»Aber was redest du, ehrenwerter
Indiote!« rief ich aus. »Es hätte doch genügt, die Fabriken in
gemeinschaftliches Eigentum zu überführen, und die Neuen Maschinen
wären ein Segen für euch geworden!«
Kaum hatte ich das gesagt, da
erbebte der Indiote, ließ ängstlich blinzelnd seine zehn Augen in
die Runde schweifen und wackelte mit den Ohrlöffeln, forschend, ob
nicht irgendeiner meine Worte gehört habe.
»Bei den Zehn Nasen Indas, ich
flehe dich an, Fremdling, mache dich nicht zum Sprecher dieser
entsetzlichen Ketzereien, die einen schändlichen Anschlag auf
unsere unveräußerlichen Freiheiten bedeuten! Wisse denn, unser
höchstes Gesetz, genannt Prinzip der freien Initiative, besagt, daß
niemand zu einer Sache genötigt, gezwungen oder auch nur veranlaßt
werden darf, die er nicht wünscht. Wer hätte da gewagt, den
Erlauchten die Fabriken zu nehmen, wenn es ihr Wille war, sich des
Eigentümerstandes zu erfreuen? Das wäre die schlimmste Knebelung
der Freiheit gewesen, die man sich vorstellen kann. So produzierten
dann, wie gesagt, die Neuen Maschinen Mengen maßlos billiger Waren
und vorzüglicher Lebensmittel, aber die Minderlinge kauften
überhaupt nichts, denn sie hatten kein Geld…«
»Aber, mein lieber Indiote«, rief
ich aus, »du willst doch nicht behaupten, die Minderlinge handelten
aus freien Stücken so? Wo blieben da eure Freiheit, eure
Bürgerrechte?«
»Ach, teurer Fremder«, erwiderte
der Indiote seufzend, »die Rechte blieben weiter unangetastet, aber
sie besagen ja auch nur, daß der Bürger mit seiner Habe und seinem
Geld machen kann, was ihm beliebt, aber nicht, woher er beides
nehmen soll. Die Minderlinge wurden von niemandem unterdrückt,
keiner übte Zwang auf sie aus, im Gegenteil, sie waren völlig frei
und konnten tun und lassen, was sie wollten; statt aber diese
uneingeschränkte Freiheit zu genießen, starben sie wie die Fliegen…
Die Lage verschlimmerte sich zusehends; in den Magazinen stapelten
sich Berge von Waren, die keiner kaufte, und in den Straßen irrten
ziellos Schwärme schattenähnlicher Minderlinge umher. Der den Staat
regierende Hohe Durinal, die ehrenwerte Versammlung der Spiriten
und Erlauchten, tagte ein Jahr lang in Permanenz, um Abhilfe zu
schaffen. Seine Mitglieder hielten endlose Reden und suchten mit
großem Eifer nach einem Ausweg aus dem Dilemma, aber ihre
Bemühungen schlugen fehl. Gleich zu Beginn der Beratungen verlangte
ein Mitglied des Durinals, der Autor des bekannten Werkes ›Vom
Wesen der indiotischen Freiheiten‹, man solle von dem Konstrukteur
der Neuen Maschinen den goldenen Lorbeerkranz zurückfordern und ihm
neun Augen ausstechen. Dem widersetzten sich die Spiriten, die im
Namen des Großen Inda um Erbarmen für den Erfinder flehten. Vier
Monate lang beratschlagte der Durinal darüber, ob der Konstrukteur
durch die Erfindung der Neuen Maschinen gegen die Gesetze verstoßen
habe oder nicht. Die Versammlung zerfiel in zwei Lager, die
einander verbissen bekämpften. Schließlich setzte ein Brand im
Archiv dem Streit ein Ende; alle Sitzungsprotokolle wurden
vernichtet, und da von den hohen Mitgliedern des Durinals keiner
mehr wußte, welchen Standpunkt er in dieser Frage vertreten hatte,
fiel die ganze Angelegenheit unter den
Tisch. Danach kam der Plan auf, man solle die Erlauchten, die
Eigentümer der Fabriken, davon abbringen, weiter Neue Maschinen zu
produzieren; der Durinal setzte zu diesem Behufe eine gemischte
Kommission ein, aber weder ihre Bitten noch ihr Flehen zeitigten
einen Erfolg. Jene entgegneten nämlich, daß die Neuen Maschinen
billiger und schneller arbeiteten als die Minderlinge und es ihr
Lieblingswunsch sei, auf diese Weise zu produzieren. Der Hohe
Durinal tagte weiter. Ein Gesetzentwurf lag vor, der eine geringe
Beteiligung der Minderlinge an den Einnahmen des Fabrikbesitzers
vorsah, doch auch diese Novelle wurde verworfen, denn eine solche
Gratiszuteilung von Existenzmitteln hätte – wie der Erzspirit Nolab
mit Recht betonte – die Seelen der Minderlinge demoralisiert und
erniedrigt. Mittlerweile wurden die Warenberge höher und höher, bis
sie zu guter Letzt über die Fabrikmauern hinauswuchsen, während
sich die hungerleidenden Minderlinge davor zusammenrotteten und
Drohungen ausstießen. Vergebens suchten ihnen die Spiriten geduldig
klarzumachen, daß sie damit gegen die Staatsgesetze verstießen und
sich erdreisteten, Indas unerforschlichen Fügungen Widerstand zu
leisten, sie sollten lieber ihr Los in Demut tragen, denn durch
Abtötung des Fleisches würden sich ihre Seelen in unermeßliche
Höhen emporschwingen, und der himmlische Lohn wäre ihnen gewiß. Die
Minderlinge jedoch stellten sich taub gegen die weisen Worte, und
so mußten zur Bändigung ihrer bösen Triebe bewaffnete Hüter
eingesetzt werden.
Da berief der Hohe Durinal den
gelehrten Erfinder der Neuen Maschinen vor sein Angesicht und
richtete folgende Worte an ihn: ›Gelehrter Mann! Unserem
Staatswesen droht höchste Gefahr, denn unter den Massen der
Minderlinge werden aufrührerische, verbrecherische Gedanken
verbreitet. Sie sollen unsere herrlichen Freiheiten untergraben und
das Prinzip der freien Initiative zunichte machen! Wir müssen alle
unsere Kräfte zum Schutze der Freiheit aufbieten. Nach reiflicher
Erwägung sämtlicher Faktoren sind wir zu der Überzeugung gelangt,
daß wir diesem Problem nicht gewachsen sind. Selbst der
tugendhafteste und vollkommenste Indiote läßt sich von Gefühlen
leiten, schwankt gelegentlich und neigt zu Irrtümern; er kann es
daher nicht wagen, in einer so komplizierten und zugleich so
bedeutsamen Angelegenheit zu entscheiden. Aus diesem Grunde sollst
du uns innerhalb von sechs Monaten eine Maschine zum Regieren
bauen, die präzis und streng logisch, völlig objektiv argumentiert
und keinen Schwankungen, Emotionen oder Ängsten ausgesetzt ist, wie
sie gemeinhin die Tätigkeit des belebten Verstandes so stark
beeinträchtigen. Wir verlangen von dir eine Maschine, die so
unparteiisch ist wie das Licht der Sonne und der Sterne. Wenn du
sie gebaut und in Gang gesetzt hast, wollen wir ihr die
Staatsgeschäfte aufbürden, denn für unsere abgekämpften Rücken ist
die Last zu schwer.‹
›So sei es, Hoher Durinal‹, sagte
der Konstrukteur, ›doch welches soll das grundlegende
Arbeitsprinzip der Maschine sein?‹
›Selbstverständlich das Prinzip
der freien staatsbürgerlichen Initiative. Die Maschine darf den
Bürgern weder gebieten noch verbieten; gewiß, sie kann unsere
Daseinsbedingungen ändern, aber das muß stets in Form von
Vorschlägen geschehen, indem sie uns Möglichkeiten präsentiert,
unter denen wir nach Belieben wählen können.‹
›So soll es geschehen, Hoher
Durinal‹, erwiderte der Konstrukteur, ›doch dieses Gebot betrifft
hauptsächlich die Arbeitsmethoden, ich aber frage nach dem
Endzweck. Wonach soll die Maschine streben?‹
›Chaos droht unserem Staat,
Verwirrung und Mißachtung der Gesetze greifen um sich. Aufgabe der
Maschine ist es, die höchste Harmonie auf dem Planeten einzuführen
und eine vollkommene und absolute Ordnung zu
gewährleisten.‹
›Es sei, wie ihr befehlt!‹
entgegnete der Erfinder. ›In sechs Monaten baue ich euch den
Freiwilligen Propagator der Absoluten Ordnung. Lebt wohl! Ich
schreite nun zur Tat…‹
›Einen Augenblick noch!‹ rief
einer von den Erlauchten, ›Die Maschine, die du zu konstruieren
hast, soll nicht nur vollendet, sondern auch angenehm arbeiten, das
heißt, ihre Produkte müssen wohltuend wirken und selbst das
verwöhnte ästhetische Empfinden befriedigen…‹
Der Erfinder verneigte sich stumm
und entfernte sich. Nach angestrengter Arbeit, bei der ihm ein
ganzer Schwarm intelligenter Assistenten zur Seite stand, war die
Regiermaschine fertig – da siehst du sie als kleinen dunklen Fleck
am Horizont, Fremdling. Sie ist ein gigantischer Komplex von
imposanten Eisenzylindern, in denen es unausgesetzt brodelt und
glüht. Der Tag ihrer Inbetriebnahme wurde ein großer
Staatsfeiertag, der älteste Erzspirit weihte sie feierlich ein,
wonach ihr der Hohe Durinal die Staatsgewalt übertrug. In diesem
Augenblick stieß der Freiwillige Propagator der Absoluten Ordnung
einen schrillen Pfeifton aus und machte sich ans Werk.
Sechs Tage lang arbeitete die
Maschine ohne Pause, tags ballten sich über ihr die Rauchwolken,
nachts glomm Feuerschein ringsum. Der Boden zitterte im Umkreis von
hundertsechzig Meilen. Dann öffneten die Zylinder ihre Schlünde und
gaben Scharen von kleinen schwarzen Automaten frei, die – wie Enten
watschelnd – über den ganzen Planeten ausschwärmten und in die
entlegensten Winkel drangen. Wo immer sie anlangten, sammelten sie
sich vor den Fabriklagern und forderten liebenswürdig und leicht
verständlich alle möglichen Waren, die sie unverzüglich bezahlten.
Im Laufe einer Woche waren die Lager geleert, und die Erlauchten
Fabrikbesitzer konnten erleichtert aufatmen: ›Fürwahr, eine
vortreffliche Maschine hat uns der Konstrukteur da gebaut!‹ In der
Tat, es war bewundernswert, wie jene Automaten die erworbenen
Gegenstände zu nutzen wußten: Sie kleideten sich in Brokat und
Atlas, salbten sich Achsen und Gelenke mit den ausgesuchtesten
Kosmetika, rauchten Tabak, lasen Bücher, wobei sie über traurigen
synthetische Tränen vergossen, ja, sie waren sogar imstande, die
mannigfaltigsten Leckerbissen zu verschlingen – freilich nur zum
Nutzen der Produzenten; selbst hatten sie nichts davon, denn sie
wurden elektrisch angetrieben. Lediglich die Massen der Minderlinge
zeigten nicht die geringste Begeisterung, im Gegenteil, ihr Murren
wurde immer lauter. Die Erlauchten indes warteten voller
Zuversicht, daß die Maschine weitere Schritte unternähme.
Es dauerte auch nicht lange, da
stapelte sie riesige Vorräte an Marmor, Alabaster, Granit,
Bergkristallen sowie Kupferbarren, Säcke voll Gold, Silber und
Jaspistafeln, und dann errichtete sie unter entsetzlichem Klappern
und Qualmen ein Gebäude, wie es keines Indioten Auge je gesehen
hatte – es ist das Regenbogenschloß hier vor dir,
Fremder!«
Ich schaute hin. Die Sonne
blickte gerade hinter einer Wolke hervor, und ihre Strahlen
spiegelten sich in den geschliffenen Wänden, die sie in saphirblaue
und leuchtend rote Flammen spalteten; Regenbogenbänder schienen um
die Erker und Bastionen zu flattern, und das Dach, von schlanken
Türmchen verziert und ganz mit goldenen Schindeln gedeckt, brannte
lichterloh. Ich genoß dieses herrliche Schauspiel in vollen Zügen,
indes der Indiote mit seinem Bericht fortfuhr.
»Die Kunde von diesem wundersamen
Bauwerk verbreitete sich mit Windeseile über den ganzen Planeten.
Ströme von Pilgern wallfahrten aus den fernsten Ländern herbei. Als
die Massen unübersehbar den Anger füllten, klappte die Maschine
ihre metallenen Lippen auf und sprach: ›Am ersten Tage des Monats
Schäl chen werde ich das Jaspisportal des Regenbogenschlosses
öffnen, und dann kann jeder Indiote, gleich, ob berühmt oder nicht,
aus freien Stücken hineingehen und alles probieren, was seiner
harrt. Bis zu diesem Zeitpunkt wollet jedoch freiwillig eure
Neugier bezähmen, ebenso wie ihr sie dann freiwillig werdet stillen
können.‹
In der Tat, am ersten Schälchen
ließen Fanfarenstöße die Luft erzittern, und das Schloßtor öffnete
sich mit dumpfem Knall. Die Menge wälzte sich hinein in einem
Strom, dreimal so breit wie die gepflasterte Straße, die unsere
beiden Hauptstädte Debilia und Morona miteinander verbindet. Den
lieben langen Tag ergossen sich Massen von Indioten ins Schloß,
aber auf dem Anger wurden ihrer nicht weniger, denn immer neue
zogen aus dem Lande heran. Die Maschine ließ sie von den schwarzen
Automaten bewirten, die sich durchs Gedränge schlängelten, um
erfrischende Getränke und nahrhafte Speisen herumzureichen. So
liefen die Dinge etwa fünfzehn Tage. Tausende, Zehntausende,
Millionen von Indioten strömten in das Regenbogenschloß, doch
keiner kam je zurück.
Dieser oder jener zwar wunderte
sich, was das zu bedeuten habe und wie ganze Volksmassen so ohne
weiteres verschwinden könnten, aber solche vereinzelten Stimmen
gingen unter im Tongebraus der Marschmusik; die Automaten flitzten,
tränkten die Dürstenden und speisten die Hungrigen, die silbernen
Uhren an den Türmen des Schlosses schnurrten ihr Glöckchenspiel,
und wenn die Nacht hereinbrach, funkelten die Kristallfenster im
strahlenden Lampenschein. Endlich lichteten sich die Reihen der
wartenden Massen; nur noch wenige hundert Personen harrten geduldig
auf der Marmortreppe, daß auch sie eingelassen würden. Da erscholl
plötzlich ein Entsetzensschrei, der selbst die rhythmischen
Trommelwirbel übertönte. ›Verrat! Hört alle her! Der Palast ist
kein Wunderding, sondern eine teuflische Falle! Rette sich, wer
kann! Verderben! Verderben!‹
›Verderben!‹ rief die Menge von
der Treppe, machte auf der Stelle kehrt und stob auseinander.
Niemand behinderte ihre Flucht.
In der folgenden Nacht schlichen
sich ein paar Minderlinge vors Schloß. Als sie zurückkehrten,
berichteten sie, die hintere Palastwand hätte sich leise geöffnet,
und ungezählte Stöße glänzender Scheiben seien herausgefallen. Die
schwarzen Automaten hätten sich darüber hergemacht und sie auf die
Felder geschafft, um sie dort in verschiedenen Mustern und Figuren
anzuordnen.
Als die Spiriten und Erlauchten,
die früher im Durinal gesessen hatten, das hörten – sie waren nicht
zum Schloß gegangen, da sie es für unschicklich hielten, sich unter
den Straßenmob zu mischen –, beriefen sie sogleich eine Versammlung
ein und ließen den gelehrten Konstrukteur holen, damit er das
Rätsel löse. Statt seiner erschien jedoch sein Sohn, der mit
mürrischer Miene eine ziemlich große durchsichtige Scheibe vor sich
herrollte.
Die Erlauchten, die vor Ungeduld
und Empörung schäumten, schmähten den abwesenden Gelehrten und
bedachten ihn mit den schwersten Beschimpfungen. Nun überhäuften
sie den Jüngling mit Fragen und verlangten eine Erklärung, welches
Geheimnis das Regenbogenschloß berge und was die Maschine mit den
eingekehrten Indioten getan habe.
›Untersteht euch, das Andenken
meines Erzeugers zu beschmutzen!‹ antwortete der Jüngling
entrüstet. ›Er hat die Maschine genau nach euren Bedürfnissen und
Vorschriften konstruiert; als er sie aber in Gang setzte, wußte er
ebensowenig wie wir, wie sie reagieren würde – der beste Beweis
dafür ist, daß er das Regenbogenschloß als einer der ersten
betreten hat.‹
›Und wo steckt er jetzt?‹ schrie
der Durinal wie ein Mann.
›Hier‹, erwiderte der Jüngling
betrübt und wies auf die glänzende Scheibe. Dann sah er die Greise
trotzig an und entfernte sich ungehindert, wobei er den
verwandelten Vater vor sich herrollte.
Die Mitglieder des Durinals
bebten vor Zorn und Angst; doch schließlich kamen sie zu der
Überzeugung, daß die Maschine wohl nicht wagen würde, ihnen Böses
zu tun. Also stimmten sie die Hymne der Indioten an und zogen, im
Geiste gefestigt, gemeinsam vor die Stadt, wo sie sich vor dem
Geschöpf aus Eisen aufbauten.
›Ruchlose‹, rief der Älteste der
Erlauchten aus, ›du hast uns hintergangen und unsere Gesetze mit
Füßen getreten! Lege sofort deine Kessel und Schrauben still! Wage
nicht, weiter in dieser ungesetzlichen Weise zu verfahren! Sprich,
was hast du mit dem Volk der Indioten getan, die wir dir anvertraut
haben?‹
Kaum hatte er geendet, da
schaltete die Maschine ihr Triebwerk aus. Der Qualm zerflatterte am
Himmel, es wurde still; dann öffneten sich die metallenen Lippen,
und eine Donnerstimme dröhnte: ›Erlauchte und Spiriten! Ich,
Herrscher über die Indioten, von euch selbst ins Leben gerufen, muß
euch sagen, daß mich euer liederliches Denken und die Unvernunft
eurer Vorwürfe sehr verdrießen! Anfangs habt ihr verlangt, daß ich
Ordnung schaffe, und wenn ich dann zur Tat schreite, erschwert ihr
mir die Arbeit! Drei Tage schon steht das Schloß leer; völliger
Stillstand ist eingetreten, und keiner kommt mehr vor das
Jaspisportal. Das ist Sabotage an meinem Werk. Ich versichere euch
jedoch, daß ich nicht ruhen werde, bevor es vollbracht
ist!‹
Bei diesen Worten erzitterte der
ganze Durinal wie ein Mann und rief: ›Von solcher Ordnung sprichst
du, Ruchlose! Was hast du im Widerspruch zu den Landesgesetzen mit
unseren Brüdern und unseren Nächsten getan?‹
›Was für eine dumme Frage!‹
entgegnete die Maschine. ›Welche Ordnung ich meine? Schaut euch
doch an! Wie unordentlich sind eure Körper gebaut; Extremitäten
ragen heraus; manche sind groß, andere klein, manche dick, andere
mager… Eure Bewegungen sind chaotisch, ihr bleibt unmotiviert
stehen, gafft Blumen oder Wolken an, treibt euch ziellos in den
Wäldern umher! In dem Ganzen steckt nicht für einen Groschen
mathematische Harmonie! Ich, der Freiwillige Propagator der
Absoluten Ordnung, mache aus euren schwanken, kraftlosen Leibern
solide, schöne, dauerhafte Gestalten, aus denen ich dann
symmetrische, fürs Auge angenehme Muster und Formen von
unvergleichlichem Ebenmaß zusammenstelle, um auf dem Planeten so
die Elemente vollendeter Harmonie einzuführen…‹
›Du Ungeheuer!‹ schrien Spiriten
und Erlauchte. ›Du wagst es, uns ins Verderben zu stürzen! Du
trittst unsere Gesetze mit Füßen, rottest uns aus, tötest
uns!‹
Die Maschine knirschte nur
geringschätzig und antwortete: ›Ich habe ja gesagt, daß ihr nicht
einmal imstande seid, logisch zu denken. Natürlich achte ich eure
Gesetze und Freiheiten. Ich schaffe Ordnung, ohne Zwang auszuüben
oder Gewalt anzuwenden. Wer nicht wollte, hat das Regenbogenschloß
ja nicht betreten; jeden aber, der es betreten hat – und ich
wiederhole: Er hat es aus Privatinitiative getan –, habe ich
verwandelt und dabei die Materie seines Körpers so vortrefflich
umgeformt, daß er in seiner neuen Gestalt Äonen überdauern wird.
Dafür kann ich mich verbürgen.‹
Eine Zeitlang herrschte
Schweigen. Dann gelangte der Durinal in einer Flüsterberatung zu
dem Schluß, daß die Gesetze tatsächlich nicht übertreten worden
seien und die Sache so übel nicht sei, wie es zunächst schien. ›Wir
hätten ein solches Verbrechen niemals begangen‹, meinten die
Erlauchten, ›aber die Maschine trägt ja die Verantwortung dafür.
Sie hat Unmassen von Minderlingen verschlungen, die zu allem bereit
waren; jetzt aber können wir überlebenden Erlauchten uns im Verein
mit den Spiriten eines ewigen Friedens erfreuen und die
unerforschlichen Fügungen des Großen Inda lobpreisen. Und um das
Regenbogenschloß‹, sagten sie, ›werden wir einen weiten Bogen
schlagen, dann kann uns nichts geschehen.‹
Schon wollten sie
auseinandergehen, da ließ sich die Maschine von neuem vernehmen:
›Merkt euch, was ich euch jetzt sagen werde. Ich muß das begonnene
Werk zu Ende führen. Aber ich habe nicht die Absicht, einen von
euch zu irgendwelchen Handlungen zu nötigen, zu überreden oder zu
verleiten; die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative
bleibt euch weiter überlassen; doch ich will euch nicht verhehlen,
daß jeder, der seinen Nachbarn, seinen Bruder, seinen Bekannten
oder einen anderen Nahestehenden auf die Stufe der Kreisförmigen
Harmonie erhoben zu sehen wünscht, nur die schwarzen Automaten
herbeizurufen braucht. Sie erscheinen unverzüglich und führen den
Betreffenden auf seinen Befehl zum Regenbogenschloß. So, das wäre
alles.‹
Stille trat ein. Erlauchte und
Spiriten beäugten einander ängstlich in jäh erwachtem Mißtrauen. Da
ergriff der Erzspirit Nolab das Wort – die Stimme zitterte ihm vor
Erregung – und suchte der Maschine klarzumachen, daß es ein
fürchterlicher Irrtum sei, zu glauben, sie müsse alle zu glänzenden
Fladen verarbeiten, um damit die Äcker zu bestreuen; das dürfe nur
geschehen, wenn der Wille des Großen Inda es gebiete. Um diesen
jedoch zu erkennen und zu deuten, brauchte es viel Zeit. Und er
schlug der Maschine vor, ihr Vorhaben um siebzig Jahre zu
verschieben.
›Unmöglich‹, erwiderte die
Maschine, ›ich habe schon den genauen Arbeitsplan für die Zeit
entworfen, da der letzte Indiote umgewandelt sein wird; seid gewiß,
ich werde dem Planeten das herrlichste Los bereiten, das
vorstellbar ist: ein Dasein ohne Harmonie, die, wie ich meine, auch
deinem Inda gefallen würde, den ich leider nicht näher kenne.
Könntet ihr ihn nicht auch in mein Regenbogenschloß
bringen?‹
Sie stockte, denn der Anger war
gähnend leer. Erlauchte und Spiriten hatten sich in ihre Häuser
verkrochen, wo sich ein jeder in den eigenen vier Wänden
Meditationen über sein künftiges Schicksal hingab. Und je länger er
überlegte, desto größer wurde sein Entsetzen: Jeder einzelne
fürchtete nämlich, sein Nachbar oder irgendein Bekannter, der ihm
nicht wohlgesonnen sei, werde die Automaten auf ihn hetzen, und er
sah keine andere Rettung, als jenem anderen zuvorzukommen. So
störte bald Geschrei die nächtliche Stille. Mit angstverzerrten
Gesichtern rissen die Erlauchten die Fenster auf und stießen
verzweifelte Rufe in die Finsternis, und schon erscholl auf den
Straßen das Trappeln der eisernen Automaten. Die Söhne ließen ihre
Väter ins Schloß abführen, die Großväter die Enkel, der Bruder gab
den Bruder preis, und so schmolzen in einer Nacht Tausende von
Erlauchten und Spiriten zu dem kleinen Häuflein zusammen, das du,
fremder Wanderer, hier vor dir siehst. Der Morgen erblickte Felder,
die mit Myriaden von harmonisch gefügten Mustern aus glänzenden
Scheiben be deckt waren, der letzten Spur unserer Schwestern,
Frauen und Verwandten. Zu Mittag ließ die Maschine grollend ihre
Stimme ertönen: ›Genug! Mäßiget vorerst euren Eifer, ihr Erlauchten
und ihr letzten der Spiriten. Ich schließe die Tore des Schlosses –
nicht für lange Zeit, das verspreche ich. Mir sind nämlich die
Muster ausgegangen, die ich zur Verbreitung der Absoluten Ordnung
präpariert hatte, ich muß mir erst neue überlegen, und dann könnt
ihr weiter nach eurem freien, uneingeschränkten Willen
verfahren.‹«
Bei diesen Worten sah mich der
Indiote mit großen Augen an und schloß leise: »Das war vor zwei
Tagen… Jetzt sind wir hier versammelt und warten…«
»O würdiger Indiote!« rief ich
aus und glättete dabei meine Haare, die mir vor Entsetzen zu Berge
standen. »Das ist ja eine furchtbare und kaum glaubhafte
Geschichte! Sage mir doch um alles in der Welt, warum habt ihr euch
nicht gegen dieses mechanische Ungeheuer aufgelehnt, das euch
völlig ausgerottet hat, warum habt ihr euch zwingen
lassen…«
Der Indiote fuhr hoch wie von der
Tarantel gestochen. Seine Haltung drückte höchsten Zorn
aus.
»Schmähe uns nicht, Wanderer!«
schrie er. »Du redest leichtfertig, drum will ich dir verzeihen…
Bedenke alles wohl, was ich dir erzählt habe, und du gelangst
untrüglich zu der richtigen Schlußfolgerung, daß sich die Maschine
an die Prinzipien der freien Initiative hält und dem Volk der
Indioten, so seltsam es scheinen mag, einen guten Dienst erwiesen
hat, denn es gibt keine Ungerechtigkeit dort, wo ein Gesetz
existiert, das die höchste Freiheit kündet, und welcher Ehrenmann
zöge die Beschränkung der Freiheiten dem Ruhm…«
Er konnte seinen Gedanken nicht
zu Ende entwickeln, denn ein entsetzliches Kreischen wurde hörbar.
Das Jaspisportal öffnete sich majestätisch. Dieser Anblick riß die
Indioten von ihren Plätzen, und sie strebten eiligst die Treppe
hinauf.
»Indiote! Indiote!« schrie ich,
aber mein Gastfreund winkte mir nur noch einmal zu und rief: »Habe
keine Zeit mehr!«, stürmte in Riesensätzen den anderen hinterdrein
und war flugs im Schloß verschwunden.
Eine ganze Weile stand ich
verloren da, bis ich eine Kolonne schwarzer Automaten erspähte, die
an die Schloßmauer trippelten, die Klappe öffneten und eine lange
Reihe herrlich in der Sonne blitzender Scheiben herausrollten. Sie
trudelten sie aufs freie Feld, und dort gingen sie daran, die noch
unvollendeten Muster durch Figuren zu ergänzen. Das Schloßportal
stand noch immer offen. Ich trat einige Schritte näher heran, um
einen Blick zu riskieren, aber schaudernd ließ ich es
sein.
Die Maschine tat ihre metallenen
Lippen auf und forderte mich auf einzutreten.
»Ich bin doch kein Indiot«,
entgegnete ich, machte auf der Stelle kehrt und begab mich eilends
zu meiner Rakete. Eine Minute später manövrierte ich bereits an den
Steuerknüppeln, mit atemberaubender Geschwindigkeit himmelwärts
klimmend.
FÜNFUNDZWANZIGSTE REISE
Eine der Hauptverkehrsadern für Raketen im
Sternbild des Großen Bären verbindet die Planeten Mutria und Latris
miteinander. Unterwegs umgeht sie Tairien, eine steinige Kugel, die
bei den Reisenden den schlimmsten Ruf genießt, und zwar wegen der
Schwärme von Felsblöcken, die sie umkreisen. Diese Gegend bietet
ein Bild des Chaos und des Schreckens, die Scheibe des Planeten ist
nur mit Mühe und Not durch die Steinwolken hindurch zu erkennen, wo
es unausgesetzt blitzt und brodelt von zusammenrasselndem
Gestein.
Einige Jahre ist es her, da
tauchten unter den Piloten, die zwischen der Mutria und der Latris
kursieren, Berichte von scheußlichen Gebilden auf, die unvermittelt
aus den Staubwolken um Tairien hervorschießen, die Raketen
überfallen, sie mit ihren langen Fühlern umspannen und in ihre
finsteren Gelege hinabzuziehen suchen. Anfangs kamen die Passagiere
mit einem kleinen Schrecken davon. Etwas später aber verbreitete
sich die Nachricht, daß jene Dinger einen Reisenden angefallen
hätten, der im Raumanzug oben auf seiner Rakete seinen
Nachmittagsspaziergang absolvierte. Daran war vieles übertrieben,
jener Reisende nämlich – ein guter Bekannter von mir – hatte sich
Tee über den Skaphander gegossen und hängte diesen zum Trocknen aus
der Luke; in dem Augenblick torkelten sonderbare, schlaksige
Gebilde heran und huschten mit dem Raumanzug von dannen.
Schließlich herrschte auf den
umliegenden Planeten solche Empörung, daß eine Sonderexpedition die
Umgebung Tairiens durchforschen mußte. Einige ihrer Teilnehmer
behaupteten, in den Wolken Tairiens schlangenhafte, krakenähnliche
Gebilde wahrgenommen zu haben, diese Angaben wurden jedoch nicht
überprüft, und so kehrte die Expedition nach einem Monat auf die
Latris zurück – unverrichteterdinge, da sie sich nicht in die
finsteren Regionen der Tairienwolken gewagt hatte. Hernach wurden
noch andere Expeditionen gestartet, aber keine brachte irgendeinen
Anhaltspunkt.
Zu guter Letzt machte sich ein
bekannter Sternalpinist, der tollkühne Ao Murbras, mit zwei Hunden
– ebenfalls in Raumanzügen – auf die Reise, um die rätselhaften
Wesen zu jagen. Fünf Tage später kam er, bis zum äußersten
erschöpft, allein zurück. Wie er berichtete, waren vor Tairien
plötzlich unzählige Gebilde aus dem Nebel getaucht, die ihn und
seine Hunde mit ihren Greifarmen umschlangen; der tapfere Jäger zog
das Messer, hieb blindlings drauflos und vermochte sich so aus den
tödlichen Umarmungen zu retten, denen die Hunde indessen erlagen.
Seine Schutzkleidung wies innen wie außen Spuren des Kampfes auf,
und an einigen Stellen klebten grüne Fetzen wie von faserigen
Strünken. Ein gelehrtes Kollegium untersuchte diese Überreste
gewissenhaft und kam zu dem Schluß, es seien Fragmente eines
vielzelligen Organismus, der auf der Erde wohlbekannt sei; es
handele sich namentlich um Solanum tuberosum, ein vielsamiges
Knollengewächs mit unterbrochen unpaarig fiederteiligen Blättern,
das die Spanier im sechzehnten Jahrhundert aus Amerika nach Europa
gebracht hätten. Allein diese Nachricht erhitzte die Gemüter sehr,
kaum zu schildern aber war die Erregung, als jemand die gelehrten
Ergüsse in die Umgangssprache übersetzte. Demnach hatte Murbras
nämlich Reste von Kartoffelkraut auf seinem Raumanzug
mitgebracht!
Der brave Sternalpinist, zutiefst
gekränkt, weil er vier Stunden lang gegen Kartoffeln gekämpft haben
sollte, forderte das Kollegium auf, diese schändliche Verleumdung
zu widerrufen, doch die Gelehrten weigerten sich, auch nur einen
Buchstaben zurückzunehmen. Es herrschte allgemeine Empörung. Bald
standen zwei Parteien einander gegenüber: die Kartofflisten und die
Antikartofflisten. Sie breiteten sich zunächst über den Kleinen,
dann auch über den Großen Bären aus; die Widersacher bewarfen sich
mit den schwersten Beschimpfungen. All das verblaßte indessen vor
dem Theater, als sich die Philosophen in den Streit einmengten. Aus
England, Frankreich, Australien, Kanada und den Vereinigten Staaten
eilten die prominentesten Theoretiker der Erkenntnislehre und
Vertreter der reinen Vernunft herbei, und das Ergebnis ihrer
Anstrengungen war verblüffend.
Nach gründlicher Untersuchung des
Problems kamen die Physikalisten zu dem Schluß: Wenn sich zwei
Körper A und B bewegen, so könne das entweder heißen, A bewege sich
im Verhältnis zu B oder aber B bewege sich im Verhältnis zu A. Da
die Bewegung also ein relativer Begriff sei, könne es ebensogut
heißen, daß sich der Mensch im Verhältnis zur Kartoffel, wie auch
daß sich die Kartoffel im Verhältnis zum Menschen bewege. Somit sei
die Frage, ob sich Kartoffeln bewegen können, sinnlos, und das
ganze Problem ein scheinbares, das heißt, es existiere überhaupt
nicht.
Die Semantiker sagten, alles
hänge davon ab, wie man die Worte »Kartoffel«, »ist« und
»beweglich« verstehe. Da der Schlüssel dazu die operative Kopula
»ist« sei, müsse diese exakt untersucht werden. Und sie gingen
daran, eine Enzyklopädie der Kosmischen Semasiologie abzufassen,
wobei sie in den ersten vier Bänden die operative Bedeutung des
Wortes »ist« erörterten.
Die Neopositivisten behaupteten,
daß nicht Kartoffelknäuel unmittelbar gegeben seien, sondern Knäuel
von Sinnesempfindungen – und sie schufen daraufhin logische
Symbole, die »Empfindungsknäuel« sowie »Kartoffelknäuel«
bezeichneten, stellten eine Satzrechnung aus lauter algebraischen
Zeichen auf und gelangten, nachdem sie ein ganzes Meer von Tinte
verschrieben hatten, zu dem mathematisch exakten und über jeden
Zweifel erhabenen Ergebnis 0=0.
Die Thomisten verkündeten, Gott
habe die Naturgesetze erschaffen, um Wunder vollbringen zu können,
denn das Wunder sei ein Verstoß gegen ein Naturgesetz, und wo es
kein Gesetz gebe, da gebe es auch nichts, wogegen man verstoßen
könne. Im vorliegenden Fall bewegten sich die Kartoffeln, wenn der
Wille des Herrn dies geböte, aber es sei noch zu klären, ob das
nicht ein Streich der verruchten Materialisten sei, die ja danach
strebten, die Kirche in Mißkredit zu bringen; so müsse also der
Spruch des höchsten Vatikankollegiums abgewartet werden.
Die Neokantianer sagten, die
Dinge seien Schöpfungen des Geistes und somit nicht erkennbar; wenn
der Geist die Idee einer beweglichen Kartoffel geschaffen habe,
dann müsse die bewegliche Kartoffel wohl existieren. Doch dies wäre
nur der erste Eindruck, denn unser Geist sei ebensowenig erkennbar
wie seine Bildungen; daher könne man nichts Genaues
wissen.
Die
Holisten-Pluralisten-Behavioristen-Physikalisten sagten, daß – wie
aus der Physik wohlbekannt – die Gesetzmäßigkeit in der Natur nur
statistisch sei. Ebenso wie man den Weg eines einzelnen
Elektronenteilchens nicht mit absoluter Genauigkeit vorhersagen
könne, stehe auch nicht mit absoluter Gewißheit fest, wie sich eine
einzelne Kartoffel verhalten werde. Die bisherigen Beobachtungen
lehrten zwar, daß millionenmal der Mensch derjenige gewesen sei,
der die Kartoffeln gerodet habe, es sei aber nicht ausgeschlossen,
daß es einmal auf eine Milliarde Fälle auch umgekehrt geschehen
könne, nämlich daß die Kartoffel den Menschen rode.
Professor Urlipan, der einsame
Denker, unterzog alle diese Schlußfolgerungen einer vernichtenden
Kritik. Er stellte fest, daß der Mensch keinerlei Sinneseindrücke
empfange, denn niemand nehme zum Beispiel die Sinnesempfindung
eines Tisches wahr, außer dem Tisch selbst; da andererseits bekannt
sei, daß über die Außenwelt nichts bekannt sei, so gebe es weder
äußere Gegenstände noch Sinnesempfindungen. »Es gibt nichts«,
verkündete Professor Urlipan. »Und wenn jemand anderer Ansicht ist,
so irrt er.« Über die Kartoffeln lasse sich also nichts sagen, aber
aus einem ganz anderen Grunde, als die Neokantianer
behaupteten.
Während nun Urlipan unbeirrt
weiterarbeitete, ohne sein Haus zu verlassen, vor dem die
Antikartofflisten mit faulen Kartoffeln lauerten – denn die
Leidenschaft hatte die Geister umnachtet –, erschien auf der Szene
– oder genauer: landete auf der Latris – Professor Tarantoga. Ohne
der fruchtlosen Zwistigkeiten zu achten, beschloß er, das Geheimnis
sine ira et studio zu ergründen, wie es einem echten Gelehrten
zukommt. Er eröffnete seine Nachforschungen mit einem Besuch auf
dem Nachbarplaneten, wo er Informationen von den Bewohnern
einholte. Auf diese Weise erfuhr er, daß die rätselhaften Gebilde
unter folgenden Namen bekannt waren: Tüffkes, Knollen, Erdäppel,
Nieren, Erpeln, Krumpern, Arbern, Trüffel, Potacken, Arpun,
Grundbirnen, Rundchen, Schocken, Bataten, Tataters, Kataken,
Hollandsche, Tartuffeln. Das gab ihm zu denken, denn, wie aus
Wörterbüchern ersichtlich, sind diese Bezeichnungen Synonyme
unserer gemeinen Kartoffel.
Mit bewundernswerter
Beharrlichkeit und unvermindertem Eifer stieß Tarantoga zum Kern
des Problems vor und hatte in fünf Jahren bereits eine Theorie
beisammen, die eine erschöpfende Erklärung lieferte.
Vor langer Zeit rammte ein für
die Kolonisten auf der Latris bestimmter Kartoffeltransporter ein
Meteorenriff. Ein Leck entstand, und die Ladung fiel heraus. Der
Transporter wurde losgeschweißt und mit Rettungsraketen auf die
Latris bugsiert, wonach die Geschichte in Vergessenheit geriet. Die
in Tairien gelandeten Kartoffeln keimten indes und wuchsen, doch
waren ihre Existenzbedingungen unerhört schwer, denn aus der Höhe
hagelte es häufig Gesteinsbrocken, die die jungen Triebe zermalmten
und selbst ganze Pflanzen abtöteten. Infolgedessen blieben von
allen Erdäpfeln nur die umsichtigsten erhalten, jene nämlich, die
sich einzurichten und geeignet zu schützen wußten. Die auf diese
Weise geborene Sorte der schlauen Kartoffeln gedieh immer üppiger.
Nach mehreren Generationen wurden die Kartoffeln der seßhaften
Lebensweise überdrüssig, rodeten sich selbst und nomadisierten von
da an. Zugleich büßten sie vollends die typische Sanftmut und
Trägheit der irdischen Kartoffeln ein, die durch fürsorgliche Obhut
und Zucht domestiziert worden waren: Sie verwilderten zusehends und
nahmen schließlich einen unberechenbaren, räuberischen Charakter
an. Bekanntlich gehört die Kartoffel, Solanum tuberosum, zur
Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae), genauso wie die
Tollkirsche; es ist wie mit der Abstammung des Hundes: Läßt man ihn
in den Wald, dann kann er wieder ein reißender Wolf werden. Das
gleiche geschah nun mit den Kartoffeln in Tairien. Als es ihnen auf
dem Planeten zu eng wurde, trat eine neue Krise ein; die
tatendurstige junge Kartoffelgeneration wollte etwas
Außergewöhnliches, für Pflanzen völlig Neues vollbringen. Die
Strünke gen Himmel gereckt, bemerkten sie die dort schwebenden
Felsblöcke und faßten den Entschluß, sich da oben
anzusiedeln.
Es führte zu weit, wollte ich
hier Professor Tarantogas Theorie lückenlos zitieren, etwa wie die
Kartoffeln durch Flattern mit ihren Blättern fliegen lernten, sich
dann über die Atmosphäre Tairiens hinaus erhoben, um sich
schließlich auf dem Gestein niederzulassen, das den Planeten
umkreiste. Das wurde ihnen insofern leicht, als sie sich wegen
ihres pflanzlichen Stoffwechsels längere Zeit im luftleeren Raum
aufhalten konnten, denn sie kamen ohne Sauerstoff aus und schöpften
ihre Lebensenergie aus Sonnenstrahlen. Zu guter Letzt fielen sie
vor Übermut die Raketen an, die sich auf ihrer Route dem Planeten
näherten.
Jeder andere Forscher hätte an
Tarantogas Stelle diese glänzende Hypothese veröffentlicht und sich
auf seinen Lorbeeren ausgeruht, der Professor aber gönnte sich
keine Ruhe, bevor er wenigstens eine solche Raubkartoffel gefangen
hatte.
So folgte also der theoretischen
Lösung die praktische, und die bot nicht weniger Schwierigkeiten.
Es war bekannt, daß die Erdäpfel in den Felsspalten lauerten und
daß es glatten Selbstmord bedeutet hätte, sich auf der Suche nach
ihnen in das bewegliche Labyrinth der dahinsausenden Blöcke zu
wagen. Überdies hatte Tarantoga keineswegs die Absicht, eine
Kartoffel nur zu schießen; er wollte ein lebendes Exemplar haben,
unversehrt und im Vollbesitz seiner Kräfte. Eine Zeitlang erwog er
sogar den Plan, eine Treibjagd zu veranstalten, ließ jedoch davon
ab und begnügte sich mit einer ganz neuen Idee, die seinen Namen
berühmt machen sollte. Er beschloß, die Kartoffeln zu ködern. Zu
diesem Zweck kaufte er in einem Lehrmittelgeschäft auf der Latris
den größten Globus, dessen er habhaft werden konnte – eine schön
lackierte Kugel von sechs Meter Durchmesser –, erwarb ferner
größere Mengen Ho nig, Schusterpech und Fischleim, vermischte alles
zu gleichen Teilen und bestrich mit der gewonnenen Substanz den
Globus. Dann nahm er ein langes Seil und band ihn hinten an seine
Rakete, worauf er in Richtung Tairien abflog. Als er in Reichweite
der Felsströmung angekommen war, verbarg er sich im Saum des
nächstgelegenen Nebelflecks und warf den Strick mit dem Köder aus.
Der springende Punkt, auf dem der ganze Plan fußte, war die maßlose
Neugier der Kartoffeln. Etwa eine Stunde später deutete ein
leichtes Zittern an, daß etwas herbeischwebte. Tarantoga beugte
sich behutsam vor und sah mehrere Kartoffelstauden –
strünkeschüttelnd und mit den Knollen langsam rudernd – auf den
Globus zusteuern. Sie hielten ihn offenbar für einen unbekannten
Planeten. Nach einer Weile faßten sie Mut, ließen sich nieder und
waren angeleimt. Der Professor zog den Globus heran, vertäute ihn
am Heck der Rakete und segelte in Richtung Latris davon.
Es läßt sich kaum beschreiben,
mit welcher Begeisterung man den wackeren Forscher empfing. Die
Kartoffeln, die auf den Leim gegangen waren, wurden samt dem Globus
in einen Käfig gesperrt und öffentlich ausgestellt. Rasend vor Wut
und Angst, peitschten sie mit ihren Strünken die Luft und stampften
mit den Knollen, doch das half ihnen nichts.
Als sich das gelehrte Kollegium
tags darauf zu Tarantoga begab, um ihm ein Ehrendiplom und die
Große Verdienstmedaille zu verleihen, war der Professor schon fort.
Nachdem er sein Werk so rühmlich gekrönt hatte, war er mit
unbekanntem Ziel aufgebrochen.
Ich allerdings wußte über den
Anlaß dieser plötzlichen Abreise Bescheid. Tarantoga hatte es so
eilig, weil er sich in neun Tagen auf der Coerulea mit mir treffen
wollte. Ich wieder raste zu dem Zeitpunkt gerade vom
entgegengesetzten Ende der Milchstraße dem genannten Planeten zu.
Wir hatten vor, den bisher unerforschten Arm der Galaxis, der sich
hinter dem dunklen Orionnebel erstreckt, gemeinsam zu bereisen. Ich
kannte den Professor noch nicht persönlich, und da mir daran lag,
in den Ruf eines verläßlichen und pünktlichen Partners zu gelangen,
suchte ich die ganze Kraft aus meiner Rakete herauszuholen – aber
mir kam, wie es oft geschieht, wenn man sich besonders beeilen
will, auch diesmal etwas Unvorhergesehenes in die Quere. Ein
winziger Meteor hatte meinen Brennstofftank durchschlagen, geriet
ins Auspuffrohr und verstopfte es. Ohne viel nachzudenken, legte
ich den Raumanzug an und stieg, mit Werkzeug und einer starken
Taschenlampe bewehrt, aus der Kabine. Während ich den Meteor mit
der Zange entfernte, stieß ich versehentlich gegen die Lampe; die
trudelte davon und begann selbständig durch den Weltenraum zu
segeln. Ich machte das Loch im Tank dicht und begab mich wieder in
die Kabine. Der Taschenlampe konnte ich jetzt nicht nachjagen, denn
fast der ganze Treibstoffvorrat war mir ausgelaufen; mit Müh und
Not erreichte ich noch den nächsten Planeten – es war
Prozytien.
Die Prozyten sind vernunftbegabte
Wesen und sehen uns sehr ähnlich; der einzige, übrigens
geringfügige Unterschied besteht darin, daß ihre Beine nur bis an
die Knie reichen, darunter haben sie Rädchen, die nicht etwa
künstlich sind, sondern wirklich einen Teil des Körpers darstellen.
Die Prozyten bewegen sich also sehr geschwind und anmutsvoll daher,
Varietestars auf Einrädern vergleichbar. Ihr Wissen ist umfassend,
besonderer Gunst aber erfreut sich bei ihnen die Astronomie; das
Beobachten der Gestirne ist so beliebt, daß sich dort kein Passant,
ob jung oder alt, jemals von seinem Handfernrohr trennt. Zur
Zeitmessung werden ausschließlich Sonnenuhren benutzt, ja, es gilt
als schwerer Verstoß gegen die Moral, wenn jemand in der
Öffentlichkeit eine mechanische Uhr hervorholt. Die Prozyten haben
auch verschiedene zivilisatorische Einrichtungen. Ich weiß noch,
als ich zum erstenmal dort war, nahm ich an einem Bankett zu Ehren
ihres berühmten Astronomen, des alten Maratilitec, teil. Ich
unterhielt mich mit ihm über ein astronomisches Problem. Ein Wort
gab das andere, der Professor opponierte, und schließlich wurde das
Streitgespräch in so heftigem Ton geführt, daß der Greis mich fast
mit seinen Blicken durchbohrte und jeden Moment vor Wut zu platzen
drohte. Plötzlich stand er auf und verließ hastig den Raum. Fünf
Minuten später kam er wieder und setzte sich neben mich, sanft
lächelnd und friedlich wie ein Kind. Hinterher erkundigte ich mich
neugierig, was denn diesen jähen Stimmungswandel verursacht
habe.
»Wie bitte?« erwiderte der
Gefragte. »Du weißt es nicht? Der Professor hat die Tobine
benutzt.«
»Was ist denn das?«
»Es hängt mit ›Austoben‹
zusammen. Wenn einer sich ärgert oder auf jemand wütend ist, geht
er in eine mit Korkmatratzen ausgelegte Kabine und läßt dort seinen
Gefühlen freien Lauf.«
Als ich jetzt auf Prozytien
landete, erblickte ich schon aus der Luft große Volksmassen in den
Straßen. Lampions wurden geschwenkt, und frohes Geschrei scholl zu
mir herauf. Ich überließ meine Rakete der Aufsicht des
Bodenpersonals und begab mich in die Stadt. Wie ich erfuhr, wurde
gerade die Entdeckung eines Sterns gefeiert, der vergangene Nacht
am Himmel aufgetaucht war. Das gab mir zu denken, und als mich
Maratilitec nach herzlicher Begrüßung an seinen mächtigen Refraktor
einlud, begriff ich – kaum hatte ich mein Auge am Objektiv –, daß
der angebliche Stern ganz einfach meine Taschenlampe war, die im
Weltraum schwebte. Statt es den Prozyten mitzuteilen, beschloß ich
leichtsinnigerweise, zu tun, als wäre ich ein besserer Astronom als
sie.
Ich überschlug also kurz, wie
lange die Batterie reichen würde, und verkündete sodann vor den
Versammelten, daß der neue Stern sechs Stunden lang weiß, danach
gelb und zuletzt rot leuchten werde, um schließlich ganz zu
verlöschen. Die Vorhersage stieß auf allgemeinen Unglauben, und der
alte Maratilitec rief in seiner charakteristischen Hitzköpfigkeit,
er wolle seinen eigenen Bart verschlucken, wenn dies
einträfe.
Der Stern begann in der von mir
vorausgesagten Zeit schwächer zu werden, und als ich am Abend im
Observatorium aufkreuzte, fand ich eine Schar betrübter Assistenten
vor: Maratilitec hatte sich, zutiefst in seinem Stolz verletzt, im
Arbeitszimmer eingeschlossen, um sein voreilig gegebenes
Versprechen in die Tat umzusetzen. Besorgt wegen der möglichen
gesundheitsschädlichen Folgen, die daraus erwachsen könnten, suchte
ich mich mit ihm durch die Tür zu verständigen. Als ich das Ohr ans
Schlüsselloch hielt, vernahm ich Geräusche, die die Worte der
Assistenten bestätigten. In höchster Verwirrung schrieb ich einen
Brief, worin alles erklärt war, übergab ihn den Assistenten mit der
Bitte, ihn dem Professor gleich nach meinem Abflug auszuhändigen,
und raste zum Flugplatz. Ich mußte so handeln, da ich nicht sicher
war, ob der Professor die Tobine aufsuchen würde, ehe er sich mit
mir aussprach.
Ich verließ Prozytien überstürzt
um ein Uhr nachts; den Treibstoff hatte ich völlig vergessen. Nach
etwa einer Million Kilometer waren die Tanks plötzlich leer, und
ich irrte als kosmischer Schiffbrüchiger auf meinem
bewegungsunfähigen Vehikel durch das Nichts. Und nur drei Tage
trennten mich von meiner verabredeten Begegnung mit
Tarantoga.
Coerulea strahlte, durchs Fenster
gut sichtbar, kaum dreihundert Millionen Kilometer von mir
entfernt, während ich in ohnmächtiger Wut zu ihr aufschaute. In der
Tat ein Schulbeispiel dafür, daß kleine Ursachen oft große
Wirkungen haben.
Eine Stunde gab ich mich so den
schwärzesten Gedanken hin, da bemerkte ich einen Planeten unter
mir, der allmählich größer wurde; mein Gefährt, seiner
Anziehungskraft passiv ausgeliefert, flog immer schneller,
schließlich jagte es dahin wie ein fallender Stein. Ich machte gute
Miene zum bösen Spiel und setzte mich ans Steuer. Der Planet war
ziemlich klein und öde, aber anheimelnd; ich entdeckte Oasen mit
vulkanischer Beheizung und fließendem Wasser. Es gab eine ganze
Menge Vulkane hier; sie spien pausenlos Flammen und Rauchsäulen gen
Himmel. An meiner Steuerung hantierend, schwebte ich bereits in der
Atmosphäre, bemüht, die Geschwindigkeit zu bremsen, so gut es ging,
doch das schob lediglich den Absturz hinaus, statt ihn zu
verhindern. Als ich so über eine Anhäufung von Vulkanen dahinflog,
durchfuhr mich ein Gedanke. Einen Augenblick Schwanken – und ich
faßte den verzweifelten Entschluß, richtete den Schnabel der Rakete
abwärts und sauste wie der Blitz geradenwegs in den unter mir
klaffenden größten Vulkan. Der glühende Schlund verschlang mich. Da
riß ich das Steuer im letzten Moment so geschickt herum, daß ich
das Projektil mit der Spitze nach oben bekam, und ließ mich in den
brausenden Lavaabgrund fallen. Ich riskierte viel, doch mir blieb
kein anderer Weg. Ich rechnete damit, daß der Vulkan auf den
heftigen Aufprall der Rakete mit einer Eruption reagieren würde –
und hatte mich nicht geirrt. Ein Donnerschlag, von dem schier die
Wände barsten, und dann schleuderte es mich mitten in einem
meilenlangen Feuer- und Lavastrahl in den Himmel. Mein Steue
rungsmanöver gelang mir ausgezeichnet: Ich hielt genauen Kurs auf
die Coerulea.
Drei Tage später landete ich an
Ort und Stelle, nur zwanzig Minuten nach dem vereinbarten
Zeitpunkt. Aber Tarantoga fand ich nicht mehr vor; er war
abgeflogen und hatte lediglich postlagernd einen Brief
hinterlassen.
»Lieber Kollege«, schrieb er, »die Umstände
zwingen mich, sofort abzureisen, ich schlage daher vor, daß wir in
dem noch unerforschten Gebiet zusammenkommen; da die Gestirne dort
bis jetzt keine Namen haben, gebe ich Ihnen einige Daten zur
Orientierung: Sie fliegen zunächst geradeaus, biegen dann hinter
der blauen Sonne nach links und hinter der nächsten, orangeroten,
nach rechts ab. Dort werden Sie vier Planeten finden, und auf dem
dritten von links wollen wir uns treffen. Ich warte!
Ihr ergebener
Tarantoga.«
Ich tankte und startete in der
Dämmerung. Eine Woche dauerte die Reise, und als ich in die
unbekannten Regionen eingedrungen war, folgte ich getreu den
Hinweisen des Professors und fand so mühelos die genannten Sterne.
Am frühen Morgen des achten Tages erblickte ich den verabredeten
Planeten. Die massive Kugel schien mit einem zottigen grünen Pelz
bedeckt; es waren immense Tropenwälder. Dieser Anblick dämpfte
meine Freude ein wenig, denn wie sollte ich Tarantoga hier finden?
Ich vertraute jedoch auf seinen Scharfsinn – und hatte mich nicht
verrechnet. Während ich schnurstracks auf den Planeten zusauste,
erblickte ich um elf Uhr vormittags auf seiner nördlichen
Hemisphäre undeutliche Konturen, die meinen Atem stocken
ließen.
Ich pflege stets den jungen,
unerfahrenen Astronauten einzuschärfen: Wenn euch einer erzählt, er
habe beim Herannahen an einen Planeten dessen Namen gelesen, dann
glaubt ihm nicht; es ist ein simpler kosmischer Witz. Diesmal aber
saß ich in der
Klemme, denn vor dem Hintergrund der grünen
Wälder zeichnete sich sichtbar die Aufschrift ab:
»Konnte nicht warten. Treffpunkt nächster
Planet. Tarantoga.«
Die Buchstaben waren
kilometerlang, anders hätte ich sie gar nicht bemerken können.
Fassungslos vor Staunen und Neugier, wie der Professor diese
gigantischen Lettern wohl zustande gebracht habe, ließ ich mich
tiefer hinab. Da erkannte ich, daß die Buchstabenlinien aus
breiten, von den unberührten Flächen deutlich abstechenden
Schneisen bestanden, in denen die Bäume niedergewalzt und zermalmt
waren.
Ohne das Rätsel gelöst zu haben,
flitzte ich laut Anweisung zum nächsten Planeten, der bewohnt und
zivilisiert war. Gegen Abend setzte ich auf. Vergebens bemühte ich
mich, auf dem Flugplatz Auskunft über den Verbleib Tarantogas zu
erhalten; auch diesmal erwartete mich statt seiner ein
Brief.
»Lieber Kollege, tragen Sie es mir nicht nach,
daß ich Ihnen wieder eine Enttäuschung bereiten muß: Eine
unaufschiebbare Familienangelegenheit zwingt mich, nach Hause zu
fahren. Um Sie ein wenig zu entschädigen, hinterlege ich im
Hafenbüro ein Paket, das Sie bitte abholen wollen; es birgt die
Früchte meiner jüngsten Forschungen. Sicherlich möchten Sie wissen,
wie ich auf dem vorigen Planeten die schriftliche Nachricht für Sie
hinterlassen konnte. Das war ganz einfach. Dieser Himmelskörper
durchlebt gewissermaßen gerade seine Karbonepoche und wird von
gewaltigen Echsen bewohnt, darunter den schrecklichen
Atlantosauriern, die vierzig Meter Länge erreichen. Ich landete
also auf dem Planeten, schlich an eine große Herde Atlantosaurier
heran und reizte diese so lange, bis die Tiere sich auf mich
stürzten. Nunmehr rannte ich durch den Wald, in der Absicht, mit
meinem Fluchtweg die Buchstaben zu umreißen. Die Herde schnob
hinter mir her und riß die Bäume um. Auf diese Weise entstand eine
achtzig Meter breite Straße. Es war einfach, aber ziemlich
anstrengend, denn ich mußte mehr als dreißig Kilometer zurücklegen,
und das im Eiltempo.
Indem ich herzlich bedaure, daß
es uns auch diesmal nicht vergönnt war, uns persönlich
kennenzulernen, drücke ich Ihre wackere Hand und verbleibe mit der
größten Hochachtung vor Ihren Tugenden und Ihrem Wagemut.
Tarantoga
P. S. Ich rate Ihnen dringend, das Abendkonzert in der Stadt zu
besuchen, es ist vorzüglich. T.«
Im Büro nahm ich das Paket in
Empfang und ließ es ins Hotel schaffen, indes ich mich in die Stadt
begab. Sie bot einen recht interessanten Anblick. Der Planet
rotiert mit solcher Geschwindigkeit, daß sich der Wechsel von Tag
und Nacht jeweils im Stundenabstand vollzieht. Dadurch entsteht
eine Zentrifugalkraft, die bewirkt, daß ein Lot nicht senkrecht
hängen kann, wie auf der Erde, sondern in einer Neigung von
fünfundvierzig Grad. Alle Häuser, Türme und Mauern, überhaupt
sämtliche Bauwerke ragen unter einem Winkel von fünfundvierzig Grad
zur Bodenfläche auf, was dem menschlichen Auge ziemlich
ungewöhnlich vorkommt. Die Häuser der einen Straßenseite legen sich
gewissermaßen auf den Rücken, während sich die der anderen
vorbeugen und über ihnen hängen. Um Gleichgewicht zu halten, haben
die Einwohner infolge der natürlichen Anpassung ein kürzeres und
ein längeres Bein; der Mensch dagegen muß beim Gehen ständig ein
Bein anziehen, was auf die Dauer ermüdet und erhebliche Schmerzen
verursacht. Ich kam also nur langsam voran und erreichte das
Konzertgebäude erst in dem Augenblick, als die Saaltüren
geschlossen wurden. Eilends kaufte ich noch eine Karte und
schlüpfte hinein.
Kaum saß ich, da klopfte der
Dirigent mit dem Stab ans Pult, und alles wurde still. Die
Mitglieder des Orchesters begannen sich emsig mit ihren
Instrumenten zu beschäftigen, die mir übrigens unbekannt waren; sie
glichen Trompeten, die gelocht waren wie Gießkannentüllen. Der
Dirigent hob emphatisch die vorderen Gliedmaßen oder breitete sie
aus, als wollte er damit »piano« gebieten, meiner jedoch
bemächtigte sich wachsende Unruhe, denn ich vernahm nicht den
leisesten Ton.
Verstohlen blickte ich um mich
und sah, wie sich Ekstase auf den Gesichtern meiner Nachbarn malte;
in höchster Verwirrung versuchte ich mir diskret die Ohrmuscheln zu
reinigen, aber auch das half nicht. Schließlich glaubte ich schon,
das Gehör verloren zu haben, und tippte sacht mit einem Fingernagel
auf den anderen, jedoch dieses leise Geräusch hörte ich ganz
deutlich. So saß ich denn, ohne zu wissen, was ich von dem ganzen
Theater halten sollte, und verfolgte mit Staunen die allgemeinen
Anzeichen ästhetischer Befriedigung, bis das Werk zu Ende war.
Donnernder Applaus prasselte, der Dirigent verneigte sich, klopfte
von neuem, und das Orchester nahm den nächsten Teil der Sinfonie in
Angriff. Alles um mich war begeistert; ich hörte vielfaches
Schniefen und hielt das für einen Ausdruck tiefer Rührung.
Schließlich setzte das stürmische Finale ein – ich erkannte dies an
den heftigen Ausbrüchen des Dirigenten und dem perlenden Schweiß,
der den Musikanten von der Stirne troff. Wieder dröhnender Applaus.
Mein Nachbar redete mich an und äußerte seine Anerkennung über die
Sinfonie und ihre Darbietung. Ich antwortete irgend etwas
Ungereimtes und schlich fassungslos hinaus.
Als ich bereits fünfzig Schritt
von dem Gebäude entfernt war, drängte es mich, einen Blick auf die
Fassade zu werfen. Wie die anderen, so neigte auch sie sich im
spitzen Winkel über die Straße; am Giebel prangte in Riesenlettern
die Aufschrift: »Städtisches Olfaktorium«, darunter klebten
Programmplakate. Ich las:
MOSCHUSSINFONIE
von ODONTRON
I Präludium odoratum
II Allegro aromatoso
III Andante olens
Es dirigiert a. G.
der namhafte Nasist
HRANTR
Ich stieß einen heftigen Fluch
aus und lief stracks ins Hotel. Daß ich um das ästhetische Erlebnis
gekommen war, machte ich Tarantoga nicht zum Vorwurf, konnte er
doch nicht ahnen, daß mich noch immer der Schnupfen von der
Satellina plagte.
Um mich über die Enttäuschung
hinwegzutrösten, schnürte ich im Hotel sogleich das Paket auf. Es
enthielt ein Filmvorführgerät mit Tonanlage, eine Filmspule sowie
einen Brief folgenden Inhalts:
»Lieber Kollege!
Gewiß erinnern Sie sich noch an unser
Telefongespräch, das wir miteinander führten – Sie vom Kleinen und
ich vom Großen Bären aus. Damals äußerte ich die Vermutung, es
müsse Wesen geben, die unter hohen Temperaturen auf heißen,
halbflüssigen Planeten leben können, und sagte, daß ich in dieser
Richtung Nachforschungen anzustellen gedächte. Sie geruhten Ihre
Zweifel am Erfolg eines solchen Vorhabens zu äußern. Nun liegen die
Beweise vor Ihnen. Ich suchte mir einen feurigen Planeten aus,
näherte mich ihm per Rakete auf die kürzestmögliche Entfernung und
ließ dann eine hitzebeständige Filmkamera nebst feuerfestem
Mikrofon an einem langen Asbestseil hinunter; auf diese Weise
gelang es mir, viele interessante Aufnahmen zu machen. Ich erlaube
mir, meinem Brief eine kleine Kostprobe beizufügen.
Ihr ergebener
Tarantoga.«
Mich überkam eine so unmäßige Wißbegier, daß
ich – kaum hatte ich den Brief durchgelesen – den Film in den
Vorführapparat legte, ein Laken aus meinem Bett zog und es vor die
Tür hängte. Dann verdunkelte ich den Raum und setzte den Projektor
in Gang. Zunächst flimmerten nur bunte Flecke auf der
improvisierten Leinwand, begleitet von einem Knacken, das sich wie
Bersten von Holzscheiten im Ofen anhörte; dann wurde das Bild
schärfer.
Die Sonne versank am Horizont.
Über die zitternde Fläche des Ozeans huschten winzige bläuliche
Flammen. Die feuerroten Wolken erblaßten, und die Dämmerung wurde
immer dichter. Schon leuchteten schwach die ersten Sterne. Der
junge Kralos, müde von dem Tagestreiben, hatte soeben seinen Bolzen
verlassen, um einen Abendspaziergang zu machen. Er hatte Zeit;
gleichmäßig bewegten sich seine Kiemhalme, indes er genießerisch
die frischen duftenden Schwaden glühenden Ammoniaks einatmete. Da
näherte sich jemand, kaum sichtbar in der sinkenden Nacht. Kralos
strengte sein Brenzel an, erschnupperte den Freund jedoch erst, als
dieser dicht vor ihm stand.
»Ein schöner Abend, nicht wahr?«
sagte Kralos. Sein Freund trat von einer Stütztube auf die andere
und meinte, indes er zur Hälfte aus dem Feuer tauchte: »Schön
fürwahr. Der Salmiak trägt heuer reiche Früchte, weißt
du?«
»Ja, es verspricht eine gute
Ernte zu werden.«
Kralos rekelte sich behäbig,
wälzte sich auf den Bauch, riß alle Blinker auf und starrte in die
Sterne.
»Weißt du, mein Lieber«, sagte er
nach einer Weile, »wenn ich so zum Nachthimmel aufschaue, dann
werde ich das Gefühl nicht los, daß es dort oben in weiter Ferne
andere Welten gibt, ähnlich der unseren, die ebenfalls von
vernünftigen Wesen bewohnt werden…«
»Wer redet hier von Vernunft?«
scholl es aus der Nähe. Beide Jünglinge kehrten ihre Rücken in jene
Richtung, um den Ankömmling in Augenschein zu nehmen, und
erblickten die knorrige, aber noch rüstige Gestalt Flaments. Der
greise Gelehrte wandelte mit majestätischen Bewegungen; seine
künftige Nachkommenschaft, die wie Weintrauben aussah, schwoll
bereits an und ließ die ersten Keime auf seinen breiten Schultern
sprießen.
»Ich habe von vernunftbegabten
Wesen gesprochen, die andere Welten bevölkern…«, antwortete Kralos,
wobei er die Flossen ehrerbietig zum Gruß hob.
»Kralos schwätzt von vernünftigen
Wesen auf anderen Welten?« fragte der Gelehrte verwundert. »Seht
mal an! Auf anderen Welten! Ach, dieser Kralos, dieser Kralos. Was
treibst du nur, junger Mann? Läßt deiner Phantasie die Zügel
schießen? Gewiß… durchaus lobenswert an einem so schönen Abend…
Doch es ist merklich kühler geworden, spürt ihr das
nicht?«
»Nein«, antworteten die beiden
Jünglinge gleichzeitig.
»Ja, ja, das junge Feuer, ich
weiß! Immerhin sind es kaum achthundertsechzig Grad; ich hätte mir
mein Cape aus doppelter Lava umwerfen sollen. Nun ja, das Alter. Du
meinst also« – er wandte Kralos den Rücken zu –, »daß auf anderen
Welten vernunftbegabte Geschöpfe leben? Wie sollen diese Wesen denn
nach deiner Meinung aussehen?«
»Das läßt sich nicht genau
sagen«, erwiderte der Jüngling schüchtern. »Ich glaube, recht
unterschiedlich. Wie ich gehört habe, ist es nicht ausgeschlossen,
daß auch auf kälteren Planeten lebende Organismen entstehen, und
zwar aus einer Substanz, die Eiweiß genannt wird.«
»Von wem willst du das wissen?«
schrie Flament zornig.
»Von Implos, dem jungen
Biochemiestudenten, der…«
»Sag lieber, dem jungen Narren!«
brauste Flament auf. »Leben aus Eiweiß? Lebewesen aus Eiweiß?
Schämst du dich nicht, diesen Unfug in Gegenwart deines Lehrers zu
verbreiten? Das sind die Früchte der Unwissenheit und Arroganz, die
heute in erschreckendem Maße um sich greifen! Weißt du, wie man
deinen Implos züchtigen sollte? Indem man ihn mit Wasser bespritzt,
jawohl!«
»Aber ehrwürdiger Flament«, wagte
Kralos’ Freund einzuwerfen, »warum forderst du für Implos eine gar
so furchtbare Strafe? Möchtest du uns nicht sagen, wie du dir die
Lebewesen auf ande ren Planeten vorstellst? Könnten sie nicht eine
senkrechte Haltung haben und sich auf den sogenannten Beinen
fortbewegen?«
»Wer hat dir das
gesagt?«
Kralos schwieg
verängstigt.
»Implos«, flüsterte sein
Freund.
»Ach, laßt mich endlich mit
diesem Implos und seinen Phantastereien zufrieden!« schrie der
Gelehrte. »Beine! Nein wirklich! Als hätte ich nicht vor
fünfundzwanzig Flammen mathematisch bewiesen, daß ein zweibeiniges
Wesen, sobald man es aufstellt, unweigerlich der Länge nach
hinschlagen muß! Ich habe sogar ein Modell und ein Diagramm dazu
angefertigt, aber was könnt ihr Faulpelze schon darüber wissen! Wie
die vernunftbegabten Wesen anderer Welten aussehen? Ich werde dir
diese Frage nicht unmittelbar beantworten, überleg es dir selbst,
lerne denken. Zunächst einmal müssen sie Organe zur Aufnahme von
Ammoniak besitzen, nicht wahr? Und welches Organ könnte dafür
besser geeignet sein als die Kiemhalme? Müssen sie sich in einer
Umgebung bewegen, die mit Maßen widerstrebend, mit Maßen warm ist,
wie die unsere? Sie müssen, stimmt’s? Na also! Und wie sollten sie
das anders tun als mit Stütztuben? Ähnlich werden sich auch die
Sinnesorgane formen – die Blinker, Schalen und Quasten. Aber jene
Geschöpfe müssen ja nicht nur in ihrem Körperbau uns Quintolen
ähnlich sein, auch ihre Lebensweise wird der unseren gleichen. Es
ist doch bekannt, daß die Quinte die Grundzelle unseres
Familienlebens ist – versuch dir in deiner Phantasie etwas Besseres
auszudenken, und du wirst einsehen, dafür verbürge ich mich, daß
dir das nicht gelingt! Es ist nun einmal so, um eine Familie zu
gründen, um die Nachkommenschaft ins Leben zu rufen, müssen sich
Dada, Gaga, Mama, Fafa und Haha verbinden. Umsonst alle Zuneigung,
vergebens alle Pläne und Träume, wenn der Vertreter eines dieser
fünf Geschlechter fehlt – eine solche Situation, die nun leider im
Leben manchmal vorkommt, nennen wir Viererdrama oder unglückliche
Liebe… Du siehst also, wenn wir ohne Vorurteile argumentieren, wenn
wir uns ausschließlich auf wissenschaftliche Tatsachen stüt zen,
den präzisen Apparat der Logik zu Hilfe nehmen und objektiv an die
Sache herangehen, dann kommen wir unweigerlich zu dem Schluß, daß
jedes vernunftbegabte Wesen einem Quintolen ähnlich sein muß… So.
Na, ich hoffe, daß ich euch überzeugt habe…«
ACHTUNDZWANZIGSTE REISE
Schon bald werde ich diese vollgeschriebenen
Blätter in ein leeres Sauerstoffäßchen legen und es über Bord
werfen, den Tiefen des Alls übergeben, damit es in die schwarze
Ferne enteilt, obwohl ich gar nicht damit rechne, daß es jemand
finden wird. Navigare necesse est, aber offenbar höhlt diese maßlose Reise sogar
meine Widerstandskraft aus. Ich fliege und fliege seit Jahren, und
es ist kein Ende abzusehen. Schlimmer noch, die Zeit verwirrt sich,
überschneidet sich, ich dringe in irgendwelche Verzweigungen und
Fetzen, die außerhalb des Kalenders stehen, da ist weder Zukunft
noch Vergangenheit, obwohl es zuweilen nach Mittelalter riecht. Es
gibt eine besondere Methode, sich den Verstand in übermäßiger
Einsamkeit zu bewahren, die mein Großvater Kosma erfunden hat. Sie
besteht darin, daß man sich eine gewisse Anzahl Gefährten ausdenkt,
sogar beiderlei Geschlechts, aber dann muß man sich konsequent an
sie halten. Mein Vater hatte die Methode ebenfalls angewendet,
obwohl sie ziemlich riskant ist. In der Stille hier
verselbständigen sich solche Gefährten übermäßig, es gab Ärger und
Komplikationen, einige trachteten mir sogar nach dem Leben, und ich
mußte kämpfen, die Kajüte war ein wahres Schlachtfeld – von der
Methode jedoch konnte ich nicht lassen, schon aus Loyalität
gegenüber dem Großvater. Gott sei Dank, nun sind sie gefallen, und
ich kann mich eine Weile ausruhen. Ich werde wohl, wie ich es
oftmals vorhatte, darangehen, eine bündige Chronik meines
Geschlechts zu schreiben, um dort, in den vergangenen Generationen,
Kräfte zu schöpfen wie einst Antäus. Der Begründer der Hauptlinie
der Tichys war Anonymus, geheimnisumwittert, eng verknüpft mit dem
Einsteinschen Paradoxon von den Zwillingen. Einer von ihnen fliegt
in den Kosmos, der andere bleibt auf der Erde, und nach der
Rückkehr stellt es sich heraus, daß der Zurückkehrende jünger ist
als der Zurückgebliebene. Als man den ersten Versuch machte, dieses
Paradoxon zu lösen, meldeten sich zwei junge Leute, Kaspar und
Hesekiel. Infolge des Durcheinanders beim Start setzte man sie
beide in die Rakete. Das Experiment mißlang also, und was das
schlimmste war – die Rakete kehrte nach einem Jahr nur mit einem
Mann an Bord zurück. Der erklärte voller Trauer, sein Bruder habe
sich zu weit hinausgelehnt, als sie über den Jupiter hinwegflogen.
Man traute diesen schmerzerfüllten Worten jedoch nicht und klagte
ihn, sekundiert von einer wüsten Pressehetze, der Bruderfresserei
an. Als Sachbeweis diente der Staatsanwaltschaft ein Kochbuch, das
man in der Rakete aufgestöbert hatte, mit einem rot angestrichenen
Absatz »Über Pökeln im All«. Dennoch fand sich ein edler und
zugleich vernünftiger Mensch, der die Verteidigung des Angeklagten
übernahm. Er riet ihm, während des Prozesses nicht den Mund
aufzumachen, ganz gleich, was geschehe. So konnte also das Gericht
meinen Vorfahren trotz allen bösen Willens nicht verurteilen, denn
im Urteilsspruch muß der Vor- und Zuname des Angeklagten angegeben
sein. Die alten Chroniken berichten unterschiedlich – die einen,
daß er schon vorher Tichy geheißen habe, die anderen, daß das ein
Spitzname sei, der sich aus seinem Vorsatz, während der Verhandlung
zu schweigen, ableite, denn er bewahrte sein Inkognito bis zu
seinem Tode. Das Schicksal dieses meines Urahnen war wenig
beneidenswert. Die Verleumder und Lügner, an denen es ja nie
gebricht, behaupteten, daß er sich während der Verhandlung jedesmal
die Lippen leckte, wenn der Name seines Bruders erwähnt wurde,
wobei es die Verleumder gar nicht störte, daß niemand wußte, wer
hier wessen Bruder war. Über die weiteren Geschicke dieses
Vorfahren weiß ich nicht viel. Er hatte achtzehn Kinder und aus so
manchem Ofen Brot gegessen, einige Zeitlang lebte er sogar als
Hausierer vom Verkauf von Kinderraumanzügen. Im Alter wurde er
Verfertiger neuer Schlußkapitel für literarische Werke. Da dieser
Beruf wenig bekannt ist, möchte ich ihn näher erklären. Die Aufgabe
bestand darin, jeweils den Schluß zu schreiben, den sich der
Verehrer eines bestimmten Romans oder Dramas wünschte. Ein solcher
Verfertiger muß, wenn er einen Auftrag übernimmt, sich in die
Atmosphäre, in Stil und Geist des Werkes einfühlen, dem er einen
neuen, einen anderen Schluß, als ihn der Autor geschrieben hat,
hinzufügt. In den Familienarchiven sind einige vollgeschriebene
Kladden erhalten, die davon zeugen, welch künstlerische Fähigkeiten
der erste Tichy doch besessen hat. Da gibt es Othello-Versionen, in
denen Desdemona Othello würgt, oder auch solche, wo sie, er und
Jago zusammen leben und sich aneinander freuen. Da gibt es
Varianten der Danteschen Hölle, in denen jeweils jene Personen
besonderen Qualen ausgesetzt sind, die der betreffende Auftraggeber
genannt hat, wobei es nur selten ein tragisches Finale der Autoren
durch ein glückliches Ende zu ersetzen galt, häufiger war es
umgekehrt. Die reichen Feinschmecker bestellten bei meinem Ahnen
Epiloge, in denen im letzten Augenblick nicht die Tugend siegte,
sondern, im Gegenteil, das Böse triumphierte. Jene begüterten
Auftraggeber waren sicherlich von niedrigen Absichten beseelt,
dennoch erzeugte mein Urahn, indem er das ausführte, was man bei
ihm bestellte, wahre Kunstwerke und näherte sich, obschon
unbeabsichtigt, der Lebenswahrheit mehr als die Autoren der Werke.
Er mußte ja für den Unterhalt einer zahlreichen Familie sorgen,
also tat er, was er konnte, nachdem ihm aus verständlichen Gründen
die Weltraumfliegerei für immer verekelt war. Mit ihm beginnend,
erschien in unserem Geschlecht im Verlaufe der Jahrhunderte der Typ
des talentierten Menschen, der, in sich gekehrt, mit originellem
Geist, mitunter zu Wunderlichkeiten neigend, hartnäckig das einmal
gesetzte Ziel verfolgte. Im Familienarchiv fand ich viele
Dokumente, die diese charakteristischen Züge bestätigen; eine der
Nebenlinien der Tichys scheint in Österreich gelebt zu haben,
genauer gesagt, in der einstigen österreichisch-ungarischen
Monarchie, denn ich fand unter den Papieren der ältesten Chronik
das vergilbte Foto eines stattlichen Jünglings in Kürassieruniform,
mit Monokel und gezwirbeltem Schnurrbart, auf der Rückseite
versehen mit den Worten »k. u. k. Kyberleutnant Adalbert Tichy«.
Von den Taten dieses Kyberleutnants ist mir nur die eine bekannt:
daß er – als ein Vorläufer der technischen Mikrominiaturisierung,
in Zeiten, da nie mand auch nur davon träumte – den Plan
vorgebracht hat, die Kürassiere von Pferden auf Ponys umzusatteln.
Bedeutend mehr Materialien sind vorhanden, die über das Leben des
Esteban Franz Tichy aussagen, eines brillanten Denkers, der –
obwohl ohne Glück im persönlichen Leben – den Plan verfolgte, das
Klima der Erde durch Beschütten der Polargebiete mit pulverisiertem
Ruß zu verändern. Der geschwärzte Schnee sollte schmelzen, indem er
die Strahlen der Sonne absorbierte; die auf diese Weise vom Eis
befreiten Gebiete Grönlands und der Antarktis wollte dieser mein
Urahn in eine Art Eden für die Menschheit verwandeln. Da er jedoch
keine Anhänger für diesen Plan fand, begann er auf eigene Faust
Vorräte an Ruß zu sammeln, was zu Ehezwistigkeiten führte und mit
einer Scheidung endete. Seine zweite Frau, Eurydike, war die
Tochter eines Apothekers, der hinter dem Rücken des Schwiegersohns
den Ruß aus den Kellern trug und ihn als Heilkohle verkaufte (carbo
animalis). Als man den Apotheker entlarvte, wurde auch der
nichtsahnende Esteban Franz der Fälschung von Medikamenten
beschuldigt und bezahlte das mit der Konfiszierung seines gesamten
Rußvorrats. Von den Menschen tief enttäuscht, starb der
Unglückselige vorzeitig. Sein einziger Trost in den letzten Monaten
seines Lebens war, daß er den im Winter verschneiten Garten mit Ruß
beschüttete und beobachtete, wie daraufhin der Schnee vorzeitig
taute. Mein Großvater hat, ihm zum Gedenken, im Garten einen
kleinen Obelisk mit einer passenden Inschrift aufgestellt.
Jener Großvater, Jeremias Tichy,
ist einer der hervorragendsten Vertreter unseres Geschlechts. Er
wuchs im Hause des älteren Bruders Melchior auf, eines wegen seiner
Frömmigkeit berühmten Kybernetikers und Erfinders. Da Melchior
keine radikalen Ansichten verfocht, wollte er keineswegs den
gesamten Gottesdienst automatisieren, sondern lediglich breitesten
Kreisen der Geistlichkeit zu Hilfe kommen. Er konstruierte deshalb
ein paar zuverlässige, rasch handelnde und einfach zu bedienende
Vorrichtungen, wie den Bannstrahlwerfer, den Exkommunikator und
einen besonderen Apparat für Bannsprüche mit Rückwärtsgang (zwecks
Wider ruf). Leider fanden seine Arbeiten nicht die Anerkennung
derer, für die er so emsig wirkte, mehr noch, sie wurden als
ketzerisch verurteilt. Mit der ihm eigenen Großzügigkeit stellte er
daraufhin dem lokalen Pfarrer einen Prototyp des Exkommunikators
zur Verfügung, um ihm die Erprobung experimentell an sich selbst zu
ermöglichen. Leider blieb ihm auch das versagt. Betrübt und
enttäuscht, verzichtete er auf weitere Arbeiten in der gewählten
Richtung und widmete sich von nun an – in seiner Eigenschaft als
Konstrukteur – den östlichen Religionen. Noch heute sind seine
elektrifizierten buddhistischen Gebetsmühlen bekannt, vor allem die
Modelle mit hoher Umdrehungszahl, die 18000 Gebete in der Minute
erreichen.
Jeremias besaß im Gegensatz zu
Melchior nicht einen Funken Friedfertigkeit. Ohne die Schulen
abzuschließen, setzte er zu Hause die Studien fort, vornehmlich im
Keller, der in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielen sollte.
Sein Hauptwesenszug war eine außergewöhnliche Konsequenz. Mit neun
Jahren beschloß er, die Allgemeine Theorie von Allem zu schaffen,
und nichts konnte ihn daran hindern. Die beträchtlichen
Schwierigkeiten, mit denen er seit seiner Jugend zu kämpfen hatte,
nahmen nach einem fatalen Verkehrsunfall noch zu (eine Straßenwalze
hatte ihm den Kopf plattgedrückt). Aber nicht einmal die
Invalidität konnte Jeremias die Philosophie verleiden; er beschloß,
ein Demosthenes des Denkens zu werden oder vielmehr ein Stephenson,
denn genauso wie der Erfinder der Lokomotive, der sich selbst auch
nicht allzuschnell bewegte, aber den Dampf zwang, Räder zu bewegen,
gedachte er, die Elektrizität zum Bewegen von Ideen zu zwingen.
Dieser Gedanke wird häufig entstellt, indem man sagt, daß er die
Losung verkündet habe, man solle die Elektronenhirne schlagen.
Jenen Verunglimpfungen zufolge soll sein Ausruf gelautet haben:
»Die N-Rechner an die Kandare!« Das ist eine unwürdige Entstellung
seiner Gedanken; er hatte einfach das Unglück, mit seinen
Auffassungen der Zeit voraus zu sein. Jeremias hatte in seinem
Leben viel gelitten. An seine Hauswände wurden Beleidigungen
gemalt, in der Art wie »Weibplager« und »Hirnquäler«, die Nach barn
zeigten ihn an, daß er die nächtliche Ruhe durch Lärm und
Beschimpfungen störe, die angeblich aus dem Keller drangen, sie
wagten sogar zu behaupten, daß er einen Anschlag auf das Leben
ihrer Kinder führe, indem er vergiftete Bonbons ausstreue. Nun
liebte Jeremias tatsächlich Kinder nicht, ähnlich wie Aristoteles,
aber die Bonbons waren für die Dohlen bestimmt, die seinen Garten
plünderten, wovon die Beschriftungen auf dem Einwickelpapier
zeugten. Was die sogenannten Lästerungen betraf, die er angeblich
seinen Apparaten beibrachte, so waren das nur Rufe der
Enttäuschung, die ihm während der ermüdenden Laborarbeit entfuhren,
wenn die Ergebnisse zu gering waren. Gewiß, es war unvorsichtig von
ihm, sich in den auf eigene Kosten herausgegebenen Broschüren
hemdsärmeliger, sogar gemeiner Ausdrücke zu bedienen, denn die im
Text über Elektronensysteme befindlichen Ausdrücke wie »in die
Röhre schießen«, »Fleck aufsetzen« oder »Absatz hineinwerfen«
konnten den Leser leicht irreführen. Wohl aus Trotz, dessen bin ich
sicher, erzählte er eine undurchsichtige Geschichte, derzufolge er
immer mit einer Stange ans Programmieren ging. Er zeichnete sich
durch Exzentrizität aus, die ihm das Zusammenleben mit seiner
Umgebung keineswegs erleichterte; nicht jeder wußte mit seinem Witz
etwas anzufangen. (Daher z. B. die Sache mit dem Milchmann und den
beiden Briefträgern, die gewiß auch so wahnsinnig geworden wären,
infolge erblicher Belastung, um so mehr, als die Skelette auf
Rädern waren und die Grube kaum eine Tiefe von zweieinhalb Metern
aufwies.) Wer vermag jedoch die gewundenen Wege seines Genies zu
verfolgen? Man erzählte sich, er habe ein Vermögen verloren, weil
er Elektronenhirne aufkaufte, um sie in kleine Stücke zu
zerschlagen. Auf seinem Hof sollen sich ganze Stöße zertrümmerter
Apparate getürmt haben. Aber war es seine Schuld, daß die damaligen
Elektronenhirne den an sie gestellten Ansprüchen nicht genügten, da
sie zu beschränkt und unstabil waren? Wären sie nicht so leicht
auseinandergefallen, dann hätte er sie schließlich bestimmt dazu
gebracht, eine Allgemeine Theorie von Allem zu schaffen. Der
Mißerfolg diskreditierte keineswegs die Idee, die ihm
vorschwebte.
Was die ehelichen Komplikationen
betrifft, so stand die Frau, die er heiratete, unter dem starken
Einfluß ihm feindlich gesinnter Nachbarn, die sie dazu verleiteten,
falsche Geständnisse abzulegen. Im übrigen festigen Elektroschocks
den Charakter. Jeremias fühlte sich vereinsamt, verlacht, auch
durch engstirnige Spezialisten wie den Professor Brummber, der ihn
einen elektrischen Halsabschneider genannt hatte, bloß weil
Jeremias einmal die Drosselspule nicht zweckentsprechend benutzt
hatte. Brummber war ein böser Mensch, er taugte nicht viel, dennoch
mußte Jeremias einen kurzen Augenblick gerechten Zorns mit einer
vierjährigen Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Arbeit
bezahlen. Alles nur, weil ihm kein Erfolg beschieden war. Wer hätte
sich sonst an seinen Manieren, an seinem Umgang oder an seinem Stil
gestoßen? Wer verbreitet schon Klatsch über das Privatleben Newtons
oder das des Archimedes? Aber leider war Jeremias seiner Zeit weit
voraus, und dafür mußte er büßen.
Gegen Ende seines Lebens, genauer
gesagt in seinem letzten Lebensabschnitt, machte Jeremias eine
verblüffende Metamorphose durch, die sein Schicksal völlig
wandelte. Er schloß sich fest in seinem Keller ein, aus dem er alle
Apparate, bis auf das letzte Teilchen, entfernt hatte, so daß er
innerhalb seiner vier Wände allein blieb mit einer Liegestatt aus
zusammengeschlagenen Brettern, einem Hocker und einer alten
Eisenschiene. Dieses Asyl oder, wenn man so will, dieses
freiwillige Gefängnis verließ er nicht mehr. Aber war es ein
Gefängnis, und sein Verhalten nur Flucht vor der Welt, eine
resignierte Abkehr, ein Rückzug in das Schicksal eines sich selbst
geißelnden Einsiedlers? Die Tatsachen sprechen deutlich gegen eine
solche Annahme. Er verbrachte sein Leben in der selbstauferlegten
Abgeschiedenheit nicht mit stiller Meditation. Durch ein kleines
Fenster in der Kellertür reichte man ihm außer etwas Brot und
Wasser die Gegenstände, die er verlangte, und er verlangte in jenen
sechzehn Jahren immer die gleichen: Hämmer von verschiedenem
Gewicht und verschiedener Form. Er verbrauchte davon 3219 Stück,
und als das große Herz zu schlagen aufhörte, fand man in den
Winkeln des Kellers Hunderte und aber Hunderte verrosteter, in
unermeßlicher Arbeit abgeplatteter Hämmer. Tag und Nacht drang aus
dem Verlies ein dröhnendes Hämmern, das nur für kurze Zeit
unterbrochen wurde, wenn der freiwillige Gefangene seinen
ermatteten Körper stärkte oder, nach kurzem Schlaf, Notizen ins
Tagebuch eintrug, die jetzt vor mir liegen. Man ersieht daraus, daß
sich sein Geist nicht gewandelt hatte, sondern, im Gegenteil,
gefestigter als jemals zuvor, auf ein neues Ziel gerichtet gewesen
war. »Ich werde schon noch mit ihr fertig werden!« – »Ich werde sie
schon noch zum Äußersten bringen!« – »Noch ein bißchen, dann ist
sie geliefert!« Von solchen, in seiner kaum lesbaren Schrift
hingeworfenen Bemerkungen wimmelt es in diesen dicken Heften, die
bedeckt sind mit metallischen Feilspänen. Mit wem wollte er fertig
werden, wer sollte geliefert sein? Dieses Geheimnis läßt sich nicht
klären, denn kein einziges Mal fällt der Name dieser ebenso
rätselhaften wie mächtigen Widersacherin. Ich stelle mir vor, daß
er in einem der plötzlichen Geistesblitze, die kein seltener Gast
großer Seelen sind, beschlossen hatte, auf höchster Stufe zu
vollenden, an was er zuvor bescheidener herangegangen war. Er hatte
seinerzeit gewisse Einrichtungen in Zwangslagen gebracht und sie
gegeißelt, um sein Ziel zu erreichen. Nun hatte sich der stolze
Greis durch das freiwillige Einschließen von dem Chor der
geistlosen Kritikaster abgesondert und war durch die Kellertür in
die Geschichte eingegangen, denn – das ist meine Hypothese – er hat
mit der mächtigsten aller möglichen Widersacherinnen gerungen: In
sechzehnjähriger Arbeit verließ ihn nicht einen Augenblick die
Gewißheit, daß er den Kern des Seins erstürme, daß er – mit einem
Wort – ohne zu zögern, ohne jegliche Zweifel, mitleidslos und
unaufhörlich die Materie schlage.
Zu welchem Zwecke er das tat?
Nun, mit dem Verhalten jenes Monarchen des Altertums, der das Meer
auspeitschen ließ, weil es seine Schiffe verschlungen hatte, ließ
sich das nicht vergleichen. Ich vermute hinter dieser
Sisyphusarbeit, die mit soviel Heldenmut betrieben wurde, einen
mehr als frappierenden Gedanken. Künftige Generationen werden
begreifen, daß Jeremias im Namen der Menschheit dreinschlug. Er
wollte die Materie an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen, wollte
sie ermüden, das ultimative Wesen aus ihr herausschlagen und sie
auf diese Weise besiegen. Was sollte folgen? Die völlige Anarchie
der Niederlage, die physikalische Gesetzlosigkeit? Oder etwa die
Entstehung neuer Gesetze? Wir wissen es nicht. Das werden nur jene
erfahren, die einst in die Fußtapfen meines Vorfahren Jeremias
treten.
Am liebsten hätte ich damit seine
Geschichte beendet, aber wie soll ich nicht hinzufügen, daß die
Verleumder auch danach das Blaue vom Himmel herunterlogen und
behaupteten, er habe sich im Keller vor seiner Frau oder vor den
Gläubigern versteckt. Da sieht man, wie die Welt den
Außergewöhnlichen ihre Größe lohnt.
Der nächste, von dem die Bücher
berichten, ist Igor Sebastian Tichy, ein Sohn des Jeremias, Asket
und Kybermystiker. Mit ihm endet der irdische Zweig unseres
Geschlechts, denn von da an haben sich alle Nachkommen des Anonymus
auf die Milchstraße begeben. Igor Sebastian war eine kontemplative
Natur, und nur deshalb, nicht aber wegen einer Unterentwicklung,
derer man ihn bezichtigte, sprach er zum ersten Mal in seinem
elften Lebensjahr. Wie jeder große Denker und Reformator, der mit
kritischem Auge den Menschen von neuem erfaßt, tat er dies und
gelangte zu der Überzeugung, daß die Quelle des Übels die
tierischen Überbleibsel in uns seien, verderblich gleichermaßen für
das Individuum wie für die Gesellschaft. Darin, daß er dem Dunkel
der Triebe die Helligkeit des Geistes gegenüberstellte, lag noch
nichts Neues, doch Igor Sebastian ging einen Schritt weiter, als
seine Vorläufer es gewagt hatten. Der Mensch, sagte er sich, muß
mit dem Geist dort eindringen, wo bisher nur der Körper geherrscht
hat. Da er ein äußerst begabter Stereochemiker war, schuf er nach
vielen Jahren der Forschung eine Substanz in der Retorte, die seine
Träume in die Wirklichkeit umsetzte. Ich meine – wie könnte es
anders sein – das berühmte Ungemütran, eine Pentasolidinableitung
des Biallyloorthopentanoperhydrophenantrens. Das für die Gesundheit
unschädliche Ungemütran bewirkt, nimmt man es in mikroskopischen
Mengen ein, daß der Prokreationsakt, im Gegensatz zu frü her, über
die Maßen unangenehm wird. Dank einer Prise des weißen Pulvers
blickt der Mensch nun ungetrübt vom Verlangen auf die Welt und
entdeckt in ihr die eigentliche Hierarchie der Dinge, denn er wird
nicht mehr alle Augenblicke vom tierischen Trieb geblendet. Ledig
der Sklaverei des Geschlechts, die von der Evolution geschaffen
wurde, gewinnt er viel Zeit. Er streift die Fesseln der sexuellen
Entfremdung ab und wird endlich frei; denn die Fortsetzung der Art
sollte das Ergebnis einer bewußten Entscheidung sein, Ausdruck des
Pflichtgefühls gegenüber der Menschheit und nicht willkürliches
Resultat des Nährens obszöner Begierden. Igor Sebastian
beabsichtigte zunächst, den Akt der körperlichen Verbindung neutral
zu machen, aber er erkannte, daß dies nicht genügte, denn zu viele
Dinge tut der Mensch nicht einmal wegen des Vergnügens, sondern
einfach aus Langerweile oder aus Gewohnheit. Jeder Akt sollte von
nun an ein Opfer sein, das man auf dem Altar des gesellschaftlichen
Nutzens darbrachte, ein freiwillig auf sich genommenes Leiden;
jeder Zeugende ging, dank dem bewiesenen Mut, in die Reihe der
Helden ein, wie all jene, die sich für andere aufopfern. Als
wahrhafter Forscher erprobte Igor Sebastian die Wirkung des
Ungemütrans zuerst an sich selber, und um zu beweisen, daß man auch
nach Einnahme beträchtlicher Dosen noch eine Nachkommenschaft haben
könne, zeugte er unermüdlich, mit höchster Selbstverleugnung
dreizehn Kinder. Seine Frau, heißt es, sei häufig aus dem Haus
geflohen – darin steckt ein Körnchen Wahrheit, doch die
Hauptursache für die ehelichen Zwistigkeiten waren, wie zu
Lebzeiten des Jeremias, die Nachbarn. Sie wiegelten die nicht
gerade aufgeweckte Frau gegen ihren Mann auf, indem sie Igor
Sebastian der Mißhandlung seiner Frau ziehen, obwohl er ihnen immer
wieder erklärte, daß er sie keineswegs quäle, sondern daß der
bewußte Akt, der nun eine Quelle der Leiden sei, sein Haus zur
Heimstatt des Lärmens und Stöhnens mache. Was tun, wenn die
Engstirnigen wie Papageien ihren Salm wiederholten: Der Vater habe
die Elektronenhirne gezüchtigt, der Sohn züchtige seine eigene
Frau. Doch das war nur der Prolog der Tragödie. Da er keine
Anhänger zu finden vermochte, mischte er, begeistert von der Idee
der ewigen Läuterung des Menschen von der sexuellen Begierde, in
alle Brunnen des Städtchens Ungemütran. Hierauf verprügelte ihn die
wütende Menge und brachte ihn in einem schändlichen Akt der
Selbstjustiz um. Das Gefühl für die Gefahren, denen er sich
aussetzte, war Igor nicht fremd. Er begriff, daß der Sieg des
Geistes über den Leib nicht von selbst kommen werde, wovon die
letzten Absätze in seinem Werk zeugen, das postum von der Familie
auf eigene Kosten herausgegeben wurde. Er schrieb darin, daß jede
große Idee eine Macht hinter sich haben müsse, wie das zahlreiche
Beispiele aus der Geschichte bestätigten, die bewiesen, daß die
Polizei besser als alle Argumente und Überredungskünste eine
Weltanschauung schütze. Leider besaß er keine eigene, deshalb nahm
es mit ihm ein so trauriges Ende. Natürlich fanden sich Verleumder,
die behaupteten, der Vater sei Sadist, der Sohn – Masochist
gewesen. An dieser Verunglimpfung ist nicht ein Wort wahr. Obwohl
ich hier heikle Dinge berühre, muß ich das tun, um den guten Ruf
unserer Familie zu wahren. Igor war kein Masochist, trotz aller
Selbstverleugnung blieb ihm nichts anderes übrig, als zuweilen auf
die physische Hilfe zweier ihm treu ergebener Vettern
zurückzugreifen, die ihn, vor allem nach größeren Dosen
Ungemütrans, im Ehebett festhalten mußten, aus dem er dann, nach
vollbrachter Tat, Hals über Kopf flüchtete.
Igors Söhne griffen nicht das
Werk des Vaters auf. Der ältere befaßte sich eine Zeitlang mit der
Synthese des Ektoplasmas, einer den Spiritisten wohlbekannten
Substanz, die die Medien im Trancezustand ausscheiden, doch der
Versuch mißlang, denn die Margarine, die den Ausgangsstoff bildete
– wie er behauptete –, sei nicht genügend gereinigt gewesen. Der
jüngere war der Schandfleck der Familie. Man kaufte ihm eine
Schiffskarte zum Stern Mira Coeli, der bald nach seiner Ankunft
erlosch. Über das Schicksal der Töchter ist mir nichts
bekannt.
Einer der ersten Kosmonauten oder
– wie man damals schon sagte – Kosmotrosen war nach
hundertfünfzigjähriger Unterbrechung mein Uronkel Pafnucy. Dieser
Eigentümer einer Sternfähre in einer der kleineren galaktischen
Engen hat mit seinen Schiffchen ungezählte Scharen Reiselustiger
befördert. Er führte inmitten der Gestirne ein stilles und
geruhsames Leben, im Gegensatz zu seinem Bruder Eusebius, der ein
Korsar geworden war, aber erst in verhältnismäßig hohem Alter. Der
geborene Possenreißer Eusebius, der sich durch viel Sinn für Humor
auszeichnete und von der gesamten Mannschaft »a practical joker«
genannt wurde, klebte die Sterne mit Schusterpech zu und streute
auf der Milchstraße kleine Laternen aus, um die Schiffskapitäne
irrezuführen; die so vom Kurs abgewichenen Raketen überfiel er und
raubte sie aus. Anschließend gab er den Beraubten alles zurück,
befahl ihnen weiterzureisen, holte sie mit seinem schwarzen
Raketenschiff wieder ein, ging an Bord und raubte sie erneut aus.
Es kam vor, daß er das sechs- oder sogar zehnmal hintereinander
tat. Die Passagiere konnten wegen ihrer verschwollenen Augen nichts
sehen.
Trotzdem war Eusebius kein
grausamer Mensch. Da er jahrelang an den Sternenkreuzwegen auf
seine Opfer lauerte, langweilte er sich entsetzlich. Wenn ihm also
eine Rakete in die Quere kam, war er einfach nicht imstande, sich
nach vollzogenem Raub sofort von ihr zu trennen. Bekanntlich ist
das interplanetare Korsarentum in finanzieller Hinsicht unrentabel,
wovon am besten der Umstand zeugt, daß es praktisch nicht
existiert. Eusebius Tichy handelte nicht aus niedrigen, materiellen
Beweggründen, im Gegenteil, ihn beseelte der Geist der alten
Ideale, er wollte die ehrwürdige Tradition der Seepiraterei
wiederbeleben und hielt diese Aufgabe für seine Sendung. Man
bezichtigte ihn vieler abscheulicher Neigungen, es fanden sich
sogar Leute, die ihn einen Thanatophilen nannten, denn um sein
Raumschiff kreisten die Überreste zahlreicher Kosmotrosen. Im
Vakuum kann man einen vorzeitig Verschiedenen nicht einfach
bestatten, es gibt keine andere Möglichkeit, als ihn durch die
Klappe der Rakete hinauszustoßen. Der Umstand, daß er sie nicht
verläßt, sondern um das verwaiste Schiff kreist, resultiert aus den
Gesetzen der Newtonschen Mechanik und ist nicht auf perverse
Neigungen zurückzuführen. Im Verlauf der Jahre ist die Anzahl der
Körper, die das Raumschiff meines Ver wandten umkreisten,
beträchtlich gewachsen. Wenn er manövrierte, bewegte er sich
gewissermaßen in einer Aureole des Todes, was geradezu an Dürers
Totentänze gemahnte. Das war jedoch, ich wiederhole, nicht sein
Wille, sondern die Folge eines Naturgesetzes.
Der Sohn von Eusebius’ Schwester,
mein Vetter Aristarch Felix Tichy, vereinte in sich die
wertvollsten Talente, die bisher getrennt in unserem Geschlecht
auftraten. Er kam auch als einziger zu Anerkennung und ansehnlichem
Wohlstand, dank der gastronomischen Technologie, auch Gastronautik
genannt, die er glänzend weiterentwickelte. Die Ursprünge dieses
technischen Zweiges reichen noch bis ins Ende des 20. Jahrhunderts
zurück. Damals kannte man sie unter der strengen, primitiven
Gestalt der sogenannten Kannibalisierung der Raketen. Um Material
und Raum zu sparen, ging man dazu über, zur Herstellung von
Schiffsspanten und Wänden gepreßte Lebensmittelkonzentrate, also
verschiedene Grützen, Tapioka, Hülsenfrüchte und ähnliches, zu
verwenden. Später erweiterte man dieses Verfahren auf die
Raketenmöbel. Mein Vetter beurteilte die Qualität der damaligen
Produktion mit der lapidaren Aussage, daß man es in einem
schmackhaften Sessel nicht lange aushalten könne, ein bequemer
hingegen Verdauungsbeschwerden verursache. Aristarch Felix ging in
einer völlig neuen Weise an die Dinge heran. Kein Wunder, daß die
Vereinigte Aldebaranische Werft seine erste Dreistufenrakete
(Vorspeisen, Gebratenes, Nachtisch) nach seinem Namen benannte.
Heute wundert sich keiner mehr über Schalttafeln auf mürbem
Untergrund (die sog. Elektroplätzchen), Kondensatorenschichtkuchen,
Makkaroniisolierung, Honigkuchenspulen, das heißt Spulen mit
Mandeln in Honig, der ja ein guter Leiter ist, schließlich Fenster
aus Panzerzucker, obschon nicht jeder Garnituren aus Rührei oder
Kissen aus Zwieback und abgeriebenem Napfkuchen mag (dies wegen der
Krümel im Bett). All das ist das Werk meines Vetters. Er hat die
Schlepptaue aus geräucherten harten Würstchen erfunden, die
Strudellaken, die Steppdecken aus Aufläufen sowie den Antrieb aus
Bandnudeln und Grießbrei, und er hat als erster Emmentaler Käse für
Kühlaggregate verwendet. Indem er die Salpetersäure durch
Brotsäure, also Kwaß, ersetzte, machte er Brennstoff (und zwar
alkoholfreien!) zu einem schmackhaften, erfrischenden Getränk.
Zuverlässig sind auch seine Feuerlöscher aus Moosbeerenkaltschale,
die ebensogut Brände löschen wie den Durst. Aristarch fand auch
Nachahmer, aber keiner kam ihm gleich. Ein gewisser Globkins
versuchte, als Lichtquelle eine Sachertorte mit Docht auf den Markt
zu bringen, aber es wurde ein Mißerfolg, denn die Torte gab wenig
Licht und schmeckte nach Ruß. Auch seine Fußabtreter aus Risotto
fanden keine Käufer, ebenso die Isolierplatten aus Halwa, die schon
beim ersten Zusammenstoß mit Meteoren barsten. Erneut erwies es
sich, daß eine allgemeine Idee nicht genügt, denn jede konkrete
Lösung muß schöpferisch sein – wie der in seiner Einfachheit
geniale Gedanke meines Vetters, alle leeren Stellen in der
Konstruktion einer Rakete mit der Vanille-Suppe »Nichts«
auszufüllen, wodurch man ein Vakuum gewinnt und sich gleichzeitig
satt essen kann. Ich denke, daß dieser Abkömmling der Tichys voll
und ganz den Ruf, ein Wohltäter der Kosmonautik zu sein, verdient
hat. Die Pioniere der Raumfahrt versicherten uns vor noch nicht so
langer Zeit, als uns schon beim Anblick der Algenklopse und
Süppchen aus Moosen und Flechten übel wurde, daß die Menschheit mit
ebensolcher Kost zu den Sternen fliegen werde. Schönen Dank! Es ist
ein Glück, daß ich bessere Zeiten erlebt habe, denn wie viele
Besatzungen sind in meiner Jugendzeit Hungers gestorben, als sie
zwischen den dunklen Strömungen des Raums drifteten und vor der
Wahl standen, entweder zum Lotteriesystem überzugehen oder durch
demokratische Wahlen mit einfacher Stimmenmehrheit zu entscheiden.
Jeder wird mir recht geben, der sich noch der bedrückenden
Atmosphäre der Versammlungen erinnert, auf denen diese unangenehmen
Dinge behandelt wurden. Es gab sogar ein vieldiskutiertes Projekt
von Drappluss, nach welchem, mit dem Gedanken an Schiffbrüchige, im
ganzen Sonnensystem gleichmäßig feine Grütze oder Grieß sowie
Kakaopulver ausgestreut werden sollte, aber der Vorschlag kam nicht
durch, einmal, weil das zu teuer war, zum anderen, weil die
Kakaowolken die Navigationssterne verdeckt hätten. Erst der
Raketenkannibalismus vermochte uns von jenem früheren zu
befreien.
Während ich so – über die Äste
des Stammbaums – zu den modernen Zeiten vordringe und mich meinem
eigenen Anfang nähere, wird meine Aufgabe, Chronist des Geschlechts
zu sein, immer schwieriger, nicht nur weil es leichter ist, die
einstigen Vorfahren, die ein seßhaftes Leben geführt haben, zu
porträtieren als ihre Sternnachfahren, sondern auch deshalb, weil
sich im Vakuum ein bislang unbegreiflicher Einfluß physikalischer
Erscheinungen auf das Familienleben offenbart. In meiner
Ratlosigkeit angesichts der Dokumente, die ich nicht gehörig ordnen
kann, verzichte ich auf jegliche Reihenfolge und stelle sie einfach
so vor, wie sie erhalten geblieben sind. Hier nun die von der
Geschwindigkeit angesengten Seiten eines Reisetagebuches, das der
Kapitän der Sternfliegerei Auror Tichy geführt hat:
Eintragung
116 303. Seit wie vielen Jahren schon kennen wir keine
Schwerkraft mehr! Die Wasser- und Sanduhren gehen nicht, die
Waagenuhren sind stehengeblieben, bei den Uhren zum Aufziehen
verweigern die Federn den Dienst. Eine Zeitlang haben wir die
Kalenderblätter nach Gutdünken abgerissen, aber auch das ist schon
Vergangenheit. Geblieben sind uns als letzte Richtschnur Frühstück,
Mittagessen und Abendbrot, aber schon die erste Verdauungsstörung
vermag auch diese Zeitrechnung umzustoßen. Ich muß meine Eintragung
unterbrechen, jemand ist hereingekommen, entweder sind es die
Zwillinge, oder es ist eine Lichtinterferenz.
Eintragung
116 304. Backbord ein Planet, der nicht auf den Karten vermerkt
ist. Etwas später, während der Vesperzeit, ein Meteor, zum Glück
ein kleiner, der uns drei Kammern durchschlagen hat – die
Druckkammer, die Häftlingskammer und die Ausnüchterungskammer. Ich
ordnete an, die Löcher zu zementieren. Beim Abendbrot fehlte Vetter
Patricius. Gespräch mit Großvater Arabeus über die
Unbestimmbarkeitsrelation. Was wissen wir eigentlich ganz gewiß?
Daß wir als junge Leute von der Erde abgereist sind, daß wir unser
Schiff »Kosmoszyste« genannt haben, daß der Großvater und die
Großmutter zwölf andere Ehepaare an: Bord genommen haben, die heute
schon eine durch die Bande der Blutsverwandtschaft geeinte Familie
bilden. Ich mache mir Sorgen wegen Patricius – auch die Katze ist
irgendwohin verschwunden. Ich habe einen positiven Einfluß des
Gravitationsmangels auf Plattfüße bemerkt.
Eintragung
116 305. Der Erstgeborene von Onkel Obrozy ist so scharfsichtig
und noch so klein, daß er mit bloßem Auge Neutronen wahrnimmt.
Ergebnis der Suche nach Patricius negativ. Wir erhöhen die
Geschwindigkeit; während des Manövers haben wir mit dem Heck die
Isochrone durchschnitten. Nach dem Abendbrot kam Obrozys
Schwiegervater Amphoterik zu mir und gestand, daß er sein eigener
Vater geworden sei, weil seine Zeit sich zu einer Schleife gekrümmt
habe. Er bat, niemandem etwas davon zu erzählen. Ich konsultierte
meine Vettern, beides Physiker – sie sind ratlos. Wer weiß, was uns
noch alles bevorsteht!
Eintragung
116 306. Ich habe bemerkt, daß die Kinnpartien und die Stirnen
bei einigen älteren Onkeln und Tanten zurückweichen. Ein Effekt der
giroskopischen Rezession, eine Lorentz-FitzGerald-Verkürzung oder
die Folge von Zahnausfall und häufigen Stoßens mit der Stirn gegen
die Spanten, wenn der Gong ertönt, der zu Tisch ruft? Wir rasen an
einer beträchtlichen Nebelwolke entlang. Tante Barabella hat
unseren weiteren Kurs auf ihre Art gedeutet, aus dem Kaffeesatz.
Ich habe die Berechnungen mit dem Elektrokalkulator überprüft – ein
durchaus angenähertes Ergebnis!
Eintragung
116 307. Kurzer Aufenthalt auf dem Planeten der Rumtreiber.
Vier Personen sind nicht an Bord zurückgekehrt. Beim Start linke
Antriebsdüse verstopft. Befahl, sie durchzupusten. Der arme
Patricius! In der Rubrik »Todesursache« habe ich eingetragen:
»Zerstreutheit« – was sonst?
Eintragung
116 308. Onkel Timotheus hat geträumt, daß uns Plünderer
überfallen hätten. Zum Glück ging es ohne Opfer und Verluste ab. Es
wird eng in unserem Raumschiff. Heute drei Geburten und vier
Umzüge, eine Folge der Scheidungen. Das Kind der Obrozys hat Augen
wie Sterne. Zur Verbesserung der Raumverhältnisse habe ich allen
Tanten empfohlen, sich in die Hibernationskühlschränke zu begeben.
Ich hatte erst Erfolg, als ich das Argument vorbrachte, daß sie im
Zustand des umkehrbaren Todes nicht altern würden. Jetzt ist es
still und angenehm.
Eintragung
116 309. Wir nähern uns der Lichtgeschwindigkeit. Eine Menge
bisher unbekannter Phänomene. Etwas Sonderbares geschieht mit
meinem Kopf. Ich erinnere mich, daß mein Vater Barnabas hieß, aber
ich hatte auch einen anderen, Balaton mit Namen. Das ist wohl ein
See in Ungarn. Ich muß das im Lexikon überprüfen. Ich beobachte,
wie sich die Tanten auf den Quanten krümmen, ohne daß sie jedoch
aufhören zu stricken. Auf dem III. Deck riecht es. Das Kind der
Obrozys krabbelt gar nicht, es fliegt, indem es sich abwechselnd
des vorderen und hinteren Abstoßes bedient. Wie wunderbar ist doch
die biologische Anpassung des Organismus!
Eintragung
116 310. Ich war im Labor meines Vetters Jesaia und dessen
Familie. Dort wird pausenlos gearbeitet. Mein Vetter sagte, daß es
in einer höheren Phase der Gastronautik nicht nur eßbare, sondern
auch lebende Möbel geben werde. Die könnten nicht verderben, und
man brauchte sie auch nicht in Kühlschränken aufzubewahren. Aber
wer würde die Hand erheben, um einen lebenden Stuhl zu schlachten?
Vorläufig gibt es sie noch nicht, doch Jesaia behauptet, daß er uns
bald mit Stuhlbein in Gelee bewirten wird. Als ich in den
Steuerraum zurückkehrte, sann ich noch lange über seine Worte nach.
Er hatte von lebenden Raketen der Zukunft gesprochen. Würde man mit
einer solchen Rakete ein Kind haben können? Auf was für Gedanken
man kommt!
Eintragung
116 311. Großvater beklagte sich, daß sein linkes Bein bis zum
Polarstern reiche und das rechte – bis zum Kreuz des Südens.
Außerdem führt er wohl etwas im Schilde, denn er kriecht ständig
auf allen vieren umher. Ich muß ihn genauer beobachten. Balthasar,
Jesaias Bruder, ist verschwunden. Sollte es Quantendispersion sein?
Als ich ihn suchte, stellte ich fest, daß die Atomkammer voll Staub
ist. Mindestens ein Jahr nicht gefegt! Ich setzte den Unterkämmerer
Bartholomäus ab und ernannte an dessen Stelle seinen Schwager
Titus. Abends im Salon, als Tante Melanie auftrat, explodierte
plötzlich der Großvater. Ich befahl zu zementieren. Von meiner
Seite war das reiner Instinkt. Aber ich widerrief den Befehl nicht,
um an der Autorität des Kapitäns keinen Zweifel aufkommen zu
lassen. Der Großvater fehlt mir sehr. Was war das, Zorn oder
Annihilation? Er war schon immer nervös gewesen. Während meiner
Wache verlangte es mich nach Fleisch, ich aß etwas gefrostetes
Kalbfleisch aus dem Kühlschrank. Gestern stellte sich heraus, daß
das Blatt mit dem eingetragenen Reiseziel verlorengegangen ist,
schade, denn wir fliegen schon etwa 36 Jahre. In dem Kalbfleisch
war eigenartigerweise lauter Schrot – seit wann schießt man auf
Kälber mit der Flinte? Neben uns fliegt ein Meteor, auf dem jemand
sitzt. Bartholomäus war der erste, der ihn bemerkt hat. Vorläufig
tue ich, als sähe ich nichts.
Eintragung
116 312. Mein Vetter Bruno behauptet, das sei kein Kühlschrank
gewesen, sondern der Hibernator; er habe zum Spaß die Schilder
vertauscht. Außerdem habe es sich nicht um Schrot gehandelt,
sondern um Rosenkranzperlen. Ich stieg unter die Decke; im
schwerelosen Raum sind keine theatralischen Szenen möglich, man
kann weder aufstampfen noch mit der Faust auf den Tisch hauen. Ich
bedauere, daß ich mich an die Sterne gewagt habe. Bruno habe ich
die schlimmste Arbeit gegeben, er muß im Heck Strickgarn
entwirren.
Eintragung
116 313. Der Kosmos verschlingt uns. Gestern riß ein Teil des
Hecks mit den Toiletten ab. Onkel Palexander war gerade dort.
Ohnmächtig mußte ich zusehen, wie er mit der Finsternis verschmolz
und die auseinandergerollten Papierstreifen kläglich im All
flatterten. Eine wahre Laokoongruppe zwischen Gestirnen, Welch ein
Unglück! Der auf dem Meteor ist gar kein Verwandter; ein völlig
fremder Mensch. Er sitzt rittlings darauf. Verblüffend. Mir
gelangte zu Ohren, daß mehrere Personen heimlich ausgestiegen
seien. In der Tat wird es etwas leerer. Sollte das wahr
sein?
Eintragung
116 314. Vetter Roland, der unser Rechnungswesen führt, hat
große Sorgen. Gestern war ich Zeuge, wie er mühselig die bereits
beförderten Verlobungsregistertonnen mit der Modifikation für den
Verlust der Jungfernschaft berechnete. Während er schrieb, hob er
plötzlich den Kopf und sagte: »Ein Mensch, wie das klingt!« Dieser
Gedanke machte mich stutzig. Der kleine Pyzio, der im Raumschiff
umherfliegt und f statt p spricht (Flanet statt Planet, dafür aber
Planellhosen), hat, wie sich erst jetzt herausgestellt hat, eine
Katze in den Behälter mit Soda geworfen, das uns den Kohlendioxyd
absorbiert. Die arme Katze, sie ist in Sodadikatzat
zerfallen.
Eintragung
116 315. Auf meiner Türschwelle fand ich heute einen Säugling
männlichen Geschlechts mit einem Kärtchen an den Windeln: »Das ist
deins.« Ich weiß von nichts. Etwa ein Zufall? Ich habe für ihn eine
Schublade mit alten Akten ausgelegt.
Eintragung
116 316. Im Kosmos verschwinden eine Menge Socken und
Taschentücher, außerdem zerfällt die Zeit völlig; beim Frühstück
habe ich bemerkt, daß meine Großeltern viel jünger sind als ich. Es
gab auch einige Fälle von Onkellyse. Ich beauftragte meinen Vetter,
Bilanz zu ziehen – die Hibernatoren wurden geöffnet, und ich habe
alle aufgetaut. Viele Tanten sind verschnupft und heiser, sie haben
blaue Nasen und geschwollene rote Ohren, einige bekamen
Weinkrämpfe. Ich war ratlos. Sonderbar ist, daß sich unter den
Auferweckten ein Kalb befindet. Dafür fehlt Tante Mathilde… Sollte
Bruno tatsächlich nicht gespaßt haben oder vielmehr – wirklich
gespaßt haben?
Eintragung
116 317. Vor dem Flur der Atomkammer ist eine Zelle. Als ich
dort saß, kam mir der belustigende Gedanke, daß wir vielleicht gar
nicht gestartet seien und uns noch irgendwo auf der Erde befänden.
Aber nein – es gab ja keine Schwerkraft. Diese Reflexion beruhigt.
Allerdings stellte ich fest, daß ich einen Hammer in den Händen
hielt. Vielleicht hieß ich Jeremias? Ich schmiedete eine Stange,
und mir wurde eigenartig zumute. Aber daran muß man sich gewöhnen.
Paulis Grundsatz, daß eine bestimmte Person nur von einer
Persönlichkeit auf einmal eingenommen werden kann, haben wir längst
hinter uns gelassen. Nehmen wir zum Beispiel die Elternstafette –
eine für uns im Kosmos gewöhn liche Angelegenheit, wenn infolge der
ungeheuren Geschwindigkeit mehrere Frauen der Reihe nach das
gleiche Kind gebären. Das betrifft auch die Väter. Der unlängst
noch so kleine Pyzio hat mich heute, als wir gleichzeitig im
Eßzimmer nach der Marmelade langten und mit den Stirnen
zusammenstießen, bis an die Decke zurückprallen lassen. Wie doch
die Zeit verfliegt, auch wenn sie noch so verworren, ineinander
verflochten und sogar verknotet ist!
Eintragung
116 318. Arabeus erzählte mir heute, er habe immer die stille
Hoffnung gehegt, daß die Sterne und die Raketen nur eine Seite
hätten, die uns zugekehrte, auf der anderen Seite befänden sich nur
verstaubte Stellagen und Schnüre. Deshalb sei er zu den Sternen
geflogen. Er gestand mir auch, daß einige Frauen in den
Wäscheschränken etwas ablegten, nach seiner Meinung nicht nur
Wäsche, sondern auch Eier. Das würde – von der Entwicklung her
gesehen – auf eine heftige Regression hindeuten. Sicherlich war ihm
das ziemlich unbequem, als er so – auf allen vieren – den Kopf zu
mir emporreckte. Mich beunruhigt sein jüngerer Bruder. Er steht
bereits das achte Jahr bei mir im Vorzimmer mit vorgestreckten
Zeigefingern. Sollten das die Anfänge von Katatonie sein? Zuerst
rein mechanisch, später aus Gewohnheit hängte ich Mantel und Hut an
ihm auf. Nun kann er sich sagen, daß er wenigstens zu etwas nütze
ist.
Eintragung
116 319. Es wird immer leerer. Diffraktion, Sublimation, oder
gehen infolge des Dopplereffekts alle ins Infrarot über? Ich bin
heute im ganzen Mitteldeck umhergelaufen und habe gerufen, aber es
hat sich niemand blicken lassen außer Tante Klothilde mit ihrem
Strickzeug und dem unvollendeten Fingerhandschuh. Ich ging ins
Labor – die Vettern Mitrofan und Alarich ließen Speck aus. Alarich
meinte, daß in unserer Lage Wahrsagespiele sicherer seien als die
Wilsonkammer. Aber warum hat er, nachdem er mit den Berechnungen
fertig war, alles aufgegessen? Ich begreife das nicht, aber ich
wagte nicht zu fragen. Uronkel Emmerich ist
verlorengegangen.
Eintragung
116 320. Uronkel Emmerich entdeckt. Mit einer Regelmäßigkeit,
die einer besseren Sache wert wäre, geht er alle zwei Minuten
backbord auf, dann sieht man aus dem oberen Fensterchen, wie er den
Zenit erreicht, und steuerbord geht er unter. Er hat sich überhaupt
nicht verändert, nicht einmal auf der Umlaufbahn seiner letzten
Ruhe! Aber wer hat ihn hinausgestoßen, und wann ist das geschehen?
Ein entsetzlicher Gedanke.
Eintragung
116 321. Der Onkel ist so pünktlich, daß man nach seinen Auf-
und Untergängen eine Stoppuhr stellen könnte. Und das Sonderbarste
– er beginnt die Stunden zu schlagen. Ich vermag das nicht zu
begreifen.
Eintragung
116 322. Am niedrigsten Punkt seiner Umlaufbahn bleibt er
einfach mit den Beinen am Rumpf des Raumschiffs hängen, so daß die
Sohlen oder Absätze über die Nietenköpfe der Panzerung hüpfen.
Heute nach dem Frühstück hat er dreizehn Uhr geschlagen – ein
Zufall oder ein prophetisches Zeichen? Der Fremde auf dem Meteor
hat sich etwas entfernt. Er fliegt noch immer neben uns. Ich habe
mich heute an den Schreibtisch gesetzt, um zu arbeiten, da sagt der
Stuhl zu mir: »Wie seltsam diese Welt ist!« Ich dachte schon, Onkel
Jesaia habe endlich Erfolg gehabt, aber das war nur der Großvater
Arabeus. Er versicherte mir, er sei ein Invariant, das heißt einer,
dem alles einerlei ist, ich brauchte also nicht aufzustehen. Heute
habe ich eine Stunde lang auf der Rampe und auf dem Oberdeck
gerufen. Nicht eine Menschenseele. Nur Strickzeug und ein paar
Knäuel Garn flogen in der Luft herum und ein paar Spiele
Patiencekarten.
Eintragung
116 323. Es gibt eine besondere Methode, sein seelisches
Gleichgewicht zu bewahren – man denkt sich verschiedene fiktive
Personen aus. Tue ich das vielleicht nicht schon lange in meinem
Unterbewußtsein? Aber wie lange schon? Ich sitze auf dem hartnäckig
schweigenden Arabeus, habe in der Schublade einen quäkenden
Säugling, den ich Ijon getauft habe und den ich mit der Flasche
ernähre – und sorge mich, woher ich für ihn eine Frau nehmen soll;
noch ist ja Zeit, aber unter diesen Umständen ist alles möglich. So
sitze ich und fliege…
Das sind die letzten Worte meines
Vaters, die restlichen Seiten des Tagebuchs fehlen. Ich sitze
ebenfalls in einem Raumschiff und lese, wie ein anderer, das heißt
er, im Raumschiff gesessen hat und geflogen ist. Er saß also und
flog, und ich sitze auch und fliege. Wer sitzt folglich und fliegt?
Sollte es mich gar nicht geben? Aber ein Logbuch kann sich doch
nicht selbst lesen. Also bin ich dennoch, weil ich lese. Aber
vielleicht ist das alles nur unterstellt und erdacht? Sonderbare
Gedanken… Sagen wir, daß er nicht gesessen hat und geflogen ist,
ich aber sitze und fliege, das heißt, ich fliege sitzend. Das ist
ganz sicher. Wirklich? Am sichersten ist noch, daß ich von einem
lese, der fliegt und sitzt. Was hingegen mein Sitzen und Fliegen
betrifft, woher soll ich da die Gewißheit nehmen? Das kleine Zimmer
ist ziemlich ärmlich eingerichtet, es ist eher eine Kammer. Wohl im
Zwischendeck, aber auf dem Dachboden hatten wir genau so eine. Ich
brauche also nur auf die Schwelle zu treten, um mich zu überzeugen,
ob das keine Täuschung ist. Aber wenn es eine Täuschung wäre und
wenn ich die Fortsetzung dieser Täuschung sähe? Gibt es kein
Kriterium? Das ist nicht möglich! Wäre es nämlich so, daß ich nicht
flöge und nicht säße, sondern nur von ihm läse, daß er geflogen ist
und gesessen hat, wobei er in Wirklichkeit auch nicht geflogen ist,
so würde das bedeuten, daß ich in meiner Illusion seine Illusion
erkennte, das heißt, daß mir schiene, daß es ihm schien. Oder
vielleicht scheint mir das, was ihm schien? Eine Illusion in der
Illusion? Nehmen wir einmal an, aber er schrieb doch auch über
einen, der rittlings auf einem Meteor dahinflog. Mit dem ist das
schon schlimmer. Mir scheint, ihm schien nur, was jener rittlings
tat, und wenn es jenem auch nur schien, dann weiß man überhaupt
nichts mehr. Der Kopf tut mir weh, und wieder muß ich wie gestern,
wie vorgestern an Bischöfe denken und an blaue Nasen, an Augen, die
kornblumenblau sind, an die schöne blaue Donau und an lila
Kalbfleisch. Weshalb? Und ich weiß, wenn ich um Mitternacht das
Raumschiff beschleunige, werde ich an Rührei oder vielmehr an
Setzei mit großem Eigelb denken, an Mohrrüben, an Honig und an
Tante Marynias Fersen – ebenso wie in der Mitte jeder Nacht… Ach!
Ich begreife! Das ist ein Effekt des Gedankenverschiebens, einmal
in Richtung Ultraviolett und einmal – durch das Gelb – in Richtung
Infrarot, ein psychischer Dopplereffekt also! Sehr wichtig! Das
wäre ein Beweis, daß ich fliege! Der Beweis aus der Bewegung,
demonstratio ex motu, wie die Scholastiker
sagten! Ich fliege also wirklich… Ja. Aber an Eier, Fersen und
Bischöfe kann jeder denken. Das ist kein schlüssiger Beweis,
sondern nur eine Annahme. Was bleibt also noch? Solipsismus? Nur
ich allein existiere, ohne irgendwohin zu fliegen… Aber das
bedeutete doch, daß es keinen Anonymus Tichy, keinen Jeremias,
keinen Igor, Esteban oder Auror gegeben hat, keinen Barnabas,
Eusebius, kein Raumschiff, das »Kosmozyste« hieß, daß ich nie in
der Schublade von Vaters Schreibtisch gelegen habe und auch er, auf
Großvater Arabeus sitzend, nicht geflogen ist – nun, das ist nicht
möglich! Sollte ich mir aus dem Nichts eine solche Anzahl Personen
und Familiengeschichten zusammengereimt haben? Es heißt doch:
ex nihilo nihil fit! Somit existierte die
Familie, sie ist es, die mir den Glauben an die Welt wiedergibt und
an diesen meinen Flug, dessen Ende unerforscht ist. Alles ist
wieder in Ordnung gekommen, dank euch, meinen Vorfahren! Bald werde
ich diese vollgeschriebenen Blätter in ein leeres Sauerstofffäßchen
stecken und es über Bord werfen, es den Tiefen des Alls übergeben,
mag es dahingleiten in die schwarze Ferne, denn navigare necesse
est, und ich fliege, fliege seit Jahren…
Januar 1966
Aus den
Erinnerungen Ijon Tichys
I
Ihr wollt, daß ich wieder etwas erzähle? Ja.
Ich sehe, daß Tarantoga schon nach seinem Stenogrammblock greift…
Warten Sie, Professor. Ich habe wirklich nichts zu erzählen. Wie?
Nein, ich scherze nicht. Schließlich könnte ich ja auch mal Lust
haben, einen Abend lang in eurer Gesellschaft zu schweigen.
Weshalb? Nun, weshalb wohl! Meine Lieben – ich habe nie davon
gesprochen, aber der Kosmos ist vor allem von solchen Wesen
bevölkert wie wir. Nicht nur, daß sie menschenähnliche Gestalt
haben, sie sind uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Hälfte der
bewohnten Planeten sind Erden, die einen etwas größer, die anderen
kleiner, mit etwas kälterem oder etwas wärmerem Klima, aber was
sind das schon für Unterschiede! Und ihre Bewohner… – die Menschen
– denn es sind schließlich Menschen – erinnern so sehr an uns, daß
die Unterschiede nur die Ähnlichkeiten hervorheben. Daß ich nie
darüber gesprochen habe? Wundert euch das? Überlegt doch mal. Man
blickt hinauf zu den Sternen. Verschiedene Begebenheiten fallen
einem ein, Bilder tauchen auf… Am liebsten jedoch kehrt man zu den
außergewöhnlichen zurück. Vielleicht sind sie schrecklich oder
unheimlich oder makaber, ja sogar lächerlich, aber dadurch auch
harmlos. Doch hinaufblicken zu den Sternen, meine Freunde, und
wissen, daß diese blauen Fünkchen – setzt man den Fuß darauf –
Staaten der Häßlichkeit, der Trauer, des Unwissens und des Ruins
sind; daß es dort, im blauschwarzen Himmel, ebenfalls von alten
Häusern, schmutzigen Höfen, Rinnsteinen, Müllplätzen, verwilderten
Friedhöfen wimmelt…?
Sollen die Erzählungen eines
Mannes, der die Milchstraße besucht hat, an die Klagen eines
Hausierers erinnern, der ein paar Provinzstädtchen abgeklappert
hat? Wer würde ihm zuhören wollen? Und wer würde ihm glauben?
Solche Gedanken befallen ei nen, wenn man etwas niedergeschlagen
ist oder einen ungesunden Hang zu offenherzigen Ergüssen hat. Somit
also – um niemanden zu betrüben oder zu beleidigen – heute nichts
von den Sternen. Nein, schweigen werde ich nicht. Ihr würdet euch
betrogen fühlen. Ich erzähle etwas, einverstanden, aber das wird
nicht von einer Reise handeln. Schließlich habe ich auch auf der
Erde so manches erlebt. Professor, wenn Sie unbedingt wollen,
können Sie mit Ihren Notizen beginnen.
Wie ihr wißt, habe ich hin und
wieder Gäste, bisweilen sehr sonderbare. Ich werde eine gewisse
Kategorie auswählen: verkannte Erfinder und Gelehrte. Ich weiß
nicht weshalb, aber auf sie habe ich immer wie ein Magnet gewirkt.
Tarantoga lächelt, seht ihr? Aber nicht über ihn wollte ich reden,
er ist schließlich kein Erfinder. Heute werde ich von solchen
erzählen, die keinen Erfolg hatten, oder vielmehr, die zu großen
Erfolg hatten: Sie hatten ihr Ziel erreicht und die Vergeblichkeit
ihres Tuns erkannt. Natürlich gestanden sie sich das nicht ein. Von
keinem beachtet, vereinsamt, halten sie an diesem Wahn fest, den
nur Ruhm und Erfolg bisweilen – allerdings äußerst selten – in ein
Werk des Fortschritts verwandeln. Selbstverständlich waren die
meisten von denen, die zu mir kamen, besessene Menschen, die nur
eine Idee beseelte und die nicht einmal die ihre war, die sie von
den vorangegangenen Generationen übernommen hatten, wie die
Erfinder des Perpetuum mobile, arm an Einfällen, trivial in den
Lösungen. Aber selbst in ihnen steckt jene Glut der
Uneigennützigkeit, die das Leben verbrennt, die dazu zwingt,
Anstrengungen zu erneuern, die von vornherein zum Mißerfolg
verurteilt sind. Kläglich sind diese unvollkommenen Genies, Titanen
zwergenhaften Geistes, bei ihrer Geburt durch die Natur
verstümmelt, die, in einem ihrer makabren Scherze, ihre
Talentlosigkeit durch eine schöpferische Verbissenheit wettzumachen
suchte, die eines Leonardo würdig wäre. Alles, was das Leben ihnen
zu bieten hat, ist Gleichgültigkeit oder Spott, und alles, was man
für sie tun kann, ist, ein oder zwei Stunden lang ein geduldiger
Zuhörer und Teilhaber ihrer Monomanie zu sein.
In jener Schar, die nur die
eigene Dummheit vor der Verzweiflung schützt, tauchten vereinzelt
andere Menschen auf – ich will sie weder näher bezeichnen noch sie
verurteilen, das bleibt euch überlassen. Die erste Gestalt, die mir
vor Augen steht, wenn ich davon spreche, ist Professor
Corcoran.
Ich lernte ihn vor neun oder zehn
Jahren kennen, auf einer wissenschaftlichen Konferenz. Wir
unterhielten uns kaum ein paar Minuten, als er mich plötzlich, ohne
jeden Zusammenhang fragte: »Was halten Sie von Geistern?«
Im ersten Augenblick glaubte ich,
das sei ein exzentrischer Scherz, aber mir fiel ein, daß ich von
seiner Außergewöhnlichkeit gehört hatte – ich wußte nur nicht mehr,
in welchem Sinne, im positiven oder im negativen, deshalb erwiderte
ich für alle Fälle: »Zu diesem Gegenstand habe ich keine
Meinung.«
Ohne ein weiteres Wort kehrte er
zu dem vorhergehenden Thema zurück. Doch als das Klingelzeichen
bereits den Beginn der weiteren Beratungen ankündigte, beugte er
sich plötzlich vor – er war bedeutend größer als ich – und sagte:
»Tichy, Sie sind mein Mann. Sie haben keine Vorurteile.
Möglicherweise irre ich mich, aber ich bin zu einem Risiko bereit.
Besuchen Sie mich!« Hier reichte er mir eine Visitenkarte. »Aber
rufen Sie mich vorher an, denn auf Klingelzeichen reagiere ich
nicht und mache niemandem auf. Übrigens, wie Sie wollen…«
Noch am selben Abend, bei einem
Essen mit Savinelli, dem bekannten Juristen und Spezialisten für
kosmisches Recht, fragte ich meinen Begleiter, ob er einen
Professor Corcoran kenne.
»Corcoran!« rief er mit dem ihm
eigenen Temperament, angefeuert noch durch die zweite Flasche
sizilianischen Weins. »Dieser verrückte Kybernetiker? Was ist denn
mit ihm? Ich habe schon eine Ewigkeit nichts mehr von ihm
gehört!«
Ich erwiderte, daß ich nichts
Genaueres über ihn wisse, nur sein Name sei mir dann und wann zu
Ohren gekommen. Eine solche Antwort dürfte wohl im Sinne Corcorans
gewesen sein. Savinelli erzählte mir beim Wein ein paar
Klatschgeschichten, die in Umlauf waren. Daraus ging hervor, daß
Corcoran als junger Wissenschaftler zu den größten Hoffnungen
berechtigte, obwohl er schon damals einen völligen Mangel an
Hochachtung für Ältere erkennen ließ, der zuweilen in Arroganz
umschlug. Allmählich entwickelte er sich zu einem jener Typen, die
daraus, daß sie anderen Leuten ohne Umschweife die Meinung sagen,
ebensoviel Genugtuung zu schöpfen scheinen wie aus der Tatsache,
daß sie sich auf diese Weise am meisten schaden. Als er bereits
seine Professoren und Kollegen tödlich beleidigt hatte und sich vor
ihm alle Türen schlossen, kaufte er, durch eine unerwartete
Erbschaft zu Reichtum gekommen, irgendein verfallenes Haus
außerhalb der Stadt und baute es in ein Laboratorium um. Darin
hielt er sich mit seinen Robotern auf, denn nur solche Assistenten
und Gehilfen duldete er um sich. Vielleicht erreichte er dort auch
etwas, aber die Spalten der wissenschaftlichen Zeitschriften
blieben ihm verschlossen. Er kümmerte sich überhaupt nicht darum.
Wenn er damals noch Beziehungen zu Menschen knüpfte, dann nur, um
sie, sobald er auf etwas vertrauterem Fuße mit ihnen stand, auf
äußerst ordinäre Weise und ohne ersichtlichen Grund vor den Kopf zu
stoßen und zu beleidigen. Als er endgültig alterte und dieses
abscheulichen Spiels müde war, wurde er ein Einsiedler. Ich fragte
Savinelli, ob er gehört habe, daß Corcoran an Geister glaube. Der
Jurist, der gerade am Weinglas nippte, verschluckte sich fast vor
Lachen.
»Der? An Geister glauben?!« rief
er. »Der glaubt ja nicht einmal an Menschen!«
Ich wollte wissen, wie er das
meine. Er meine das ganz wörtlich, erwiderte er. Nach Savinellis
Auffassung war Corcoran ein Solipsist – er glaubte nur an die
eigene Existenz, alle anderen hielt er für Phantome, Traumvisionen;
angeblich sei er deshalb früher sogar mit seinen Nächsten so
umgesprungen: Wenn das Leben eine Art Traum ist, dann ist alles
erlaubt. Ich bemerkte, daß er somit auch an Geister glauben könne.
Savinelli fragte, ob ich jemals von einem Kybernetiker gehört
hätte, der an Geister glaubte. Wir sprachen dann von etwas anderem,
aber auch das, was ich gehört hatte, genügte, mich neugierig zu
machen. Ich bin ein Mann von raschen Entschlüssen, also rief ich
gleich am nächsten Tag an. Das Gespräch nahm ein Roboter entgegen.
Ich sagte, wer ich sei und was ich wolle. Corcoran meldete sich
erst am nächsten Tag, am späten Abend – ich wollte gerade schlafen
gehen. Er sagte, ich könne gleich zu ihm kommen. Es war kurz vor
elf. Ich versprach, sofort zu kommen, zog mich an und fuhr hin. Das
Laboratorium war ein großes, düsteres Gebäude, nicht weit von der
Chaussee entfernt. Ich hatte es schon einigemal gesehen, es jedoch
für eine alte Fabrik gehalten. Es war in Dunkelheit getaucht. Nicht
der schwächste Lichtschimmer erhellte eines der tief in die Mauer
eingelassenen quadratischen Fenster. Auch der große Platz zwischen
der eisernen Umzäunung und dem Tor war nicht erhellt. Ein paarmal
stieß ich gegen scheppernde rostige Bleche oder Schienen, so daß
ich schon etwas böse an der Tür ankam, die in der Dunkelheit kaum
zu erkennen war. Ich läutete in der verabredeten Art, doch erst
nach etwa fünf Minuten öffnete mir Corcoran selbst in einem grauen,
von Säuren verbrannten Laborkittel. Er war entsetzlich mager,
knochig, hatte eine Brille mit riesigen Gläsern und einen grauen
Schnurrbart, der an einer Seite etwas kürzer war, als sei er
angeknabbert.
»Folgen Sie mir«, sagte er ohne
jede Einleitung. Durch einen langen, kaum erhellten Gang, in dem
Maschinen, Fässer, verstaubte, weiße Säcke Zement lagen, führte er
mich zu einer großen stählernen Tür. Darüber brannte eine grelle
Lampe. Er entnahm der Tasche seines Kittels einen Schlüssel,
öffnete und ging als erster hinein. Ich folgte ihm. Über eine
eiserne Wendeltreppe gelangten wir in die erste Etage. Eine große
Fabrikhalle mit verglastem Gewölbe öffnete sich vor uns – die
wenigen unverhüllten Glühbirnen beleuchteten sie nicht, sondern
zeigten nur ihr dämmeriges Riesenausmaß. Sie war leer, tot,
verlassen, hoch an der Decke tobten Luftzüge, der Regen, der zu
fallen begann, als ich mich dem Sitz Corcorans genähert hatte,
peitschte die Scheiben, die dunkel und schmutzig waren. Hier und da
floß Wasser durch die Öffnungen in den eingeschlagenen Scheiben.
Corcoran schien das nicht zu se hen, er ging vor mir über die
blecherne Galerie, die unter den Schritten dröhnte; wieder eine
stählerne, verschlossene Tür – dahinter ein Gang, an den Wänden
entlang unordentlich, wie auf der Flucht hingeworfenes Werkzeug,
mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Gang machte eine
Biegung, wir stiegen nach oben, nach unten, gingen an
Transmissionsriemen vorbei, die wie vertrocknete Schlangen
anmuteten. Die Wanderung, bei der ich die Geräumigkeit des Baus
kennenlernte, dauerte an; ein- oder zweimal warnte mich Corcoran an
völlig dunklen Stellen vor einer Stufe oder einem zu niedrigen
Türbalken. Vor der letzten dieser stählernen, dicht mit Nieten
beschlagenen Türen, die wohl gegen Brände schützen sollten, blieb
er stehen. Als er sie öffnete, bemerkte ich, daß sie im Gegensatz
zu den anderen überhaupt nicht quietschte, so als wären die Angeln
frisch geölt worden. Wir betraten einen hohen Saal, der fast leer
war – Corcoran blieb in der Mitte stehen, dort, wo der Beton des
Fußbodens etwas heller war, als hätte irgendwann eine Maschine an
der Stelle gestanden, von der nur die herausragenden Lagereisen
übriggeblieben waren. Es sah hier wie in einem Käfig aus. Mir fiel
die Frage nach den Geistern ein… An den Stäben waren Regale
angebracht, sehr stabil, mit Stützen, darauf standen eiserne
Kisten, etwa ein Dutzend; ihr wißt doch, wie die Schatztruhen
aussehen, die in den Legenden von Piraten vergraben werden? Genauso
sahen diese Kästen aus, mit gewölbten Deckeln. An jedem hing ein in
Zellophan gefaßten weißes Kärtchen, ähnlich dem Krankenbild am Bett
eines Patienten. Hoch oben an der Decke brannte eine verstaubte
Glühbirne, aber es war zu dunkel, um auch nur ein Wort entziffern
zu können. Die Kästen standen in zwei Reihen übereinander, der eine
jedoch etwas höher, gesondert – ich weiß noch, daß ich sie gezählt
habe. Es waren etwa zwölf oder vierzehn, genau kann ich es nicht
sagen.
»Tichy«, wandte sich der
Professor an mich, die Hände in den Taschen seines Kittels
vergraben. »Lauschen Sie doch mal, hören Sie sich das an. Ich rede
später…«
Eine außergewöhnliche,
auffallende Ungeduld war in ihm. Er wollte sofort, als er anfing zu
sprechen, auf den Kern eingehen, wollte die Sache hinter sich
bringen, wollte rasch fertig sein. Als hielte er jeden Augenblick,
den er mit einem anderen verbrachte, für vergeudete Zeit.
Ich kniff die Augen zusammen und
stand eine Weile reglos da, eher aus Höflichkeit als aus Neugier
auf irgendwelche Laute. Beim Eintreten hatte ich eigentlich nichts
wahrgenommen, vielleicht irgendwo ein schwächliches Summen des
elektrischen Stroms in den Wicklungen, etwas in dieser Art, aber
ich versichere euch, das war so geringfügig, daß man das Summen
einer verendenden Fliege dabei ausgezeichnet vernommen
hätte.
»Na, was hören Sie?« fragte
er.
»Fast nichts«, bekannte ich,
»eine Art Summen… Aber das kann auch das Rauschen in den Ohren
sein…«
»Nein, das ist kein Rauschen in
den Ohren. Tichy, hören Sie aufmerksam zu, denn ich wiederhole mich
nicht gern. Ich sage das, weil Sie mich nicht kennen. Ich bin weder
ordinär noch unverschämt, wie man immer sagt, aber mich regen
Idioten auf, denen man zehnmal ein und dasselbe wiederholen muß.
Ich hoffe, daß Sie nicht zu ihnen zählen.«
»Wir werden sehen«, erwiderte
ich. »Sprechen Sie, Herr Professor…«
Er nickte, zeigte auf die Reihen
der eisernen Kisten und sagte: »Kennen Sie sich in elektronischen
Hirnen aus?«
»Nur soviel, wie das bei der
Navigation notwendig ist. Mit der Theorie ist es bei mir schlecht
bestellt.«
»Das habe ich mir gedacht. Na,
macht nichts. Tichy, hören Sie. In diesen Kisten befinden sich die
vollendetsten Elektronenhirne, die es jemals gab. Wissen Sie,
worauf ihre Vollkommenheit beruht?«
»Nein«, antwortete ich
wahrheitsgemäß.
»Daraufhin, daß sie niemandem
dienen, daß sie absolut zu nichts zu gebrauchen sind, daß sie
unnütz sind; es sind von mir in die Tat umgesetzte, in Materie
gekleidete Leibnizsche Monaden…«
Ich schwieg abwartend, und er
redete weiter, dabei sah sein grauer Schnurrbart in dem
herrschenden Dämmerlicht aus, als flattere ein weißlicher Falter um
seine Lippen.
»Jede dieser Kisten enthält ein
Elektronensystem, das Bewußtsein erzeugt. Wie unser Hirn. Es
besteht zwar aus einem anderen Baustoff, aber das Prinzip ist das
gleiche. Damit ist es auch schon aus mit der Ähnlichkeit. Denn
unsere Hirne – geben Sie acht! – sind sozusagen an die äußere Welt
angeschlossen, vermittels der Sinnenrezeptoren: der Augen, der
Ohren, der Nase, der Haut und so weiter. Die hier hingegen«, er
deutete mit dem Finger auf die Kisten, »haben ihre ›Außenwelt‹ da
drinnen…«
»Wie ist das möglich?« fragte
ich. Mir dämmerte etwas, die Vermutung war nur vage, aber sie
erweckte einen Schauer.
»Ganz einfach. Woher wissen wir,
daß so unser Körper aussieht und so unser Gesicht, daß wir stehen,
daß wir ein Buch halten, daß die Blumen duften? Daher, daß gewisse
Reize auf unsere Sinne einwirken und Anregungen durch die Nerven
zum Hirn fließen. Stellen Sie sich vor, Tichy, daß ich Ihren
Geruchssinn auf die gleiche Weise zu reizen vermag, wie das eine
duftende Nelke tut – was werden Sie dann wahrnehmen?«
»Nelkenduft natürlich«, erwiderte
ich, und der Professor nickte, als sei er froh, daß ich ihm folgen
konnte.
»Wenn ich nun dasselbe mit allen
Ihren Nerven tue, dann nehmen Sie nicht mehr die Außenwelt wahr,
sondern das, was ich durch Ihre Nerven an Ihr Hirn telegrafiere…
klar?«
»Klar.«
»Und nun folgendes. Diese Kisten
haben Organrezeptoren, die analog zu unserem Geruchssinn,
Gesichtssinn, Tastsinn, Gehör und so weiter wirken. Die Drähte
dieser Rezeptoren – gewissermaßen die Nerven – sind anstatt an die
Außenwelt, wie unsere, an diese Trommel dort in der Ecke
angeschlossen. Sie haben sie noch gar nicht bemerkt, nicht
wahr?«
»Nein«, sagte ich. In der Tat, im
Hintergrund stand senkrecht wie ein aufgestellter Mühlstein eine
Trommel von etwa drei Meter Durchmesser. Nach einer Weile stellte
ich fest, daß sie sich ganz langsam drehte.
»Das ist ihr Schicksal«, sagte
Professor Corcoran ruhig. »Ihr Schicksal, ihre Welt, ihr Dasein –
alles, was sie erfahren und erkennen mögen. In der Trommel befinden
sich besondere Bänder mit registrierten elektrischen Reizen, mit
solchen, die den hundert oder zweihundert Milliarden Erscheinungen
entsprechen, mit denen ein Mensch in einem an Eindrücken sehr
reichen Leben konfrontiert werden kann. Wenn Sie die Hülle der
Trommel hochheben, sehen sie nur glänzende Bänder, bedeckt mit
weißen Zickzacklinien, wie Schimmel auf Zelluloid, aber das sind,
Tichy, die heißen Nächte des Südens und das Rauschen der Wellen,
die Formen tierischer Leiber und Schießereien, Begräbnisse und
Zechereien und der Geschmack von Äpfeln und Birnen, Schneewehen,
Abende, die man im Familienkreis am brennenden Kamin verbringt, und
das Geschrei an Deck eines untergehenden Schiffes und die
Konvulsionen einer Krankheit. Das sind die Gipfel der Berge und
Friedhöfe und die, Halluzinationen Phantasierender – Ijon Tichy:
Dort ist die ganze Welt!«
Ich schwieg, und Corcoran, der
mich mit eisernem Griff am Arm gepackt hatte, sagte: »Diese Kisten,
Tichy, sind an eine künstliche Welt angeschlossen. Dieser hier«, er
deutete auf die zunächst stehende, »scheint es, sie sei ein
siebzehnjähriges Mädchen, grünäugig, mit rotblondem Haar, mit einem
Körper, der einer Venus würdig wäre. Sie ist die Tochter eines
Staatsmanns… Sie liebt einen Jüngling, den sie fast jeden Tag
durchs Fenster sieht und der ihr Fluch sein wird. Die nächste ist
ein Gelehrter. Er ist schon der allgemeinen Gravitationstheorie
nahe, die in seiner Welt verbindlich ist, in dieser Welt, deren
Grenzen die eisernen Wände der Trommel sind, und er bereitet sich
zum Kampf um seine Wahrheit vor, in einer Vereinsamung, die durch
die ihm drohende Blindheit noch größer wird, denn er wird
erblinden, Tichy… Und dort, darüber, ist das Mitglied eines
Priesterkollegiums, ein Mann, der seine schwersten Tage erlebt,
denn er hat den Glauben an die Existenz seiner unsterblichen Seele
verloren. Daneben, hinter der Einfriedung, steht…. aber ich kann
Ihnen nicht das Leben aller Wesen, die ich geschaffen habe,
erzählen…«
»Darf ich Sie unterbrechen?«
fragte ich. »Ich hätte gern gewußt…«
»Nein! Sie dürfen nicht!« brüllte
Corcoran. »Niemand darf! Jetzt rede ich, Tichy! Sie begreifen noch
nichts. Sie denken sicherlich, daß dort in dieser Trommel
verschiedene Signale festgehalten sind, wie auf einer
Grammophonplatte, daß die Ereignisse so wie eine Melodie angeordnet
sind, mit allen Tönen, und nun warten, wie die Musik auf der
Platte, daß eine Nadel sie belebt, daß diese Kästen lediglich
Komplexe von Erlebnissen nachgestalten, die bereits von vornherein
bestimmt sind. Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!« rief er
durchdringend, daß es von der blechernen Decke nur so widerhallte.
»Der Inhalt dieser Trommel bedeutet denen dort, was Ihnen die Welt,
in der Sie leben, bedeutet! Es fällt Ihnen doch nicht ein, wenn Sie
essen, schlafen, aufstehen, reisen, alte Sonderlinge besuchen, daß
das alles eine Grammophonplatte ist, deren Berührung Sie Gegenwart
nennen!«
»Aber…«, versetzte ich.
»Schweigen Sie!« donnerte er.
»Unterbrechen Sie mich nicht! Ich rede!«
Im stillen dachte ich mir, daß
jene, die ihn einen ungehobelten Klotz nannten, nicht so unrecht
hatten, aber ich mußte aufpassen, denn das, was er sagte, war
wirklich unerhört.
»Das Schicksal meiner eisernen
Kästen«, schrie er, »ist nicht bis zum Schluß vorher bestimmt, denn
die Ereignisse dort in der Trommel sind auf Reihen paralleler
Bänder gebannt, und nur ein entsprechend der Regel des blinden
Zufalls wirkender Selektor entscheidet, aus welcher Bandreihe der
Rezipient der Sinneswahrnehmungen einer bestimmten Kiste im
nächsten Augenblick die Inhalte aufnehmen wird. Natürlich ist das
nicht so einfach, wie ich es hier schildere, denn die Kisten können
bis zu einem gewissen Grade selbst auf die Bewegungen des Sammlers
Einfluß nehmen; eine absolute Zufallsselektion tritt nur dann ein,
wenn die von mir Geschaffenen sich passiv verhalten – denn sie
haben einen eigenen Willen, dem nur die gleichen Schranken gesetzt
sind wie uns: die eigene Persönlichkeitsstruktur, Leidenschaften,
angeborene Gebrechen, die äußeren Bedingungen, der Intelligenzgrad
– ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten eingehen…«
»Wenn es so ist«, warf ich rasch
ein, »wie sollten sie dann nicht wissen, daß sie eiserne Kisten
sind und nicht ein rotblondes Mädchen oder ein Prie…«
Soviel vermochte ich
vorzubringen, ehe er mich unterbrach: »Stellen Sie sich nicht dumm,
Tichy. Sie setzen sich aus Atomen zusammen, wie? Fühlen Sie Ihre
Atome?«
»Nein.«
»Diese Atome bilden
Eiweißteilchen. Fühlen Sie ihr Eiweiß?«
»Nein.«
»In jeder Stunde des Tages und
der Nacht werden Sie von kos
mischen Strahlen durchbohrt. Spüren Sie
das?«
»Nein.«
»Wie sollen dann meine Kisten
erfahren, daß sie Kisten sind, Sie
Esel! Genauso wie für Sie diese Welt
authentisch und einzig ist, genauso sind für diese Hirne die
Inhalte authentisch und einzig real, die zu ihren elektrischen
Hirnen aus meiner Trommel fließen… In dieser Trommel ist ihre Welt,
Tichy, und ihre Körper, die in unserer Wirklichkeit nur als
bestimmte relativ stabile Lochgruppierungen in perforierten Bändern
existieren, befinden sich innerhalb der Kisten selbst, sie stecken
mittendrin… Diese da am Rande, auf der anderen Seite, hält sich für
eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit. Ich kann Ihnen genau
sagen, was sie sieht, wenn sie sich nackt im Spiegel betrachtet.
Welche Edelsteine sie liebt. Welcher Kunststückchen sie sich
bedient, um die Männer zu erobern. Ich weiß das alles, weil ich sie
mit Hilfe meines Schicksalslaufs geschaffen habe, ihre – für uns
imaginäre, für sie aber reale – Gestalt, mit einem Gesicht, mit
Zähnen, Schweißgeruch, einer Narbe von einem Dolchstich auf dem
Schulterblatt, mit einer Orchidee im Haar, so real, wie für Sie
Ihre Hände und Beine, Ihr Bauch, Hals und Kopf real sind! Ich
hoffe, daß Sie nicht an Ihrer Existenz zweifeln…?«
»Nein«, erwiderte ich. Niemand
hatte mich jemals so angeschrien, und vielleicht hätte mich das
sogar belustigt, aber ich war von des Professors Worten zu sehr
erschüttert – ich glaubte ihm, denn ich sah keinen Anlaß zu
Mißtrauen –, als daß ich in diesem Augenblick auf seine Manieren
geachtet hätte.
»Tichy«, fuhr der Professor etwas
leiser fort, »ich habe gesagt, daß ich hier unter anderem einen
Gelehrten habe, das ist die Kiste Ihnen genau gegenüber. Dieser
Gelehrte untersucht seine Welt, aber nie, verstehen Sie, nie wird
er auch nur ahnen, daß seine Welt nicht real ist, daß er Zeit und
Kräfte darauf vergeudet, das zu ergründen, was eine Reihe von
Trommeln mit aufgewickeltem Filmband ist, und seine Hände, seine
Beine, die Augen, seine eigenen, erblindenden Augen, sind nur
Illusionen, hervorgerufen durch Entladungen entsprechend gewählter
Impulse in seinem elektronischen Hirn. Um das zu ergründen, müßte
er heraus aus seiner eisernen Kiste, das heißt, er müßte aus sich
selbst herauskommen und aufhören, mit seinem eigenen Hirn zu
denken, was unmöglich ist, wie es unmöglich ist, daß Sie die
Existenz dieser kalten, schweren Kästen anders wahrnehmen als durch
ihren Tast- und Gesichtssinn.«
»Aber ich weiß dank der Physik,
daß ich aus Atomen gebaut bin«, warf ich ein. Corcoran hob mit
kategorischer Bewegung die Hand.
»Er weiß das auch, Tichy. Er hat
sein Laboratorium und darin alle Apparate, die seine Welt ihm
liefern kann… Er sieht durchs Fernrohr die Sterne, untersucht ihre
Bewegungen, und gleichzeitig spürt er den kühlen Druck der Brille
im Gesicht – nein, nicht jetzt. Jetzt befindet er sich nach seiner
Gewohnheit im leeren Garten, der sein Labor umgibt, und spaziert im
Sonnenschein, weil in seiner Welt gerade Sonnenaufgang
ist…«
»Und wo sind die anderen
Menschen, die anderen, inmitten derer er lebt?« fragte
ich.
»Die anderen Menschen? Natürlich
bewegt sich jede dieser Kisten, jedes dieser Wesen unter Menschen.
Sie befinden sich – alle – in der Trommel… Ich sehe, daß Sie noch
immer nicht begreifen können! Vielleicht versinnbildlicht Ihnen das
ein Beispiel. Sie begegnen in Ihren Träumen verschiedenen Menschen
– manchmal auch solchen, die Sie nie gesehen oder gekannt haben,
und führen mit ihnen im Traum Gespräche – stimmt doch?«
»Ja…«
»Diese Menschen erzeugt Ihr
Gehirn. Aber während Sie träumen, wissen Sie das nicht. Das war,
wie gesagt, nur ein Beispiel. Mit denen dort« – er streckte die
Hand aus – »ist es anders, sie erschaffen nicht selbst ihre
Nächsten und all die Fremden – die sind in der Trommel, ganze
Scharen, und wenn mein Gelehrter plötzlich Lust verspürte, aus
seinem Garten herauszukommen und sich an den ersten besten
Spaziergänger zu wenden, dann könnten Sie, würden Sie die Hülle der
Trommel abheben, sehen, wie das vor sich geht: Sein Sinnenrezipient
weicht unter dem Einfluß des Impulses etwas von seinem bisherigen
Weg ab, er geht auf ein anderes Band über und nimmt auf, was sich
darauf befindet: ich sage ›Rezipient‹, doch das sind im Grunde
Hunderte mikroskopisch kleiner Stromsammler, denn ebenso wie Sie
die Welt mit dem Blick, mit dem Geruch, mit dem Tastsinn, mit dem
Gleichgewichtsorgan aufnehmen – genauso erkennt er seine ›Welt‹
vermittels getrennter Sinneseingänge, getrennter Kanäle, und erst
sein elektrisches Hirn fügt all diese Eindrücke zu einer Einheit
zusammen. Aber das sind unwesentliche technische Einzelheiten,
Tichy. Glauben Sie mir, mit dem Augenblick, da der Mechanismus
einmal in Bewegung gesetzt worden ist, war das nur eine Frage der
Geduld, nichts weiter. Lesen Sie die Philosophen, und Sie werden
erkennen, wie wenig man sich auf unsere Sinneseindrücke verlas sen
kann, wie unzuverlässig, wie trügerisch, wie leicht irrezuführen
sie sind, dabei haben wir doch nichts außer ihnen; ebenso«, fuhr er
mit erhobener Hand fort, »ergeht es ihnen. Aber das hindert sie
sowenig wie uns, zu lieben, zu verlangen, zu hassen. Sie können
andere Menschen berühren, um sie zu küssen oder um sie zu töten…
Und so geben sich diese meine Schöpfungen in ihrer ewigen eisernen
Unbeweglichkeit Leidenschaften und heftigen Gefühlen hin, sie üben
Verrat, empfinden Sehnsucht, sie träumen…«
»Sie meinen, daß das unfruchtbar
ist?« fragte ich unerwartet.
Corcoran maß mich mit seinem
durchbohrenden Blick. Lange Zeit gab er keine Antwort.
»Ja«, antwortete er schließlich,
»gut, daß ich Sie hier eingeführt habe, Tichy. Jeder der Idioten,
dem ich das gezeigt habe, wetterte erst einmal über meine
Grausamkeit… Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie liefern ihnen nur den
Rohstoff«, sagte ich, »in der Form dieser Impulse. Ähnlich liefert
die Welt sie uns. Wenn ich dastehe und zu den Sternen aufschaue –
so ist das, was ich dabei empfinde, was ich denke, nur noch mein
eigener Besitz, nicht der der Welt. Mit ihnen«, ich deutete auf die
Reihe der Kisten, »ist es ebenso.«
»Richtig«, sagte der Professor
trocken. Er stand nun gebeugt da und wirkte dadurch kleiner. »Aber
da Sie das schon ausgesprochen haben, ersparen Sie mir lange
Ausführungen, denn Sie begreifen doch wohl, wozu ich sie geschaffen
habe?«
»Ich vermute es. Aber vielleicht
sagen Sie es mir doch lieber selbst.«
»Gut. Einst – es ist schon sehr
lange her, begann ich an der Realität der Welt zu zweifeln. Ich war
damals noch ein Kind. Die sogenannte Tücke des Objekts, Tichy – wer
hat sie nicht erfahren? Wir können eine Kleinigkeit nicht finden,
obwohl wir uns genau erinnern, wo wir sie zuletzt gesehen haben,
endlich finden wir sie anderswo wieder, mit dem Gefühl, die Welt in
flagranti bei einer Ungenauigkeit, einer Nachlässigkeit ertappt zu
haben… Die Erwachsenen sagen selbstverständlich, das sei ein Irrtum
– und das natürliche Mißtrauen des Kindes wird auf diese Weise
erstickt… Oder das, was man als sentiment du
déjà vu bezeichnet – der Eindruck, in einer Situation, die
zweifellos neu ist, die man zum erstenmal erlebt, schon einmal
gewesen zu sein… Ganze metaphysische Systeme wie der Glaube an
Seelenwanderung, an die Reinkarnation sind in Anlehnung an diese
Erscheinungen entstanden. Und weiter: das Gesetz der Serie, die
Wiederholung besonders seltener Erscheinungen, die so oft in Paaren
auftreten, daß die Ärzte das in ihrer Sprache duplicitas casuum genannt haben. Und schließlich…
die Geister, nach denen ich Sie gefragt habe. Gedankenlesen,
Levitationen und die – zwar seltenen, aber am wenigsten mit den
Grundlagen unseres Wissens zu vereinbarenden, am schwersten zu
erklärenden – Fälle von Zukunftsvorhersagen… Ein Phänomen, das seit
der frühesten Zeit beschrieben wird, obwohl es doch gar nicht
möglich ist, da jede wissenschaftliche Anschauung der Welt es
ausschließt. Und was ist das alles? Was bedeutet es? Wollen Sie es
aussprechen? Dazu fehlt Ihnen doch der Mut, Tichy… Nun gut. Schauen
Sie…«
Er trat an die Wand und zeigte
auf die gesondert stehende Kiste auf dem höchsten Regal.
»Das ist der Wahnsinnige meiner
Welt«, sagte er, und während er lächelte, wandelte sich sein
Gesicht. »Wissen Sie, wozu er in seinem Wahn, der ihn von den
anderen abgesondert hat, gelangt ist? Er hat sich der Suche nach
der Unvollkommenheit seiner Welt gewidmet. Denn ich habe nicht
behauptet, Tichy, daß diese seine Welt vollkommen sei. Der
effektvollste Mechanismus kann plötzlich klemmen, irgendein Luftzug
kann die Kabelschnüre in Schwingungen versetzen, so daß sie sich
für einen Augenblick schneiden, oder es dringt eine Ameise in das
Innere der Trommel… Wissen Sie, was er dann denkt, dieser Tollkopf?
Daß die Telepathie durch einen lokalen Kurzschluß von Drähten
zweier verschiedener Kisten hervorgerufen wird… Daß ein Blick in
die Zukunft dann erfolgt, wenn der Rezipient schwankt und plötzlich
von dem richtigen Band auf eins überspringt, das erst in vielen
Jahren abrollen soll. Daß das Gefühl, er habe schon einmal erlebt,
was ihm in Wirklichkeit zum erstenmal widerfährt, durch ein Klemmen
des Selektors bewirkt ist, und wenn er in seinem Kupferlager nicht
nur erzittert, sondern wie ein Pendel zu schaukeln beginnt, weil
ihn, was weiß ich, eine Ameise angestoßen hat – dann ereignet sich
in seiner Welt Erstaunliches und Unerklärliches: In jemandem
entflammt ein plötzliches und unvernünftiges Gefühl, jemand beginnt
zu prophezeien, die Gegenstände bewegen sich von selbst oder
tauschen ihren Standort. Vor allem aber tritt im Ergebnis dieser
rhythmischen Bewegungen… das Gesetz der Serie auf. Der Gruppierung
seltener und wunderlicher Erscheinungen zu Folgen… Und sein Wahn,
genährt durch solche von der Allgemeinheit unterschätzten
Phänomene, gipfelt in der Behauptung – für die man ihn bald in ein
Irrenhaus sperren wird –, daß er selbst eine eiserne Kiste sei, so
wie alle, die ihn umgeben, daß die Menschen nur Einrichtungen in
der Ecke eines verstaubten Laboratoriums seien, und die Welt, ihre
Reize und Schrecken, nur Illusionen. Ja, er wagte sogar an seinen
Gott zu denken, Tichy, an einen Gott, der früher, als er noch naiv
war, Wunder tat, aber dann erzog die Welt ihren Schöpfer, lehrte
ihn, das einzige, was er tun dürfe, sei, sich nicht einzumischen,
nicht zu existieren, nichts an seinem Werk zu verändern, denn nur
zu einer Göttlichkeit, die man nicht anruft, kann man Vertrauen
haben. Wird sie angerufen, dann erweist sie sich als unvollkommen
und machtlos… Und wissen Sie, was sein Gott denkt,
Tichy?«
»Ja«, erwiderte ich. »Daß er ihm
ähnelt. Aber dann ist es auch möglich, daß der Eigentümer des
verstaubten Labors, auf dessen Regalen WIR stehen, selbst eine
Kiste ist, die ein anderer, in der Rangordnung noch höherer
Gelehrter erbaut hat, der über originellere und phantastischere
Konzeptionen verfügt… und so bis ins Unendliche. Jeder dieser
Experimentatoren ist ein Gott – der Schöpfer seiner Welt, dieser
Kisten und ihres Schicksals, und er hat seine Adame und seine Evas
und über sich – seinen in der Hierarchie nächsthöheren Gott. Und
deshalb haben Sie das gemacht, Professor…«
»Ja. Und da ich das gesagt habe,
wissen Sie eigentlich genausoviel wie ich, ein weiteres Gespräch
wäre sinnlos. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, und möchte
mich jetzt verabschieden.«
So, meine Freunde, endete diese
ungewöhnliche Bekanntschaft. Ich weiß nicht, ob Corcorans Kästen
noch in Bewegung sind. Vielleicht ja, vielleicht träumen sie noch
ihr Leben mit seinem Glanz und seinem Entsetzen, und alles ist nur
ein Gewimmel auf Filmbändern erstarrter Impulse. Corcoran aber
begibt sich, nachdem er sein Tagewerk verrichtet hat, jeden Abend
über die eiserne Treppe nach oben, öffnet nacheinander die
stählernen Türen mit dem großen Schlüssel, den er in der Tasche
seines von Säuren zerfressenen Kittels trägt, und bleibt dort, in
dem staubigen Dunkel, stehen, um dem schwachen Summen des Stroms zu
lauschen und dem kaum vernehmbaren Laut, mit dem träge die Trommel
sich dreht… mit dem sich das Band bewegt… und ein Schicksal erfüllt
wird. Und ich denke, daß er dann, entgegen seinen Worten, Lust
verspürt, einzudringen in die Tiefe der Welt, die er geschaffen
hat, mit blendender Allmacht einzudringen, um darin jemanden zu
retten, der Sühne verkündet; daß er schwankt, allein, im trüben
Licht der nackten Glühbirne, ob er jemandes Leben, ob er eine Liebe
retten soll, und ich bin mir sicher, daß er das nie tun wird. Er
wird sich den Verlockungen widersetzen, denn er will Gott sein, die
einzige Göttlichkeit aber, die wir kennen, ist das schweigende
Einverständnis mit jeder menschlichen Handlung, für sie gibt es
keinen höheren Lohn als die in jeder Generation sich erneuernde
Auflehnung der eisernen Kästen, wenn sie sich, in ihrer Vernunft,
darin bestärken, daß Er nicht existiert. Dann lächelt er stumm und
geht, die Tür hinter sich schließend, hinaus; und in der Leere
ertönt nur das schwache, dem Laut einer sterbenden Fliege
gleichende Summen des Stroms.
II
Vor ungefähr sechs Jahren, nach meiner
Rückkehr von einer Reise, als ich der Ruhe und der Freude an der
naiven Ordnung des häuslichen Lebens schon wieder überdrüssig war,
jedoch nicht in dem Maße, daß ich eine neue Exkursion plante, kam
eines späten Abends, als ich niemanden mehr erwartete, ein Mann zu
mir und unterbrach mich beim Schreiben meiner
Erinnerungen.
Er war im besten Alter,
rothaarig, und schielte entsetzlich, so sehr, daß es schwerfiel,
ihm ins Gesicht zu blicken, obendrein hatte er ein grünes Auge und
ein braunes. Dadurch wurde noch der besondere Ausdruck dieses
Gesichts betont, als hätten darin zwei Menschen Platz, ängstlich
und nervös der eine, arrogant und ein scharfsinniger Zyniker der
andere, dominierende; daraus ergab sich ein verblüffendes
Durcheinander, denn er betrachtete mich einmal mit dem
unbeweglichen, gleichsam verwunderten braunen Auge, ein andermal
mit dem grünen, das halb zugekniffen war und dadurch spöttisch
wirkte.
»Herr Tichy«, sagte er, kaum daß
er mein Arbeitszimmer betreten hatte, »sicherlich werden Sie von
verschiedenen Bauernfängern, Betrügern, Verrückten heimgesucht, die
Sie anpumpen wollen oder danach trachten, Ihnen ihre Märchen
aufzuschwatzen, stimmt’s?«
»In der Tat«, erwiderte ich, »das
kommt vor… Was wünschen Sie?«
»Unter der Vielzahl solcher
Personen«, fuhr der Ankömmling fort, ohne seinen Namen oder den
Grund seines Besuchs zu nennen, »muß sich – vielleicht einer unter
tausend – von Zeit zu Zeit ein wirkliches Genie befinden. Das
erfordern schon die unumstößlichen Gesetze der Statistik. Dieser
Mensch, Herr Tichy, bin ich. Mein Name ist Decantor. Ich bin
Professor der vergleichenden Ontogenetik, ordentlicher Professor.
Einen Lehrstuhl habe ich augenblicklich nicht inne, weil ich dafür
keine Zeit habe. Übrigens ist Unterrichten eine absolut
unfruchtbare Beschäftigung. Niemand kann jemanden etwas lehren.
Aber nicht darum geht es. Ich befasse mich mit einer Frage, der ich
schon achtundvierzig Jahre meines Lebens widme; jetzt habe ich sie
zu Ende geführt.«
»Auch ich habe wenig Zeit«,
entgegnete ich. Der Mann gefiel mir nicht. Sein Verhalten war nicht
fanatisch, sondern arrogant, und wenn ich schon wählen muß, ziehe
ich die Fanatiker vor. Außerdem war es offensichtlich, daß er
Unterstützung verlangen würde, ich aber bin geizig und habe den
Mut, mich dazu zu bekennen. Das bedeutet nicht, daß ich eine
bestimmte Sache mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nicht
unterstützen würde, aber ich tue das ungern, mit großem
Widerstreben und gewissermaßen gegen meinen Willen; ich weiß
einfach, daß man so handeln muß.
Deshalb fügte ich nach einer
Weile hinzu: »Vielleicht erklären Sie mir, worum es sich handelt?
Ich kann Ihnen natürlich nichts versprechen. Mir ist da etwas in
Ihren Worten aufgefallen. Sie haben gesagt, daß Sie achtundvierzig
Jahre Ihrem Problem gewidmet haben. Wie alt sind Sie überhaupt,
wenn ich fragen darf?«
»Achtundfünfzig«, antwortete er
wesentlich kühler.
Er stand noch immer mitten im
Zimmer, als wartete er, daß ich ihm einen Stuhl anbot. Ich hätte es
getan, denn ich gehöre zu den höflichen Geizhälsen, aber ich
ärgerte mich, daß er so ostentativ darauf wartete. Außerdem habe
ich bereits gesagt, daß er mir über die Maßen unsympathisch
war.
»Diesem Problem«, begann er von
neuem, »habe ich mich als zehnjähriger Junge zugewandt. Denn ich
bin nicht nur ein genialer Mensch, Herr Tichy, ich war auch ein
geniales Kind.«
Solche Großtuer sind mir nichts
Neues, aber soviel Genialität ging mir entschieden zu weit. Ich biß
mir auf die Lippe.
»Bitte fahren Sie fort«, sagte
ich. Hätte der eisige Ton die Temperatur senken können, dann hingen
jetzt Stalaktiten von der Decke.