und die Mutter, und es stürzen dadurch Dogmen ein, wie
das von der übernatürlichen unbefleckten Empfängnis und von der
unsterblichen Seele.
Wenn das Versuchungen des Teufels
gewesen sind, dann ist alles, was man berührt, eine teuflische
Versuchung, und man könnte nicht einmal behaupten, daß der Teufel
die Zivilisation verschlungen habe, nicht aber die Kirche, weil die
Kirche nach und nach, obwohl widerstrebend, die Zustimmung zum
Erlangen des Wissens erteilt, und es gibt auf diesem Wege keine
Stelle, an der sie sagen könnte »bis hierher und nicht weiter!«,
denn niemand, sei es innerhalb oder außerhalb der Kirche, vermag zu
wissen, worin die Folgen des heute Erkannten bestehen werden. Die
Kirche kann dem Fortschritt von Zeit zu Zeit Schlachten liefern,
aber wenn sie eine Front verteidigt, sagen wir die Unantastbarkeit
der Empfängnis, vollzieht der Fortschritt, anstatt einen frontalen
Kampf zu führen, ein Umkreisungsmanöver, mit dem er den Sinn der
verteidigten Positionen liquidiert. Vor tausend Jahren verteidigte
unsere Kirche die Mutterschaft, und da liquidierte das Wissen den
Begriff der Mutter, indem es zunächst den Akt der Mutterschaft in
zwei Teile spaltete, indem es ihn dann aus dem Körper verlegte,
nach außen also, und indem es schließlich eine Synthese des Keims
vollzog, so daß nach drei Jahrhunderten ihre Verteidigung jeglichen
Sinn verloren hatte. Damals mußte die Kirche der Befruchtung aus
der Entfernung und der Empfängnis im Laboratorium zustimmen, der
Geburt in einer Maschine und dem Geist in der Maschine und der
Maschine selbst, die der Sakramente teilhaftig wurde, und dem
Verschwinden des Unterschieds zwischen dem natürlich geschaffenen
und dem künstlichen Sein. Beharrte sie auf ihrem Standpunkt, dann
müßte sie eines Tages erkennen, daß es keinen anderen Gott als den
Satan gibt.
Um Gott zu retten, haben wir die
Historizität des Satans anerkannt, das heißt seine Evolution als
die sich in der Zeit verändernde Projektion all jener Merkmale, die
uns im Erschaffenen zugleich entsetzen und niederstauchen. Der
Satan ist der naive Gedanke, daß man zwischen Gott und Nichtgott
unterscheiden könne wie zwischen Tag und Nacht. Gott ist ein
Geheimnis, der Satan besteht in den zu einer Person vereinigten,
teilweise abgesonderten Zügen dieses Geheimnisses. Es gibt für uns
keinen überhistorischen Satan. Das einzige, was an ihm dauerhaft
ist und was für eine Person gehalten wird, rührt von der Freiheit
her. Du aber, lieber Gast und Ankömmling aus fernen Gegenden, mußt,
wenn du mir zuhörst, die Kategorien deines Denkens vergessen, das
sich in einer anderen Geschichte als der unsrigen geformt hat
Freiheit bedeutet für uns etwas ganz anderes als für dich. Sie
bedeutet den Wegfall jeglicher Beschränkungen des Handelns, das
heißt das Verschwinden all jener Widerstände, denen das Leben in
seinem verstandesmäßigen Dämmerzustand begegnet. Diese Widerstände
formen den Verstand, denn sie holen ihn aus den vegetativen Ab
gründen an die Oberfläche. Da sich diese Widerstände recht spürbar
bemerkbar machen, träumt die historische Vernunft von der Fülle der
Freiheiten als der Erfüllung, und deshalb strebt sie eben mit
zivilisatorischen Schritten in diese Richtung. Es gibt da den
Schritt der Meißelung steinerner Urnen und den Schritt der
Wiedererweckung von den Toten, und es gibt den Schritt des
Verlöschens der Sonnen, und zwischen ihnen gibt es keine
unüberwundenen Hindernisse.
Die Freiheit, von der ich
spreche, ist nicht der bescheidene Zustand, den sich Menschen
wünschen, wenn andere sie peinigen. Dann ist nämlich der Mensch für
den Menschen das Gitter, die Wand, das Netz und der Abgrund. Die
Freiheit, die ich meine, liegt weiter, sie erstreckt sich hinter
dieser Zone der wechselseitigen sozialen Behinderungen, denn durch
diese Zone kann man unversehrt hindurchgehen, aber dann, auf der
Suche nach neuen Widerständen, weil Menschen sie für Menschen nicht
mehr errichten, findet man sie in der Welt und in sich selbst
wieder und wählt sich und die Welt zum Widersacher, um mit beiden
zu kämpfen und um sich beide unterzuordnen. Und wenn auch das
gelingt, klafft vor uns der Abgrund der Freiheit, denn je mehr man
tun kann, desto weniger weiß man, was zu tun ist. Zunächst lockt
die Klugheit, aber aus dem Wasserkrug in der Wüste wird sie zu
einem Krug mitten in einem See, wo sie aneigbar ist wie Wasser und
wo man Eisenschrott und Froschlaich mit ihr ausstatten
kann.
Wenn aber das Streben nach
Weisheit würdig erscheint, so gibt es für die Flucht aus der
Weisheit keine würdigen Argumente; niemand verkündet dann nämlich
laut, daß er nach Stumpfsinn lechzt, und selbst wenn er es wollte
und den Mut hätte, dies zu bekennen, wie weit sollte er dann
zurückweichen? Es gibt ja keine angeborenen Abgründe mehr zwischen
dem Verstand und dem Unverstand, denn die Wissenschaft hat sie
verquantet und aufgelöst, und deshalb wartet auch auf den Deserteur
des Wissens die Freiheit, er muß nämlich eine Verkörperung wählen,
die ihm zusagt, und vor ihm stehen mehr Chancen, als es Sterne am
Himmel gibt. Ein schrecklich Kluger wird unter seinesgleichen zur
Karika tur der Klugheit, so wie eine Bienenkönigin ohne Bienenkorb
die Karikatur der Mutter wird, wenn die Unmenge Eier, die ihren
Leib zum Bersten bringt, zu nichts nütze ist.
Es kommt also zur Flucht von
dieser Stelle, heimlich und mit größter Scham oder gewaltsam und in
größter Panik. Dort, wo jeder so sein muß, wie er ist, bleibt er
auch notgedrungen bei dem Seinen. Dort, wo jeder anders sein kann,
als er ist, wird er sein Schicksal mit Sprüngen existentieller
Umsteigemanöver zerstückeln. Eine solche Gesellschaft gleicht von
oben einem Insektenschwarm auf einer glühenden Platte. Von weitem
mutet ihre Qual wie eine Farce an, denn es belustigen einen die
Sprünge von der Weisheit in den Stumpfsinn und die Früchte des
Verstandes, die dazu benutzt werden, auf dem Bauch wie auf einer
Trommel zu spielen, auf hundert Beinen zu laufen oder Wände mit
Hirn zu tapezieren. Wenn man ein geliebtes Wesen doublieren kann,
gibt es keine geliebten Wesen mehr, sondern einen Hohn auf die
Liebe, und wenn man jeder sein und beliebige Überzeugungen nähren
kann, ist man niemand mehr und hat keine Überzeugungen. Daher geht
unsere Geschichte auf den Grund und springt von diesem Grund wieder
ab, wobei sie wie ein Hampelmann an einer Schnur hüpft, und deshalb
wirkt sie so unsagbar komisch.
Die Obrigkeit reglementiert die
Freiheit, aber sie markiert auf diese Weise unechte Grenzen, die
der Aufruhr angreift, weil man einmal vollzogene Entdeckungen nicht
wieder zudecken kann. Wenn ich also sage, daß der Satan die
Verkörperung der Freiheit ist, so will ich damit den Gedanken
ausdrücken, daß er jene Seite des Werkes Gottes darstellt, die uns
am meisten als Scheideweg der Macht des Kontinuums entsetzt, an dem
wir, gelähmt durch das erreichte Ziel, stehenbleiben. Gemäß dem
naiven philosophischen Denken ›sollte‹ die Welt uns so beschränken,
wie eine Zwangsjacke einen Verrückten einschränkt, und die zweite
Stimme in der gleichen Philosophie des Seins sagt, daß diese
Fesseln in uns selbst stecken ›sollten‹. Wer so spricht, der lechzt
nach Grenzen der Freiheit, die entweder in der Welt oder in ihm
selbst markiert werden, denn er will, daß ihn die Welt in gewissen
Richtungen nicht durchläßt oder daß ihn seine eigene Natur
zurückhält. Aber Gott hat uns weder die ersten noch die zweiten
Grenzen gegeben. Und er hat sie nicht nur nicht gegeben, sondern er
hat die Stellen geglättet, an denen wir sie einst erwartet hatten,
damit wir selbst nicht wissen, daß wir gerade im Begriff sind, sie
zu überschreiten.«
Ich fragte, ob daraus etwa die
These resultiere, daß Gott nach den Auffassungen des Duismus
identisch mit dem Satan sei. Ich beobachtete, wie eine unmerkliche
Bewegung die Anwesenden erfaßte. Der Historiker schwieg, und der
General des Ordens sagte: »Es ist so, wie du sagst, aber nicht so,
wie du denkst. Wenn du sagst ›Gott ist Satan‹, so verleihst du
diesen Worten den drohenden Sinn der Nichtswürdigkeit des
Schöpfers. Was du gesagt hast, ist dann eine Unwahrheit – aber nur
in deinem Munde. Wenn ich das sagte oder einer der hier anwesenden
Pater, dann würden diese Worte etwas ganz anderes bedeuten. Sie
würden nur bedeuten, daß es solche Gaben Gottes gibt, die wir ohne
Widerstreben annehmen können, und solche, die wir nicht tragen
können. Sie würden bedeuten: Gott hat uns in nichts, aber auch in
gar nichts beschränkt, nicht geschmälert und nicht gefesselt.
Bedenke bitte, daß die Welt, die zu lauter Gutem gezwungen ist, das
gleiche Asyl der Unfreiheit ist wie die Welt, die man zu lauter
Bösem zwingt. Stimmst du mir zu, Dagdor?«
Der Historiker, an den diese
Frage gerichtet war, bestätigte das und ergriff das Wort.
»Mir als dem Historiker der
Glaubenslehren sind Theogonien bekannt, denen zufolge Gott eine
nicht völlig vollkommene Welt eingerichtet habe, die jedoch in
gerader oder in einer Zickzacklinie oder auch in einer Spirale zur
Vollendung strebe, das heißt, mir sind Lehren bekannt, denen
zufolge Gott ein sehr großes Kind ist, das Spielzeug zu seiner
eigenen Freude in der ›richtigen‹ Richtung in Gang setzt. Ich kenne
auch Doktrinen, die das als vollkommen bezeichnen, was schon ist,
und die, damit die Rechnung dieser Vollkommenheit in der Bilanz
stimmt, darin eine Korrektur vornehmen, und diese Korrektur trägt
den Namen des Teufels. Aber sowohl das Modell des Seins als Spiel
mit Eisenbahnen und der auseinanderschnellenden Sprungfeder des
ewigen Fortschritts, der das Erschaffene immer leistungsfähiger
dorthin bewegt, wo es immer besser ist, als auch das Seinsmodell,
in dem die Welt ein Boxkampf des Lichten mit den Mächten des
Dunklen ist, die vor dem göttlichen Ringrichter kämpfen, wie auch
das Modell der Welt, in der Eingriffe durch Wunder unerläßlich
sind, das heißt, wo das Erschaffene wie eine Uhr ist, die
entzweigeht, und das Wunder die göttliche Pincette, die das
Sternwerk berührt, um das Erforderliche festzuschrauben, wie
letztlich auch das Modell der Welt als eine schmackhafte Torte, in
die Gräten teuflischer Versuchungen hineingesteckt sind – sie alle
stellen Bilder aus einem Lesebuch der vernünftigen Gattung dar, das
heißt aus einem Büchlein, das das gereifte Alter mit gerührter
Melancholie, aber mit einem Achselzucken auf die Regale des
Kinderzimmers stellt. Es gibt keine Dämonen, wenn man nicht die
Freiheit für einen Dämon hält; es gibt eine Welt, und es gibt einen
Gott, und es gibt einen Glauben, lieber Gast, der Rest ist
Schweigen.«
Ich wollte fragen, worin nach
ihrer Auffassung die positiven Merkmale Gottes und der Welt
bestünden, denn bisher hatte ich immer nur gehört, was Gott
nicht sei, und nach der Darlegung zum
Thema der Eschatologie der Freiheit brummte und schwirrte mir der
Kopf – aber wir mußten ja zu unserem weiteren Weg aufbrechen. Als
wir uns wieder auf unseren eisernen Rossen wiegten, fragte ich
Pater Darg, von einem unverhofften Gedanken durchzuckt, warum sein
Orden eigentlich den Namen »Destruktianer« trage.
»Das hängt mit dem Thema unseres
Tischgespräches zusammen«, erwiderte er. »Dieser Name, der
historischer Herkunft ist, bezeichnet die Zustimmung zum Sein als
Ganzem, einem Ganzen, das von Gott herrührt, sowohl darin, was in
ihm Schöpfertum ist, als auch darin, was uns als sein Gegenteil
erscheint. Er bedeutet nicht«, beeilte er sich hinzuzufügen, »daß
wir uns für die Zerstörung, für die Destruktion aussprechen; gewiß
würde jetzt niemand den Orden so taufen, aber dieser Name ist die
Frucht eines gewis sen theologischen Trotzes, der die bereits
überwundenen Krisen der Kirche widerspiegelt.«
Ich kniff die Augen zusammen,
denn wir waren an eine Stelle gelangt, an der der Kanal durch einen
Gewölbeeinsturz teilweise an die Bodenoberfläche hinausführte, und
ich konnte lange nicht die Lider heben, so sehr war ich der Sonne
entwöhnt. Wir befanden uns auf einer Ebene, die keinerlei Spuren
von Vegetation zeigte; die Stadt stand mit der bläulichen
Silhouette der Hochhäuser am Horizont, glatte, breite Straßen, die
in verschiedene Richtungen führten, durchschnitten den Raum; sie
schienen aus silbrigem Metall gegossen zu sein und waren völlig
leer, ebenso wie der Himmel, über den nur ein paar bauchige weiße
Wolken zogen.
Unsere Reittiere, die sich nun
besonders unbeholfen bewegten, denn die Straße war für hohe
Geschwindigkeiten geschaffen, schritten langsam, quietschend dahin,
auch sie schienen von den Strahlen der Sonne geblendet zu sein, an
die sie nicht gewöhnt waren. Wir näherten uns einer Wegverkürzung,
die den Mönchen vertraut war, doch bevor wir die Betonrinne
erreichten, die von neuem in den Boden drang, tauchte zwischen den
Bögen eines Viadukts ein kleines Gebäude von smaragdener und
goldener Farbe auf, sicherlich eine Tankstelle, sagte ich mir.
Daneben stand ein Fahrzeug, flach wie eine große Küchenschabe; die
Form war offenbar der Geschwindigkeit angepaßt. Das Gebäude hatte
keine Fenster, nur halbdurchsichtige Wände, durch die das
Sonnenlicht in das Innere drang wie durch ein Kirchenfenster. Als
unsere weit auseinandergezogene Kolonne etwa sechzig Schritt davon
entfernt war, vernahm ich von dort ein so schreckliches Stöhnen und
Röcheln, daß sich mir die Haare sträubten. Die Stimme – es war eine
menschliche, das stand für mich fest – röchelte und stöhnte
abwechselnd, und ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß es
sich um die Schreie eines Gemarterten handelte, vielleicht wurde
sogar jemand umgebracht. Ich sah meine Gefährten an, aber die
schenkten dem nicht die geringste Beachtung.
Ich wollte ihnen zurufen, daß wir
uns beeilen sollten, aber das Entsetzen darüber, daß ihnen das
Schicksal eines Gefolterten so gleichgültig sein konnte, nahm mir
die Stimme, also sprang ich von dem eisernen Vierbeiner herunter
und rannte los, ohne mich umzusehen. Noch ehe ich das Gebäude
erreicht hatte, trat nach einem kurzen, röchelnden Aufschrei Stille
ein. Das Gebäude war ein Pavillon mit beschwingten Formen, eine Tür
war nicht zu sehen; ich umkreiste ihn einmal und blieb wie
angewurzelt vor einer Wand aus durchsichtigem bläulichem Glas
stehen: Auf einem blutbespritzten Tisch ruhte eine nackte Gestalt
zwischen irgendwelchen Apparaten, die funkelnde Röhrchen oder
Zangenarme in den menschlichen Körper bohrten, der in einer so
verkrampften Stellung dalag, daß ich die Arme nicht von den Beinen
unterscheiden konnte. Ich sah auch den Kopf nicht oder das, was an
seiner Stelle war; dieser Teil der Gestalt war von einem schweren
Metallgehäuse umschlossen, das von oben heruntergelassen war,
gespickt mit nadelförmigen Dornen. Aus den zahllosen Wunden des
Leichnams floß kein Blut mehr, das Herz hatte zu schlagen
aufgehört. An den Füßen spürte ich den von der Sonne erhitzten
Sand, in meinen Ohren tönten noch immer die anklagenden Schreie
dieses Dychthoniers; ich stand da, bestürzt über die Greueltat,
betroffen vor Angst, völlig konsterniert angesichts dieser
unbegreiflichen Szenerie, denn die Leiche war allein – ich spähte
in alle Winkel dieser Stätte der maschinellen Folterung, ohne
jemanden zu erblicken. Dann näherte sich mir von hinten eine
Kapuzengestalt – ich spürte es eher, als ich es hörte –, und als
ich aus dem Augenwinkel erkannte, daß es der Prior war, versetzte
ich heiser: »Was ist das? Wer hat ihn getötet? Was…?«
Er verharrte wie eine Bildsäule
neben mir, und mir versagte die Stimme – mir wurde bewußt, daß es
ja wirklich nur eine eiserne Bildsäule war; unter der Erde hatten
die verhüllten Gestalten der Mönche in ihren spitzen Kapuzen nicht
so unheimlich fremd ausgesehen wie hier, im Sonnenlicht, inmitten
der weißen Geometrie der Wege, vor dem klaren Hintergrund des
Horizonts. Die Leiche dort, hinter der Glaswand, die sich in den
Griffen des Metalls krümmte, erschien mir nun vertraut und nah, da
ich ganz allein zwischen den kalten, logischen Maschinen stand, die
zu nichts anderem fähig waren als zu abstrakten Überlegungen. Mich
erfaßte ein Unwillen, mehr noch, das Verlangen, mich wortlos zu
entfernen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, denn
zwischen mir und ihnen hatte sich in diesem einen Augenblick ein
unüberwindlicher Abgrund aufgetan. Ich blieb jedoch stehen, neben
dem Prior, der schwieg, als ob er auf etwas wartete.
In dem Raum mit dem bläulichen
Licht, das durch das Glas der Decke und der Wände gefiltert wurde,
bewegte sich etwas. Die funkelnden Arme der Geräte begannen sich
über dem Erstarrten zu regen. Sie richteten vorsichtig die Glieder
des zu Tode Gemarterten und begossen seine Wunden mit einer
wasserhellen Flüssigkeit, die dampfte, während sie das Blut
abspülte. Der Tote ruhte jetzt flach, wie zur ewigen Ruhe gebettet,
doch nun blitzten Schneiden auf, so daß ich schon glaubte, sie
würden ihn sezieren, und obwohl er tot war, wollte ich doch
hineinstürzen, um ihn vor der Zerstückelung zu bewahren, aber der
Prior legte mir seine eiserne Hand auf die Schulter. So rührte ich
mich nicht.
Die glänzende Glocke hob sich,
und ich erblickte ein menschenunähnliches Gesicht; nun arbeiteten
alle Maschinen gleichzeitig, und zwar so schnell, daß ich nur ein
Flimmern und die Bewegung der gläsernen Pumpe über dem Tisch sah,
in der rote Flüssigkeit siedete. Inmitten dieses Wirrwarrs hob und
senkte sich plötzlich die Brust des Liegenden, vor meinen Augen
vernarbten seine Wunden, sein ganzer Körper begann sich zu bewegen
und zu strecken.
»Ist er auferstanden?« fragte ich
leise.
»Ja«, erwiderte der Prior. »Um
noch einmal zu sterben.«
Der Liegende sah sich um, packte
mit seiner weichen, knochenlosen Hand einen Griff, der an der Seite
hervorragte, und zog daran – die Glocke glitt wieder auf seinen
Kopf, die schrägen Zangen stießen aus ihren Scheiden hervor,
packten den Leib, und dann ertönten die gleichen Schreie wie
vorher. Ich begriff so wenig von alledem, daß ich mich willenlos zu
der geduldig wartenden Karawane der Verhüllten führen ließ. Wie
erstarrt bestieg ich das Reit tier und lauschte den Worten, die an
mich gerichtet waren – der Prior erklärte mir, daß der Pavillon ein
besonderer Dienstleistungsbetrieb sei, in dem man seinen eigenen
Tod erleben könne. Es gehe dabei um die Empfindung möglichst
erschütternder Eindrücke, die jedoch keinerlei Qualen verursachten,
denn durch einen Reiztransformator verwandelte sich der Schmerz in
unsagbare Wollust. All das rühre daher, daß den Dychthoniern dank
gewissen Typen der Automorphie sogar Todesqualen lieb seien, und
wem das eine Mal nicht genüge, der könne sich nach der
Wiedererweckung erneut totschlagen lassen, um die unheimliche
Erschütterung ein zweites Mal zu erleben. Und in der Tat, unsere
eiserne Karawane entfernte sich von diesem Ort der
»Dienstleistungshinrichtung« langsam genug, so daß das Röcheln und
Stöhnen des Liebhabers starker Erregung noch lange zu uns drang.
Diese besondere Technik trug die Bezeichnung »Agonanie«.
Es ist eine Sache, in einem
historischen Werk von blutigen Unruhen der Geschichte zu lesen, und
eine andere, mit eigenen Augen auch nur einen Bruchteil davon zu
sehen und zu erleben. Mir war der Aufenthalt auf der Oberfläche, in
der prallen Sonne, inmitten der silbernen Bögen der Autostraßen
derart vergällt, und der in der Ferne flimmernde Funke des
Pavillons jagte mir solch ein Entsetzen ein, daß ich mit unsagbarer
Erleichterung in die Finsternisse des Kanals hinabstieg, der uns
mit kühlem, beschützendem Schweigen empfing. Der Prior ahnte wohl,
wie tief meine Erschütterung war, er sagte nichts. Bis zum Abend
besuchten wir noch die Einsiedelei eines Anachoreten und den Orden
der »Kleineren Brüder«, der das Klarbecken der Kanäle des
Villenviertels bewohnte. Schließlich, zu später nächtlicher Stunde,
beendeten wir die Rundreise durch die Diözese und kehrten zum Sitz
der Destruktianermönche zurück. Ihnen gegenüber empfand ich nun
eine seltsame Scham, wenn ich an den Augenblick dachte, da ich so
über sie erschrocken war und sie so gehaßt hatte.
Die kleine Zelle erschien mir nun
wie ein trautes Zuhause; von einem fürsorglichen Mönchsbruder
zubereitet, harrte meiner schon eine gespickte kalte Schublade, und
nachdem ich sie rasch verschlungen hatte, schlug ich den Band der
dychthonischen Geschichte auf, der sich mit der Neuzeit
beschäftigte.
Das erste Kapitel berichtete von
den autopsychischen Bewegungen des 29. Jahrhunderts. Die Ermüdung
durch die Allveränderlichkeit war damals so groß gewesen, daß die
Idee von der Abkehr vom Körper und von der Beschäftigung mit der
Formung des Geistes die Gesellschaft gewissermaßen verjüngte und
sie aus dem Marasmus riß. So begann die Wiedergeburt. Ihr standen
die Genialiten vor, mit ihrem Plan, alle Lebenden in Weise zu
verwandeln. Dieses Vorhaben entfachte im Nu einen ungeheuren
Wissensdurst, es interessierte die wissenschaftliche Forschung,
führte zu interstellaren Verbindungen mit anderen Zivilisationen,
jedoch das lawinenhafte Anwachsen der Kenntnisse zwang zu weiteren
Umgestaltungen des Körpers, denn das Wissen fand nun nicht einmal
mehr im Bauch Platz; die Gesellschaft genialisierte sich zunehmend,
wahre Wellen der Gelehrsamkeit umspülten den Planeten. Diese
Renaissance, die den Sinn des Daseins in der Erkenntnis sah, währte
siebzig Jahre. Es wimmelte von Denkern, von Professoren,
Superfessoren, Ultrafessoren, schließlich auch von
Kontrafessoren.
Und da es immer unbequemer wurde,
das mächtiger werdende Hirn auf dem Folger mit sich
herumzuschleppen, verwandelte das Leben selbst – nach einer kurzen
Phase der sogenannten »Doppeltdenkenden« (sie besaßen zwei
körperliche Schubkarren, einen vorderen und einen hinteren, für
höhere und niedere Überlegungen) – die Genialiten in Immobilien.
Jeder steckte gewissermaßen in einem Turm seiner eigenen
Intelligenz, umwunden von den Schlangen der Kabel wie eine Gorgo;
die Gesellschaft erinnerte an eine Pflasterscheibe wie Honig
gesammelter Weisheit, in der die lebende menschliche Brut stak. Man
verständigte sich ohne Leitungen und stattete einander Telebesuche
ab; die weitere Eskalation führte zum Konflikt der Verfechter des
Vereinigens der individuellen Vorräte mit den Sammlern des Wissens,
die jede Information zu ihrem Eigentum machen wollten. Es kam zu
den verschiedensten Praktiken: zum Belauschen fremder Überlegungen,
zum Abfangen glänzenderer Konzeptionen, zum Anlegen von Gruben
unter den Türmen der Widersacher in der Philosophie und in den
Künsten, zum Verfälschen der Daten, zum Anzapfen der Kabel und
schließlich sogar zu Versuchen, die fremden psychischen Güter samt
der Persönlichkeit ihrer Eigentümer zu annektieren.
Die Reaktion auf all dies war
heftig. Unsere irdischen mittelalterlichen Stiche, die Drachen und
überseeische Wundertiere darstellen, sind eine Kinderei im
Vergleich zu der körperlichen Zügellosigkeit, die den Globus
erfaßte. Die letzten Genialiten, halb blind von der Sonne, krochen
unter den Ruinen hervor, um die Städte zu verlassen, Einreißer,
Strömer und Zersplitterer grassierten in dem allgemeinen Chaos. Es
entstanden Vereinigungen von Körpern und Apparaten, die im Buhlen
geübt waren (Maschiner, Kahlwagen, Draisiner), höhnische
Karikaturen auf die Geistlichkeit tauchten auf – Schabermönch mit
Schabernonne – und sogar ein »Raupner« und ein
»Bauchstier«.
Damals verbreitete sich auch das
Freisterben, es kam zu einer
tiefgreifenden Verkümmerung der Zivilisation. Horden muskulärer
Würger poussierten in den Wäldern mit Kriecherinnen herum, in
abgeschiedenen Trichtern lauerten Schwabbler. Nichts zeugte mehr
davon, daß der Planet einst die Wiege der Vernunft in
Menschengestalt gewesen war. In den Parks, in denen Tischunkraut
und wilder Tafelaufsatz wucherten, ruhten zwischen den Büschen des
Tischtuchstrauchs die Häufer, das heißt
wahre Berge atmenden Fleisches. Die meisten dieser monströsen
Formen entstanden nicht durch bewußte Auswahl und Planung, sondern
sie waren eine grauenvolle Folge von Defekten an körpererzeugenden
Maschinen: Sie schufen nicht das, was ihnen aufgegeben worden war,
sondern entartete, invalide Ungeheuer. In dieser Zeit der
gesellschaftlichen Monstrolyse, wie
Professor Grags schreibt, schien die Vorgeschichte eine wundersame
Revanche an den späten Nachkommen zu üben, denn das, was dem
ursprünglichen Vorstellungsvermögen lediglich als ein Alpdruck der
Mythen erschienen war, der Begriff Grauen, wurde in der blind
entfachten biotischen Maschinerie zu Fleisch.
Mit dem Beginn des 30.
Jahrhunderts übernahm Dsomber Glaubon die diktatorische Gewalt über
den Planeten und setzte innerhalb von zwanzig Jahren eine
körperliche Vereinheitlichung, Normalisierung und Standardisierung
durch, die zunächst als Erlösung betrachtet wurden. Er war ein
Verfechter des aufgeklärten und humanitären Absolutismus, daher
ließ er es nicht zur völligen Ausrottung der degenerierten Formen
aus dem 29. Jahrhundert kommen, sondern er empfahl, sie in
besonderen Reservaten zu konzentrieren; übrigens befand sich am
Rande eines solchen Reservats unter den Ruinen der einstigen
Provinzhauptstadt das unterirdische Kloster der
Destruktianermönche, in dem ich Schutz gefunden hatte. Nach dem
Beschluß D. Glaubons sollte jeder Bürger ein solcher
Eingeschlechtiger sein, der von vorn und von hinten gleich aussah.
Glaubon verfaßte die »Gedanken«, ein Werk, in dem er sein Programm
darlegte. Er nahm der Bevölkerung das Geschlecht, weil er darin die
Ursachen des Niedergangs sah; die Wollustzentren beließ er seinen
Untertanen nach ihrer Vergesellschaftung. Er beließ ihnen auch den
Verstand, denn er wollte nicht über Schwachsinnige herrschen,
sondern als Erneuerer der Zivilisation gelten.
Aber Verstand bedeutet im Grunde
die Existenz verschiedener, also auch unorthodoxer Ideen. Die
illegale Opposition ging in den Untergrund und widmete sich
düsteren, gegen die Geschlechtslosigkeit gerichteten Orgien – das
behauptete wenigstens die Regierungspresse. Glaubon verfolgte zwar
die Oppositionellen nicht, aber Pater Darg versicherte mir, daß die
Regierungspresse in ihrem Eifer übertrieb. Die Oppositionellen
nahmen demonstrativ neue Formen an (Streifige, Hintrige), und
schließlich sollen im Untergrund auch sogenannte Doppelhintrige
gewirkt haben, die verkündeten, man brauche den Verstand nur, um zu
begreifen, daß man sich seiner so schnell wie möglich entledigen
müsse, denn er sei der Urheber aller historischen Niederlagen. An
die Stelle des Kopfes setzten sie das, was wir für sein Gegenteil
halten; sie behaupteten, er sei störend, schädlich, ja banal. Den
Hintrigen gefiel der Kopf nicht, also verwarfen sie ihn, und das
Hirn verlegten sie nach unten. Von dort schaute es mit einem
Bauchnabelauge in die Welt und mit einem zweiten, das hinten
angebracht war, noch etwas tiefer.
Nachdem eine gewisse Ordnung
eingeführt worden war, verkündete Glaubon den Plan einer
tausendjährigen Stabilisierung der Gesellschaft dank der
sogenannten Hedalgetik. Ihrer Einführung ging eine große
Pressekampagne unter der Losung »Der Sex im Dienste der Arbeit!«
voraus. Jedem Bürger wurde ein Arbeitsplatz zugewiesen, und die
Ingenieure der Nervenwege verbanden die Neuronen seines Hirns
dergestalt, daß er nur dann Wollust empfand, wenn er gehörig
arbeitete. Ob also jemand Bäume pflanzte oder Wasser schleppte, er
schwamm förmlich in Wonne, und je mehr er arbeitete, desto
intensiver war die Ekstase, die er empfand. Aber die dem Verstand
eigene Durchtriebenheit untergrub auch diese, wie man meinen
möchte, untrügliche soziotechnische Methode. Die Nonkonformisten
zum Beispiel betrachteten das bei der Arbeit empfundene
Glücksgefühl als eine Form des Zwanges. Sie widersetzten sich der
Arbeitslust (Laboribido) und taten entge gen dem Verlangen, das sie
zu der ihnen empfohlenen Arbeit drängte, nicht das, wozu ihr Trieb
sie lockte, sondern das Gegenteil: Wer Wasserträger sein sollte,
sägte Holz, und wer Holz zerkleinern sollte, schleppte Wasser –
alles im Rahmen der regierungsfeindlichen Manifestationen. Die
Verstärkung der vergesellschafteten Lustgefühle, die auf Glaubons
Befehl mehrfach vorgenommen wurde, fruchtete nichts, sie hatte
lediglich zur Folge, daß die Historiker die Jahre der
Glaubon-Herrschaft als die Ära der Märtyrer bezeichneten. Der
Biolizei fiel es immer schwerer, schuldhafte Ausschreitungen zu
erkennen, denn wer in flagranti beim Empfinden von Qualen ertappt
wurde, behauptete heuchlerisch, er stöhne vor Wonne. Glaubon zog
sich tief enttäuscht aus dem biotischen Leben zurück, denn er sah,
daß der Ruin seines großen Plans nicht mehr aufzuhalten
war.
Später, an der Wende vom 31. zum
32. Jahrhundert, kam es zu Diadochenkämpfen; der Planet zerfiel in
Provinzen, die von Bürgern bewohnt wurden, welche nach den
Empfehlungen der lokalen Behörden geformt waren. Das war bereits
die Zeit der postmonstrolytischen Gegenreformation. Aus früheren
Jahrhunderten waren die Anhäufungen der halbeingestürzten Städte
und Zuchtstätten übriggeblieben, Reservate, die nur sporadisch von
Kontrollstreifen aufgesucht wurden, verlassene Sexostraßen und
andere Überreste der Vergangenheit, die manchmal noch auf halb
invalide Weise funktionierten. Tetradoch Glambron führte eine
Zensur der genetischen Codes ein, die bestimmte Arten von Genen für
verboten erklärte, doch die zensurwidrigen Exemplare korrumpierten
entweder die Kontrollorgane oder benutzten an öffentlichen
Örtlichkeiten Masken, Ansatzhalter und ähnliche Dinge. Man klebte
sich die Schwänze mit einem Pflaster am Rücken fest oder schob sie
heimlich ins Hosenbein, und daß all dies praktiziert wurde, war ein
offenes Geheimnis.
Pentadoch Marmosel, der nach dem
Prinzip »divide et impera« handelte, erweiterte die Anzahl der
zugelassenen Geschlechter. Unter seiner Regierung führte man neben
Mann und Frau den Drann und das Reib ein sowie zwei
Hilfsgeschlechter – die Stützer und die Anreifer. Das Leben, vor
allem das erotische, wurde unter diesem Herrscher sehr kompliziert.
Geheime Organisationen, die sich zu Beratungen zusammenfanden,
taten dies unter dem Vorwand des von der Obrigkeit empfohlenen »Sex
zu sechst«, was dazu führte, daß ganze Teile des Projekts
annulliert wurden: Heute existieren nur noch der Drann und das
Reib.
In der Ära der Hexadochen waren
Anspielungen auf körperliche Formen gang und gäbe, mit denen die
Chromosonenzensur umgangen wurde. Ich sah Konterfeis von Personen,
bei denen die Ohrläppchen in kleine Waden übergingen – man wußte
nicht, ob eine solche Person mit den Ohren wackelte oder ob es eine
»anspielende Bewegung« war wie beim Ausschlagen. In bestimmten
Kreisen schätzte man eine Zunge, die einen kleinen Huf an der
Spitze hatte. Sie war zwar unbequem und zu nichts nütze, aber so
manifestierte sich eben der Geist der somatischen Unabhängigkeit.
Guryl Hapsodor, der als liberal galt, gestattete besonders
verdienten Bürgern den Besitz eines zusätzlichen Beins; man
betrachtete dies als ehrenvolle Auszeichnung, und später diente
solch ein Bein, nachdem es seinen Fortbewegungscharakter verloren
hatte, zur Kennzeichnung eines öffentlichen Amtes; höhere Beamte
hatten bis zu neun Beine; dadurch konnte man den Rang eines jeden
sogar im Bad sofort erkennen.
Unter der Herrschaft des strengen
Rondr Ischiolis wurden keine Genehmigungen für zusätzliche
Körpererweiterungen mehr vergeben, und denen, die sich
Ausschreitungen zuschulden kommen ließen, konfiszierte man sogar
einzelne Beine; wie es heißt, wollte er alle Extremitäten und
Organe liquidieren mit Ausnahme derer, die für das Leben
unerläßlich waren. Außerdem beabsichtigte er, eine
Mikrominiaturisierung einzuführen, denn es wurden immer kleinere
Wohnungen gebaut, aber Bghis Gwarndl, der nach Ischiolis die Macht
übernahm, annullierte diese Direktiven und ließ sogar den Schwanz
wieder zu unter dem Vorwand, man könne mit seiner Quaste die
Wohnung fegen. Später, unter Gondl Gurwa, kamen die sogenannten
unteren Abweichler in Mode, die ihre Extremitäten gesetzwidrig
vermehrten, und in der nächsten Phase, in der die Herrschaft
strenger wurde, tauchten Zungennägel und andere provozierende
Organellen auf, oder vielmehr, sie wurden versteckt. Schwankungen
dieser Art dauerten noch an, als ich nach Dychthonien kam. Was sich
durchaus nicht körperlich verwirklichen ließ, das drückte die
sogenannte pornographische Literatur der Biotik aus, ein illegales
Schrifttum, das zu den verbotenen Werken gehörte, von denen die
Klosterbibliothek Unmengen enthielt. Ich blätterte zum Beispiel ein
Manifest durch, das zu dem sogenannten Maider aufforderte, der auf
den Haaren gehen sollte, und die Frucht eines anderen anonymen
Autors, der Diskanter, sollte nach dem Prinzip eines Luftkissens
über dem Boden dahinschweben.
Nachdem ich auf diese Weise die
Geschichte des Planeten in groben Zügen kennengelernt hatte, machte
ich mich mit der laufenden wissenschaftlichen Literatur vertraut.
Das wichtigste Projektierungs- und Forschungsorgan war zur Zeit die
Kommission zur Abstimmung der Körperlich-Psychischen Projekte
(KAKÖPSYP). Dank der Zuvorkommenheit des Bibliothekspaters lernte
ich die jüngsten Arbeiten dieses Organs kennen. So war zum Beispiel
Körper-Ing. Dergard Wnich der Autor eines Prototyps, der den
vorläufigen Namen Polymon oder Allbereiter trug. Prof. Dr.-Ing.
Magister Dband Rabor stand einem großen Gremium vor, das an dem
kühnen und umstrittenen Projekt des sogenannten Polyrobs arbeitete,
der eine funktionelle Verbindung des Weges in drei Dimensionen sein
sollte: des kommunikativen Weges, des geschlechtlichen Weges und
des Weges in die blaue Ferne. Auch mit den futurologischen Arbeiten
der dychthonischen Körperkenner konnte ich mich vertraut machen und
gewann den Eindruck, daß sich die Automorphie insgesamt auf einem
toten Punkt ihrer Entwicklung befand, obwohl sich die Experten
bemühten, die Stagnation zu durchbrechen; einen Artikel des
Professors Sakkobert Graus, des Direktors des KAKÖPSYP, im
Monatsheft »Die Stimme des Körpers« beschlossen die Worte: »Wie
kann man sich nicht umgestalten, wenn man
sich umgestalten kann?«
Ich war von dem intensiven
Studium all dieser Werke so erschöpft, daß ich den letzten Stoß
Bücher in die Bibliothek zurücktrug und dann eine ganze Woche
nichts weiter tat, als mich im Möbelhain zu sonnen.
Ich fragte den Prior, was er von
der biotischen Situation halte. Nach seiner Ansicht gab es für die
Dychthonier keine Rückkehr zu menschlichen Formen, denn sie hatten
sich zu weit davon entfernt. Diese Formen riefen infolge der
Jahrhunderte währenden Indoktrination solche Vorurteile und eine so
allgemeine Abscheu hervor, daß sogar sie – die Roboter – ihre
Gestalt ganz verhüllen mußten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit
zeigten. Ich fragte ihn dann – wir waren allein nach dem Abendbrot
im Refektorium –, welches der eigentliche Sinn der Ordenstätigkeit
und des Glaubens innerhalb einer solchen Zivilisation
sei.
Der Prior lächelte.
»Diese Frage habe ich erwartet«,
sagte er. »Ich werde dir darauf zweimal antworten. Das eine Mal
ganz einfach, das andere Mal subtiler. Der Duismus ist zunächst
nichts weiter als eine Doppeldeutigkeit. Gott ist ein Geheimnis in
einem solchen Maße, daß man keine volle Gewißheit selbst in der
Frage seiner Existenz haben kann. So gibt es ihn also entweder,
oder es gibt ihn nicht, und daher rührt die ethymologische Wurzel
der Bezeichnung für unseren Glauben. Und nun noch einmal, aber
tiefer gefaßt: Gott als Gewißheit ist kein vollkommenes Geheimnis,
wenn man ihn zumindest darin fassen und vollständig einschränken
kann, daß er ist. Sein garantiertes Sein ist soviel wie eine Oase,
ein Ort der Beruhigung, Trägheit des Geistes, denn gerade aus den
Büchern der Religionsgeschichte kannst du vor allem die
unaufhörliche, bis zum Äußersten gespannte, bis zum Wahnsinn
reichende Anstrengung eines Denkens herauslesen, das stets
Argumente und Beweise seiner Existenz sammelte und sie jedesmal,
wenn sie in Bruchstücke zerfallen waren, erneut aus den Überresten
aufbaute. Wir haben dich nicht damit belästigt, dir unsere
theologischen Bücher vorzulegen, aber wenn du da hineinschautest,
würdest du jene weiteren Etappen der natürlichen Entwicklung des
Glaubens sehen, die die jüngeren Zivilisationen noch nicht
besitzen. Die Phase der Dogmatik bricht nicht plötzlich ab, sondern
geht vom Zustand des Verschlossenseins in das des Offenseins über,
wenn, ganz dialektisch, nach dem Dogma von der Untrüglichkeit des
Hauptes der Kirche das Dogma von der unvermeidlichen Fehlbarkeit
jeglichen Denkens in den Fragen des Glaubens begründet wird, das
kurz und bündig so formuliert ist: ›Nichts von dem, was hier gesagt werden kann, entspricht dem, was
dort währt.‹ Es kommt zu einer weiteren
Hebung des Abstraktionsniveaus: Bedenke bitte, daß die Distanz
zwischen Gott und dem Verstand sich im Verlauf der Zeit überall und
immer vergrößert.
Nach der altertümlichen
Offenbarung hatte sich Gott stets in alles eingemischt, die Guten
nahm er lebendig in den Himmel, die Bösen übergoß er mit Schwefel,
er kauerte hinter dem ersten besten Strauch. Erst später begann das
Sichentfernen, Gott verlor die Augenscheinlichkeit, seine
Menschengestalt, die Bärtigkeit, es verschwanden die
Schulhilfsmittel der Wunder und so anschauliche Demonstrationen wie
die Umsiedlung von Dämonen in Schafböcke oder die Kontrollbesuche
der Engel; mit einem Wort – der Glaube kam ohne die
Zirkusmetaphysik aus; so ging er aus der Sphäre der Sinne in die
Sphäre der Abstraktionen über. Es fehlte auch dann nicht an
Beweisen für seine Existenz, weder an Sanktoren, ausgedrückt in der
Sprache der höheren Algebra, noch an der mehr als elitären
Hermeneutik. Diese Abstraktionen gelangen schließlich an den Punkt,
an dem der Tod Gottes verkündet wird, um jene Art von eiserner,
eisiger und herzzerreißender Ruhe zu erreichen, die den Lebenden
gebührt, wenn die am meisten Geliebten sie für immer
verlassen.
Das Manifest über den Tod Gottes
ist somit ein weiteres Manöver, das uns, allerdings vernichtend,
von der metaphysischen Mühsal befreien soll. Wir sind allein, und
wir werden tun, was wir wollen, oder das, wozu uns unsere weiteren
Entdeckungen führen werden. Der Duismus freilich ist bereits weiter
gegangen; in ihm bist du gläubig, wenn du zweifelst, und du
zweifelst, indem du glaubst; aber auch dieser Zustand kann nicht
endgültig sein. Eini gen Prognositenpatern zufolge verlaufen
Evolutionen und Revolutionen, das heißt Wendungen und Umstürze im
Glauben, nicht im ganzen Kosmos identisch, es soll mächtige
Zivilisationen geben, die im Rahmen einer antigöttlichen
Provokation Einfluß auf die gesamte Kosmogonie zu erlangen
trachten. Nach dieser Vermutung gibt es in den Sternen Völker, die
versuchen, das schreckliche Schweigen Gottes durch eine an ihn
gerichtete Herausforderung zu brechen, das heißt mit der Drohung
eines KOSMOZIDS: Der ganze Kosmos soll sich an einem Punkt
zusammenballen und sich selbst im Feuer eines solchen endgültigen
Zusammenkrampfens verbrennen. Mit dem Aus-den-Angeln-Heben von
Gottes Werk wollen sie also gewissermaßen irgendeine Reaktion von
ihm erzwingen. Wir wissen zwar nichts Genaues darüber, aber in
psychologischer Hinsicht erscheint mir diese Absicht durchaus
möglich. Zugleich jedoch vergeblich: Kreuzzüge mit Antimaterie
gegen den Herrgott zu veranstalten dürfte keine vernünftige Methode
sein, einen Dialog mit ihm anzuknüpfen.«
Ich konnte mich nicht einer
Bemerkung enthalten, die sich mir auf die Lippen drängte.
Eigentlich, so meinte ich, sei der Duismus ein Agnostizismus oder
auch ein »sich seiner nicht vollkommen sicherer Atheismus« oder ein
unaufhörliches Schwanken zwischen den Polen: Es gibt ihn, es gibt
ihn nicht. Doch wenn in ihm wenigstens die Spur eines Glaubens an
Gott sei, wozu diene dann das klösterliche Dasein? Wem nütze es,
daß man in Katakomben hause?
»Zu viele Fragen auf einmal«,
sagte Pater Darg. »Moment mal. Was sollten wir denn deiner
Vorstellung nach tun?«
»Wieso? Zum Beispiel eine
Missionstätigkeit entfalten.«
»Also begreifst du noch immer
nichts! Du bist noch immer so weit von mir entfernt wie zum
Zeitpunkt deines Erscheinens«, sagte der Prior tieftraurig. »Du
glaubst, daß wir uns mit der Verbreitung des Glaubens befassen
sollten? Mit der Missionstätigkeit? Konvertiten schaffen?
Bekehren?«
»Bist du denn nicht dieser
Meinung, Pater? Wie ist das möglich? Macht das nicht zu allen
Zeiten eure Sendung aus?« fragte ich erstaunt.
»Auf Dychthonien«, entgegnete der
Prior, »ist eine Million Dinge möglich, von denen du dir keine
Vorstellung machen kannst. Man kann bei uns durch ein einfaches
Verfahren den ganzen Inhalt eines Personengedächtnisses wegwischen
und das entleerte Gehirn mit einem neuen synthetischen Gedächtnis
aufladen, das dann bei dem Operierten so wirkt, als habe er das,
was er nicht erlebt hat, erlebt, als habe er empfunden, was er
nicht empfand, mit einem Wort, man kann aus ihm einen anderen
machen als den, der er vor dem Eingriff gewesen ist. Man kann den
Charakter und die Persönlichkeit ändern, also kann man geile
Gewalttäter in sanfte Samariter umwandeln und umgekehrt; Atheisten
in Heilige oder Asketen in Zügellose; man kann Weise abstumpfen und
Dummköpfe zu Genies machen; begreife bitte, daß das alles sehr
leicht ist und nichts Materielles solchen
Umarbeitungen im Wege steht. Und jetzt achte bitte darauf, was ich
dir zu sagen habe.
Nehmen wir an, ein starrsinniger
Atheist könnte den Argumenten unserer Prediger Glauben schenken.
Und nehmen wir ferner an, solche goldmündigen Sendboten unserer
Orden bekehrten verschiedene Personen. Das Endstadium dieser
missionarischen Bemühungen wäre, daß infolge von Veränderungen, die
in ihren Köpfen erfolgt sind, ungläubige Menschen gläubig würden.
Das ist offenkundig, nicht wahr?«
Ich bejahte.
»Ausgezeichnet. Und jetzt
bedenke, daß diese Personen in Fragen des Glaubens neue
Überzeugungen vertreten werden, weil wir ihnen vermittels beseelter
Worte und Kanzelgesten Informationen lieferten und so ihre Hirne in
bestimmter Weise bearbeitet haben. Dieses Endstadium nun – Hirne,
die von tiefem Glauben und vom Verlangen nach Gott belebt sind –
kann man millionmal schneller und sicherer erreichen, wenn man eine
entsprechend gewählte Skala biotischer Mittel anwendet. Warum also
sollten wir mit alt modischer Überzeugung, mit Predigten,
Vorlesungen, Vorträgen missionarische Arbeit leisten, wenn diese
modernen Mittel uns zur Verfügung stehen?«
»Das sagst du doch wohl nicht im
Ernst, Pater!« rief ich. »Das verstieße doch gegen die
Ethik!«
Der Prior zuckte mit den
Achseln.
»Du redest so, weil du ein Kind
einer anderen Epoche bist. Sicherlich glaubst du, wir würden dann
mit List und Zwang handeln, das heißt mit der Taktik einer
›Kryptokonversion‹, indem wir heimlich irgendwelche Chemikalien
ausstreuen oder mit Wellen oder Schwingungen die Köpfe verbilden.
Aber so ist es ja gar nicht! Einst gab es Dispute zwischen
Gläubigen und Nichtgläubigen, und das einzige Instrument, die
einzige benutzte Waffe auf beiden Seiten war die Wortgewalt des
Arguments (ich denke nicht an ›Dispute‹, bei denen das Argument der
Marterpfahl, der Scheiterhaufen oder das Beil waren). Gegenwärtig
würde sich ein analoger Disput mit den Mitteln der technischen
Argumentation vollziehen. Wir würden mit bekehrenden Instrumenten
wirken, und die verhärteten Opponenten würden mit Mitteln zum
Gegenangriff übergehen, die uns in ihrem Sinne umwandeln oder
zumindest sie gegen diese Art des Missionierens widerstandsfähig
machen sollten. Die Chancen beider Seiten auf den Sieg würden von
der Wirksamkeit der verwendeten Techniken abhängen, so wie einst
die Siegeschancen im Disput von der Wirksamkeit der Ausführungen
abhingen. Bekehren heißt nämlich soviel wie eine zum Glauben
zwingende Information vermitteln.«
»Und dennoch«, versteifte ich
mich, »wäre das kein echtes Bekehren! Ein Präparat, das das
Verlangen nach Glauben und den Hunger nach Gott hervorruft,
verfälscht ja den Geist, es spricht nicht seine Freiheit an,
sondern übt Zwang auf ihn aus und vergewaltigt ihn!«
»Du vergißt, mit wem und wo du
sprichst«, erwiderte der Prior. »Seit sechshundert Jahren gibt es
bei uns keinen einzigen ›natürlichen‹ Verstand mehr. Also gibt es
auch nicht die Möglichkeit, zwi schen aufgezwungenem und
natürlichem Denken zu unterscheiden, denn niemand braucht einem den
heimlichen Gedanken aufzuzwingen. Man zwingt etwas Ursprüngliches
und zugleich Endgültiges auf – das Hirn!«
»Aber auch dieses aufgezwungene
Hirn besitzt seine unangetastete Logik!« erwiderte ich.
»Das stimmt. Aber eine
Gleichsetzung der einstigen und der gegenwärtigen Dispute über Gott
würde nur dann ihren Sinn verlieren, wenn zugunsten des Glaubens
eine logisch unwiderlegbare Argumentation existierte, die den Geist
mit der gleichen Macht zur Billigung des Resultats zwänge, wie das
die Mathematik tut. Nach unserer Theodizee kann es eine solche
Argumentation nicht geben. Daher kennt die Glaubensgeschichte
Apostasen und Häresien, während die Geschichte der Mathematik keine
analoge Abtrünnigkeit aufweist, denn es gab nie jemanden, der nicht
eingesehen hätte, daß es nur eine Methode gibt, eins und eins zu
addieren, und daß das Ergebnis dieser Operation die Zahl zwei ist.
Aber Gott kann man nicht mathematisch beweisen. Ich werde dir
schildern, was vor zweihundert Jahren geschehen ist.
Ein Computerpater war mit einem
ungläubigen Computer zusammengestoßen. Der letztere, als das neuere
Modell, verfügte über Mittel informativen Wirkens, die unserem
Geistlichen unbekannt waren. Er hörte sich also dessen
Argumentation an und sagte dann: ›Sie haben mich informiert, und
jetzt werde ich Sie informieren, was nicht den millionsten Teil
einer Sekunde dauern wird – warten wir nach meiner Erklärung auf
Ihre Verklärung!‹ Danach informierte er unseren Pater aus der
Entfernung blitzschnell um, so daß dieser den Glauben verlor. Was
sagst du nun?«
»Nun, wenn das kein Zwang war,
dann weiß ich nicht!« rief ich. »Bei uns heißt das Manipulation des
Geistes.«
»Manipulation des Geistes«, sagte
Pater Darg, »bedeutet, dem Geist unsichtbare Bande nach der
gleichen Methode anzulegen, wie man sie dem Körper sichtbar anlegen
kann. Das Denken ist wie die Schrift, die aus der Hand fließt, und
die Manipulation des Geistes ist wie ein Festhalten der
schreibenden Hand, damit sie andere Zeichen setzt. Das ist
offensichtliche Gewalt. Aber jener Computer handelte nicht so. Jede
Schlußfolgerung wird aus Daten errichtet; und in der Diskussion zu
überzeugen bedeutet, mit den gesprochenen Worten Daten im Kopf des
Opponenten zu verschieben. Der Computer tat ebendies, aber nicht
mit dem gesprochenen Wort. In informatorischer Hinsicht tat er also
nichts anderes als ein gewöhnlicher früherer Disputant, nur daß die
Übermittlung anders vor sich ging. Und er konnte so verfahren, weil
er dank seiner Fähigkeit den Geist unseres Paters durch und durch
kannte. Stell dir vor, daß ein Schachspieler nur das Schachbrett
mit den Figuren sieht, während der andere außerdem die Gedanken des
Gegners wahrnimmt. Dieser wird jenen bestimmt besiegen, obwohl er
ihn in nichts vergewaltigen wird. Was meinst du, was haben wir mit
unserem Geistlichen getan, als er zu uns zurückkehrte?«
»Ihr habt doch hoffentlich so
gehandelt, daß er wieder glauben konnte…«, sagte ich
zögernd.
»Wir haben es nicht getan, denn
er verweigerte seine Zustimmung. Wir konnten es also nicht
tun.«
»Jetzt begreife ich nichts mehr!
Ihr hättet doch genauso gehandelt wie sein Widersacher, nur
umgekehrt.«
»Aber nein. Nicht mehr, denn
dieser unser ehemaliger Pater wünschte sich keine weiteren Dispute.
Der Begriff ›Disput‹ hat sich gewandelt und erheblich erweitert,
bedenke das. Wer jetzt in die Schranken tritt, muß nicht nur auf
Wortangriffe gefaßt sein. Unser Pater hatte leider eine traurige
Ignoranz und Naivität bewiesen; er war gewarnt worden, jener hatte
ihm im voraus seine Überlegenheit angekündigt, aber es wollte ihm
nicht in den Sinn, daß sein unerschütterlicher Glaube jemals
unterliegen könnte. In theoretischer Hinsicht gibt es einen Ausweg
aus dieser eskalatorischen Falle: Man müßte ein Hirn so
präparieren, daß es zur Berücksichtigung aller Varianten aller
möglichen Daten fähig wäre, da aber ihre Anzahl von unendlicher
Potenz ist, könnte nur ein unendlicher Geist metaphysische
Gewißheit erlangen. Und ein solcher läßt sich bestimmt nicht
konstruieren. Denn wie auch immer wir bauen – wir bauen in
endlicher Weise, und wenn es einen unendlichen Computer gibt, so
ist das nur Er.
So kann
also auf der neuen zivilisatorischen Ebene der Streit um Gott nicht
nur mit neuen Techniken geführt werden, sondern er muß damit geführt werden, wenn man ihn überhaupt
führen will. Die informatorische Waffe hat sich nämlich auf
beiden Seiten genauso verändert, die
Kampfsituation wäre symmetrisch und dadurch identisch mit der
Situation in den mittelalterlichen Disputen. Das neue Missionieren
kann man nur dann als unmoralisch ansehen, wenn man das alte
Bekehren der Heiden oder die Streitigkeiten der früheren Theologen
mit den Atheisten für unmoralisch hält. Ein anderer Modus für die
Missionsarbeit ist gegenwärtig nicht mehr möglich, denn wer heute
gläubig werden möchte, wird bestimmt
gläubig werden, und wer gläubig ist und den Glauben verlieren
möchte, wird ihn bestimmt verlieren – und
zwar dank den richtigen Eingriffen.«
»Also könnte man nun auf das
Willensorgan einwirken, um den Wunsch nach Glauben zu erzeugen?«
fragte ich.
»So ist es in der Tat. Wie du
weißt, wurde einst die Äußerung geprägt, Gott sei auf seiten der
stärkeren Bataillone. Gegenwärtig würde er sich, im Sinne der
technogenen Kreuzzüge, auf der Seite der stärkeren
Bekehrungsapparate befinden, aber wir glauben nicht, daß es unsere
Aufgabe ist, uns in einen solchen Wettlauf von theodiktischen,
sakral-antisakralen Rüstungen einzulassen, wir wollen nicht den Weg
einer Eskalation beschreiten, die dahin führt, daß wir einen
Konvertor bauen und sie einen Antikonvertor, daß wir bekehren und
sie das rückgängig machen. Dieses Ringen würde Jahrhunderte
hindurch gehen, wir würden unsere Klöster in Schmieden immer
wirksamerer Mittel und Taktiken zum Wecken von Glaubensdurst
verwandeln!«
»Ich kann nicht begreifen«, sagte
ich, »wie es möglich ist, daß es keinen anderen Weg gibt außer dem,
den du mir zeigst, Pater. Aller Vernunft ist doch die gleiche Logik
gemeinsam? Und der natürliche Verstand?«
»Die Logik ist ein Werkzeug«,
erwiderte der Prior, »und aus einem Werkzeug resultiert nichts. Es
muß einen Schaft und die lenkende Hand haben. Diesen Schaft und
diese Hand kann man bei uns formen, wie es einen gelüstet. Und was
den natürlichen Verstand betrifft – sind denn etwa ich und meine
Mönchsbrüder natürlich? Wie ich dir bereits gesagt habe, stellen
wir Schrott dar, und unser Credo ist für jene, die uns zunächst
angefertigt und später weggeworfen haben, nur ein Nebenprodukt, das
Gestammel dieses Schrotts. Wir haben die Freiheit des Denkens
erhalten, weil die Industrie, für die man uns gebaut hat, das eben
erforderte. Höre aufmerksam zu. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis
anvertrauen, das ich sonst niemandem anvertrauen würde. Ich weiß,
daß du uns bald verlassen wirst und daß du es nicht an die
Behörden. weitervermitteln wirst: Wir würden nicht mit heiler Haut
davonkommen.
Die Mönchsbrüder eines entfernten
Ordens, die sich der Wissenschaft widmen, haben Mittel einer
solchen Einwirkung auf den Willen und das Denken entdeckt, mit
denen wir im Nu den ganzen Planeten bekehren könnten, denn es gibt
dagegen kein Antidotum. Diese Mittel betäuben nicht, sie machen
nicht stumpfsinnig, sie rauben die Freiheit nicht, sie tun dem
Geist dasselbe an, was die Hand, die uns zwingt, den Kopf zum
Himmel zu recken, den Augen antut, und die Stimme, die sagt:
›Sieh!‹ Das einzige Drängen, die einzige Gewalt bestünde darin, daß
man nicht die Augen schließen kann. Diese Mittel zwingen, dem
Geheimnis ins Gesicht zu schauen, und wer es so erblickt, der wird
es nicht mehr loswerden, denn es prägt in ihm unverwischbare
Spuren. Das wäre so, ich sage das nur zum Vergleich, als führte ich
dich an den Rand eines Vulkans und verleitete dich, in die Tiefe zu
schauen. Der einzige Zwang dabei wäre, daß du dies nicht mehr
vergessen kannst. Somit sind wir jetzt schon allmächtig in der
Konversion, denn wir haben auf dem Gebiet des Bekehrens zum Glauben
die höchste Stufe der Freiheit des Handelns erreicht, die gleiche,
die die Zivilisation auf einem anderen, dem der
materiell-körperlichen Fertigkeit, erreicht hat. Wir können also
schließlich… begreifst du? Wir besitzen diese missionarische
Allmacht und wir werden nichts tun. Denn das einzige, worin sich
unser Glaube noch offenbaren kann, ist die Weigerung zu diesem
Schritt. Ich sage vor allem: Non agam. Nicht nur Non serviam, sondern auch: Ich
werde nicht handeln. Ich werde es nicht tun, weil ich mit Gewißheit
handeln kann und mit diesem Handeln alles erreichen kann, was ich
will. Es bleibt uns somit nichts, als hier bei den versteinerten
Rattenüberresten, im Gewimmel der ausgetrockneten Kanäle weiter zu
existieren.«
Ich fand keine Entgegnung auf
diese Worte. Da ich die Fruchtlosigkeit eines weiteren Aufenthaltes
auf dem Planeten erkannte, belud ich, nachdem ich mich von den
ehrbaren Patern voll Rührung und Bedauern verabschiedet hatte, die
Rakete, die glücklich unter der Tarnung überdauert hatte, und trat
den Rückflug an. Ich fühlte, daß ich ein anderer Mensch war als
jener, der vor gar nicht so langer Zeit auf diesem Planeten
gelandet war.
ZWEIUNDZWANZIGSTE REISE
Ich bin jetzt viel damit beschäftigt, die
Andenken, die ich von meinen Reisen in die entferntesten Winkel des
Alls mitgebracht habe, systematisch zu ordnen. Seit langem schon
trage ich mich mit der Absicht, diese in ihrer Art wohl einmalige
Kollektion dem Museum zu übergeben; unlängst erst teilte mir der
Kustos mit, er wolle dafür einen besonderen Saal
bereitstellen.
Nicht alle Exemplare sind mir
gleich teuer; manche rufen heitere Erinnerungen in mir wach, andere
hingegen lassen unheimliche, grauenvolle Begebenheiten wieder vor
mir erstehen, alle zusammen jedoch stellen sie ein Zeugnis dar, das
die Glaubwürdigkeit meiner Reisen vollauf bestätigt. Zu den
Exponaten, die besonders intensive Erinnerungen erwecken, gehört
ein Zahn, der auf einem kleinen Seidenkissen unter Glas ruht; er
hat zwei große Wurzeln und ist völlig gesund; den hab ich mir
gelegentlich eines Empfanges bei Oktopus, dem Herrscher der
Memnogen vom Planeten Urtama, ausgebissen; dort wurden köstliche
Speisen serviert, aber sie waren unerhört zäh.
Der gleiche Ehrenplatz in der
Sammlung gebührt meiner in zwei ungleiche Teile zerbrochenen
Tabakspfeife; sie fiel mir aus der Rakete, während ich einen
steinigen Globus aus der Sternenfamilie des Pegasus überflog. Da
ich sie nicht missen mochte, verbrachte ich anderthalb Tage damit,
sie in den Schluchten dieses zerklüfteten Felsenparadieses zu
suchen.
Nicht weit entfernt davon liegt
ein Schächtelchen, das einen erbsengroßen Kieselstein beherbergt.
Seine Geschichte ist höchst merkwürdig. Als ich einst nach Xerusien
aufbrach, dem wohl entlegensten Gestirn im Zwillingsnebel NGC 887,
hatte ich meine Kräfte fast überschätzt; die Reise dauerte nämlich
so lange, daß ich schon dem Zusammenbruch nahe war; besonders stark
quälte mich das Heimweh, und ich konnte kein ruhiges Plätzchen in
der Rakete finden. Gott weiß, was noch alles daraus geworden wäre,
wenn ich nicht am 268. Reisetag plötzlich gemerkt hätte, daß mich
an der linken Ferse etwas drückte; ich zog den Schuh aus und
schüttelte unter Tränen ein Steinchen aus der Socke, ein Krümelchen
von waschechtem irdischem Kies. Es war wohl auf dem Flugplatz
hineingeraten, während ich die Stufen zur Rakete erklomm. Ich
preßte dieses winzige und doch so teure Stückchen Erde an die Brust
und erreichte, nunmehr seelisch gefestigt, das Ziel. Dieses
Andenken habe ich besonders in mein Herz geschlossen.
Auf einem Samtkissen ruht daneben
ein gewöhnlicher gebrannter Lehmziegel, gelbrosa, ein wenig rissig
und an einem Ende leicht abgebröckelt. Nur dem Zufall und meiner
Geistesgegenwart ist es zu danken, daß ich nicht durch ihn
umgekommen bin und so von meiner Expedition zum Nebel der Jagdhunde
zurückkehren konnte. Ich führte diesen Ziegelstein stets auf meinen
Fahrten in die kältesten Gegenden des Weltraums mit. Vor dem
Schlafengehen pflegte ich ihn eine Weile in den Atommotor zu
stecken, um ihn dann gut vorgewärmt ins Bett zu legen. Im linken
oberen Quadranten der Milchstraße, dort, wo sich die Sternwolke des
Orion mit den Sternbildern des Schützen vereinigt, wurde ich, mit
geringer Geschwindigkeit fliegend, Zeuge des Zusammenstoßes zweier
Riesenmeteore. Das Schauspiel dieser feurigen Explosion in der
Finsternis erregte mich so sehr, daß ich nach einem Handtuch
langte, um mir die Stirn zu wischen. Ich vergaß, daß ich zuvor den
Ziegelstein hineingewickelt hatte, hob also den Arm voller Schwung
– und hätte mir beinahe den Schädel zerschmettert. Zum Glück
vermochte ich die Gefahr mit dem mir angeborenen Scharfsinn
rechtzeitig zu erfassen.
Gleich neben dem Ziegelstein
steht ein Holzkästchen; es birgt mein Taschenmesser, den treuen
Gefährten ungezählter Flüge. Wie sehr ich an ihm hänge, mag die
Geschichte bezeugen, die ich jetzt erzählen will; sie verdient es
fürwahr.
Ich verließ Satellina um zwei Uhr nachmittags
mit heftigem Schnupfen. Der dortige Arzt, den ich konsultierte,
hatte sich erboten, mir die Nase abzuschneiden – ein für die
Bewohner jenes Planeten geringfügiger Eingriff, da bei ihnen die
Nasen nachwachsen wie bei uns die Fingernägel. Empört über dieses
Ansinnen, begab ich mich stracks zum Flugplatz, um Himmelsgegenden
aufzusuchen, in denen die Medizin weiter ist. Die Reise stand unter
einem unglücklichen Stern. Schon zu Beginn, als ich mich kaum
900.000 Kilometer von dem Planeten entfernt hatte, fing ich das
Rufzeichen einer Rakete auf und fragte per Funk, wer dort fliege.
Zur Antwort erhielt ich den gleichen Satz. »Sag du’s zuerst!«
erwiderte ich schärfer, gereizt durch die Unhöflichkeit des
Fremden. »Sag du’s zuerst«, entgegnete jener. Dieses Nachäffen
erzürnte mich solchermaßen, daß ich die Unverschämtheit des
unbekannten Reisenden beim Namen nannte. Er blieb mir nichts
schuldig; das Wortgefecht artete immer mehr aus, bis ich nach etwa
fünfzehn Minuten, als mein Zorn den Gipfelpunkt erreicht hatte,
feststellen mußte, daß gar keine zweite Rakete vorhanden und die
Stimme, die ich vernommen hatte, einfach das Echo meiner eigenen
Funksignale war. Sie wurden von der Oberfläche des Satellitenmondes
reflektiert, an dem ich gerade vorbeizog. Ich hatte ihn bisher
nicht gesehen, denn er kehrte mir seine dunkle Nachtseite
zu.
Als ich mir eine Stunde später
einen Apfel schälen wollte, bemerkte ich, daß mein Taschenmesser
fehlte. Doch fiel mir gleich ein, wo ich es zuletzt gebraucht
hatte: im Ausschank auf dem Flugplatz der Satellina; ich hatte es
auf das schräge Büfett gelegt, und es war wohl in einer Ecke
heruntergerutscht. Ich sah das so greifbar vor mir, daß ich es mit
verbundenen Augen gefunden hätte. Ich schwenkte die Rakete herum,
doch hier erst zeigte sich die wahre Schwierigkeit: Der ganze
Himmel war übersät mit flimmernden Lichtern, und ich wußte nicht,
welches davon die Satellina war.
Dies ist einer von 1480 Planeten,
die um die Sonne Eripelase kreisen. Die meisten besitzen obendrein
je zehn bis fünfzehn Monde, groß wie Planeten, was die Orientierung
noch mehr erschwert. In meiner Hilflosigkeit versuchte ich die
Satellina durch Funk zu rufen. Darauf meldeten sich ungefähr
hundert Stationen gleichzeitig, so daß ein fürchterlicher
Wellensalat entstand; man muß nämlich wissen, daß die Bewohner des
Eripelasesystems ebenso liebenswürdig wie liederlich sind und wohl
zweihundert Planeten auf den Namen »Satellina« getauft haben. Ich
betrachtete also durch meine Fensterluke die Myriaden winziger
Lichtfünkchen; einer davon beherbergte mein Taschenmesser.
Sicherlich wäre es jedoch leichter gewesen, eine Stecknadel in
einem Heuschober als den richtigen Planeten in diesem Sterngewimmel
ausfindig zu machen. Zu guter Letzt überließ ich es dem Zufall und
raste auf den Planeten zu, den meine Raketenspitze gerade
anpeilte.
Eine Viertelstunde später landete
ich. Der Flughafen glich aufs Haar dem, von dem ich um zwei Uhr
gestartet war; höchst erfreut also, daß mir das Glück so hold sei,
begab ich mich geradenwegs zum Büfett. Wie groß war jedoch meine
Enttäuschung, als ich das Messer trotz genauester Nachforschungen
nicht wiederfand. Nach reiflicher Überlegung gelangte ich zu dem
Schluß, daß es wohl jemand mitgenommen habe oder daß ich auf einem
falschen Pla neten gelandet war. Als ich mich bei den Einheimischen
erkundigt hatte, gab es keinen Zweifel mehr, daß die zweite
Vermutung richtig war. Ich befand mich auf der Andrigona, einem
alten, versandeten, völlig morschen Planeten, der längst aus dem
Umlauf hätte gezogen werden müssen; aber man scherte sich wenig um
ihn, denn er liegt weit entfernt von den Raketenmagistralen. Im
Hafen wurde ich gefragt, welche Satellina ich suchte, denn die
Himmelskörper dieses Namens seien numeriert. Jetzt saß ich erst
richtig in der Klemme, ich hatte nämlich die Nummer vergessen.
Durch die Direktion des Flughafens in Kenntnis gesetzt,
marschierten indessen die örtlichen Behörden auf, um mich feierlich
willkommen zu heißen.
Es war ein großer Tag für die
Andrigonen; in den Schulen wurden gerade Reifeprüfungen abgehalten.
Ein Regierungsvertreter fragte, ob ich nicht ein solches Examen mit
meiner Anwesenheit beehren wollte; da man mich sehr gastlich
empfangen hatte, konnte ich die Bitte nicht abschlagen. So fuhren
wir denn mit einer Schlunke (das sind schlangenähnliche Reptilien
ohne Gliedmaßen, die dort allgemein als Reittiere benutzt werden)
stracks in die Stadt. Der Regierungsvertreter stellte mich der
zahlreich versammelten Jugend und dem Lehrkörper als einen Gast vom
Planeten Erde vor und verließ daraufhin den Saal. Die Lehrer
führten mich zu dem Ehrenplatz an der Nährte (einer Art Tisch), und
die Prüfungen wurden fortgesetzt. Zunächst fühlten sich die Schüler
durch meine Anwesenheit beengt und stotterten verwirrt, ich suchte
ihnen durch herzliches Lächeln Mut einzuflößen und sagte diesem
oder jenem gar ein Wort vor. So war bald das Eis gebrochen. Zum
Schluß antworteten sie immer besser. Als letzter trat ein junger
Andrigone vor die Prüfungskommission, der mit so schönen Scheußein
(austerähnliche Gebilde, die als Kleidung verwendet werden)
bewachsen war, wie ich sie lange nicht gesehen hatte, und hob an,
mit unerreichbarer Beredsamkeit die Fragen zu beantworten. Ich
hörte ihm wohlgefällig zu und konstatierte, daß sich der hiesige
Wissensstand durchaus sehen lassen konnte.
Plötzlich fragte der Prüfer:
»Können Sie beweisen, warum es kein Leben auf der Erde geben
kann?«
Nach einer leichten Verbeugung
setzte der Jüngling zu seiner erschöpfenden, logisch aufgebauten
Argumentation an. Im einzelnen führte er aus, daß der größte Teil
der Erde von kalten, unermeßlich tiefen Gewässern bedeckt sei,
deren Temperatur durch schwimmende Eisberge um den Nullpunkt
gehalten werde; daß nicht nur die Pole, sondern auch die
umliegenden Gebiete Orte ewiger Kälte seien und daß dort das halbe
Jahr lang Nacht herrsche; daß, wie man durch die astronomischen
Apparate sehr gut beobachten könne, sogar Kontinente mit wärmerem
Klima viele Monate mit gefrorenem Wasserdampf, dem sogenannten
Schnee, bedeckt seien, der in dicken Schichten Berge und Täler
verhülle; daß der große Erdmond ständig Flut- und Ebbegezeiten
erzeuge, die eine zerstörende Erosionstätigkeit ausübten; daß man
durch gigantische Teleskope feststellen könne, wie riesige Flächen
des Planeten häufig von Halbdämmer befallen werden, was eine Folge
der Wolkendecke sei, und daß entsetzliche Zyklone, Taifune und
Gewitter in der Atmosphäre entständen. All das zusammengenommen
schließe die Möglichkeit aus, daß es dort Leben in irgendeiner Form
gebe. Wenn nun, so endete der junge Andrigone mit klangvoller
Stimme, irgendwelche Lebewesen auf der Erde landeten, so würden sie
unweigerlich den Tod erleiden, zermalmt von dem gewaltigen Druck
der Atmosphäre, die in Höhe des Meeresspiegels ein Kilogramm pro
Quadratzentimeter, das heißt 760 Millimeter Quecksilbersäule
betrage.
Diese erschöpfende Antwort fand
die allgemeine Anerkennung der Kommission. Ich indes saß völlig
niedergeschmettert da, und erst als der Prüfer die nächste Frage
vortrug, rief ich: »Verzeiht, würdige Andrigonen, aber… ich komme
ja gerade von der Erde; und ihr werdet doch gewiß nicht bezweifeln,
daß ich lebe. Ihr habt ja auch gehört, wie man mich hier
vorgestellt hat…«
Verlegenes Schweigen. Die Lehrer
waren durch mein taktloses Auftreten betroffen und hielten sich nur
mit Mühe zurück; die Jugend, die ihre Gefühle noch nicht so gut
verbergen kann, musterte mich mit unverkennbarem
Widerwillen.
Schließlich sagte der Prüfer
eisig: »Verzeih, Fremder, aber überforderst du nicht unsere
Gastfreundschaft? Genügen dir noch nicht der feierliche Empfang,
die Festlichkeiten und die Beweise unserer Hochachtung? Haben wir
dich durch Zulassung zur Hohen Nährte des Abituriums nicht
zufriedengestellt, daß du noch mehr willst und von uns verlangst,
allein deinetwegen das… Schulprogramm umzustoßen?«
»Aber… die Erde ist doch
tatsächlich bewohnt…«, murmelte ich verwirrt.
»Wäre es an dem«, entgegnete der
Prüfer und schaute mich an, als wäre ich aus Glas, »so bedeutete
das nur eine Entartung der Natur.«
Da ich das als Beleidigung meiner
Mutter Erde auffaßte, verließ ich grußlos den Saal, stieg auf die
erste Schlunke, die mir in den Weg kam, und ritt zum Flugplatz. So
schüttelte ich den Staub der Andrigona von meinen Füßen und
startete, um weiter nach meinem Taschenmesser zu
forschen.
Auf diese Weise landete ich
nacheinander auf fünf Planeten der Lindenbladgruppe, auf den
Gestirnen der Stereopropen und Melazianer, auf sieben großen
Körpern aus der Planetenfamilie der Kassiopeiasonne, besuchte
Osterilien, Averanzien, Meltonien, Laternis, sämtliche Arme des
großen Andromedanebels, die Systeme des Plesiomachos, des
Gastroklantius, der Eutrema, der Symenophora und der Paralbyda; im
darauffolgenden Jahr durchsuchte ich systematisch die nähere
Umgebung aller Sterne der Sappo und der Melenwaga sowie die
Himmelskugeln Erytrodonien, Arrhenois, Äodozien, Artenurien sowie
den Stroglon mit seinen achtzig Monden, von denen manche so klein
sind, daß kaum eine Rakete Platz darauf hätte; auf dem Kleinen
Bären konnte ich nicht landen, weil dort gerade Inventur gemacht
wurde; dann kamen die Cepheiden und Ardeniden an die Reihe; der
Verzweiflung nahe, landete ich durch einen Irrtum noch einmal auf
dem Lindenblad. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf und suchte
weiter, wie es einem echten Forscher ansteht. Nach drei Wochen
entdeckte ich einen Planeten, der jener denkwürdigen Satellina
täuschend ähnlich sah; mein Herz schlug höher, als ich ihn auf
einer immer engeren Spirale umkreiste; aber vergebens forschte ich
nach jenem Flugplatz. Schon wollte ich in den Weltenraum zurück, da
bemerkte ich, daß mir da unten eine kleine Gestalt Zeichen gab. Ich
schaltete den Antrieb aus, glitt schnell abwärts und setzte mein
Gefährt in der Nähe einer malerischen Felsengruppe auf, die von
einem ansehnlichen Bau aus behauenem Stein überragt wurde. Zu
meiner Begrüßung kam ein rüstiger Greis in weißem
Dominikanerhabitus herbeigeeilt. Es war, wie sich herausstellte,
Pater Lazimon, der Chef aller Missionen, die auf den angrenzenden
Sternbildern im Umkreis von 600 Lichtjahren wirkten. Die Gegend
zählte etwa fünf Millionen Planeten, darunter 2400.000 bewohnte.
Als Pater Lazimon von dem Mißgeschick erfuhr, das mich in seine
Gefilde verschlagen hatte, drückte er mir sein Mitleid aus,
zugleich aber auch seine Freude, denn ich war, wie er sagte, der
erste Mensch, den er seit sieben Monaten zu Gesicht
bekam.
»Ich habe mich bereits so an die
Bräuche der Meodraziten – der Bewohner dieses Planeten – gewöhnt,
daß ich mich oft bei einer merkwürdigen Fehlreaktion ertappe: Wenn
ich aufmerksam zuhören will, hebe ich die Arme wie sie…« Die
Meodraziten haben bekanntlich die Ohren in den
Achselhöhlen.
Pater Lazimon zeigte sich sehr
gastfreundlich und lud mich zum Mittagessen ein, das aus örtlichen
Speisen zusammengestellt war (glabbrige Bisquäppchen in Wacklaise,
geschichtete Trümmer und zum Nachtisch Rührlinge – ein lang
entbehrter Genuß); danach gingen wir auf die Veranda des
Missionshauses. Die lila Sonne sandte ihre warmen Strahlen, die
Pterodaktylen, von denen es auf dem Planeten nur so wimmelte,
zwitscherten im Gebüsch, und in dieser mittäglichen Stille hob der
greise Dominikanerprior an, mir sein sorgenschweres Herz
auszuschütten; er klagte über die Schwierigkeiten, die in diesen
Regionen jede Missionsarbeit hemmen. Die Quintolen zum Beispiel,
die auf der heißen Antilene leben und schon bei 600 Grad Celsius
frieren, wollen vom Paradies nichts wissen, hingegen stoßen die
Schilderungen der Hölle bei ihnen auf lebhaftes Interesse, weil
dort die Bedingungen so günstig seien (siedendes Pech, Flammen).
Überdies weiß man nicht so recht, wer von ihnen in den
Priesterstand treten darf, da sie fünf verschiedene Geschlechter
haben; das ist für die Theologen ein heikles Problem.
Ich äußerte mein Bedauern; Pater
Lazimon fuhr achselzuckend fort: »Ach, das ist noch gar nichts. Die
Bischuten zum Beispiel halten die Auferstehung für etwas
Alltägliches wie das Ankleiden und wollen diese Erscheinung unter
keinen Umständen als Wunder anerkennen. Die Dartriden von der
Ägilla haben weder Hände noch Füße, sie können sich nur mit dem
Schwanz bekreuzigen, aber ob das statthaft ist, vermag ich allein
nicht zu entscheiden; ich warte auf die Antwort vom Apostolischen
Stuhl – doch der Vatikan hüllt sich schon seit zwei Jahren in
Schweigen… Und haben Sie von dem grauenvollen Ende gehört, das der
bedauernswerte Pater Oribas aus unserer Mission genommen
hat?«
Ich verneinte.
»So lassen Sie sich’s berichten.
Schon die ersten Entdecker der Urtama waren des Lobes voll über
ihre Bewohner, die mächtigen Memnogen. Allgemein herrscht die
Auffassung, daß diese vernunftbegabten Altruisten zu den
gefälligsten, sanftesten und gutmütigsten Geschöpfen des ganzen
Universums gehören. In der Meinung also, auf solchem Boden müsse
die Saat des Glaubens besonders gut aufgehen, sandten wir Pater
Oribas zu den Memnogen und ernannten ihn zum Bischof in partibus
infidelium. Der Ankömmling wurde von den Memnogen so herzlich
empfangen, wie man es sich nicht besser wünschen konnte; sie
umgaben ihn mit allen Ehren und waren rührend besorgt um ihn,
hingen an seinen Lippen, lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab,
nahmen lechzend seine Lehren auf – mit einem Wort: Er hatte sie
völlig in der Hand. In den Briefen, die ich von ihm erhielt, fand
er keine Worte, sie zu loben, der Unglückselige…«
Hier wischte sich der Dominikaner
mit dem Zipfel seines Habitus eine Träne aus dem Auge.
»In dieser günstigen Atmosphäre
wurde Pater Oribas es Tag und Nacht nicht müde, die Glaubenssätze
zu verkünden. Nachdem er die Memnogen mit der Geschichte des Alten
und des Neuen Testaments, mit der Apokalypse und den Apostelbriefen
vertraut gemacht hatte, ging er zu den Heiligenleben über;
besonderen Eifer verwandte er darauf, die heiligen Märtyrer zu
lobpreisen. Der Arme… es war schon immer seine Schwäche
gewesen…«
Pater Lazimon wurde mühsam seiner
Rührung Herr und fuhr mit bebender Stimme fort:
»Er predigte ihnen also vom
heiligen Johannes, der des Himmelreichs teilhaftig wurde, als man
ihn bei lebendigem Leibe in Öl sott, von der heiligen Agnes, die
sich um des Glaubens willen den Kopf abschlagen ließ, vom heiligen
Sebastian, der, von vielen Pfeilen durchbohrt, grausame Qualen
erlitt und dafür im Paradies von Engelsang empfangen wurde, von
heiligen Jünglingen, die gevierteilt, gewürgt, aufs Rad geflochten
und über kleinem Feuer geröstet wurden. Bewundernd hörten sie ihn
über diese Qualen berichten, wußten sie doch, daß sie auf diese
Weise einen Platz zur Rechten des Herrn aller himmlischen
Heerscharen erwerben würden. Als er ihnen noch viele solche
nachahmenswerte Lebensläufe erzählt hatte, sahen die Memnogen, dem
Sinn seiner Worte lauschend, einander verstohlen an, der größte von
ihnen aber faßte sich ein Herz und fragte zaghaft: ›Hochwürden,
Gottesprediger und geschätzter Pater, sage uns bitte, falls du dich
zu deinen nichtswürdigen Dienern herablassen willst, ob die Seele
eines jeden, der zum Martyrium bereit ist, in den Himmel
kommt?‹
›Zweifellos, mein Sohn‹,
entgegnete Pater Oribas.
›Sooo? Sehr gut…‹, sagte der
Memnoge gedehnt. ›Und möchtest auch du, geistlicher Vater, in den
Himmel gelangen?‹
›Dies ist mein innigster Wunsch,
mein Sohn.‹
›Würdest du auch ein Heiliger
werden wollen?‹ fragte der große Memnoge weiter.
›Lieber Sohn, wer möchte das
nicht, aber wie könnte ich armer Sünder einer so hohen Ehrung
teilhaftig werden? Es gilt, alle Kräfte einzusetzen und unbeirrt in
tiefster Demut des Herzens zu streben – will man diesen Weg
beschreiten…‹
›Du willst also Heiliger werden?‹
vergewisserte sich der Memnoge noch einmal und blickte ermunternd
zu seinen Gefährten hinüber, die sich halb von ihren Plätzen
erhoben hatten.
›Ei gewiß, mein Sohn.‹
›Nun, so wollen wir dir dabei
behilflich sein!‹
›Wie das, ihr lieben Schäflein?‹
fragte Pater Oribas lächelnd, denn der kindliche Eifer seiner ihm
treu ergebenen Herde freute ihn sehr.
Darauf faßten ihn die Memnogen
sanft, aber entschieden unter die Arme und sagten: ›Also, teurer
Pater, wie Ihr uns gelehrt!‹
Wonach sie ihm zunächst die Haut
vom Rücken rissen und diese Stelle mit Pech einsalbten, wie das der
Henker Irlands dem heiligen Hyazinth angetan hatte. Dann hackten
sie ihm das linke Bein ab, wie die Heiden mit dem heiligen
Pafnuzius verfahren sind, schlitzten ihm den Bauch auf und steckten
einen Strohwisch hinein, wie das mit der seliggesprochenen
Elisabeth von der Normandie geschah; darauf pfählten sie ihn wie
die Emalkiten den heiligen Hugo, brachen ihm alle Rippen wie die
Syrakuser dem heiligen Heinrich von Padua und verbrannten ihn bei
kleiner Flamme, wie die Burgunder die Jungfrau von Orleans. Sodann
verschnauften sie, wuschen sich die Hände und vergossen bittere
Tränen um ihren verlorenen Hirten. Bei diesem Tun traf ich sie an –
ich bereiste damals gerade alle Gestirne der Diözese, und so führte
mich mein Weg auch in ihre Pfarrgemeinde. Als ich vernahm, was
geschehen war, standen mir die Haare zu Berge. Händeringend schrie
ich: ›Nichtswürdige Verbrecher! Die Hölle ist noch viel zu gut für
euch! Wißt ihr denn überhaupt, daß ihr damit eure Seelen der ewigen
Verdammnis ausgeliefert habt?‹
›Ja freilich!‹ erwiderten sie
schluchzend.
Der große Memnoge stand auf und
richtete an mich die Worte: ›Ehrwürdiger Vater, wir waren uns sehr
wohl im klaren, daß wir bis zum Jüngsten Tag verdammt sein werden
und ewige Qualen erdulden müssen, ehe wir uns zu diesem Entschluß
durchringen konnten; doch Pater Oribas predigte unablässig, es gäbe
nichts, was ein guter Christ nicht für seinen Nächsten täte, man
müsse alles opfern und zu allem bereit sein. So verzichteten wir
denn in tiefster Verzweiflung auf unsere eigene Erlösung, einzig
darauf bedacht, daß unser über alles geliebter Pater Oribas die
Märtyrerkrone und den Heiligenschein erlangen solle. Ich vermag es
nicht zu schildern, wie schwer uns das gefallen ist; bevor nämlich
der Pater zu uns kam, konnte keiner von uns auch nur einer Fliege
etwas zuleide tun. Wir erneuerten also unser Flehen, baten ihn
händeringend, doch Nachsicht mit uns zu üben und die Strenge der
Gebote ein wenig zu mildern, er jedoch behauptete kategorisch, aus
Liebe zu seinem Nächsten müsse man alles tun, ohne jede Ausnahme.
Und wir waren nicht imstande, es ihm abzuschlagen. Uns war klar:
Vor diesem frommen Manne bedeuteten wir unwürdigen Geschöpfe
nichts. Er hatte ein Recht auf unsere Entsagung. Wir glauben
zuversichtlich, daß die Unternehmung geglückt ist und Pater Oribas
nunmehr im Himmel herrscht. Hiermit überreichen wir dir,
Hochwürden, einen Sack Geldes, das für die Kanonisation gesammelt
wurde, denn so lautet die Vorschrift, wie es Pater Oribas auf
unsere Fragen hin erläuterte. Ich muß sagen, daß wir nur seine
Lieblingstorturen angewandt haben, von denen er uns stets in
höchster Verzückung predigte. Wir nahmen also an, sie würden ihm
willkommen sein, er jedoch sträubte sich, und besonders heftigen
Widerwillen äußerte er, als er siedendes Blei hinunterschlingen
sollte. Aber wir verwarfen den Gedanken, dieser Priester könnte
etwas gepredigt haben, worüber er selbst ganz anders dachte. Sein
Schreien war lediglich der Beweis für die Unzufriedenheit der
niederen, körperlichen Teilchen seines Wesens, und wir überhörten
es daher im Sinne der Lehre, daß der Leib erniedrigt werden müsse,
damit der Geist um so höher steige. In dem Bemühen, ihm Halt zu
geben, riefen wir ihm die Grundsätze ins Gedächtnis, die er
verkündet hatte, worauf uns Pater Oribas nur ein einziges Wort
entgegnete, das uns völlig unverständlich ist; wir können uns nicht
vorstellen, was es bedeutet, denn wir fanden es weder in den
Gebetbüchern noch in der Heiligen Schrift.‹«
Als Pater Lazimon geendet hatte,
wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn, Wir saßen und
redeten nicht; schließlich brach der greise Dominikaner die Stille:
»Nun sagen Sie mir, wie kann man unter solchen Umständen Seelenhirt
sein? Oder was soll man mit dieser Geschichte anfangen?« Pater
Lazimon schlug mit der flachen Hand auf einen Brief, der vor ihm
ausgebreitet lag. »Pater Hippolyt berichtet von der Arpetusa, einem
kleinen Planeten in der Waage, daß dessen Bewohner aufgehört
hätten, Ehen zu schließen; sie zeugen keine Kinder mehr, und so
droht die Gefahr, daß sie restlos aussterben.«
»Wieso denn das?« fragte ich
verblüfft.
»Nun, da sie hörten,
fleischlicher Verkehr wäre Sünde, verlangte es sie so heftig nach
Erlösung, daß sie allesamt die Gelübde ablegten und das Zölibat
einhalten! Seit zwei Jahrtausenden verkündet die Kirche den Vorrang
der Seelenrettung vor den zeitlichen Dingen, aber niemand hat das
wörtlich genommen, so wahr mir Gott helfe! Nun kommen die
Arpetusaner und fühlen wie ein Mann in sich die Berufung, treten
massenhaft in die Klöster ein, befolgen musterhaft die Regeln,
beten, fasten und kasteien sich, während Industrie und
Landwirtschaft darniederliegen, Hungersnöte den Planeten heimsuchen
und die Bevölkerung auszusterben droht. Ich habe nach Rom Bericht
erstattet, aber wie gewöhnlich ist die Antwort
Schweigen…«
»Es ist ja auch sehr riskant«,
bemerkte ich, »die Religion auf andere Planeten zu
tragen…«
»Was sollten wir tun? Die Kirche
hat es bekanntlich nicht eilig, Ecclesia non festinat, denn Sein
Königreich ist nicht von dieser Welt, aber während das
Kardinalskollegium beratschlagte und zauderte, schossen auf den
Planeten Missionen der Kalvinisten, Baptisten, Redemptoristen,
Mariaviten, Adventisten und wie sie sonst noch heißen aus dem Boden
wie Pilze nach dem Regen. Wir mußten also retten, was zu retten
war. Nun, mein Wertester, wenn ich das alles schon erzählt habe… so
kommen Sie mal mit.«
Pater Lazimon führte mich in sein
Arbeitszimmer. Die riesige blaue Karte des Sternenhimmels nahm hier
eine ganze Wand ein, die rechte Hälfte war mit Papier
überklebt.
»Schauen Sie!« Er wies auf den
verdeckten Teil.
»Was bedeutet das?«
»Den Untergang, mein Lieber. Den
endgültigen Untergang. Diese Gebiete sind von Völkern bewohnt,
deren Intelligenz auf unerhört hoher Stufe steht. Sie propagieren
den Materialismus und den Atheismus und empfehlen, alle
Anstrengungen auf die Entfaltung der Wissenschaft und Technik sowie
die Vervollkommnung der Lebensbedingungen auf den Planeten zu
richten. Wir sandten unsere klügsten Missionare zu ihnen aus,
Salesianerpater, Benediktiner, Dominikaner, ja selbst Jesuiten,
alles begnadete Verkünder von Gottes Wort, mit honigsüßer
Beredsamkeit ausgestattet; und alle kehrten sie zurück als
Atheisten!«
Pater Lazimon trat erregt an den
Tisch heran.
»Wir hatten da einen Pater
Bonifazius bei uns, ich habe ihn als einen sehr frommen Mönch in
Erinnerung; Tag und Nacht verbrachte er im Gebet, auf dem Kreuze
liegend. Staub war für ihn alles Weltliche, er kannte keine andere
Beschäftigung als den Rosenkranz herzusagen, und nichts bereitete
ihm mehr Freude als die Messe, doch schon nach dreiwöchigem
Aufenthalt dort« – Pater Lazimon wies auf den überklebten Teil der
Himmelskarte – »nahm er das Studium an einem Polytechnikum auf und
verfaßte dieses Buch!« Pater Lazimon nahm einen dicken Band vom
Tisch und warf ihn gleich angewidert zurück. Ich las den Titel:
»Über neue Methoden der Erhöhung der Flugsicherheit von
Raketen.«
»Die Sicherheit des armseligen
Leibes der Sicherung der Seele vorzuziehen! Ist das nicht
ungeheuerlich? Wir schickten alarmierende Berichte, und diesmal
zauderte der Apostolische Stuhl nicht. Unter Mitarbeit von Experten
der amerikanischen Botschaft zu Rom gab die Päpstliche Akademie
diese Werke heraus.« Pater Lazimon schritt auf eine große Kiste zu
und hob den Deckel: lauter Folianten im Quartformat.
»Hier liegen etwa zweihundert
Bücher, die mit größter Genauigkeit die Methoden der Gewalt, des
Terrors, der Suggestion, der Erpressung, des Zwanges, der Hypnose,
der Giftmischerei, der Torturen und der bedingten Reflexe
abhandeln, wie sie jene zur Unterdrückung des Glaubens benutzen.
Die Haare standen mir zu Berge, als ich das durchblätterte. Da sind
Fotos, Geständnisse, Protokolle, Beweismittel, Berichte von
Augenzeugen und Gott weiß was noch alles. Ich frage mich, wie haben
die das nur so schnell gemacht? Was heißt das doch: amerikanische
Technik! Aber mein Wertester… die Wirklichkeit ist viel, viel
schrecklicher!«
Pater Lazimon trat dicht an mich
heran und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin hier an Ort und Stelle
und muß es folglich am besten wissen… lieber Mann. Die hier quälen
nicht, zwingen keinen, sie foltern nicht und drehen auch keine
Schrauben in den Kopf, sie lehren einfach nur, was das Universum
ist, wo das Leben herkommt, wie das Bewußtsein entsteht und wie man
die Wissenschaft zum Nutzen der Allgemeinheit anzuwenden hat. Sie
können beweisen, daß die ganze Welt – so wie zwei mal zwei gleich
vier – ausschließlich von materieller Beschaffenheit ist. Von allen
meinen Missionaren hat nur einer den Glauben bewahrt, Pater
Servazius, und das allein, weil er taub ist wie eine Nuß und gar
nicht hören konnte, was zu ihm gesprochen wurde! Ja, das ist
schlimmer als alle Foltern, mein Teurer! Ich hatte hier eine junge
Nonne, Karmeliterin, ein durchgeistigtes Kind, nur dem Himmel
ergeben; sie fastete ununterbrochen, kasteite sich, bekam die
Wundmale und auch Visionen, verkehrte mit Heiligen. Sie hatte die
heilige Melanie besonders liebgewonnen und wählte sie sich zum
Vorbild; mehr noch, von Zeit zu Zeit zeigte sich ihr sogar der
Erzengel Gabriel… Eines Tages machte sie sich auf die Reise
dorthin.« Pater Lazimon deutete auf die rechte Hälfte der Karte.
»Ich erlaubte ihr das mit ruhigem Gewissen, denn sie war arm an
Geist, und solchen gehört ja das Reich Gottes; wenn ein Mensch erst
anfängt zu überlegen; wie, was, woher, dann tun sich gleich die
Abgründe der Ketzerei auf. Ich war sicher, daß die Argumente von
der Weisheit jener bei ihr nicht einschlagen würden; doch kaum war
sie dort eingetroffen, da wurde sie nach ihrer ersten Schauvision
in religiöser Ekstase für neurotisch erklärt oder wie das sonst
heißen mag; man behandelte sie mit Bädern, beschäftigte sie im
Garten, gab ihr Puppen und anderes Spielzeug. Nach vier Monaten kam
sie zurück – aber in welchem Zustand!«
Pater Lazimon zitterte.
»Was war denn mit ihr geschehen?« fragte ich
mitleidig.
»Sie hatte keine Visionen mehr,
besuchte einen Lehrgang für Raketenpiloten und ist nun mit einer
Forschungsexpedition zum Kern der Milchstraße abgeflogen, das arme
Kind! Unlängst hörte ich, im Traum sei ihr die heilige Melanie
erschienen, und mein Herz schlug ob dieser freudigen Botschaft,
aber es stellte sich heraus, daß sie nur von ihrer Tante geträumt
hatte. Ich sage Ihnen: Das ist der Ruin, der Untergang. Wie naiv
sind doch die amerikanischen Experten; sie kündigen mir weitere
fünf Tonnen Bücher und sonstige Literatur über die Grausamkeiten
unserer Feinde wider den Glauben an. Ja, wenn diese die Religion
verfolgten, wenn sie die Kirchen schlössen und die Gläubigen
auseinanderjagten, doch das tun sie ja leider nicht. Sie lassen
alles zu: den Gottesdienst und die geistlichen Lehranstalten, nur
daß sie auch ihre eigenen Theorien und Beweise verbreiten. Eine
Zeitlang probierten wir diese Methode aus« – Pater Lazimon deutete
auf die Karte –, »aber ohne Erfolg.«
»Verzeihung, welche
Methode?«
»Na, wir klebten diesen Teil des
Universums mit Papier zu und ignorierten seine Existenz, aber das
half nicht. Gegenwärtig wird in Rom von einem Kreuzzug zum Schutze
des Glaubens gesprochen.«
»Und was halten Sie davon,
Pater?«
»Nun, das wäre so übel nicht;
wenn man ihre Planeten in die Luft sprengte, ihre Städte zerstörte,
ihre Bücher verbrennte und sie selbst ausrottete, vielleicht
gelänge es dann, die Lehre von der Nächstenliebe zu retten. Aber
wer sollte diesen Kreuzzug führen? Die Memnogen? Oder die
Arpetusaner etwa? Es ist einfach zum Lachen, wenn es nicht so
traurig wäre!«
Ein drückendes Schweigen nistete
sich ein. Von herzlichem Mitleid erfaßt, legte ich dem abgehärmten
Priester die Hand auf die Schulter, um ihm mit dieser
freundschaftlichen Geste Mut einzuflößen; in diesem Augenblick
rutschte mir ein funkelnder Gegens tand aus dem Ärmel und polterte
zu Boden. Wer vermag meine Überraschung zu schildern, als ich darin
mein Taschenmesser erkannte. Es hatte die ganze Zeit unter dem
Jackenfutter gesteckt, wo es durch ein kleines Loch in der Tasche
hineingeraten war!
DREIUNDZWANZIGSTE REISE
In der »Kosmozoologie«, Professor Tarantogas
berühmtem Werk, habe ich von einem Planeten gelesen, der um den
Doppelstern Erpeya kreist und angeblich so klein ist, daß seine
Bewohner nur auf einem Bein stehend Platz darauf fänden, wollten
sie alle auf einmal ihre Wohnungen verlassen. Professor Tarantoga
gilt zwar unumstritten als Autorität, aber diese Behauptung schien
mir doch übertrieben, und ich beschloß, der Sache auf den Grund zu
gehen.
Die Fahrt verlief recht abwechslungsreich; an
der Veränderlichen
463 hatte mein Antrieb einen Defekt, und die
Rakete begann auf den Stern unter mir hinabzusinken, was mich
beunruhigte, denn die Temperatur dieses Cepheiden beträgt 600.000
Grad Celsius. Die Hitze wuchs mit jeder Sekunde und wurde
schließlich so unerträglich, daß ich mich in den kleinen
Kühlschrank, in dem ich meine Lebensmittel frisch halte,
verkriechen mußte, um weiterarbeiten zu können – fürwahr ein
sonderbarer Zufall, denn wo hätte ich jemals angenommen, daß ich
mich bald in einer ähnlichen Situation befinden sollte. Zum Glück
hatte ich den Schaden, rasch behoben und gelangte nun ohne weitere
Behinderungen zur Erpeya. Dieser Doppelstern besteht aus zwei
Sonnen: Die eine ist groß, rot wie ein glühender Ofen und nicht
übermäßig heiß, die andere hingegen ist blau und strahlt eine
fürchterliche Hitze aus. Der Planet selbst ist tatsächlich so
klein, daß ich ihn erst fand, nachdem ich den gesamten umliegenden
Weltraum abgeklappert hatte. Seine Bewohner, die Bischuten, nahmen
mich sehr freundlich auf.
Wunderbar sind die Auf- und
Untergänge der beiden Sonnen, die nacheinander erfolgen, ein
eigenartiges Schauspiel gibt es auch bei den Verfinsterungen. Die
Hälfte der Tageseinheit scheint die rote Sonne, und dann sieht
alles wie in Blut gebadet aus, in der anderen Hälfte leuchtet die
blaue, und zwar so intensiv, daß man ständig die Augen zukneifen
muß; trotzdem ist die Sicht noch ganz erträglich. Da die Bischuten
überhaupt keine Dunkelheit kennen, nennen sie die blaue Zeit Tag
und die rote Nacht. Raum gibt es auf dem Planeten in der Tat
unglaublich wenig, aber die Bischuten, die sehr intelligente Wesen
sind und über erhebliche Kenntnisse, vor allem physikalische,
verfügen, werden glänzend mit dieser Schwierigkeit fertig; die
Methode, die sie dabei anwenden, zeichnet sich allerdings durch
besondere Eigenart aus. Von jedem Planetenbewohner wird in dem
entsprechenden Amt mit Hilfe eines Röntgenpräzisionsgeräts eine
sogenannte atomare Personenbeschreibung angefertigt, das heißt ein
genauer Plan, der sämtliche Materiemoleküle, Eiweißteilchen und
chemischen Verbindungen verzeichnet, aus denen sich der Körper des
jeweiligen Bischuten zusammensetzt. Wenn die Schlafenszeit naht,
kriecht dieser durch ein Türchen in einen Apparat, der ihn in
winzige Atome zerstäubt. In dieser Gestalt verbringt er auf
kleinstem Raum die Nacht, morgens setzt dann ein Wecker den Apparat
zur vorherbestimmten Stunde in Gang, der fügt laut atomarer
Personenbeschreibung alle Partikel in der richtigen Ordnung und
Reihenfolge wieder zusammen, die Tür öffnet sich, und der
wiederaufgelebte Bischute begibt sich nach mehrmaligem Gähnen an
die Arbeit.
Die Bischuten priesen mir die
Vorzüge dieses Brauches: Schlaflosigkeit, Angstträume oder
Alpdrücken könnten gar nicht mehr vorkommen, betonten sie, denn der
Apparat pulverisiere ja den Körper zu Atomen und nehme ihm somit
Leben und Bewußtsein. Dasselbe Verfahren wird in den
verschiedensten Situationen angewandt, zum Beispiel in Warteräumen
von Ärzten oder Behörden, wo an Stelle der Stühle kleine rosa und
blau bemalte Kisten mit Apparaten stehen, ferner bei diversen
Sitzungen und Versammlungen, mit einem Wort überall da, wo man zu
Untätigkeit und Langeweile verurteilt ist und, ohne Nützliches zu
verrichten, durch seine bloße Anwesenheit den anderen den Platz
wegnimmt. In der gleichen sinnvollen Weise befriedigen die
Bischuten ihre Reiselust: Man schreibt die Zieladresse auf ein
Kärtchen, klebt es auf eine Kassette, stellt diese unter den
Apparat, bevor man sich hineinbegibt, und gelangt zerstäubt in das
Behältnis. Es besteht eine eigens für diesen Zweck eingerichtete
Institution – unserer Post vergleichbar –, die solche Sendungen an
die jeweilige Adresse schickt. Hat es einer besonders eilig, dann
wird seine atomare Personenbeschreibung zum Bestimmungsort
gedrahtet und dort nachgestaltet, dieweil der Originalbischute
pulverisiert ins Archiv eingeliefert wird. Diese telegrafische
Reisemethode hat, der Zeitersparnis und ihrer Einfachheit wegen,
viel Verlockendes, birgt jedoch auch manche Gefahren.
Am Tage meiner Ankunft wußte die
Presse gerade einen unerhörten Vorfall zu melden. Ein junger
Bischute namens Termofeles gedachte auf der anderen Hemisphäre
seines Planeten zu heiraten. Da er so schnell wie möglich zu seiner
Erwählten gelangen wollte – eine bei Verliebten verständliche
Ungeduld –, ging er zur Post und ließ sich drahten; kaum war dies
geschehen, wurde der Schalterbeamte in einer dringenden
Angelegenheit abberufen, und sein Vertreter telegrafierte
nichtsahnend noch einmal dieselbe Personenbeschreibung, so daß sich
nun bei der schmachtenden Braut zwei Termofelesse meldeten,
einander so ähnlich wie zwei Wassertropfen. Die Verwirrung und
Ratlosigkeit der Unglücklichen und der ganzen Hochzeitsgesellschaft
läßt sich kaum beschreiben. Man wollte einen der beiden
Termofelesse überreden, sich wieder pulverisieren zu lassen, um so
die leidige Situation zu bereinigen, doch alle Bemühungen schlugen
fehl, denn beide behaupteten hartnäckig, der richtige, der einzig
wahre Termofeles zu sein. Die Angelegenheit kam vor Gericht und
durchlief verschiedene Instanzen. Leider fällte das höchste Gericht
seinen Spruch erst nach meiner Abreise, so daß ich nicht schildern
kann, wie die Sache ausging.*
Die Bischuten redeten mir
freundlich zu, doch auch einmal ihre Art des Ruhens und Reisens zu
probieren, sie beteuerten, Irrtümer wie der oben erwähnte zählten
zu den größeren Seltenheiten, und
*
Anmerkung der Redaktion: Wie wir erfahren
haben, sah das Urteil die Pulverisierung beider Verlobter vor und
danach die Wiederherstellung eines Individuums; ein wahrhaft
salomonisches Urteil.
der Vorgang als solcher enthalte nichts
Rätselhaftes oder Widernatürliches, denn die lebenden Organismen
seien, wie jeder wisse, aus der gleichen Materie zusammengesetzt
wie alle uns umgebenden Gegenstände, Planeten und Sterne; der
Unterschied liege lediglich in der wechselseitigen Verbindung
zwischen den Teilchen und ihrem System. Ihre Argumente leuchteten
mir ohne weiteres ein, dennoch stellte ich mich taub gegen alle
Bitten.
Eines Abends hatte ich ein
seltsames Erlebnis. Ich trat in das Haus eines mir bekannten
Bischuten, ohne mich telefonisch angemeldet zu haben. Da ich den
Raum leer fand, öffnete ich auf der Suche nach dem Hausherrn der
Reihe nach verschiedene Türen (bei der unglaublichen, für die
Wohnverhältnisse der Bischuten jedoch normalen Enge!), machte
schließlich eine Tür auf, die kleiner war als alle andren, und
erblickte das Innere eines Kühlschranks oder dergleichen, das leer
war mit Ausnahme eines Faches. Dort stand eine mit aschgrauem
Pulver gefüllte Kassette. Gedankenlos nahm ich eine Handvoll davon,
da schlug eine Tür, und ich ließ das Pulver vor Schreck
fallen.
»Was tust du, verehrter Fremder?«
Es war das Söhnchen des Bischuten. »Gib acht, du verschüttest
meinen Papa!«
Als ich das hörte, erschrak ich
und war zutiefst betrübt, doch der Kleine rief: »Das macht nichts,
gräm dich nicht!« Er rannte hinaus und kam wenige Minuten später
mit einem Stück Kohle, einer Tüte Zucker, einer Prise Schwefel,
einem kleinen Nagel und einer Handvoll Sand wieder; das alles warf
er in die Kassette, schloß die Tür und drückte auf den Schalter.
Ich vernahm ein dumpfes Seufzen oder Schmatzen, das Türchen ging
auf, und mein Bekannter trat heraus, belustigt über meine
Verwirrung, gesund und völlig intakt. Später fragte ich ihn, ob ich
ihm dadurch, daß ich einen Teil seiner Materie verschüttete, einen
Schaden zugefügt hätte, und wie sein Sohn die Sache so leicht habe
in Ordnung bringen können.
»Ach, das ist überhaupt nicht der
Rede wert«, meinte er, »Du hast mir in keiner Weise geschadet, wie
solltest du! Die Ergebnisse der physiologischen Untersuchungen
dürften dir, lieber Fremdling, ja bekannt sein. Sie besagen, daß
sämtliche Atome unseres Körpers ständig durch neue ausgetauscht
werden, die einen Verbindungen zerfallen, andere wieder entstehen;
was abgeht, wird durch aufgenommene Nahrung und Getränke sowie
durch die Atmungsprozesse ersetzt. Das alles zusammen heißt
Stoffwechsel. Die Atome also, aus denen dein Leib vor einem Jahr
bestand, haben ihn längst verlassen und schweben in fernen
Gefilden; unveränderlich bleibt einzig die allgemeine Struktur des
Organismus, das wechselseitig bedingte System der Stoffmoleküle. In
der Art, wie mein Kleiner den zu meiner Wiederherstellung
notwendigen Stoffvorrat ergänzt hat, liegt nichts
Außergewöhnliches, unsere Körper bestehen doch aus Kohle, Schwefel,
Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und einer Spur Eisen. Die
Substanzen, die er gebracht hat, enthalten die genannten Elemente.
Bitte versuch es einmal, und du wirst sehen, wie harmlos der ganze
Vorgang ist…«
Vorläufig schlug ich das
freundliche Anerbieten aus. Lange noch konnte ich mich nicht
entscheiden; am Ende jedoch rang ich mich zu dem kühnen Entschluß
durch – es kostete mich allerhand Überwindung! Ich ließ mich im
Röntgeninstitut durchleuchten und meine atomare
Personenbeschreibung anfertigen, danach begab ich mich zu meinem
Bekannten. Ich hatte einige Schwierigkeiten, mich mit meiner recht
ansehnlichen Leibesfülle in den Apparat zu quetschen, und bedurfte
der tatkräftigen Unterstützung des höflichen Hausherrn und seiner
ganzen Familie. Doch es gelang: Die Tür schloß, und es wurde
dunkel.
Was hinterher geschah, ist mir
unbekannt. Ich fühlte nur meine höchst unbequeme Lage; die Kante
des Faches drückte gegen mein Ohr. Doch bevor ich mich zu rühren
wagte, öffnete sich die Tür, und ich war frei. Auf meine Frage,
warum man das Experiment nicht ausgeführt habe, erklärte der
Hausherr mit heiterem Lächeln, das sei ein Irrtum. Ein Blick auf
die Wanduhr belehrte mich, daß ich tatsächlich zehn Stunden
bewußtlos in dem Pulverisator verweilt hatte. Die einzige, übrigens
geringfügige Unstimmigkeit bestand darin, daß meine Taschenuhr
nicht weitergegangen war; aber wie sollte es anders sein, war sie
doch ebenso wie ich in Atome zerstäubt worden.
Die Bischuten, mit denen mich
bald eine überaus herzliche Freundschaft verband, erzählten mir,
daß der Apparat noch bei anderen Gelegenheiten verwendet würde: Bei
ihnen herrsche der Brauch, daß sich hervorragende Gelehrte fünfzig
und mehr Jahre darin aufhalten, wenn ihnen ein unlösbares Problem
keine Ruhe läßt, sodann wiederauferstehen, um in der Welt
herumzufragen, ob das betreffende Problem schon gelöst sei. Wenn
nicht, so lassen sie sich von neuem atomisieren, bis sie ihr Ziel
schließlich einmal erreichen.
Da mein erstes Experiment so
positiv abgelaufen war, überwand ich meine Ängstlichkeit und fand
so viel Geschmack an dieser ungewohnten Schlafmethode, daß ich
nicht nur die Nächte, sondern jeden freien Augenblick in
atomisiertem Zustand verbrachte. Ich hatte auch im Park und auf der
Straße Gelegenheit dazu, denn überall standen die
briefkastenähnlichen Apparate mit den kleinen Türen. Man durfte nur
nicht vergessen, den Wecker auf die richtige Zeit zu stellen;
Zerstreute versäumen das bisweilen, und sie könnten in alle
Ewigkeit so ruhen, wären nicht Kontrolleure eingesetzt, die
allmonatlich sämtliche Pulverisatoren überprüfen.
Als meine Abreise kurz
bevorstand, fand der Brauch der Planetenbewohner bereits meine
uneingeschränkte Begeisterung, und ich wandte ihn, wie gesagt, auf
Schritt und Tritt an. Diese Unbesonnenheit mußte ich jedoch büßen.
Als ich nämlich wieder einmal einen Apparat benutzte, klemmte
dieser, und als der Wecker morgens die Kontakte einschaltete,
gewann ich nicht meine gewohnte Gestalt zurück, sondern sah mich
als Napoleon Bonaparte in Kaiseruniform wieder, mit der
Trikoloreschärpe der Ehrenlegion, einen Säbel an der Seite, einen
goldbeschwerten Dreispitz auf dem Haupt, Zepter und Reichsapfel in
der Hand – und so trat ich vor meine erstaunten Bischuten. Sie
rieten mir, mich im nächsten einwandfrei arbeitenden Gerät umbilden
zu lassen, was auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen würde, da meine
getreue Personenbeschreibung ja vorliege, aber ich empfand
plötzlich solchen Wider willen gegen die Idee des Pulverisierens an
sich, daß ich mich damit begnügte, den Dreispitz in eine
Ohrenkappe, den Säbel in ein Eßbesteck und das Zepter nebst Apfel
in einen Regenschirm umzuwandeln. Als ich wieder am Steuer meiner
Rakete saß und der Planet hinter mir im Dunkel der ewigen Nacht
versank, kam es mir plötzlich in den Sinn, daß ich leichtfertig
gehandelt hatte, mich solcher greifbaren Beweise zu berauben – sie
hätten meine Worte bekräftigen können! Aber es war schon zu
spät.
VIERUNDZWANZIGSTE REISE
Tausendsechs Tage, nachdem ich das Lokalsystem
im Nebelfleck der Nereide verlassen hatte, bemerkte ich auf dem
Leuchtschirm meiner Rakete einen Fleck, den ich mit einem
Lederlappen abzureiben versuchte. Mangels anderer Beschäftigung
polierte und putzte ich vier Stunden an dem Schirm, bis ich
dahinterkam, daß der Fleck ein Planet war, der sehr rasch größer
wurde. Bei der Umkreisung dieses Himmelskörpers beobachtete ich mit
nicht geringem Erstaunen, daß seine weiten Kontinente von
regelmäßigen geometrischen Mustern und Dessins überzogen waren. Ich
landete unter Einhaltung der nötigen Vorsichtsmaßregeln mitten in
einer offenen Wüste. Sie war von kleinen runden Scheiben bedeckt,
jede von etwa einem halben Meter Durchmesser; hart und glänzend,
wie gewalzt, zogen sie sich in langen Reihen nach verschiedenen
Seiten hin in figürlicher Anordnung, wie ich sie zuvor aus
beträchtlicher Höhe gesichtet hatte. Ich unterbrach vorerst meine
Nachforschungen, setzte mich ans Steuer und glitt dicht über dem
Boden dahin, nach einer Lösung des Rätsels Ausschau haltend, das
mich höchlich beschäftigte. Auf dem zweistündigen Flug entdeckte
ich drei schöne große Städte; in einer stieg ich aus – sie war
leer; Häuser, Türme und Plätze – alles war wie ausgestorben,
nirgends eine Spur Leben, dabei gab es keine Anzeichen eines
gewaltsamen Eingriffs oder einer Naturkatastrophe. Mit wachsender
Verwirrung setzte ich den Flug fort. Gegen Mittag kurvte ich über
einem ausgedehnten Hochplateau. Als ich einen funkelnden Bau
bemerkte, in dessen Umgebung sich etwas bewegte, landete ich. Aus
der steinigen Ebene ragte ein Palast auf, der in seiner vollen
Größe strahlte, als wäre er aus einem einzigen Diamanten
geschnitzt; eine breite Marmortreppe führte zu seinem goldenen
Portal, davor schwärmte eine etwa hundertköpfige Menge mir
unbekannter Wesen. Ich betrachtete sie von nahem und gelangte zu
dem Schluß, daß sie, wenn mich meine Augen nicht täuschten,
zweifellos lebendig waren; überdies glichen sie uns Menschen, zumal
von weitem, fast aufs Haar, so daß ich ihnen unverzüglich den Namen
animal hominiforme gab; unterwegs hatte ich mir nämlich schon
verschiedene Bezeichnungen zurechtgelegt, um sie für solche
Gelegenheiten bereit zu haben. Animal hominiforme, das traf
tatsächlich zu, denn die Geschöpfe liefen auf zwei Beinen, hatten
Hände, Kopf, Augen, Ohren und Mund; allerdings saß der Mund mitten
auf der Stirn, die Ohren waren unter dem Kinn (paarweise zu beiden
Seiten), und Augen gab es gleich zehn, die in Kränzen auf den
Wangen prangten; aber für einen Weltreisenden, der wie ich auf
seinen Fahrten die sonderbarsten Gebilde kennengelernt hatte,
mußten diese Wesen eine überraschende Menschenähnlichkeit
haben.
Als ich mich ihnen auf eine
annehmbare Entfernung genähert hatte, fragte ich sie nach ihrem
Treiben. Statt zu antworten, starrten sie eifrig in die
Diamantspiegel, die auf der untersten Stufe aufgestellt waren. Ich
versuchte, sie aus dieser Tätigkeit herauszureißen, einmal,
zweimal, dreimal; als ich aber sah, daß dies überhaupt keinen
Erfolg hatte, rüttelte ich vor Ungeduld einen von ihnen heftig an
der Schulter. Nun wandten sie sich alle nach mir um, betrachteten
verwundert mich und meine Rakete, als hätten sie beide erst jetzt
bemerkt, und stellten einige Fragen, die ich bereitwillig
beantwortete. Da sie alle Augenblicke das Gespräch unterbrachen, um
in die Diamantspiegel zu schauen, fürchtete ich schon, sie nicht
gründlich ausforschen zu können, doch ließ sich endlich einer von
ihnen bewegen, gewissenhaft meine Neugier zu befriedigen. Mit
diesem Indioten nun – so hießen sie, wie er mir sagte – hockte ich
mich unweit der Treppe auf einen Stein. Ich durfte froh sein, daß
mir der Zufall ihn zum Gesprächspartner bestimmt hatte, denn er
zeichnete sich durch überdurchschnittliche Intelligenz aus, wie der
Glanz seiner zehn strahlenden Augen verriet. Nachdem er die
Ohrlöffel hinter den Schultern angelegt hatte, schilderte er mir
die Geschichte seines Stammes. Hier der Bericht: »O fremder
Wanderer! Wisse, daß wir ein Volk mit einer langen, herrlichen
Vergangenheit sind. Die Bevölkerung dieses Planeten ist seit
Urzeiten in Spiriten, Erlauchte und Minderlinge, aufgeteilt. Die
Spiriten vertieften sich in das Wesen des Großen Inda, der in einem
schöpferischen Willensakt die Indioten erschuf, sie auf dieser
Weltenkugel seßhaft machte und diese in seiner unerforschlichen
Gnade mit Sternen umgab, die in den Nächten scheinen; ferner
entfachte er das Sonnenfeuer, auf daß es unsere Tage erhelle und
uns wohltuende Wärme spende. Die Erlauchten setzten die Abgaben
fest, legten die Staatsgesetze aus und nahmen sich der Fabriken an,
in denen die Minderlinge bescheiden ihr Tagewerk verrichteten. So
arbeiteten alle gemeinsam zum Wohle der Allgemeinheit. Wir lebten
in Frieden, Eintracht und Harmonie; unsere Zivilisation stand bald
in hoher Blüte. Im Laufe der Jahrhunderte bauten die Erfinder
Maschinen, die die Arbeit erleichterten, und dort, wo im Altertum
hundert Minderlinge ihre schweißüberströmten Rücken beugen mußten,
bedienten Jahrhunderte später nur noch zwei oder drei eine
Maschine. Unsere Gelehrten vervollkommneten die Maschinen immer
mehr, und das Volk freute sich; jedoch die nahenden Ereignisse
bewiesen, wie fehl am Platze diese Freude gewesen war. Ein
gelehrter Konstrukteur hatte Neue Maschinen geschaffen, so
vortrefflich, daß sie ganz selbständig zu arbeiten vermochten, ohne
jede Kontrolle. Und da fing die Katastrophe an. Je mehr Neue
Maschinen in den Fabriken auftauchten, desto mehr Minderlinge
verloren ihren Arbeitsplatz, und da nun der Lohn ausblieb, waren
die Massen vom Hungertode bedroht…«
»Erlaube mir eine Frage, Indiote…
Was geschah mit dem Gewinn, den die Fabriken brachten?«
»Wieso?« entgegnete der Partner.
»Der Gewinn fiel doch den rechtmäßigen Eigentümern zu, den
Erlauchten. Wie gesagt, eine Katastrophe stand bevor…«