»Aber was redest du, ehrenwerter Indiote!« rief ich aus. »Es hätte doch genügt, die Fabriken in gemeinschaftliches Eigentum zu überführen, und die Neuen Maschinen wären ein Segen für euch geworden!«
  Kaum hatte ich das gesagt, da erbebte der Indiote, ließ ängstlich blinzelnd seine zehn Augen in die Runde schweifen und wackelte mit den Ohrlöffeln, forschend, ob nicht irgendeiner meine Worte gehört habe.
  »Bei den Zehn Nasen Indas, ich flehe dich an, Fremdling, mache dich nicht zum Sprecher dieser entsetzlichen Ketzereien, die einen schändlichen Anschlag auf unsere unveräußerlichen Freiheiten bedeuten! Wisse denn, unser höchstes Gesetz, genannt Prinzip der freien Initiative, besagt, daß niemand zu einer Sache genötigt, gezwungen oder auch nur veranlaßt werden darf, die er nicht wünscht. Wer hätte da gewagt, den Erlauchten die Fabriken zu nehmen, wenn es ihr Wille war, sich des Eigentümerstandes zu erfreuen? Das wäre die schlimmste Knebelung der Freiheit gewesen, die man sich vorstellen kann. So produzierten dann, wie gesagt, die Neuen Maschinen Mengen maßlos billiger Waren und vorzüglicher Lebensmittel, aber die Minderlinge kauften überhaupt nichts, denn sie hatten kein Geld…«
  »Aber, mein lieber Indiote«, rief ich aus, »du willst doch nicht behaupten, die Minderlinge handelten aus freien Stücken so? Wo blieben da eure Freiheit, eure Bürgerrechte?«
  »Ach, teurer Fremder«, erwiderte der Indiote seufzend, »die Rechte blieben weiter unangetastet, aber sie besagen ja auch nur, daß der Bürger mit seiner Habe und seinem Geld machen kann, was ihm beliebt, aber nicht, woher er beides nehmen soll. Die Minderlinge wurden von niemandem unterdrückt, keiner übte Zwang auf sie aus, im Gegenteil, sie waren völlig frei und konnten tun und lassen, was sie wollten; statt aber diese uneingeschränkte Freiheit zu genießen, starben sie wie die Fliegen… Die Lage verschlimmerte sich zusehends; in den Magazinen stapelten sich Berge von Waren, die keiner kaufte, und in den Straßen irrten ziellos Schwärme schattenähnlicher Minderlinge umher. Der den Staat regierende Hohe Durinal, die ehrenwerte Versammlung der Spiriten und Erlauchten, tagte ein Jahr lang in Permanenz, um Abhilfe zu schaffen. Seine Mitglieder hielten endlose Reden und suchten mit großem Eifer nach einem Ausweg aus dem Dilemma, aber ihre Bemühungen schlugen fehl. Gleich zu Beginn der Beratungen verlangte ein Mitglied des Durinals, der Autor des bekannten Werkes ›Vom Wesen der indiotischen Freiheiten‹, man solle von dem Konstrukteur der Neuen Maschinen den goldenen Lorbeerkranz zurückfordern und ihm neun Augen ausstechen. Dem widersetzten sich die Spiriten, die im Namen des Großen Inda um Erbarmen für den Erfinder flehten. Vier Monate lang beratschlagte der Durinal darüber, ob der Konstrukteur durch die Erfindung der Neuen Maschinen gegen die Gesetze verstoßen habe oder nicht. Die Versammlung zerfiel in zwei Lager, die einander verbissen bekämpften. Schließlich setzte ein Brand im Archiv dem Streit ein Ende; alle Sitzungsprotokolle wurden vernichtet, und da von den hohen Mitgliedern des Durinals keiner mehr wußte, welchen Standpunkt er in dieser Frage vertreten hatte, fiel die ganze Angelegenheit unter den Tisch. Danach kam der Plan auf, man solle die Erlauchten, die Eigentümer der Fabriken, davon abbringen, weiter Neue Maschinen zu produzieren; der Durinal setzte zu diesem Behufe eine gemischte Kommission ein, aber weder ihre Bitten noch ihr Flehen zeitigten einen Erfolg. Jene entgegneten nämlich, daß die Neuen Maschinen billiger und schneller arbeiteten als die Minderlinge und es ihr Lieblingswunsch sei, auf diese Weise zu produzieren. Der Hohe Durinal tagte weiter. Ein Gesetzentwurf lag vor, der eine geringe Beteiligung der Minderlinge an den Einnahmen des Fabrikbesitzers vorsah, doch auch diese Novelle wurde verworfen, denn eine solche Gratiszuteilung von Existenzmitteln hätte – wie der Erzspirit Nolab mit Recht betonte – die Seelen der Minderlinge demoralisiert und erniedrigt. Mittlerweile wurden die Warenberge höher und höher, bis sie zu guter Letzt über die Fabrikmauern hinauswuchsen, während sich die hungerleidenden Minderlinge davor zusammenrotteten und Drohungen ausstießen. Vergebens suchten ihnen die Spiriten geduldig klarzumachen, daß sie damit gegen die Staatsgesetze verstießen und sich erdreisteten, Indas unerforschlichen Fügungen Widerstand zu leisten, sie sollten lieber ihr Los in Demut tragen, denn durch Abtötung des Fleisches würden sich ihre Seelen in unermeßliche Höhen emporschwingen, und der himmlische Lohn wäre ihnen gewiß. Die Minderlinge jedoch stellten sich taub gegen die weisen Worte, und so mußten zur Bändigung ihrer bösen Triebe bewaffnete Hüter eingesetzt werden.
  Da berief der Hohe Durinal den gelehrten Erfinder der Neuen Maschinen vor sein Angesicht und richtete folgende Worte an ihn: ›Gelehrter Mann! Unserem Staatswesen droht höchste Gefahr, denn unter den Massen der Minderlinge werden aufrührerische, verbrecherische Gedanken verbreitet. Sie sollen unsere herrlichen Freiheiten untergraben und das Prinzip der freien Initiative zunichte machen! Wir müssen alle unsere Kräfte zum Schutze der Freiheit aufbieten. Nach reiflicher Erwägung sämtlicher Faktoren sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß wir diesem Problem nicht gewachsen sind. Selbst der tugendhafteste und vollkommenste Indiote läßt sich von Gefühlen leiten, schwankt gelegentlich und neigt zu Irrtümern; er kann es daher nicht wagen, in einer so komplizierten und zugleich so bedeutsamen Angelegenheit zu entscheiden. Aus diesem Grunde sollst du uns innerhalb von sechs Monaten eine Maschine zum Regieren bauen, die präzis und streng logisch, völlig objektiv argumentiert und keinen Schwankungen, Emotionen oder Ängsten ausgesetzt ist, wie sie gemeinhin die Tätigkeit des belebten Verstandes so stark beeinträchtigen. Wir verlangen von dir eine Maschine, die so unparteiisch ist wie das Licht der Sonne und der Sterne. Wenn du sie gebaut und in Gang gesetzt hast, wollen wir ihr die Staatsgeschäfte aufbürden, denn für unsere abgekämpften Rücken ist die Last zu schwer.‹
  ›So sei es, Hoher Durinal‹, sagte der Konstrukteur, ›doch welches soll das grundlegende Arbeitsprinzip der Maschine sein?‹
  ›Selbstverständlich das Prinzip der freien staatsbürgerlichen Initiative. Die Maschine darf den Bürgern weder gebieten noch verbieten; gewiß, sie kann unsere Daseinsbedingungen ändern, aber das muß stets in Form von Vorschlägen geschehen, indem sie uns Möglichkeiten präsentiert, unter denen wir nach Belieben wählen können.‹
  ›So soll es geschehen, Hoher Durinal‹, erwiderte der Konstrukteur, ›doch dieses Gebot betrifft hauptsächlich die Arbeitsmethoden, ich aber frage nach dem Endzweck. Wonach soll die Maschine streben?‹
  ›Chaos droht unserem Staat, Verwirrung und Mißachtung der Gesetze greifen um sich. Aufgabe der Maschine ist es, die höchste Harmonie auf dem Planeten einzuführen und eine vollkommene und absolute Ordnung zu gewährleisten.‹
  ›Es sei, wie ihr befehlt!‹ entgegnete der Erfinder. ›In sechs Monaten baue ich euch den Freiwilligen Propagator der Absoluten Ordnung. Lebt wohl! Ich schreite nun zur Tat…‹
  ›Einen Augenblick noch!‹ rief einer von den Erlauchten, ›Die Maschine, die du zu konstruieren hast, soll nicht nur vollendet, sondern auch angenehm arbeiten, das heißt, ihre Produkte müssen wohltuend wirken und selbst das verwöhnte ästhetische Empfinden befriedigen…‹
  Der Erfinder verneigte sich stumm und entfernte sich. Nach angestrengter Arbeit, bei der ihm ein ganzer Schwarm intelligenter Assistenten zur Seite stand, war die Regiermaschine fertig – da siehst du sie als kleinen dunklen Fleck am Horizont, Fremdling. Sie ist ein gigantischer Komplex von imposanten Eisenzylindern, in denen es unausgesetzt brodelt und glüht. Der Tag ihrer Inbetriebnahme wurde ein großer Staatsfeiertag, der älteste Erzspirit weihte sie feierlich ein, wonach ihr der Hohe Durinal die Staatsgewalt übertrug. In diesem Augenblick stieß der Freiwillige Propagator der Absoluten Ordnung einen schrillen Pfeifton aus und machte sich ans Werk.
  Sechs Tage lang arbeitete die Maschine ohne Pause, tags ballten sich über ihr die Rauchwolken, nachts glomm Feuerschein ringsum. Der Boden zitterte im Umkreis von hundertsechzig Meilen. Dann öffneten die Zylinder ihre Schlünde und gaben Scharen von kleinen schwarzen Automaten frei, die – wie Enten watschelnd – über den ganzen Planeten ausschwärmten und in die entlegensten Winkel drangen. Wo immer sie anlangten, sammelten sie sich vor den Fabriklagern und forderten liebenswürdig und leicht verständlich alle möglichen Waren, die sie unverzüglich bezahlten. Im Laufe einer Woche waren die Lager geleert, und die Erlauchten Fabrikbesitzer konnten erleichtert aufatmen: ›Fürwahr, eine vortreffliche Maschine hat uns der Konstrukteur da gebaut!‹ In der Tat, es war bewundernswert, wie jene Automaten die erworbenen Gegenstände zu nutzen wußten: Sie kleideten sich in Brokat und Atlas, salbten sich Achsen und Gelenke mit den ausgesuchtesten Kosmetika, rauchten Tabak, lasen Bücher, wobei sie über traurigen synthetische Tränen vergossen, ja, sie waren sogar imstande, die mannigfaltigsten Leckerbissen zu verschlingen – freilich nur zum Nutzen der Produzenten; selbst hatten sie nichts davon, denn sie wurden elektrisch angetrieben. Lediglich die Massen der Minderlinge zeigten nicht die geringste Begeisterung, im Gegenteil, ihr Murren wurde immer lauter. Die Erlauchten indes warteten voller Zuversicht, daß die Maschine weitere Schritte unternähme.
  Es dauerte auch nicht lange, da stapelte sie riesige Vorräte an Marmor, Alabaster, Granit, Bergkristallen sowie Kupferbarren, Säcke voll Gold, Silber und Jaspistafeln, und dann errichtete sie unter entsetzlichem Klappern und Qualmen ein Gebäude, wie es keines Indioten Auge je gesehen hatte – es ist das Regenbogenschloß hier vor dir, Fremder!«
  Ich schaute hin. Die Sonne blickte gerade hinter einer Wolke hervor, und ihre Strahlen spiegelten sich in den geschliffenen Wänden, die sie in saphirblaue und leuchtend rote Flammen spalteten; Regenbogenbänder schienen um die Erker und Bastionen zu flattern, und das Dach, von schlanken Türmchen verziert und ganz mit goldenen Schindeln gedeckt, brannte lichterloh. Ich genoß dieses herrliche Schauspiel in vollen Zügen, indes der Indiote mit seinem Bericht fortfuhr.
  »Die Kunde von diesem wundersamen Bauwerk verbreitete sich mit Windeseile über den ganzen Planeten. Ströme von Pilgern wallfahrten aus den fernsten Ländern herbei. Als die Massen unübersehbar den Anger füllten, klappte die Maschine ihre metallenen Lippen auf und sprach: ›Am ersten Tage des Monats Schäl chen werde ich das Jaspisportal des Regenbogenschlosses öffnen, und dann kann jeder Indiote, gleich, ob berühmt oder nicht, aus freien Stücken hineingehen und alles probieren, was seiner harrt. Bis zu diesem Zeitpunkt wollet jedoch freiwillig eure Neugier bezähmen, ebenso wie ihr sie dann freiwillig werdet stillen können.‹
  In der Tat, am ersten Schälchen ließen Fanfarenstöße die Luft erzittern, und das Schloßtor öffnete sich mit dumpfem Knall. Die Menge wälzte sich hinein in einem Strom, dreimal so breit wie die gepflasterte Straße, die unsere beiden Hauptstädte Debilia und Morona miteinander verbindet. Den lieben langen Tag ergossen sich Massen von Indioten ins Schloß, aber auf dem Anger wurden ihrer nicht weniger, denn immer neue zogen aus dem Lande heran. Die Maschine ließ sie von den schwarzen Automaten bewirten, die sich durchs Gedränge schlängelten, um erfrischende Getränke und nahrhafte Speisen herumzureichen. So liefen die Dinge etwa fünfzehn Tage. Tausende, Zehntausende, Millionen von Indioten strömten in das Regenbogenschloß, doch keiner kam je zurück.
  Dieser oder jener zwar wunderte sich, was das zu bedeuten habe und wie ganze Volksmassen so ohne weiteres verschwinden könnten, aber solche vereinzelten Stimmen gingen unter im Tongebraus der Marschmusik; die Automaten flitzten, tränkten die Dürstenden und speisten die Hungrigen, die silbernen Uhren an den Türmen des Schlosses schnurrten ihr Glöckchenspiel, und wenn die Nacht hereinbrach, funkelten die Kristallfenster im strahlenden Lampenschein. Endlich lichteten sich die Reihen der wartenden Massen; nur noch wenige hundert Personen harrten geduldig auf der Marmortreppe, daß auch sie eingelassen würden. Da erscholl plötzlich ein Entsetzensschrei, der selbst die rhythmischen Trommelwirbel übertönte. ›Verrat! Hört alle her! Der Palast ist kein Wunderding, sondern eine teuflische Falle! Rette sich, wer kann! Verderben! Verderben!‹
  ›Verderben!‹ rief die Menge von der Treppe, machte auf der Stelle kehrt und stob auseinander. Niemand behinderte ihre Flucht.
  In der folgenden Nacht schlichen sich ein paar Minderlinge vors Schloß. Als sie zurückkehrten, berichteten sie, die hintere Palastwand hätte sich leise geöffnet, und ungezählte Stöße glänzender Scheiben seien herausgefallen. Die schwarzen Automaten hätten sich darüber hergemacht und sie auf die Felder geschafft, um sie dort in verschiedenen Mustern und Figuren anzuordnen.
  Als die Spiriten und Erlauchten, die früher im Durinal gesessen hatten, das hörten – sie waren nicht zum Schloß gegangen, da sie es für unschicklich hielten, sich unter den Straßenmob zu mischen –, beriefen sie sogleich eine Versammlung ein und ließen den gelehrten Konstrukteur holen, damit er das Rätsel löse. Statt seiner erschien jedoch sein Sohn, der mit mürrischer Miene eine ziemlich große durchsichtige Scheibe vor sich herrollte.
  Die Erlauchten, die vor Ungeduld und Empörung schäumten, schmähten den abwesenden Gelehrten und bedachten ihn mit den schwersten Beschimpfungen. Nun überhäuften sie den Jüngling mit Fragen und verlangten eine Erklärung, welches Geheimnis das Regenbogenschloß berge und was die Maschine mit den eingekehrten Indioten getan habe.
  ›Untersteht euch, das Andenken meines Erzeugers zu beschmutzen!‹ antwortete der Jüngling entrüstet. ›Er hat die Maschine genau nach euren Bedürfnissen und Vorschriften konstruiert; als er sie aber in Gang setzte, wußte er ebensowenig wie wir, wie sie reagieren würde – der beste Beweis dafür ist, daß er das Regenbogenschloß als einer der ersten betreten hat.‹
  ›Und wo steckt er jetzt?‹ schrie der Durinal wie ein Mann.
  ›Hier‹, erwiderte der Jüngling betrübt und wies auf die glänzende Scheibe. Dann sah er die Greise trotzig an und entfernte sich ungehindert, wobei er den verwandelten Vater vor sich herrollte.
  Die Mitglieder des Durinals bebten vor Zorn und Angst; doch schließlich kamen sie zu der Überzeugung, daß die Maschine wohl nicht wagen würde, ihnen Böses zu tun. Also stimmten sie die Hymne der Indioten an und zogen, im Geiste gefestigt, gemeinsam vor die Stadt, wo sie sich vor dem Geschöpf aus Eisen aufbauten.
  ›Ruchlose‹, rief der Älteste der Erlauchten aus, ›du hast uns hintergangen und unsere Gesetze mit Füßen getreten! Lege sofort deine Kessel und Schrauben still! Wage nicht, weiter in dieser ungesetzlichen Weise zu verfahren! Sprich, was hast du mit dem Volk der Indioten getan, die wir dir anvertraut haben?‹
  Kaum hatte er geendet, da schaltete die Maschine ihr Triebwerk aus. Der Qualm zerflatterte am Himmel, es wurde still; dann öffneten sich die metallenen Lippen, und eine Donnerstimme dröhnte: ›Erlauchte und Spiriten! Ich, Herrscher über die Indioten, von euch selbst ins Leben gerufen, muß euch sagen, daß mich euer liederliches Denken und die Unvernunft eurer Vorwürfe sehr verdrießen! Anfangs habt ihr verlangt, daß ich Ordnung schaffe, und wenn ich dann zur Tat schreite, erschwert ihr mir die Arbeit! Drei Tage schon steht das Schloß leer; völliger Stillstand ist eingetreten, und keiner kommt mehr vor das Jaspisportal. Das ist Sabotage an meinem Werk. Ich versichere euch jedoch, daß ich nicht ruhen werde, bevor es vollbracht ist!‹
  Bei diesen Worten erzitterte der ganze Durinal wie ein Mann und rief: ›Von solcher Ordnung sprichst du, Ruchlose! Was hast du im Widerspruch zu den Landesgesetzen mit unseren Brüdern und unseren Nächsten getan?‹
  ›Was für eine dumme Frage!‹ entgegnete die Maschine. ›Welche Ordnung ich meine? Schaut euch doch an! Wie unordentlich sind eure Körper gebaut; Extremitäten ragen heraus; manche sind groß, andere klein, manche dick, andere mager… Eure Bewegungen sind chaotisch, ihr bleibt unmotiviert stehen, gafft Blumen oder Wolken an, treibt euch ziellos in den Wäldern umher! In dem Ganzen steckt nicht für einen Groschen mathematische Harmonie! Ich, der Freiwillige Propagator der Absoluten Ordnung, mache aus euren schwanken, kraftlosen Leibern solide, schöne, dauerhafte Gestalten, aus denen ich dann symmetrische, fürs Auge angenehme Muster und Formen von unvergleichlichem Ebenmaß zusammenstelle, um auf dem Planeten so die Elemente vollendeter Harmonie einzuführen…‹
  ›Du Ungeheuer!‹ schrien Spiriten und Erlauchte. ›Du wagst es, uns ins Verderben zu stürzen! Du trittst unsere Gesetze mit Füßen, rottest uns aus, tötest uns!‹
  Die Maschine knirschte nur geringschätzig und antwortete: ›Ich habe ja gesagt, daß ihr nicht einmal imstande seid, logisch zu denken. Natürlich achte ich eure Gesetze und Freiheiten. Ich schaffe Ordnung, ohne Zwang auszuüben oder Gewalt anzuwenden. Wer nicht wollte, hat das Regenbogenschloß ja nicht betreten; jeden aber, der es betreten hat – und ich wiederhole: Er hat es aus Privatinitiative getan –, habe ich verwandelt und dabei die Materie seines Körpers so vortrefflich umgeformt, daß er in seiner neuen Gestalt Äonen überdauern wird. Dafür kann ich mich verbürgen.‹
  Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann gelangte der Durinal in einer Flüsterberatung zu dem Schluß, daß die Gesetze tatsächlich nicht übertreten worden seien und die Sache so übel nicht sei, wie es zunächst schien. ›Wir hätten ein solches Verbrechen niemals begangen‹, meinten die Erlauchten, ›aber die Maschine trägt ja die Verantwortung dafür. Sie hat Unmassen von Minderlingen verschlungen, die zu allem bereit waren; jetzt aber können wir überlebenden Erlauchten uns im Verein mit den Spiriten eines ewigen Friedens erfreuen und die unerforschlichen Fügungen des Großen Inda lobpreisen. Und um das Regenbogenschloß‹, sagten sie, ›werden wir einen weiten Bogen schlagen, dann kann uns nichts geschehen.‹
  Schon wollten sie auseinandergehen, da ließ sich die Maschine von neuem vernehmen: ›Merkt euch, was ich euch jetzt sagen werde. Ich muß das begonnene Werk zu Ende führen. Aber ich habe nicht die Absicht, einen von euch zu irgendwelchen Handlungen zu nötigen, zu überreden oder zu verleiten; die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative bleibt euch weiter überlassen; doch ich will euch nicht verhehlen, daß jeder, der seinen Nachbarn, seinen Bruder, seinen Bekannten oder einen anderen Nahestehenden auf die Stufe der Kreisförmigen Harmonie erhoben zu sehen wünscht, nur die schwarzen Automaten herbeizurufen braucht. Sie erscheinen unverzüglich und führen den Betreffenden auf seinen Befehl zum Regenbogenschloß. So, das wäre alles.‹
  Stille trat ein. Erlauchte und Spiriten beäugten einander ängstlich in jäh erwachtem Mißtrauen. Da ergriff der Erzspirit Nolab das Wort – die Stimme zitterte ihm vor Erregung – und suchte der Maschine klarzumachen, daß es ein fürchterlicher Irrtum sei, zu glauben, sie müsse alle zu glänzenden Fladen verarbeiten, um damit die Äcker zu bestreuen; das dürfe nur geschehen, wenn der Wille des Großen Inda es gebiete. Um diesen jedoch zu erkennen und zu deuten, brauchte es viel Zeit. Und er schlug der Maschine vor, ihr Vorhaben um siebzig Jahre zu verschieben.
  ›Unmöglich‹, erwiderte die Maschine, ›ich habe schon den genauen Arbeitsplan für die Zeit entworfen, da der letzte Indiote umgewandelt sein wird; seid gewiß, ich werde dem Planeten das herrlichste Los bereiten, das vorstellbar ist: ein Dasein ohne Harmonie, die, wie ich meine, auch deinem Inda gefallen würde, den ich leider nicht näher kenne. Könntet ihr ihn nicht auch in mein Regenbogenschloß bringen?‹
  Sie stockte, denn der Anger war gähnend leer. Erlauchte und Spiriten hatten sich in ihre Häuser verkrochen, wo sich ein jeder in den eigenen vier Wänden Meditationen über sein künftiges Schicksal hingab. Und je länger er überlegte, desto größer wurde sein Entsetzen: Jeder einzelne fürchtete nämlich, sein Nachbar oder irgendein Bekannter, der ihm nicht wohlgesonnen sei, werde die Automaten auf ihn hetzen, und er sah keine andere Rettung, als jenem anderen zuvorzukommen. So störte bald Geschrei die nächtliche Stille. Mit angstverzerrten Gesichtern rissen die Erlauchten die Fenster auf und stießen verzweifelte Rufe in die Finsternis, und schon erscholl auf den Straßen das Trappeln der eisernen Automaten. Die Söhne ließen ihre Väter ins Schloß abführen, die Großväter die Enkel, der Bruder gab den Bruder preis, und so schmolzen in einer Nacht Tausende von Erlauchten und Spiriten zu dem kleinen Häuflein zusammen, das du, fremder Wanderer, hier vor dir siehst. Der Morgen erblickte Felder, die mit Myriaden von harmonisch gefügten Mustern aus glänzenden Scheiben be deckt waren, der letzten Spur unserer Schwestern, Frauen und Verwandten. Zu Mittag ließ die Maschine grollend ihre Stimme ertönen: ›Genug! Mäßiget vorerst euren Eifer, ihr Erlauchten und ihr letzten der Spiriten. Ich schließe die Tore des Schlosses – nicht für lange Zeit, das verspreche ich. Mir sind nämlich die Muster ausgegangen, die ich zur Verbreitung der Absoluten Ordnung präpariert hatte, ich muß mir erst neue überlegen, und dann könnt ihr weiter nach eurem freien, uneingeschränkten Willen verfahren.‹«
  Bei diesen Worten sah mich der Indiote mit großen Augen an und schloß leise: »Das war vor zwei Tagen… Jetzt sind wir hier versammelt und warten…«
  »O würdiger Indiote!« rief ich aus und glättete dabei meine Haare, die mir vor Entsetzen zu Berge standen. »Das ist ja eine furchtbare und kaum glaubhafte Geschichte! Sage mir doch um alles in der Welt, warum habt ihr euch nicht gegen dieses mechanische Ungeheuer aufgelehnt, das euch völlig ausgerottet hat, warum habt ihr euch zwingen lassen…«
  Der Indiote fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen. Seine Haltung drückte höchsten Zorn aus.
  »Schmähe uns nicht, Wanderer!« schrie er. »Du redest leichtfertig, drum will ich dir verzeihen… Bedenke alles wohl, was ich dir erzählt habe, und du gelangst untrüglich zu der richtigen Schlußfolgerung, daß sich die Maschine an die Prinzipien der freien Initiative hält und dem Volk der Indioten, so seltsam es scheinen mag, einen guten Dienst erwiesen hat, denn es gibt keine Ungerechtigkeit dort, wo ein Gesetz existiert, das die höchste Freiheit kündet, und welcher Ehrenmann zöge die Beschränkung der Freiheiten dem Ruhm…«
  Er konnte seinen Gedanken nicht zu Ende entwickeln, denn ein entsetzliches Kreischen wurde hörbar. Das Jaspisportal öffnete sich majestätisch. Dieser Anblick riß die Indioten von ihren Plätzen, und sie strebten eiligst die Treppe hinauf.
  »Indiote! Indiote!« schrie ich, aber mein Gastfreund winkte mir nur noch einmal zu und rief: »Habe keine Zeit mehr!«, stürmte in Riesensätzen den anderen hinterdrein und war flugs im Schloß verschwunden.
  Eine ganze Weile stand ich verloren da, bis ich eine Kolonne schwarzer Automaten erspähte, die an die Schloßmauer trippelten, die Klappe öffneten und eine lange Reihe herrlich in der Sonne blitzender Scheiben herausrollten. Sie trudelten sie aufs freie Feld, und dort gingen sie daran, die noch unvollendeten Muster durch Figuren zu ergänzen. Das Schloßportal stand noch immer offen. Ich trat einige Schritte näher heran, um einen Blick zu riskieren, aber schaudernd ließ ich es sein.
  Die Maschine tat ihre metallenen Lippen auf und forderte mich auf einzutreten.
  »Ich bin doch kein Indiot«, entgegnete ich, machte auf der Stelle kehrt und begab mich eilends zu meiner Rakete. Eine Minute später manövrierte ich bereits an den Steuerknüppeln, mit atemberaubender Geschwindigkeit himmelwärts klimmend.






FÜNFUNDZWANZIGSTE REISE




Eine der Hauptverkehrsadern für Raketen im Sternbild des Großen Bären verbindet die Planeten Mutria und Latris miteinander. Unterwegs umgeht sie Tairien, eine steinige Kugel, die bei den Reisenden den schlimmsten Ruf genießt, und zwar wegen der Schwärme von Felsblöcken, die sie umkreisen. Diese Gegend bietet ein Bild des Chaos und des Schreckens, die Scheibe des Planeten ist nur mit Mühe und Not durch die Steinwolken hindurch zu erkennen, wo es unausgesetzt blitzt und brodelt von zusammenrasselndem Gestein.
  Einige Jahre ist es her, da tauchten unter den Piloten, die zwischen der Mutria und der Latris kursieren, Berichte von scheußlichen Gebilden auf, die unvermittelt aus den Staubwolken um Tairien hervorschießen, die Raketen überfallen, sie mit ihren langen Fühlern umspannen und in ihre finsteren Gelege hinabzuziehen suchen. Anfangs kamen die Passagiere mit einem kleinen Schrecken davon. Etwas später aber verbreitete sich die Nachricht, daß jene Dinger einen Reisenden angefallen hätten, der im Raumanzug oben auf seiner Rakete seinen Nachmittagsspaziergang absolvierte. Daran war vieles übertrieben, jener Reisende nämlich – ein guter Bekannter von mir – hatte sich Tee über den Skaphander gegossen und hängte diesen zum Trocknen aus der Luke; in dem Augenblick torkelten sonderbare, schlaksige Gebilde heran und huschten mit dem Raumanzug von dannen.
  Schließlich herrschte auf den umliegenden Planeten solche Empörung, daß eine Sonderexpedition die Umgebung Tairiens durchforschen mußte. Einige ihrer Teilnehmer behaupteten, in den Wolken Tairiens schlangenhafte, krakenähnliche Gebilde wahrgenommen zu haben, diese Angaben wurden jedoch nicht überprüft, und so kehrte die Expedition nach einem Monat auf die Latris zurück – unverrichteterdinge, da sie sich nicht in die finsteren Regionen der Tairienwolken gewagt hatte. Hernach wurden noch andere Expeditionen gestartet, aber keine brachte irgendeinen Anhaltspunkt.
  Zu guter Letzt machte sich ein bekannter Sternalpinist, der tollkühne Ao Murbras, mit zwei Hunden – ebenfalls in Raumanzügen – auf die Reise, um die rätselhaften Wesen zu jagen. Fünf Tage später kam er, bis zum äußersten erschöpft, allein zurück. Wie er berichtete, waren vor Tairien plötzlich unzählige Gebilde aus dem Nebel getaucht, die ihn und seine Hunde mit ihren Greifarmen umschlangen; der tapfere Jäger zog das Messer, hieb blindlings drauflos und vermochte sich so aus den tödlichen Umarmungen zu retten, denen die Hunde indessen erlagen. Seine Schutzkleidung wies innen wie außen Spuren des Kampfes auf, und an einigen Stellen klebten grüne Fetzen wie von faserigen Strünken. Ein gelehrtes Kollegium untersuchte diese Überreste gewissenhaft und kam zu dem Schluß, es seien Fragmente eines vielzelligen Organismus, der auf der Erde wohlbekannt sei; es handele sich namentlich um Solanum tuberosum, ein vielsamiges Knollengewächs mit unterbrochen unpaarig fiederteiligen Blättern, das die Spanier im sechzehnten Jahrhundert aus Amerika nach Europa gebracht hätten. Allein diese Nachricht erhitzte die Gemüter sehr, kaum zu schildern aber war die Erregung, als jemand die gelehrten Ergüsse in die Umgangssprache übersetzte. Demnach hatte Murbras nämlich Reste von Kartoffelkraut auf seinem Raumanzug mitgebracht!
  Der brave Sternalpinist, zutiefst gekränkt, weil er vier Stunden lang gegen Kartoffeln gekämpft haben sollte, forderte das Kollegium auf, diese schändliche Verleumdung zu widerrufen, doch die Gelehrten weigerten sich, auch nur einen Buchstaben zurückzunehmen. Es herrschte allgemeine Empörung. Bald standen zwei Parteien einander gegenüber: die Kartofflisten und die Antikartofflisten. Sie breiteten sich zunächst über den Kleinen, dann auch über den Großen Bären aus; die Widersacher bewarfen sich mit den schwersten Beschimpfungen. All das verblaßte indessen vor dem Theater, als sich die Philosophen in den Streit einmengten. Aus England, Frankreich, Australien, Kanada und den Vereinigten Staaten eilten die prominentesten Theoretiker der Erkenntnislehre und Vertreter der reinen Vernunft herbei, und das Ergebnis ihrer Anstrengungen war verblüffend.
  Nach gründlicher Untersuchung des Problems kamen die Physikalisten zu dem Schluß: Wenn sich zwei Körper A und B bewegen, so könne das entweder heißen, A bewege sich im Verhältnis zu B oder aber B bewege sich im Verhältnis zu A. Da die Bewegung also ein relativer Begriff sei, könne es ebensogut heißen, daß sich der Mensch im Verhältnis zur Kartoffel, wie auch daß sich die Kartoffel im Verhältnis zum Menschen bewege. Somit sei die Frage, ob sich Kartoffeln bewegen können, sinnlos, und das ganze Problem ein scheinbares, das heißt, es existiere überhaupt nicht.
  Die Semantiker sagten, alles hänge davon ab, wie man die Worte »Kartoffel«, »ist« und »beweglich« verstehe. Da der Schlüssel dazu die operative Kopula »ist« sei, müsse diese exakt untersucht werden. Und sie gingen daran, eine Enzyklopädie der Kosmischen Semasiologie abzufassen, wobei sie in den ersten vier Bänden die operative Bedeutung des Wortes »ist« erörterten.
  Die Neopositivisten behaupteten, daß nicht Kartoffelknäuel unmittelbar gegeben seien, sondern Knäuel von Sinnesempfindungen – und sie schufen daraufhin logische Symbole, die »Empfindungsknäuel« sowie »Kartoffelknäuel« bezeichneten, stellten eine Satzrechnung aus lauter algebraischen Zeichen auf und gelangten, nachdem sie ein ganzes Meer von Tinte verschrieben hatten, zu dem mathematisch exakten und über jeden Zweifel erhabenen Ergebnis 0=0.
  Die Thomisten verkündeten, Gott habe die Naturgesetze erschaffen, um Wunder vollbringen zu können, denn das Wunder sei ein Verstoß gegen ein Naturgesetz, und wo es kein Gesetz gebe, da gebe es auch nichts, wogegen man verstoßen könne. Im vorliegenden Fall bewegten sich die Kartoffeln, wenn der Wille des Herrn dies geböte, aber es sei noch zu klären, ob das nicht ein Streich der verruchten Materialisten sei, die ja danach strebten, die Kirche in Mißkredit zu bringen; so müsse also der Spruch des höchsten Vatikankollegiums abgewartet werden.
  Die Neokantianer sagten, die Dinge seien Schöpfungen des Geistes und somit nicht erkennbar; wenn der Geist die Idee einer beweglichen Kartoffel geschaffen habe, dann müsse die bewegliche Kartoffel wohl existieren. Doch dies wäre nur der erste Eindruck, denn unser Geist sei ebensowenig erkennbar wie seine Bildungen; daher könne man nichts Genaues wissen.
  Die Holisten-Pluralisten-Behavioristen-Physikalisten sagten, daß – wie aus der Physik wohlbekannt – die Gesetzmäßigkeit in der Natur nur statistisch sei. Ebenso wie man den Weg eines einzelnen Elektronenteilchens nicht mit absoluter Genauigkeit vorhersagen könne, stehe auch nicht mit absoluter Gewißheit fest, wie sich eine einzelne Kartoffel verhalten werde. Die bisherigen Beobachtungen lehrten zwar, daß millionenmal der Mensch derjenige gewesen sei, der die Kartoffeln gerodet habe, es sei aber nicht ausgeschlossen, daß es einmal auf eine Milliarde Fälle auch umgekehrt geschehen könne, nämlich daß die Kartoffel den Menschen rode.
  Professor Urlipan, der einsame Denker, unterzog alle diese Schlußfolgerungen einer vernichtenden Kritik. Er stellte fest, daß der Mensch keinerlei Sinneseindrücke empfange, denn niemand nehme zum Beispiel die Sinnesempfindung eines Tisches wahr, außer dem Tisch selbst; da andererseits bekannt sei, daß über die Außenwelt nichts bekannt sei, so gebe es weder äußere Gegenstände noch Sinnesempfindungen. »Es gibt nichts«, verkündete Professor Urlipan. »Und wenn jemand anderer Ansicht ist, so irrt er.« Über die Kartoffeln lasse sich also nichts sagen, aber aus einem ganz anderen Grunde, als die Neokantianer behaupteten.
  Während nun Urlipan unbeirrt weiterarbeitete, ohne sein Haus zu verlassen, vor dem die Antikartofflisten mit faulen Kartoffeln lauerten – denn die Leidenschaft hatte die Geister umnachtet –, erschien auf der Szene – oder genauer: landete auf der Latris – Professor Tarantoga. Ohne der fruchtlosen Zwistigkeiten zu achten, beschloß er, das Geheimnis sine ira et studio zu ergründen, wie es einem echten Gelehrten zukommt. Er eröffnete seine Nachforschungen mit einem Besuch auf dem Nachbarplaneten, wo er Informationen von den Bewohnern einholte. Auf diese Weise erfuhr er, daß die rätselhaften Gebilde unter folgenden Namen bekannt waren: Tüffkes, Knollen, Erdäppel, Nieren, Erpeln, Krumpern, Arbern, Trüffel, Potacken, Arpun, Grundbirnen, Rundchen, Schocken, Bataten, Tataters, Kataken, Hollandsche, Tartuffeln. Das gab ihm zu denken, denn, wie aus Wörterbüchern ersichtlich, sind diese Bezeichnungen Synonyme unserer gemeinen Kartoffel.
  Mit bewundernswerter Beharrlichkeit und unvermindertem Eifer stieß Tarantoga zum Kern des Problems vor und hatte in fünf Jahren bereits eine Theorie beisammen, die eine erschöpfende Erklärung lieferte.
  Vor langer Zeit rammte ein für die Kolonisten auf der Latris bestimmter Kartoffeltransporter ein Meteorenriff. Ein Leck entstand, und die Ladung fiel heraus. Der Transporter wurde losgeschweißt und mit Rettungsraketen auf die Latris bugsiert, wonach die Geschichte in Vergessenheit geriet. Die in Tairien gelandeten Kartoffeln keimten indes und wuchsen, doch waren ihre Existenzbedingungen unerhört schwer, denn aus der Höhe hagelte es häufig Gesteinsbrocken, die die jungen Triebe zermalmten und selbst ganze Pflanzen abtöteten. Infolgedessen blieben von allen Erdäpfeln nur die umsichtigsten erhalten, jene nämlich, die sich einzurichten und geeignet zu schützen wußten. Die auf diese Weise geborene Sorte der schlauen Kartoffeln gedieh immer üppiger. Nach mehreren Generationen wurden die Kartoffeln der seßhaften Lebensweise überdrüssig, rodeten sich selbst und nomadisierten von da an. Zugleich büßten sie vollends die typische Sanftmut und Trägheit der irdischen Kartoffeln ein, die durch fürsorgliche Obhut und Zucht domestiziert worden waren: Sie verwilderten zusehends und nahmen schließlich einen unberechenbaren, räuberischen Charakter an. Bekanntlich gehört die Kartoffel, Solanum tuberosum, zur Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae), genauso wie die Tollkirsche; es ist wie mit der Abstammung des Hundes: Läßt man ihn in den Wald, dann kann er wieder ein reißender Wolf werden. Das gleiche geschah nun mit den Kartoffeln in Tairien. Als es ihnen auf dem Planeten zu eng wurde, trat eine neue Krise ein; die tatendurstige junge Kartoffelgeneration wollte etwas Außergewöhnliches, für Pflanzen völlig Neues vollbringen. Die Strünke gen Himmel gereckt, bemerkten sie die dort schwebenden Felsblöcke und faßten den Entschluß, sich da oben anzusiedeln.
  Es führte zu weit, wollte ich hier Professor Tarantogas Theorie lückenlos zitieren, etwa wie die Kartoffeln durch Flattern mit ihren Blättern fliegen lernten, sich dann über die Atmosphäre Tairiens hinaus erhoben, um sich schließlich auf dem Gestein niederzulassen, das den Planeten umkreiste. Das wurde ihnen insofern leicht, als sie sich wegen ihres pflanzlichen Stoffwechsels längere Zeit im luftleeren Raum aufhalten konnten, denn sie kamen ohne Sauerstoff aus und schöpften ihre Lebensenergie aus Sonnenstrahlen. Zu guter Letzt fielen sie vor Übermut die Raketen an, die sich auf ihrer Route dem Planeten näherten.
  Jeder andere Forscher hätte an Tarantogas Stelle diese glänzende Hypothese veröffentlicht und sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht, der Professor aber gönnte sich keine Ruhe, bevor er wenigstens eine solche Raubkartoffel gefangen hatte.
  So folgte also der theoretischen Lösung die praktische, und die bot nicht weniger Schwierigkeiten. Es war bekannt, daß die Erdäpfel in den Felsspalten lauerten und daß es glatten Selbstmord bedeutet hätte, sich auf der Suche nach ihnen in das bewegliche Labyrinth der dahinsausenden Blöcke zu wagen. Überdies hatte Tarantoga keineswegs die Absicht, eine Kartoffel nur zu schießen; er wollte ein lebendes Exemplar haben, unversehrt und im Vollbesitz seiner Kräfte. Eine Zeitlang erwog er sogar den Plan, eine Treibjagd zu veranstalten, ließ jedoch davon ab und begnügte sich mit einer ganz neuen Idee, die seinen Namen berühmt machen sollte. Er beschloß, die Kartoffeln zu ködern. Zu diesem Zweck kaufte er in einem Lehrmittelgeschäft auf der Latris den größten Globus, dessen er habhaft werden konnte – eine schön lackierte Kugel von sechs Meter Durchmesser –, erwarb ferner größere Mengen Ho nig, Schusterpech und Fischleim, vermischte alles zu gleichen Teilen und bestrich mit der gewonnenen Substanz den Globus. Dann nahm er ein langes Seil und band ihn hinten an seine Rakete, worauf er in Richtung Tairien abflog. Als er in Reichweite der Felsströmung angekommen war, verbarg er sich im Saum des nächstgelegenen Nebelflecks und warf den Strick mit dem Köder aus. Der springende Punkt, auf dem der ganze Plan fußte, war die maßlose Neugier der Kartoffeln. Etwa eine Stunde später deutete ein leichtes Zittern an, daß etwas herbeischwebte. Tarantoga beugte sich behutsam vor und sah mehrere Kartoffelstauden – strünkeschüttelnd und mit den Knollen langsam rudernd – auf den Globus zusteuern. Sie hielten ihn offenbar für einen unbekannten Planeten. Nach einer Weile faßten sie Mut, ließen sich nieder und waren angeleimt. Der Professor zog den Globus heran, vertäute ihn am Heck der Rakete und segelte in Richtung Latris davon.
  Es läßt sich kaum beschreiben, mit welcher Begeisterung man den wackeren Forscher empfing. Die Kartoffeln, die auf den Leim gegangen waren, wurden samt dem Globus in einen Käfig gesperrt und öffentlich ausgestellt. Rasend vor Wut und Angst, peitschten sie mit ihren Strünken die Luft und stampften mit den Knollen, doch das half ihnen nichts.
  Als sich das gelehrte Kollegium tags darauf zu Tarantoga begab, um ihm ein Ehrendiplom und die Große Verdienstmedaille zu verleihen, war der Professor schon fort. Nachdem er sein Werk so rühmlich gekrönt hatte, war er mit unbekanntem Ziel aufgebrochen.
  Ich allerdings wußte über den Anlaß dieser plötzlichen Abreise Bescheid. Tarantoga hatte es so eilig, weil er sich in neun Tagen auf der Coerulea mit mir treffen wollte. Ich wieder raste zu dem Zeitpunkt gerade vom entgegengesetzten Ende der Milchstraße dem genannten Planeten zu. Wir hatten vor, den bisher unerforschten Arm der Galaxis, der sich hinter dem dunklen Orionnebel erstreckt, gemeinsam zu bereisen. Ich kannte den Professor noch nicht persönlich, und da mir daran lag, in den Ruf eines verläßlichen und pünktlichen Partners zu gelangen, suchte ich die ganze Kraft aus meiner Rakete herauszuholen – aber mir kam, wie es oft geschieht, wenn man sich besonders beeilen will, auch diesmal etwas Unvorhergesehenes in die Quere. Ein winziger Meteor hatte meinen Brennstofftank durchschlagen, geriet ins Auspuffrohr und verstopfte es. Ohne viel nachzudenken, legte ich den Raumanzug an und stieg, mit Werkzeug und einer starken Taschenlampe bewehrt, aus der Kabine. Während ich den Meteor mit der Zange entfernte, stieß ich versehentlich gegen die Lampe; die trudelte davon und begann selbständig durch den Weltenraum zu segeln. Ich machte das Loch im Tank dicht und begab mich wieder in die Kabine. Der Taschenlampe konnte ich jetzt nicht nachjagen, denn fast der ganze Treibstoffvorrat war mir ausgelaufen; mit Müh und Not erreichte ich noch den nächsten Planeten – es war Prozytien.
  Die Prozyten sind vernunftbegabte Wesen und sehen uns sehr ähnlich; der einzige, übrigens geringfügige Unterschied besteht darin, daß ihre Beine nur bis an die Knie reichen, darunter haben sie Rädchen, die nicht etwa künstlich sind, sondern wirklich einen Teil des Körpers darstellen. Die Prozyten bewegen sich also sehr geschwind und anmutsvoll daher, Varietestars auf Einrädern vergleichbar. Ihr Wissen ist umfassend, besonderer Gunst aber erfreut sich bei ihnen die Astronomie; das Beobachten der Gestirne ist so beliebt, daß sich dort kein Passant, ob jung oder alt, jemals von seinem Handfernrohr trennt. Zur Zeitmessung werden ausschließlich Sonnenuhren benutzt, ja, es gilt als schwerer Verstoß gegen die Moral, wenn jemand in der Öffentlichkeit eine mechanische Uhr hervorholt. Die Prozyten haben auch verschiedene zivilisatorische Einrichtungen. Ich weiß noch, als ich zum erstenmal dort war, nahm ich an einem Bankett zu Ehren ihres berühmten Astronomen, des alten Maratilitec, teil. Ich unterhielt mich mit ihm über ein astronomisches Problem. Ein Wort gab das andere, der Professor opponierte, und schließlich wurde das Streitgespräch in so heftigem Ton geführt, daß der Greis mich fast mit seinen Blicken durchbohrte und jeden Moment vor Wut zu platzen drohte. Plötzlich stand er auf und verließ hastig den Raum. Fünf Minuten später kam er wieder und setzte sich neben mich, sanft lächelnd und friedlich wie ein Kind. Hinterher erkundigte ich mich neugierig, was denn diesen jähen Stimmungswandel verursacht habe.
  »Wie bitte?« erwiderte der Gefragte. »Du weißt es nicht? Der Professor hat die Tobine benutzt.«
  »Was ist denn das?«
  »Es hängt mit ›Austoben‹ zusammen. Wenn einer sich ärgert oder auf jemand wütend ist, geht er in eine mit Korkmatratzen ausgelegte Kabine und läßt dort seinen Gefühlen freien Lauf.«




  Als ich jetzt auf Prozytien landete, erblickte ich schon aus der Luft große Volksmassen in den Straßen. Lampions wurden geschwenkt, und frohes Geschrei scholl zu mir herauf. Ich überließ meine Rakete der Aufsicht des Bodenpersonals und begab mich in die Stadt. Wie ich erfuhr, wurde gerade die Entdeckung eines Sterns gefeiert, der vergangene Nacht am Himmel aufgetaucht war. Das gab mir zu denken, und als mich Maratilitec nach herzlicher Begrüßung an seinen mächtigen Refraktor einlud, begriff ich – kaum hatte ich mein Auge am Objektiv –, daß der angebliche Stern ganz einfach meine Taschenlampe war, die im Weltraum schwebte. Statt es den Prozyten mitzuteilen, beschloß ich leichtsinnigerweise, zu tun, als wäre ich ein besserer Astronom als sie.
  Ich überschlug also kurz, wie lange die Batterie reichen würde, und verkündete sodann vor den Versammelten, daß der neue Stern sechs Stunden lang weiß, danach gelb und zuletzt rot leuchten werde, um schließlich ganz zu verlöschen. Die Vorhersage stieß auf allgemeinen Unglauben, und der alte Maratilitec rief in seiner charakteristischen Hitzköpfigkeit, er wolle seinen eigenen Bart verschlucken, wenn dies einträfe.
  Der Stern begann in der von mir vorausgesagten Zeit schwächer zu werden, und als ich am Abend im Observatorium aufkreuzte, fand ich eine Schar betrübter Assistenten vor: Maratilitec hatte sich, zutiefst in seinem Stolz verletzt, im Arbeitszimmer eingeschlossen, um sein voreilig gegebenes Versprechen in die Tat umzusetzen. Besorgt wegen der möglichen gesundheitsschädlichen Folgen, die daraus erwachsen könnten, suchte ich mich mit ihm durch die Tür zu verständigen. Als ich das Ohr ans Schlüsselloch hielt, vernahm ich Geräusche, die die Worte der Assistenten bestätigten. In höchster Verwirrung schrieb ich einen Brief, worin alles erklärt war, übergab ihn den Assistenten mit der Bitte, ihn dem Professor gleich nach meinem Abflug auszuhändigen, und raste zum Flugplatz. Ich mußte so handeln, da ich nicht sicher war, ob der Professor die Tobine aufsuchen würde, ehe er sich mit mir aussprach.
  Ich verließ Prozytien überstürzt um ein Uhr nachts; den Treibstoff hatte ich völlig vergessen. Nach etwa einer Million Kilometer waren die Tanks plötzlich leer, und ich irrte als kosmischer Schiffbrüchiger auf meinem bewegungsunfähigen Vehikel durch das Nichts. Und nur drei Tage trennten mich von meiner verabredeten Begegnung mit Tarantoga.
  Coerulea strahlte, durchs Fenster gut sichtbar, kaum dreihundert Millionen Kilometer von mir entfernt, während ich in ohnmächtiger Wut zu ihr aufschaute. In der Tat ein Schulbeispiel dafür, daß kleine Ursachen oft große Wirkungen haben.
  Eine Stunde gab ich mich so den schwärzesten Gedanken hin, da bemerkte ich einen Planeten unter mir, der allmählich größer wurde; mein Gefährt, seiner Anziehungskraft passiv ausgeliefert, flog immer schneller, schließlich jagte es dahin wie ein fallender Stein. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und setzte mich ans Steuer. Der Planet war ziemlich klein und öde, aber anheimelnd; ich entdeckte Oasen mit vulkanischer Beheizung und fließendem Wasser. Es gab eine ganze Menge Vulkane hier; sie spien pausenlos Flammen und Rauchsäulen gen Himmel. An meiner Steuerung hantierend, schwebte ich bereits in der Atmosphäre, bemüht, die Geschwindigkeit zu bremsen, so gut es ging, doch das schob lediglich den Absturz hinaus, statt ihn zu verhindern. Als ich so über eine Anhäufung von Vulkanen dahinflog, durchfuhr mich ein Gedanke. Einen Augenblick Schwanken – und ich faßte den verzweifelten Entschluß, richtete den Schnabel der Rakete abwärts und sauste wie der Blitz geradenwegs in den unter mir klaffenden größten Vulkan. Der glühende Schlund verschlang mich. Da riß ich das Steuer im letzten Moment so geschickt herum, daß ich das Projektil mit der Spitze nach oben bekam, und ließ mich in den brausenden Lavaabgrund fallen. Ich riskierte viel, doch mir blieb kein anderer Weg. Ich rechnete damit, daß der Vulkan auf den heftigen Aufprall der Rakete mit einer Eruption reagieren würde – und hatte mich nicht geirrt. Ein Donnerschlag, von dem schier die Wände barsten, und dann schleuderte es mich mitten in einem meilenlangen Feuer- und Lavastrahl in den Himmel. Mein Steue rungsmanöver gelang mir ausgezeichnet: Ich hielt genauen Kurs auf die Coerulea.
  Drei Tage später landete ich an Ort und Stelle, nur zwanzig Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt. Aber Tarantoga fand ich nicht mehr vor; er war abgeflogen und hatte lediglich postlagernd einen Brief hinterlassen.

»Lieber Kollege«, schrieb er, »die Umstände zwingen mich, sofort abzureisen, ich schlage daher vor, daß wir in dem noch unerforschten Gebiet zusammenkommen; da die Gestirne dort bis jetzt keine Namen haben, gebe ich Ihnen einige Daten zur Orientierung: Sie fliegen zunächst geradeaus, biegen dann hinter der blauen Sonne nach links und hinter der nächsten, orangeroten, nach rechts ab. Dort werden Sie vier Planeten finden, und auf dem dritten von links wollen wir uns treffen. Ich warte!
Ihr ergebener
Tarantoga.«

  Ich tankte und startete in der Dämmerung. Eine Woche dauerte die Reise, und als ich in die unbekannten Regionen eingedrungen war, folgte ich getreu den Hinweisen des Professors und fand so mühelos die genannten Sterne. Am frühen Morgen des achten Tages erblickte ich den verabredeten Planeten. Die massive Kugel schien mit einem zottigen grünen Pelz bedeckt; es waren immense Tropenwälder. Dieser Anblick dämpfte meine Freude ein wenig, denn wie sollte ich Tarantoga hier finden? Ich vertraute jedoch auf seinen Scharfsinn – und hatte mich nicht verrechnet. Während ich schnurstracks auf den Planeten zusauste, erblickte ich um elf Uhr vormittags auf seiner nördlichen Hemisphäre undeutliche Konturen, die meinen Atem stocken ließen.
  Ich pflege stets den jungen, unerfahrenen Astronauten einzuschärfen: Wenn euch einer erzählt, er habe beim Herannahen an einen Planeten dessen Namen gelesen, dann glaubt ihm nicht; es ist ein simpler kosmischer Witz. Diesmal aber saß ich in der


Klemme, denn vor dem Hintergrund der grünen Wälder zeichnete sich sichtbar die Aufschrift ab:


»Konnte nicht warten. Treffpunkt nächster Planet. Tarantoga.«


  Die Buchstaben waren kilometerlang, anders hätte ich sie gar nicht bemerken können. Fassungslos vor Staunen und Neugier, wie der Professor diese gigantischen Lettern wohl zustande gebracht habe, ließ ich mich tiefer hinab. Da erkannte ich, daß die Buchstabenlinien aus breiten, von den unberührten Flächen deutlich abstechenden Schneisen bestanden, in denen die Bäume niedergewalzt und zermalmt waren.
  Ohne das Rätsel gelöst zu haben, flitzte ich laut Anweisung zum nächsten Planeten, der bewohnt und zivilisiert war. Gegen Abend setzte ich auf. Vergebens bemühte ich mich, auf dem Flugplatz Auskunft über den Verbleib Tarantogas zu erhalten; auch diesmal erwartete mich statt seiner ein Brief.

»Lieber Kollege, tragen Sie es mir nicht nach, daß ich Ihnen wieder eine Enttäuschung bereiten muß: Eine unaufschiebbare Familienangelegenheit zwingt mich, nach Hause zu fahren. Um Sie ein wenig zu entschädigen, hinterlege ich im Hafenbüro ein Paket, das Sie bitte abholen wollen; es birgt die Früchte meiner jüngsten Forschungen. Sicherlich möchten Sie wissen, wie ich auf dem vorigen Planeten die schriftliche Nachricht für Sie hinterlassen konnte. Das war ganz einfach. Dieser Himmelskörper durchlebt gewissermaßen gerade seine Karbonepoche und wird von gewaltigen Echsen bewohnt, darunter den schrecklichen Atlantosauriern, die vierzig Meter Länge erreichen. Ich landete also auf dem Planeten, schlich an eine große Herde Atlantosaurier heran und reizte diese so lange, bis die Tiere sich auf mich stürzten. Nunmehr rannte ich durch den Wald, in der Absicht, mit meinem Fluchtweg die Buchstaben zu umreißen. Die Herde schnob hinter mir her und riß die Bäume um. Auf diese Weise entstand eine achtzig Meter breite Straße. Es war einfach, aber ziemlich anstrengend, denn ich mußte mehr als dreißig Kilometer zurücklegen, und das im Eiltempo.

  Indem ich herzlich bedaure, daß es uns auch diesmal nicht vergönnt war, uns persönlich kennenzulernen, drücke ich Ihre wackere Hand und verbleibe mit der größten Hochachtung vor Ihren Tugenden und Ihrem Wagemut.
                                                     Tarantoga P. S. Ich rate Ihnen dringend, das Abendkonzert in der Stadt zu besuchen, es ist vorzüglich. T.«

  Im Büro nahm ich das Paket in Empfang und ließ es ins Hotel schaffen, indes ich mich in die Stadt begab. Sie bot einen recht interessanten Anblick. Der Planet rotiert mit solcher Geschwindigkeit, daß sich der Wechsel von Tag und Nacht jeweils im Stundenabstand vollzieht. Dadurch entsteht eine Zentrifugalkraft, die bewirkt, daß ein Lot nicht senkrecht hängen kann, wie auf der Erde, sondern in einer Neigung von fünfundvierzig Grad. Alle Häuser, Türme und Mauern, überhaupt sämtliche Bauwerke ragen unter einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Bodenfläche auf, was dem menschlichen Auge ziemlich ungewöhnlich vorkommt. Die Häuser der einen Straßenseite legen sich gewissermaßen auf den Rücken, während sich die der anderen vorbeugen und über ihnen hängen. Um Gleichgewicht zu halten, haben die Einwohner infolge der natürlichen Anpassung ein kürzeres und ein längeres Bein; der Mensch dagegen muß beim Gehen ständig ein Bein anziehen, was auf die Dauer ermüdet und erhebliche Schmerzen verursacht. Ich kam also nur langsam voran und erreichte das Konzertgebäude erst in dem Augenblick, als die Saaltüren geschlossen wurden. Eilends kaufte ich noch eine Karte und schlüpfte hinein.
  Kaum saß ich, da klopfte der Dirigent mit dem Stab ans Pult, und alles wurde still. Die Mitglieder des Orchesters begannen sich emsig mit ihren Instrumenten zu beschäftigen, die mir übrigens unbekannt waren; sie glichen Trompeten, die gelocht waren wie Gießkannentüllen. Der Dirigent hob emphatisch die vorderen Gliedmaßen oder breitete sie aus, als wollte er damit »piano« gebieten, meiner jedoch bemächtigte sich wachsende Unruhe, denn ich vernahm nicht den leisesten Ton.
  Verstohlen blickte ich um mich und sah, wie sich Ekstase auf den Gesichtern meiner Nachbarn malte; in höchster Verwirrung versuchte ich mir diskret die Ohrmuscheln zu reinigen, aber auch das half nicht. Schließlich glaubte ich schon, das Gehör verloren zu haben, und tippte sacht mit einem Fingernagel auf den anderen, jedoch dieses leise Geräusch hörte ich ganz deutlich. So saß ich denn, ohne zu wissen, was ich von dem ganzen Theater halten sollte, und verfolgte mit Staunen die allgemeinen Anzeichen ästhetischer Befriedigung, bis das Werk zu Ende war. Donnernder Applaus prasselte, der Dirigent verneigte sich, klopfte von neuem, und das Orchester nahm den nächsten Teil der Sinfonie in Angriff. Alles um mich war begeistert; ich hörte vielfaches Schniefen und hielt das für einen Ausdruck tiefer Rührung. Schließlich setzte das stürmische Finale ein – ich erkannte dies an den heftigen Ausbrüchen des Dirigenten und dem perlenden Schweiß, der den Musikanten von der Stirne troff. Wieder dröhnender Applaus. Mein Nachbar redete mich an und äußerte seine Anerkennung über die Sinfonie und ihre Darbietung. Ich antwortete irgend etwas Ungereimtes und schlich fassungslos hinaus.
  Als ich bereits fünfzig Schritt von dem Gebäude entfernt war, drängte es mich, einen Blick auf die Fassade zu werfen. Wie die anderen, so neigte auch sie sich im spitzen Winkel über die Straße; am Giebel prangte in Riesenlettern die Aufschrift: »Städtisches Olfaktorium«, darunter klebten Programmplakate. Ich las:

MOSCHUSSINFONIE
von ODONTRON
I Präludium odoratum
II Allegro aromatoso
III Andante olens

Es dirigiert a. G.
der namhafte Nasist
HRANTR



  Ich stieß einen heftigen Fluch aus und lief stracks ins Hotel. Daß ich um das ästhetische Erlebnis gekommen war, machte ich Tarantoga nicht zum Vorwurf, konnte er doch nicht ahnen, daß mich noch immer der Schnupfen von der Satellina plagte.
  Um mich über die Enttäuschung hinwegzutrösten, schnürte ich im Hotel sogleich das Paket auf. Es enthielt ein Filmvorführgerät mit Tonanlage, eine Filmspule sowie einen Brief folgenden Inhalts:

»Lieber Kollege!
Gewiß erinnern Sie sich noch an unser Telefongespräch, das wir miteinander führten – Sie vom Kleinen und ich vom Großen Bären aus. Damals äußerte ich die Vermutung, es müsse Wesen geben, die unter hohen Temperaturen auf heißen, halbflüssigen Planeten leben können, und sagte, daß ich in dieser Richtung Nachforschungen anzustellen gedächte. Sie geruhten Ihre Zweifel am Erfolg eines solchen Vorhabens zu äußern. Nun liegen die Beweise vor Ihnen. Ich suchte mir einen feurigen Planeten aus, näherte mich ihm per Rakete auf die kürzestmögliche Entfernung und ließ dann eine hitzebeständige Filmkamera nebst feuerfestem Mikrofon an einem langen Asbestseil hinunter; auf diese Weise gelang es mir, viele interessante Aufnahmen zu machen. Ich erlaube mir, meinem Brief eine kleine Kostprobe beizufügen.
Ihr ergebener
Tarantoga.«

Mich überkam eine so unmäßige Wißbegier, daß ich – kaum hatte ich den Brief durchgelesen – den Film in den Vorführapparat legte, ein Laken aus meinem Bett zog und es vor die Tür hängte. Dann verdunkelte ich den Raum und setzte den Projektor in Gang. Zunächst flimmerten nur bunte Flecke auf der improvisierten Leinwand, begleitet von einem Knacken, das sich wie Bersten von Holzscheiten im Ofen anhörte; dann wurde das Bild schärfer.

  Die Sonne versank am Horizont. Über die zitternde Fläche des Ozeans huschten winzige bläuliche Flammen. Die feuerroten Wolken erblaßten, und die Dämmerung wurde immer dichter. Schon leuchteten schwach die ersten Sterne. Der junge Kralos, müde von dem Tagestreiben, hatte soeben seinen Bolzen verlassen, um einen Abendspaziergang zu machen. Er hatte Zeit; gleichmäßig bewegten sich seine Kiemhalme, indes er genießerisch die frischen duftenden Schwaden glühenden Ammoniaks einatmete. Da näherte sich jemand, kaum sichtbar in der sinkenden Nacht. Kralos strengte sein Brenzel an, erschnupperte den Freund jedoch erst, als dieser dicht vor ihm stand.
  »Ein schöner Abend, nicht wahr?« sagte Kralos. Sein Freund trat von einer Stütztube auf die andere und meinte, indes er zur Hälfte aus dem Feuer tauchte: »Schön fürwahr. Der Salmiak trägt heuer reiche Früchte, weißt du?«
  »Ja, es verspricht eine gute Ernte zu werden.«
  Kralos rekelte sich behäbig, wälzte sich auf den Bauch, riß alle Blinker auf und starrte in die Sterne.
  »Weißt du, mein Lieber«, sagte er nach einer Weile, »wenn ich so zum Nachthimmel aufschaue, dann werde ich das Gefühl nicht los, daß es dort oben in weiter Ferne andere Welten gibt, ähnlich der unseren, die ebenfalls von vernünftigen Wesen bewohnt werden…«
  »Wer redet hier von Vernunft?« scholl es aus der Nähe. Beide Jünglinge kehrten ihre Rücken in jene Richtung, um den Ankömmling in Augenschein zu nehmen, und erblickten die knorrige, aber noch rüstige Gestalt Flaments. Der greise Gelehrte wandelte mit majestätischen Bewegungen; seine künftige Nachkommenschaft, die wie Weintrauben aussah, schwoll bereits an und ließ die ersten Keime auf seinen breiten Schultern sprießen.
  »Ich habe von vernunftbegabten Wesen gesprochen, die andere Welten bevölkern…«, antwortete Kralos, wobei er die Flossen ehrerbietig zum Gruß hob.
  »Kralos schwätzt von vernünftigen Wesen auf anderen Welten?« fragte der Gelehrte verwundert. »Seht mal an! Auf anderen Welten! Ach, dieser Kralos, dieser Kralos. Was treibst du nur, junger Mann? Läßt deiner Phantasie die Zügel schießen? Gewiß… durchaus lobenswert an einem so schönen Abend… Doch es ist merklich kühler geworden, spürt ihr das nicht?«
  »Nein«, antworteten die beiden Jünglinge gleichzeitig.
  »Ja, ja, das junge Feuer, ich weiß! Immerhin sind es kaum achthundertsechzig Grad; ich hätte mir mein Cape aus doppelter Lava umwerfen sollen. Nun ja, das Alter. Du meinst also« – er wandte Kralos den Rücken zu –, »daß auf anderen Welten vernunftbegabte Geschöpfe leben? Wie sollen diese Wesen denn nach deiner Meinung aussehen?«
  »Das läßt sich nicht genau sagen«, erwiderte der Jüngling schüchtern. »Ich glaube, recht unterschiedlich. Wie ich gehört habe, ist es nicht ausgeschlossen, daß auch auf kälteren Planeten lebende Organismen entstehen, und zwar aus einer Substanz, die Eiweiß genannt wird.«
  »Von wem willst du das wissen?« schrie Flament zornig.
  »Von Implos, dem jungen Biochemiestudenten, der…«
  »Sag lieber, dem jungen Narren!« brauste Flament auf. »Leben aus Eiweiß? Lebewesen aus Eiweiß? Schämst du dich nicht, diesen Unfug in Gegenwart deines Lehrers zu verbreiten? Das sind die Früchte der Unwissenheit und Arroganz, die heute in erschreckendem Maße um sich greifen! Weißt du, wie man deinen Implos züchtigen sollte? Indem man ihn mit Wasser bespritzt, jawohl!«
  »Aber ehrwürdiger Flament«, wagte Kralos’ Freund einzuwerfen, »warum forderst du für Implos eine gar so furchtbare Strafe? Möchtest du uns nicht sagen, wie du dir die Lebewesen auf ande ren Planeten vorstellst? Könnten sie nicht eine senkrechte Haltung haben und sich auf den sogenannten Beinen fortbewegen?«
  »Wer hat dir das gesagt?«
  Kralos schwieg verängstigt.
  »Implos«, flüsterte sein Freund.
  »Ach, laßt mich endlich mit diesem Implos und seinen Phantastereien zufrieden!« schrie der Gelehrte. »Beine! Nein wirklich! Als hätte ich nicht vor fünfundzwanzig Flammen mathematisch bewiesen, daß ein zweibeiniges Wesen, sobald man es aufstellt, unweigerlich der Länge nach hinschlagen muß! Ich habe sogar ein Modell und ein Diagramm dazu angefertigt, aber was könnt ihr Faulpelze schon darüber wissen! Wie die vernunftbegabten Wesen anderer Welten aussehen? Ich werde dir diese Frage nicht unmittelbar beantworten, überleg es dir selbst, lerne denken. Zunächst einmal müssen sie Organe zur Aufnahme von Ammoniak besitzen, nicht wahr? Und welches Organ könnte dafür besser geeignet sein als die Kiemhalme? Müssen sie sich in einer Umgebung bewegen, die mit Maßen widerstrebend, mit Maßen warm ist, wie die unsere? Sie müssen, stimmt’s? Na also! Und wie sollten sie das anders tun als mit Stütztuben? Ähnlich werden sich auch die Sinnesorgane formen – die Blinker, Schalen und Quasten. Aber jene Geschöpfe müssen ja nicht nur in ihrem Körperbau uns Quintolen ähnlich sein, auch ihre Lebensweise wird der unseren gleichen. Es ist doch bekannt, daß die Quinte die Grundzelle unseres Familienlebens ist – versuch dir in deiner Phantasie etwas Besseres auszudenken, und du wirst einsehen, dafür verbürge ich mich, daß dir das nicht gelingt! Es ist nun einmal so, um eine Familie zu gründen, um die Nachkommenschaft ins Leben zu rufen, müssen sich Dada, Gaga, Mama, Fafa und Haha verbinden. Umsonst alle Zuneigung, vergebens alle Pläne und Träume, wenn der Vertreter eines dieser fünf Geschlechter fehlt – eine solche Situation, die nun leider im Leben manchmal vorkommt, nennen wir Viererdrama oder unglückliche Liebe… Du siehst also, wenn wir ohne Vorurteile argumentieren, wenn wir uns ausschließlich auf wissenschaftliche Tatsachen stüt zen, den präzisen Apparat der Logik zu Hilfe nehmen und objektiv an die Sache herangehen, dann kommen wir unweigerlich zu dem Schluß, daß jedes vernunftbegabte Wesen einem Quintolen ähnlich sein muß… So. Na, ich hoffe, daß ich euch überzeugt habe…«






ACHTUNDZWANZIGSTE REISE




Schon bald werde ich diese vollgeschriebenen Blätter in ein leeres Sauerstoffäßchen legen und es über Bord werfen, den Tiefen des Alls übergeben, damit es in die schwarze Ferne enteilt, obwohl ich gar nicht damit rechne, daß es jemand finden wird. Navigare necesse est, aber offenbar höhlt diese maßlose Reise sogar meine Widerstandskraft aus. Ich fliege und fliege seit Jahren, und es ist kein Ende abzusehen. Schlimmer noch, die Zeit verwirrt sich, überschneidet sich, ich dringe in irgendwelche Verzweigungen und Fetzen, die außerhalb des Kalenders stehen, da ist weder Zukunft noch Vergangenheit, obwohl es zuweilen nach Mittelalter riecht. Es gibt eine besondere Methode, sich den Verstand in übermäßiger Einsamkeit zu bewahren, die mein Großvater Kosma erfunden hat. Sie besteht darin, daß man sich eine gewisse Anzahl Gefährten ausdenkt, sogar beiderlei Geschlechts, aber dann muß man sich konsequent an sie halten. Mein Vater hatte die Methode ebenfalls angewendet, obwohl sie ziemlich riskant ist. In der Stille hier verselbständigen sich solche Gefährten übermäßig, es gab Ärger und Komplikationen, einige trachteten mir sogar nach dem Leben, und ich mußte kämpfen, die Kajüte war ein wahres Schlachtfeld – von der Methode jedoch konnte ich nicht lassen, schon aus Loyalität gegenüber dem Großvater. Gott sei Dank, nun sind sie gefallen, und ich kann mich eine Weile ausruhen. Ich werde wohl, wie ich es oftmals vorhatte, darangehen, eine bündige Chronik meines Geschlechts zu schreiben, um dort, in den vergangenen Generationen, Kräfte zu schöpfen wie einst Antäus. Der Begründer der Hauptlinie der Tichys war Anonymus, geheimnisumwittert, eng verknüpft mit dem Einsteinschen Paradoxon von den Zwillingen. Einer von ihnen fliegt in den Kosmos, der andere bleibt auf der Erde, und nach der Rückkehr stellt es sich heraus, daß der Zurückkehrende jünger ist als der Zurückgebliebene. Als man den ersten Versuch machte, dieses Paradoxon zu lösen, meldeten sich zwei junge Leute, Kaspar und Hesekiel. Infolge des Durcheinanders beim Start setzte man sie beide in die Rakete. Das Experiment mißlang also, und was das schlimmste war – die Rakete kehrte nach einem Jahr nur mit einem Mann an Bord zurück. Der erklärte voller Trauer, sein Bruder habe sich zu weit hinausgelehnt, als sie über den Jupiter hinwegflogen. Man traute diesen schmerzerfüllten Worten jedoch nicht und klagte ihn, sekundiert von einer wüsten Pressehetze, der Bruderfresserei an. Als Sachbeweis diente der Staatsanwaltschaft ein Kochbuch, das man in der Rakete aufgestöbert hatte, mit einem rot angestrichenen Absatz »Über Pökeln im All«. Dennoch fand sich ein edler und zugleich vernünftiger Mensch, der die Verteidigung des Angeklagten übernahm. Er riet ihm, während des Prozesses nicht den Mund aufzumachen, ganz gleich, was geschehe. So konnte also das Gericht meinen Vorfahren trotz allen bösen Willens nicht verurteilen, denn im Urteilsspruch muß der Vor- und Zuname des Angeklagten angegeben sein. Die alten Chroniken berichten unterschiedlich – die einen, daß er schon vorher Tichy geheißen habe, die anderen, daß das ein Spitzname sei, der sich aus seinem Vorsatz, während der Verhandlung zu schweigen, ableite, denn er bewahrte sein Inkognito bis zu seinem Tode. Das Schicksal dieses meines Urahnen war wenig beneidenswert. Die Verleumder und Lügner, an denen es ja nie gebricht, behaupteten, daß er sich während der Verhandlung jedesmal die Lippen leckte, wenn der Name seines Bruders erwähnt wurde, wobei es die Verleumder gar nicht störte, daß niemand wußte, wer hier wessen Bruder war. Über die weiteren Geschicke dieses Vorfahren weiß ich nicht viel. Er hatte achtzehn Kinder und aus so manchem Ofen Brot gegessen, einige Zeitlang lebte er sogar als Hausierer vom Verkauf von Kinderraumanzügen. Im Alter wurde er Verfertiger neuer Schlußkapitel für literarische Werke. Da dieser Beruf wenig bekannt ist, möchte ich ihn näher erklären. Die Aufgabe bestand darin, jeweils den Schluß zu schreiben, den sich der Verehrer eines bestimmten Romans oder Dramas wünschte. Ein solcher Verfertiger muß, wenn er einen Auftrag übernimmt, sich in die Atmosphäre, in Stil und Geist des Werkes einfühlen, dem er einen neuen, einen anderen Schluß, als ihn der Autor geschrieben hat, hinzufügt. In den Familienarchiven sind einige vollgeschriebene Kladden erhalten, die davon zeugen, welch künstlerische Fähigkeiten der erste Tichy doch besessen hat. Da gibt es Othello-Versionen, in denen Desdemona Othello würgt, oder auch solche, wo sie, er und Jago zusammen leben und sich aneinander freuen. Da gibt es Varianten der Danteschen Hölle, in denen jeweils jene Personen besonderen Qualen ausgesetzt sind, die der betreffende Auftraggeber genannt hat, wobei es nur selten ein tragisches Finale der Autoren durch ein glückliches Ende zu ersetzen galt, häufiger war es umgekehrt. Die reichen Feinschmecker bestellten bei meinem Ahnen Epiloge, in denen im letzten Augenblick nicht die Tugend siegte, sondern, im Gegenteil, das Böse triumphierte. Jene begüterten Auftraggeber waren sicherlich von niedrigen Absichten beseelt, dennoch erzeugte mein Urahn, indem er das ausführte, was man bei ihm bestellte, wahre Kunstwerke und näherte sich, obschon unbeabsichtigt, der Lebenswahrheit mehr als die Autoren der Werke. Er mußte ja für den Unterhalt einer zahlreichen Familie sorgen, also tat er, was er konnte, nachdem ihm aus verständlichen Gründen die Weltraumfliegerei für immer verekelt war. Mit ihm beginnend, erschien in unserem Geschlecht im Verlaufe der Jahrhunderte der Typ des talentierten Menschen, der, in sich gekehrt, mit originellem Geist, mitunter zu Wunderlichkeiten neigend, hartnäckig das einmal gesetzte Ziel verfolgte. Im Familienarchiv fand ich viele Dokumente, die diese charakteristischen Züge bestätigen; eine der Nebenlinien der Tichys scheint in Österreich gelebt zu haben, genauer gesagt, in der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie, denn ich fand unter den Papieren der ältesten Chronik das vergilbte Foto eines stattlichen Jünglings in Kürassieruniform, mit Monokel und gezwirbeltem Schnurrbart, auf der Rückseite versehen mit den Worten »k. u. k. Kyberleutnant Adalbert Tichy«. Von den Taten dieses Kyberleutnants ist mir nur die eine bekannt: daß er – als ein Vorläufer der technischen Mikrominiaturisierung, in Zeiten, da nie mand auch nur davon träumte – den Plan vorgebracht hat, die Kürassiere von Pferden auf Ponys umzusatteln. Bedeutend mehr Materialien sind vorhanden, die über das Leben des Esteban Franz Tichy aussagen, eines brillanten Denkers, der – obwohl ohne Glück im persönlichen Leben – den Plan verfolgte, das Klima der Erde durch Beschütten der Polargebiete mit pulverisiertem Ruß zu verändern. Der geschwärzte Schnee sollte schmelzen, indem er die Strahlen der Sonne absorbierte; die auf diese Weise vom Eis befreiten Gebiete Grönlands und der Antarktis wollte dieser mein Urahn in eine Art Eden für die Menschheit verwandeln. Da er jedoch keine Anhänger für diesen Plan fand, begann er auf eigene Faust Vorräte an Ruß zu sammeln, was zu Ehezwistigkeiten führte und mit einer Scheidung endete. Seine zweite Frau, Eurydike, war die Tochter eines Apothekers, der hinter dem Rücken des Schwiegersohns den Ruß aus den Kellern trug und ihn als Heilkohle verkaufte (carbo animalis). Als man den Apotheker entlarvte, wurde auch der nichtsahnende Esteban Franz der Fälschung von Medikamenten beschuldigt und bezahlte das mit der Konfiszierung seines gesamten Rußvorrats. Von den Menschen tief enttäuscht, starb der Unglückselige vorzeitig. Sein einziger Trost in den letzten Monaten seines Lebens war, daß er den im Winter verschneiten Garten mit Ruß beschüttete und beobachtete, wie daraufhin der Schnee vorzeitig taute. Mein Großvater hat, ihm zum Gedenken, im Garten einen kleinen Obelisk mit einer passenden Inschrift aufgestellt.

  Jener Großvater, Jeremias Tichy, ist einer der hervorragendsten Vertreter unseres Geschlechts. Er wuchs im Hause des älteren Bruders Melchior auf, eines wegen seiner Frömmigkeit berühmten Kybernetikers und Erfinders. Da Melchior keine radikalen Ansichten verfocht, wollte er keineswegs den gesamten Gottesdienst automatisieren, sondern lediglich breitesten Kreisen der Geistlichkeit zu Hilfe kommen. Er konstruierte deshalb ein paar zuverlässige, rasch handelnde und einfach zu bedienende Vorrichtungen, wie den Bannstrahlwerfer, den Exkommunikator und einen besonderen Apparat für Bannsprüche mit Rückwärtsgang (zwecks Wider ruf). Leider fanden seine Arbeiten nicht die Anerkennung derer, für die er so emsig wirkte, mehr noch, sie wurden als ketzerisch verurteilt. Mit der ihm eigenen Großzügigkeit stellte er daraufhin dem lokalen Pfarrer einen Prototyp des Exkommunikators zur Verfügung, um ihm die Erprobung experimentell an sich selbst zu ermöglichen. Leider blieb ihm auch das versagt. Betrübt und enttäuscht, verzichtete er auf weitere Arbeiten in der gewählten Richtung und widmete sich von nun an – in seiner Eigenschaft als Konstrukteur – den östlichen Religionen. Noch heute sind seine elektrifizierten buddhistischen Gebetsmühlen bekannt, vor allem die Modelle mit hoher Umdrehungszahl, die 18000 Gebete in der Minute erreichen.
  Jeremias besaß im Gegensatz zu Melchior nicht einen Funken Friedfertigkeit. Ohne die Schulen abzuschließen, setzte er zu Hause die Studien fort, vornehmlich im Keller, der in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielen sollte. Sein Hauptwesenszug war eine außergewöhnliche Konsequenz. Mit neun Jahren beschloß er, die Allgemeine Theorie von Allem zu schaffen, und nichts konnte ihn daran hindern. Die beträchtlichen Schwierigkeiten, mit denen er seit seiner Jugend zu kämpfen hatte, nahmen nach einem fatalen Verkehrsunfall noch zu (eine Straßenwalze hatte ihm den Kopf plattgedrückt). Aber nicht einmal die Invalidität konnte Jeremias die Philosophie verleiden; er beschloß, ein Demosthenes des Denkens zu werden oder vielmehr ein Stephenson, denn genauso wie der Erfinder der Lokomotive, der sich selbst auch nicht allzuschnell bewegte, aber den Dampf zwang, Räder zu bewegen, gedachte er, die Elektrizität zum Bewegen von Ideen zu zwingen. Dieser Gedanke wird häufig entstellt, indem man sagt, daß er die Losung verkündet habe, man solle die Elektronenhirne schlagen. Jenen Verunglimpfungen zufolge soll sein Ausruf gelautet haben: »Die N-Rechner an die Kandare!« Das ist eine unwürdige Entstellung seiner Gedanken; er hatte einfach das Unglück, mit seinen Auffassungen der Zeit voraus zu sein. Jeremias hatte in seinem Leben viel gelitten. An seine Hauswände wurden Beleidigungen gemalt, in der Art wie »Weibplager« und »Hirnquäler«, die Nach barn zeigten ihn an, daß er die nächtliche Ruhe durch Lärm und Beschimpfungen störe, die angeblich aus dem Keller drangen, sie wagten sogar zu behaupten, daß er einen Anschlag auf das Leben ihrer Kinder führe, indem er vergiftete Bonbons ausstreue. Nun liebte Jeremias tatsächlich Kinder nicht, ähnlich wie Aristoteles, aber die Bonbons waren für die Dohlen bestimmt, die seinen Garten plünderten, wovon die Beschriftungen auf dem Einwickelpapier zeugten. Was die sogenannten Lästerungen betraf, die er angeblich seinen Apparaten beibrachte, so waren das nur Rufe der Enttäuschung, die ihm während der ermüdenden Laborarbeit entfuhren, wenn die Ergebnisse zu gering waren. Gewiß, es war unvorsichtig von ihm, sich in den auf eigene Kosten herausgegebenen Broschüren hemdsärmeliger, sogar gemeiner Ausdrücke zu bedienen, denn die im Text über Elektronensysteme befindlichen Ausdrücke wie »in die Röhre schießen«, »Fleck aufsetzen« oder »Absatz hineinwerfen« konnten den Leser leicht irreführen. Wohl aus Trotz, dessen bin ich sicher, erzählte er eine undurchsichtige Geschichte, derzufolge er immer mit einer Stange ans Programmieren ging. Er zeichnete sich durch Exzentrizität aus, die ihm das Zusammenleben mit seiner Umgebung keineswegs erleichterte; nicht jeder wußte mit seinem Witz etwas anzufangen. (Daher z. B. die Sache mit dem Milchmann und den beiden Briefträgern, die gewiß auch so wahnsinnig geworden wären, infolge erblicher Belastung, um so mehr, als die Skelette auf Rädern waren und die Grube kaum eine Tiefe von zweieinhalb Metern aufwies.) Wer vermag jedoch die gewundenen Wege seines Genies zu verfolgen? Man erzählte sich, er habe ein Vermögen verloren, weil er Elektronenhirne aufkaufte, um sie in kleine Stücke zu zerschlagen. Auf seinem Hof sollen sich ganze Stöße zertrümmerter Apparate getürmt haben. Aber war es seine Schuld, daß die damaligen Elektronenhirne den an sie gestellten Ansprüchen nicht genügten, da sie zu beschränkt und unstabil waren? Wären sie nicht so leicht auseinandergefallen, dann hätte er sie schließlich bestimmt dazu gebracht, eine Allgemeine Theorie von Allem zu schaffen. Der Mißerfolg diskreditierte keineswegs die Idee, die ihm vorschwebte.
  Was die ehelichen Komplikationen betrifft, so stand die Frau, die er heiratete, unter dem starken Einfluß ihm feindlich gesinnter Nachbarn, die sie dazu verleiteten, falsche Geständnisse abzulegen. Im übrigen festigen Elektroschocks den Charakter. Jeremias fühlte sich vereinsamt, verlacht, auch durch engstirnige Spezialisten wie den Professor Brummber, der ihn einen elektrischen Halsabschneider genannt hatte, bloß weil Jeremias einmal die Drosselspule nicht zweckentsprechend benutzt hatte. Brummber war ein böser Mensch, er taugte nicht viel, dennoch mußte Jeremias einen kurzen Augenblick gerechten Zorns mit einer vierjährigen Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Arbeit bezahlen. Alles nur, weil ihm kein Erfolg beschieden war. Wer hätte sich sonst an seinen Manieren, an seinem Umgang oder an seinem Stil gestoßen? Wer verbreitet schon Klatsch über das Privatleben Newtons oder das des Archimedes? Aber leider war Jeremias seiner Zeit weit voraus, und dafür mußte er büßen.
  Gegen Ende seines Lebens, genauer gesagt in seinem letzten Lebensabschnitt, machte Jeremias eine verblüffende Metamorphose durch, die sein Schicksal völlig wandelte. Er schloß sich fest in seinem Keller ein, aus dem er alle Apparate, bis auf das letzte Teilchen, entfernt hatte, so daß er innerhalb seiner vier Wände allein blieb mit einer Liegestatt aus zusammengeschlagenen Brettern, einem Hocker und einer alten Eisenschiene. Dieses Asyl oder, wenn man so will, dieses freiwillige Gefängnis verließ er nicht mehr. Aber war es ein Gefängnis, und sein Verhalten nur Flucht vor der Welt, eine resignierte Abkehr, ein Rückzug in das Schicksal eines sich selbst geißelnden Einsiedlers? Die Tatsachen sprechen deutlich gegen eine solche Annahme. Er verbrachte sein Leben in der selbstauferlegten Abgeschiedenheit nicht mit stiller Meditation. Durch ein kleines Fenster in der Kellertür reichte man ihm außer etwas Brot und Wasser die Gegenstände, die er verlangte, und er verlangte in jenen sechzehn Jahren immer die gleichen: Hämmer von verschiedenem Gewicht und verschiedener Form. Er verbrauchte davon 3219 Stück, und als das große Herz zu schlagen aufhörte, fand man in den Winkeln des Kellers Hunderte und aber Hunderte verrosteter, in unermeßlicher Arbeit abgeplatteter Hämmer. Tag und Nacht drang aus dem Verlies ein dröhnendes Hämmern, das nur für kurze Zeit unterbrochen wurde, wenn der freiwillige Gefangene seinen ermatteten Körper stärkte oder, nach kurzem Schlaf, Notizen ins Tagebuch eintrug, die jetzt vor mir liegen. Man ersieht daraus, daß sich sein Geist nicht gewandelt hatte, sondern, im Gegenteil, gefestigter als jemals zuvor, auf ein neues Ziel gerichtet gewesen war. »Ich werde schon noch mit ihr fertig werden!« – »Ich werde sie schon noch zum Äußersten bringen!« – »Noch ein bißchen, dann ist sie geliefert!« Von solchen, in seiner kaum lesbaren Schrift hingeworfenen Bemerkungen wimmelt es in diesen dicken Heften, die bedeckt sind mit metallischen Feilspänen. Mit wem wollte er fertig werden, wer sollte geliefert sein? Dieses Geheimnis läßt sich nicht klären, denn kein einziges Mal fällt der Name dieser ebenso rätselhaften wie mächtigen Widersacherin. Ich stelle mir vor, daß er in einem der plötzlichen Geistesblitze, die kein seltener Gast großer Seelen sind, beschlossen hatte, auf höchster Stufe zu vollenden, an was er zuvor bescheidener herangegangen war. Er hatte seinerzeit gewisse Einrichtungen in Zwangslagen gebracht und sie gegeißelt, um sein Ziel zu erreichen. Nun hatte sich der stolze Greis durch das freiwillige Einschließen von dem Chor der geistlosen Kritikaster abgesondert und war durch die Kellertür in die Geschichte eingegangen, denn – das ist meine Hypothese – er hat mit der mächtigsten aller möglichen Widersacherinnen gerungen: In sechzehnjähriger Arbeit verließ ihn nicht einen Augenblick die Gewißheit, daß er den Kern des Seins erstürme, daß er – mit einem Wort – ohne zu zögern, ohne jegliche Zweifel, mitleidslos und unaufhörlich die Materie schlage.
  Zu welchem Zwecke er das tat? Nun, mit dem Verhalten jenes Monarchen des Altertums, der das Meer auspeitschen ließ, weil es seine Schiffe verschlungen hatte, ließ sich das nicht vergleichen. Ich vermute hinter dieser Sisyphusarbeit, die mit soviel Heldenmut betrieben wurde, einen mehr als frappierenden Gedanken. Künftige Generationen werden begreifen, daß Jeremias im Namen der Menschheit dreinschlug. Er wollte die Materie an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen, wollte sie ermüden, das ultimative Wesen aus ihr herausschlagen und sie auf diese Weise besiegen. Was sollte folgen? Die völlige Anarchie der Niederlage, die physikalische Gesetzlosigkeit? Oder etwa die Entstehung neuer Gesetze? Wir wissen es nicht. Das werden nur jene erfahren, die einst in die Fußtapfen meines Vorfahren Jeremias treten.
  Am liebsten hätte ich damit seine Geschichte beendet, aber wie soll ich nicht hinzufügen, daß die Verleumder auch danach das Blaue vom Himmel herunterlogen und behaupteten, er habe sich im Keller vor seiner Frau oder vor den Gläubigern versteckt. Da sieht man, wie die Welt den Außergewöhnlichen ihre Größe lohnt.
  Der nächste, von dem die Bücher berichten, ist Igor Sebastian Tichy, ein Sohn des Jeremias, Asket und Kybermystiker. Mit ihm endet der irdische Zweig unseres Geschlechts, denn von da an haben sich alle Nachkommen des Anonymus auf die Milchstraße begeben. Igor Sebastian war eine kontemplative Natur, und nur deshalb, nicht aber wegen einer Unterentwicklung, derer man ihn bezichtigte, sprach er zum ersten Mal in seinem elften Lebensjahr. Wie jeder große Denker und Reformator, der mit kritischem Auge den Menschen von neuem erfaßt, tat er dies und gelangte zu der Überzeugung, daß die Quelle des Übels die tierischen Überbleibsel in uns seien, verderblich gleichermaßen für das Individuum wie für die Gesellschaft. Darin, daß er dem Dunkel der Triebe die Helligkeit des Geistes gegenüberstellte, lag noch nichts Neues, doch Igor Sebastian ging einen Schritt weiter, als seine Vorläufer es gewagt hatten. Der Mensch, sagte er sich, muß mit dem Geist dort eindringen, wo bisher nur der Körper geherrscht hat. Da er ein äußerst begabter Stereochemiker war, schuf er nach vielen Jahren der Forschung eine Substanz in der Retorte, die seine Träume in die Wirklichkeit umsetzte. Ich meine – wie könnte es anders sein – das berühmte Ungemütran, eine Pentasolidinableitung des Biallyloorthopentanoperhydrophenantrens. Das für die Gesundheit unschädliche Ungemütran bewirkt, nimmt man es in mikroskopischen Mengen ein, daß der Prokreationsakt, im Gegensatz zu frü her, über die Maßen unangenehm wird. Dank einer Prise des weißen Pulvers blickt der Mensch nun ungetrübt vom Verlangen auf die Welt und entdeckt in ihr die eigentliche Hierarchie der Dinge, denn er wird nicht mehr alle Augenblicke vom tierischen Trieb geblendet. Ledig der Sklaverei des Geschlechts, die von der Evolution geschaffen wurde, gewinnt er viel Zeit. Er streift die Fesseln der sexuellen Entfremdung ab und wird endlich frei; denn die Fortsetzung der Art sollte das Ergebnis einer bewußten Entscheidung sein, Ausdruck des Pflichtgefühls gegenüber der Menschheit und nicht willkürliches Resultat des Nährens obszöner Begierden. Igor Sebastian beabsichtigte zunächst, den Akt der körperlichen Verbindung neutral zu machen, aber er erkannte, daß dies nicht genügte, denn zu viele Dinge tut der Mensch nicht einmal wegen des Vergnügens, sondern einfach aus Langerweile oder aus Gewohnheit. Jeder Akt sollte von nun an ein Opfer sein, das man auf dem Altar des gesellschaftlichen Nutzens darbrachte, ein freiwillig auf sich genommenes Leiden; jeder Zeugende ging, dank dem bewiesenen Mut, in die Reihe der Helden ein, wie all jene, die sich für andere aufopfern. Als wahrhafter Forscher erprobte Igor Sebastian die Wirkung des Ungemütrans zuerst an sich selber, und um zu beweisen, daß man auch nach Einnahme beträchtlicher Dosen noch eine Nachkommenschaft haben könne, zeugte er unermüdlich, mit höchster Selbstverleugnung dreizehn Kinder. Seine Frau, heißt es, sei häufig aus dem Haus geflohen – darin steckt ein Körnchen Wahrheit, doch die Hauptursache für die ehelichen Zwistigkeiten waren, wie zu Lebzeiten des Jeremias, die Nachbarn. Sie wiegelten die nicht gerade aufgeweckte Frau gegen ihren Mann auf, indem sie Igor Sebastian der Mißhandlung seiner Frau ziehen, obwohl er ihnen immer wieder erklärte, daß er sie keineswegs quäle, sondern daß der bewußte Akt, der nun eine Quelle der Leiden sei, sein Haus zur Heimstatt des Lärmens und Stöhnens mache. Was tun, wenn die Engstirnigen wie Papageien ihren Salm wiederholten: Der Vater habe die Elektronenhirne gezüchtigt, der Sohn züchtige seine eigene Frau. Doch das war nur der Prolog der Tragödie. Da er keine Anhänger zu finden vermochte, mischte er, begeistert von der Idee der ewigen Läuterung des Menschen von der sexuellen Begierde, in alle Brunnen des Städtchens Ungemütran. Hierauf verprügelte ihn die wütende Menge und brachte ihn in einem schändlichen Akt der Selbstjustiz um. Das Gefühl für die Gefahren, denen er sich aussetzte, war Igor nicht fremd. Er begriff, daß der Sieg des Geistes über den Leib nicht von selbst kommen werde, wovon die letzten Absätze in seinem Werk zeugen, das postum von der Familie auf eigene Kosten herausgegeben wurde. Er schrieb darin, daß jede große Idee eine Macht hinter sich haben müsse, wie das zahlreiche Beispiele aus der Geschichte bestätigten, die bewiesen, daß die Polizei besser als alle Argumente und Überredungskünste eine Weltanschauung schütze. Leider besaß er keine eigene, deshalb nahm es mit ihm ein so trauriges Ende. Natürlich fanden sich Verleumder, die behaupteten, der Vater sei Sadist, der Sohn – Masochist gewesen. An dieser Verunglimpfung ist nicht ein Wort wahr. Obwohl ich hier heikle Dinge berühre, muß ich das tun, um den guten Ruf unserer Familie zu wahren. Igor war kein Masochist, trotz aller Selbstverleugnung blieb ihm nichts anderes übrig, als zuweilen auf die physische Hilfe zweier ihm treu ergebener Vettern zurückzugreifen, die ihn, vor allem nach größeren Dosen Ungemütrans, im Ehebett festhalten mußten, aus dem er dann, nach vollbrachter Tat, Hals über Kopf flüchtete.
  Igors Söhne griffen nicht das Werk des Vaters auf. Der ältere befaßte sich eine Zeitlang mit der Synthese des Ektoplasmas, einer den Spiritisten wohlbekannten Substanz, die die Medien im Trancezustand ausscheiden, doch der Versuch mißlang, denn die Margarine, die den Ausgangsstoff bildete – wie er behauptete –, sei nicht genügend gereinigt gewesen. Der jüngere war der Schandfleck der Familie. Man kaufte ihm eine Schiffskarte zum Stern Mira Coeli, der bald nach seiner Ankunft erlosch. Über das Schicksal der Töchter ist mir nichts bekannt.
  Einer der ersten Kosmonauten oder – wie man damals schon sagte – Kosmotrosen war nach hundertfünfzigjähriger Unterbrechung mein Uronkel Pafnucy. Dieser Eigentümer einer Sternfähre in einer der kleineren galaktischen Engen hat mit seinen Schiffchen ungezählte Scharen Reiselustiger befördert. Er führte inmitten der Gestirne ein stilles und geruhsames Leben, im Gegensatz zu seinem Bruder Eusebius, der ein Korsar geworden war, aber erst in verhältnismäßig hohem Alter. Der geborene Possenreißer Eusebius, der sich durch viel Sinn für Humor auszeichnete und von der gesamten Mannschaft »a practical joker« genannt wurde, klebte die Sterne mit Schusterpech zu und streute auf der Milchstraße kleine Laternen aus, um die Schiffskapitäne irrezuführen; die so vom Kurs abgewichenen Raketen überfiel er und raubte sie aus. Anschließend gab er den Beraubten alles zurück, befahl ihnen weiterzureisen, holte sie mit seinem schwarzen Raketenschiff wieder ein, ging an Bord und raubte sie erneut aus. Es kam vor, daß er das sechs- oder sogar zehnmal hintereinander tat. Die Passagiere konnten wegen ihrer verschwollenen Augen nichts sehen.
  Trotzdem war Eusebius kein grausamer Mensch. Da er jahrelang an den Sternenkreuzwegen auf seine Opfer lauerte, langweilte er sich entsetzlich. Wenn ihm also eine Rakete in die Quere kam, war er einfach nicht imstande, sich nach vollzogenem Raub sofort von ihr zu trennen. Bekanntlich ist das interplanetare Korsarentum in finanzieller Hinsicht unrentabel, wovon am besten der Umstand zeugt, daß es praktisch nicht existiert. Eusebius Tichy handelte nicht aus niedrigen, materiellen Beweggründen, im Gegenteil, ihn beseelte der Geist der alten Ideale, er wollte die ehrwürdige Tradition der Seepiraterei wiederbeleben und hielt diese Aufgabe für seine Sendung. Man bezichtigte ihn vieler abscheulicher Neigungen, es fanden sich sogar Leute, die ihn einen Thanatophilen nannten, denn um sein Raumschiff kreisten die Überreste zahlreicher Kosmotrosen. Im Vakuum kann man einen vorzeitig Verschiedenen nicht einfach bestatten, es gibt keine andere Möglichkeit, als ihn durch die Klappe der Rakete hinauszustoßen. Der Umstand, daß er sie nicht verläßt, sondern um das verwaiste Schiff kreist, resultiert aus den Gesetzen der Newtonschen Mechanik und ist nicht auf perverse Neigungen zurückzuführen. Im Verlauf der Jahre ist die Anzahl der Körper, die das Raumschiff meines Ver wandten umkreisten, beträchtlich gewachsen. Wenn er manövrierte, bewegte er sich gewissermaßen in einer Aureole des Todes, was geradezu an Dürers Totentänze gemahnte. Das war jedoch, ich wiederhole, nicht sein Wille, sondern die Folge eines Naturgesetzes.
  Der Sohn von Eusebius’ Schwester, mein Vetter Aristarch Felix Tichy, vereinte in sich die wertvollsten Talente, die bisher getrennt in unserem Geschlecht auftraten. Er kam auch als einziger zu Anerkennung und ansehnlichem Wohlstand, dank der gastronomischen Technologie, auch Gastronautik genannt, die er glänzend weiterentwickelte. Die Ursprünge dieses technischen Zweiges reichen noch bis ins Ende des 20. Jahrhunderts zurück. Damals kannte man sie unter der strengen, primitiven Gestalt der sogenannten Kannibalisierung der Raketen. Um Material und Raum zu sparen, ging man dazu über, zur Herstellung von Schiffsspanten und Wänden gepreßte Lebensmittelkonzentrate, also verschiedene Grützen, Tapioka, Hülsenfrüchte und ähnliches, zu verwenden. Später erweiterte man dieses Verfahren auf die Raketenmöbel. Mein Vetter beurteilte die Qualität der damaligen Produktion mit der lapidaren Aussage, daß man es in einem schmackhaften Sessel nicht lange aushalten könne, ein bequemer hingegen Verdauungsbeschwerden verursache. Aristarch Felix ging in einer völlig neuen Weise an die Dinge heran. Kein Wunder, daß die Vereinigte Aldebaranische Werft seine erste Dreistufenrakete (Vorspeisen, Gebratenes, Nachtisch) nach seinem Namen benannte. Heute wundert sich keiner mehr über Schalttafeln auf mürbem Untergrund (die sog. Elektroplätzchen), Kondensatorenschichtkuchen, Makkaroniisolierung, Honigkuchenspulen, das heißt Spulen mit Mandeln in Honig, der ja ein guter Leiter ist, schließlich Fenster aus Panzerzucker, obschon nicht jeder Garnituren aus Rührei oder Kissen aus Zwieback und abgeriebenem Napfkuchen mag (dies wegen der Krümel im Bett). All das ist das Werk meines Vetters. Er hat die Schlepptaue aus geräucherten harten Würstchen erfunden, die Strudellaken, die Steppdecken aus Aufläufen sowie den Antrieb aus Bandnudeln und Grießbrei, und er hat als erster Emmentaler Käse für Kühlaggregate verwendet. Indem er die Salpetersäure durch Brotsäure, also Kwaß, ersetzte, machte er Brennstoff (und zwar alkoholfreien!) zu einem schmackhaften, erfrischenden Getränk. Zuverlässig sind auch seine Feuerlöscher aus Moosbeerenkaltschale, die ebensogut Brände löschen wie den Durst. Aristarch fand auch Nachahmer, aber keiner kam ihm gleich. Ein gewisser Globkins versuchte, als Lichtquelle eine Sachertorte mit Docht auf den Markt zu bringen, aber es wurde ein Mißerfolg, denn die Torte gab wenig Licht und schmeckte nach Ruß. Auch seine Fußabtreter aus Risotto fanden keine Käufer, ebenso die Isolierplatten aus Halwa, die schon beim ersten Zusammenstoß mit Meteoren barsten. Erneut erwies es sich, daß eine allgemeine Idee nicht genügt, denn jede konkrete Lösung muß schöpferisch sein – wie der in seiner Einfachheit geniale Gedanke meines Vetters, alle leeren Stellen in der Konstruktion einer Rakete mit der Vanille-Suppe »Nichts« auszufüllen, wodurch man ein Vakuum gewinnt und sich gleichzeitig satt essen kann. Ich denke, daß dieser Abkömmling der Tichys voll und ganz den Ruf, ein Wohltäter der Kosmonautik zu sein, verdient hat. Die Pioniere der Raumfahrt versicherten uns vor noch nicht so langer Zeit, als uns schon beim Anblick der Algenklopse und Süppchen aus Moosen und Flechten übel wurde, daß die Menschheit mit ebensolcher Kost zu den Sternen fliegen werde. Schönen Dank! Es ist ein Glück, daß ich bessere Zeiten erlebt habe, denn wie viele Besatzungen sind in meiner Jugendzeit Hungers gestorben, als sie zwischen den dunklen Strömungen des Raums drifteten und vor der Wahl standen, entweder zum Lotteriesystem überzugehen oder durch demokratische Wahlen mit einfacher Stimmenmehrheit zu entscheiden. Jeder wird mir recht geben, der sich noch der bedrückenden Atmosphäre der Versammlungen erinnert, auf denen diese unangenehmen Dinge behandelt wurden. Es gab sogar ein vieldiskutiertes Projekt von Drappluss, nach welchem, mit dem Gedanken an Schiffbrüchige, im ganzen Sonnensystem gleichmäßig feine Grütze oder Grieß sowie Kakaopulver ausgestreut werden sollte, aber der Vorschlag kam nicht durch, einmal, weil das zu teuer war, zum anderen, weil die Kakaowolken die Navigationssterne verdeckt hätten. Erst der Raketenkannibalismus vermochte uns von jenem früheren zu befreien.
  Während ich so – über die Äste des Stammbaums – zu den modernen Zeiten vordringe und mich meinem eigenen Anfang nähere, wird meine Aufgabe, Chronist des Geschlechts zu sein, immer schwieriger, nicht nur weil es leichter ist, die einstigen Vorfahren, die ein seßhaftes Leben geführt haben, zu porträtieren als ihre Sternnachfahren, sondern auch deshalb, weil sich im Vakuum ein bislang unbegreiflicher Einfluß physikalischer Erscheinungen auf das Familienleben offenbart. In meiner Ratlosigkeit angesichts der Dokumente, die ich nicht gehörig ordnen kann, verzichte ich auf jegliche Reihenfolge und stelle sie einfach so vor, wie sie erhalten geblieben sind. Hier nun die von der Geschwindigkeit angesengten Seiten eines Reisetagebuches, das der Kapitän der Sternfliegerei Auror Tichy geführt hat:
  Eintragung 116 303. Seit wie vielen Jahren schon kennen wir keine Schwerkraft mehr! Die Wasser- und Sanduhren gehen nicht, die Waagenuhren sind stehengeblieben, bei den Uhren zum Aufziehen verweigern die Federn den Dienst. Eine Zeitlang haben wir die Kalenderblätter nach Gutdünken abgerissen, aber auch das ist schon Vergangenheit. Geblieben sind uns als letzte Richtschnur Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, aber schon die erste Verdauungsstörung vermag auch diese Zeitrechnung umzustoßen. Ich muß meine Eintragung unterbrechen, jemand ist hereingekommen, entweder sind es die Zwillinge, oder es ist eine Lichtinterferenz.
  Eintragung 116 304. Backbord ein Planet, der nicht auf den Karten vermerkt ist. Etwas später, während der Vesperzeit, ein Meteor, zum Glück ein kleiner, der uns drei Kammern durchschlagen hat – die Druckkammer, die Häftlingskammer und die Ausnüchterungskammer. Ich ordnete an, die Löcher zu zementieren. Beim Abendbrot fehlte Vetter Patricius. Gespräch mit Großvater Arabeus über die Unbestimmbarkeitsrelation. Was wissen wir eigentlich ganz gewiß? Daß wir als junge Leute von der Erde abgereist sind, daß wir unser Schiff »Kosmoszyste« genannt haben, daß der Großvater und die Großmutter zwölf andere Ehepaare an: Bord genommen haben, die heute schon eine durch die Bande der Blutsverwandtschaft geeinte Familie bilden. Ich mache mir Sorgen wegen Patricius – auch die Katze ist irgendwohin verschwunden. Ich habe einen positiven Einfluß des Gravitationsmangels auf Plattfüße bemerkt.
  Eintragung 116 305. Der Erstgeborene von Onkel Obrozy ist so scharfsichtig und noch so klein, daß er mit bloßem Auge Neutronen wahrnimmt. Ergebnis der Suche nach Patricius negativ. Wir erhöhen die Geschwindigkeit; während des Manövers haben wir mit dem Heck die Isochrone durchschnitten. Nach dem Abendbrot kam Obrozys Schwiegervater Amphoterik zu mir und gestand, daß er sein eigener Vater geworden sei, weil seine Zeit sich zu einer Schleife gekrümmt habe. Er bat, niemandem etwas davon zu erzählen. Ich konsultierte meine Vettern, beides Physiker – sie sind ratlos. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht!
  Eintragung 116 306. Ich habe bemerkt, daß die Kinnpartien und die Stirnen bei einigen älteren Onkeln und Tanten zurückweichen. Ein Effekt der giroskopischen Rezession, eine Lorentz-FitzGerald-Verkürzung oder die Folge von Zahnausfall und häufigen Stoßens mit der Stirn gegen die Spanten, wenn der Gong ertönt, der zu Tisch ruft? Wir rasen an einer beträchtlichen Nebelwolke entlang. Tante Barabella hat unseren weiteren Kurs auf ihre Art gedeutet, aus dem Kaffeesatz. Ich habe die Berechnungen mit dem Elektrokalkulator überprüft – ein durchaus angenähertes Ergebnis!
  Eintragung 116 307. Kurzer Aufenthalt auf dem Planeten der Rumtreiber. Vier Personen sind nicht an Bord zurückgekehrt. Beim Start linke Antriebsdüse verstopft. Befahl, sie durchzupusten. Der arme Patricius! In der Rubrik »Todesursache« habe ich eingetragen: »Zerstreutheit« – was sonst?
  Eintragung 116 308. Onkel Timotheus hat geträumt, daß uns Plünderer überfallen hätten. Zum Glück ging es ohne Opfer und Verluste ab. Es wird eng in unserem Raumschiff. Heute drei Geburten und vier Umzüge, eine Folge der Scheidungen. Das Kind der Obrozys hat Augen wie Sterne. Zur Verbesserung der Raumverhältnisse habe ich allen Tanten empfohlen, sich in die Hibernationskühlschränke zu begeben. Ich hatte erst Erfolg, als ich das Argument vorbrachte, daß sie im Zustand des umkehrbaren Todes nicht altern würden. Jetzt ist es still und angenehm.
  Eintragung 116 309. Wir nähern uns der Lichtgeschwindigkeit. Eine Menge bisher unbekannter Phänomene. Etwas Sonderbares geschieht mit meinem Kopf. Ich erinnere mich, daß mein Vater Barnabas hieß, aber ich hatte auch einen anderen, Balaton mit Namen. Das ist wohl ein See in Ungarn. Ich muß das im Lexikon überprüfen. Ich beobachte, wie sich die Tanten auf den Quanten krümmen, ohne daß sie jedoch aufhören zu stricken. Auf dem III. Deck riecht es. Das Kind der Obrozys krabbelt gar nicht, es fliegt, indem es sich abwechselnd des vorderen und hinteren Abstoßes bedient. Wie wunderbar ist doch die biologische Anpassung des Organismus!
  Eintragung 116 310. Ich war im Labor meines Vetters Jesaia und dessen Familie. Dort wird pausenlos gearbeitet. Mein Vetter sagte, daß es in einer höheren Phase der Gastronautik nicht nur eßbare, sondern auch lebende Möbel geben werde. Die könnten nicht verderben, und man brauchte sie auch nicht in Kühlschränken aufzubewahren. Aber wer würde die Hand erheben, um einen lebenden Stuhl zu schlachten? Vorläufig gibt es sie noch nicht, doch Jesaia behauptet, daß er uns bald mit Stuhlbein in Gelee bewirten wird. Als ich in den Steuerraum zurückkehrte, sann ich noch lange über seine Worte nach. Er hatte von lebenden Raketen der Zukunft gesprochen. Würde man mit einer solchen Rakete ein Kind haben können? Auf was für Gedanken man kommt!
  Eintragung 116 311. Großvater beklagte sich, daß sein linkes Bein bis zum Polarstern reiche und das rechte – bis zum Kreuz des Südens. Außerdem führt er wohl etwas im Schilde, denn er kriecht ständig auf allen vieren umher. Ich muß ihn genauer beobachten. Balthasar, Jesaias Bruder, ist verschwunden. Sollte es Quantendispersion sein? Als ich ihn suchte, stellte ich fest, daß die Atomkammer voll Staub ist. Mindestens ein Jahr nicht gefegt! Ich setzte den Unterkämmerer Bartholomäus ab und ernannte an dessen Stelle seinen Schwager Titus. Abends im Salon, als Tante Melanie auftrat, explodierte plötzlich der Großvater. Ich befahl zu zementieren. Von meiner Seite war das reiner Instinkt. Aber ich widerrief den Befehl nicht, um an der Autorität des Kapitäns keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Der Großvater fehlt mir sehr. Was war das, Zorn oder Annihilation? Er war schon immer nervös gewesen. Während meiner Wache verlangte es mich nach Fleisch, ich aß etwas gefrostetes Kalbfleisch aus dem Kühlschrank. Gestern stellte sich heraus, daß das Blatt mit dem eingetragenen Reiseziel verlorengegangen ist, schade, denn wir fliegen schon etwa 36 Jahre. In dem Kalbfleisch war eigenartigerweise lauter Schrot – seit wann schießt man auf Kälber mit der Flinte? Neben uns fliegt ein Meteor, auf dem jemand sitzt. Bartholomäus war der erste, der ihn bemerkt hat. Vorläufig tue ich, als sähe ich nichts.
  Eintragung 116 312. Mein Vetter Bruno behauptet, das sei kein Kühlschrank gewesen, sondern der Hibernator; er habe zum Spaß die Schilder vertauscht. Außerdem habe es sich nicht um Schrot gehandelt, sondern um Rosenkranzperlen. Ich stieg unter die Decke; im schwerelosen Raum sind keine theatralischen Szenen möglich, man kann weder aufstampfen noch mit der Faust auf den Tisch hauen. Ich bedauere, daß ich mich an die Sterne gewagt habe. Bruno habe ich die schlimmste Arbeit gegeben, er muß im Heck Strickgarn entwirren.
  Eintragung 116 313. Der Kosmos verschlingt uns. Gestern riß ein Teil des Hecks mit den Toiletten ab. Onkel Palexander war gerade dort. Ohnmächtig mußte ich zusehen, wie er mit der Finsternis verschmolz und die auseinandergerollten Papierstreifen kläglich im All flatterten. Eine wahre Laokoongruppe zwischen Gestirnen, Welch ein Unglück! Der auf dem Meteor ist gar kein Verwandter; ein völlig fremder Mensch. Er sitzt rittlings darauf. Verblüffend. Mir gelangte zu Ohren, daß mehrere Personen heimlich ausgestiegen seien. In der Tat wird es etwas leerer. Sollte das wahr sein?
  Eintragung 116 314. Vetter Roland, der unser Rechnungswesen führt, hat große Sorgen. Gestern war ich Zeuge, wie er mühselig die bereits beförderten Verlobungsregistertonnen mit der Modifikation für den Verlust der Jungfernschaft berechnete. Während er schrieb, hob er plötzlich den Kopf und sagte: »Ein Mensch, wie das klingt!« Dieser Gedanke machte mich stutzig. Der kleine Pyzio, der im Raumschiff umherfliegt und f statt p spricht (Flanet statt Planet, dafür aber Planellhosen), hat, wie sich erst jetzt herausgestellt hat, eine Katze in den Behälter mit Soda geworfen, das uns den Kohlendioxyd absorbiert. Die arme Katze, sie ist in Sodadikatzat zerfallen.
  Eintragung 116 315. Auf meiner Türschwelle fand ich heute einen Säugling männlichen Geschlechts mit einem Kärtchen an den Windeln: »Das ist deins.« Ich weiß von nichts. Etwa ein Zufall? Ich habe für ihn eine Schublade mit alten Akten ausgelegt.
  Eintragung 116 316. Im Kosmos verschwinden eine Menge Socken und Taschentücher, außerdem zerfällt die Zeit völlig; beim Frühstück habe ich bemerkt, daß meine Großeltern viel jünger sind als ich. Es gab auch einige Fälle von Onkellyse. Ich beauftragte meinen Vetter, Bilanz zu ziehen – die Hibernatoren wurden geöffnet, und ich habe alle aufgetaut. Viele Tanten sind verschnupft und heiser, sie haben blaue Nasen und geschwollene rote Ohren, einige bekamen Weinkrämpfe. Ich war ratlos. Sonderbar ist, daß sich unter den Auferweckten ein Kalb befindet. Dafür fehlt Tante Mathilde… Sollte Bruno tatsächlich nicht gespaßt haben oder vielmehr – wirklich gespaßt haben?
  Eintragung 116 317. Vor dem Flur der Atomkammer ist eine Zelle. Als ich dort saß, kam mir der belustigende Gedanke, daß wir vielleicht gar nicht gestartet seien und uns noch irgendwo auf der Erde befänden. Aber nein – es gab ja keine Schwerkraft. Diese Reflexion beruhigt. Allerdings stellte ich fest, daß ich einen Hammer in den Händen hielt. Vielleicht hieß ich Jeremias? Ich schmiedete eine Stange, und mir wurde eigenartig zumute. Aber daran muß man sich gewöhnen. Paulis Grundsatz, daß eine bestimmte Person nur von einer Persönlichkeit auf einmal eingenommen werden kann, haben wir längst hinter uns gelassen. Nehmen wir zum Beispiel die Elternstafette – eine für uns im Kosmos gewöhn liche Angelegenheit, wenn infolge der ungeheuren Geschwindigkeit mehrere Frauen der Reihe nach das gleiche Kind gebären. Das betrifft auch die Väter. Der unlängst noch so kleine Pyzio hat mich heute, als wir gleichzeitig im Eßzimmer nach der Marmelade langten und mit den Stirnen zusammenstießen, bis an die Decke zurückprallen lassen. Wie doch die Zeit verfliegt, auch wenn sie noch so verworren, ineinander verflochten und sogar verknotet ist!
  Eintragung 116 318. Arabeus erzählte mir heute, er habe immer die stille Hoffnung gehegt, daß die Sterne und die Raketen nur eine Seite hätten, die uns zugekehrte, auf der anderen Seite befänden sich nur verstaubte Stellagen und Schnüre. Deshalb sei er zu den Sternen geflogen. Er gestand mir auch, daß einige Frauen in den Wäscheschränken etwas ablegten, nach seiner Meinung nicht nur Wäsche, sondern auch Eier. Das würde – von der Entwicklung her gesehen – auf eine heftige Regression hindeuten. Sicherlich war ihm das ziemlich unbequem, als er so – auf allen vieren – den Kopf zu mir emporreckte. Mich beunruhigt sein jüngerer Bruder. Er steht bereits das achte Jahr bei mir im Vorzimmer mit vorgestreckten Zeigefingern. Sollten das die Anfänge von Katatonie sein? Zuerst rein mechanisch, später aus Gewohnheit hängte ich Mantel und Hut an ihm auf. Nun kann er sich sagen, daß er wenigstens zu etwas nütze ist.
  Eintragung 116 319. Es wird immer leerer. Diffraktion, Sublimation, oder gehen infolge des Dopplereffekts alle ins Infrarot über? Ich bin heute im ganzen Mitteldeck umhergelaufen und habe gerufen, aber es hat sich niemand blicken lassen außer Tante Klothilde mit ihrem Strickzeug und dem unvollendeten Fingerhandschuh. Ich ging ins Labor – die Vettern Mitrofan und Alarich ließen Speck aus. Alarich meinte, daß in unserer Lage Wahrsagespiele sicherer seien als die Wilsonkammer. Aber warum hat er, nachdem er mit den Berechnungen fertig war, alles aufgegessen? Ich begreife das nicht, aber ich wagte nicht zu fragen. Uronkel Emmerich ist verlorengegangen.
  Eintragung 116 320. Uronkel Emmerich entdeckt. Mit einer Regelmäßigkeit, die einer besseren Sache wert wäre, geht er alle zwei Minuten backbord auf, dann sieht man aus dem oberen Fensterchen, wie er den Zenit erreicht, und steuerbord geht er unter. Er hat sich überhaupt nicht verändert, nicht einmal auf der Umlaufbahn seiner letzten Ruhe! Aber wer hat ihn hinausgestoßen, und wann ist das geschehen? Ein entsetzlicher Gedanke.
  Eintragung 116 321. Der Onkel ist so pünktlich, daß man nach seinen Auf- und Untergängen eine Stoppuhr stellen könnte. Und das Sonderbarste – er beginnt die Stunden zu schlagen. Ich vermag das nicht zu begreifen.
  Eintragung 116 322. Am niedrigsten Punkt seiner Umlaufbahn bleibt er einfach mit den Beinen am Rumpf des Raumschiffs hängen, so daß die Sohlen oder Absätze über die Nietenköpfe der Panzerung hüpfen. Heute nach dem Frühstück hat er dreizehn Uhr geschlagen – ein Zufall oder ein prophetisches Zeichen? Der Fremde auf dem Meteor hat sich etwas entfernt. Er fliegt noch immer neben uns. Ich habe mich heute an den Schreibtisch gesetzt, um zu arbeiten, da sagt der Stuhl zu mir: »Wie seltsam diese Welt ist!« Ich dachte schon, Onkel Jesaia habe endlich Erfolg gehabt, aber das war nur der Großvater Arabeus. Er versicherte mir, er sei ein Invariant, das heißt einer, dem alles einerlei ist, ich brauchte also nicht aufzustehen. Heute habe ich eine Stunde lang auf der Rampe und auf dem Oberdeck gerufen. Nicht eine Menschenseele. Nur Strickzeug und ein paar Knäuel Garn flogen in der Luft herum und ein paar Spiele Patiencekarten.
  Eintragung 116 323. Es gibt eine besondere Methode, sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren – man denkt sich verschiedene fiktive Personen aus. Tue ich das vielleicht nicht schon lange in meinem Unterbewußtsein? Aber wie lange schon? Ich sitze auf dem hartnäckig schweigenden Arabeus, habe in der Schublade einen quäkenden Säugling, den ich Ijon getauft habe und den ich mit der Flasche ernähre – und sorge mich, woher ich für ihn eine Frau nehmen soll; noch ist ja Zeit, aber unter diesen Umständen ist alles möglich. So sitze ich und fliege…
  Das sind die letzten Worte meines Vaters, die restlichen Seiten des Tagebuchs fehlen. Ich sitze ebenfalls in einem Raumschiff und lese, wie ein anderer, das heißt er, im Raumschiff gesessen hat und geflogen ist. Er saß also und flog, und ich sitze auch und fliege. Wer sitzt folglich und fliegt? Sollte es mich gar nicht geben? Aber ein Logbuch kann sich doch nicht selbst lesen. Also bin ich dennoch, weil ich lese. Aber vielleicht ist das alles nur unterstellt und erdacht? Sonderbare Gedanken… Sagen wir, daß er nicht gesessen hat und geflogen ist, ich aber sitze und fliege, das heißt, ich fliege sitzend. Das ist ganz sicher. Wirklich? Am sichersten ist noch, daß ich von einem lese, der fliegt und sitzt. Was hingegen mein Sitzen und Fliegen betrifft, woher soll ich da die Gewißheit nehmen? Das kleine Zimmer ist ziemlich ärmlich eingerichtet, es ist eher eine Kammer. Wohl im Zwischendeck, aber auf dem Dachboden hatten wir genau so eine. Ich brauche also nur auf die Schwelle zu treten, um mich zu überzeugen, ob das keine Täuschung ist. Aber wenn es eine Täuschung wäre und wenn ich die Fortsetzung dieser Täuschung sähe? Gibt es kein Kriterium? Das ist nicht möglich! Wäre es nämlich so, daß ich nicht flöge und nicht säße, sondern nur von ihm läse, daß er geflogen ist und gesessen hat, wobei er in Wirklichkeit auch nicht geflogen ist, so würde das bedeuten, daß ich in meiner Illusion seine Illusion erkennte, das heißt, daß mir schiene, daß es ihm schien. Oder vielleicht scheint mir das, was ihm schien? Eine Illusion in der Illusion? Nehmen wir einmal an, aber er schrieb doch auch über einen, der rittlings auf einem Meteor dahinflog. Mit dem ist das schon schlimmer. Mir scheint, ihm schien nur, was jener rittlings tat, und wenn es jenem auch nur schien, dann weiß man überhaupt nichts mehr. Der Kopf tut mir weh, und wieder muß ich wie gestern, wie vorgestern an Bischöfe denken und an blaue Nasen, an Augen, die kornblumenblau sind, an die schöne blaue Donau und an lila Kalbfleisch. Weshalb? Und ich weiß, wenn ich um Mitternacht das Raumschiff beschleunige, werde ich an Rührei oder vielmehr an Setzei mit großem Eigelb denken, an Mohrrüben, an Honig und an Tante Marynias Fersen – ebenso wie in der Mitte jeder Nacht… Ach! Ich begreife! Das ist ein Effekt des Gedankenverschiebens, einmal in Richtung Ultraviolett und einmal – durch das Gelb – in Richtung Infrarot, ein psychischer Dopplereffekt also! Sehr wichtig! Das wäre ein Beweis, daß ich fliege! Der Beweis aus der Bewegung, demonstratio ex motu, wie die Scholastiker sagten! Ich fliege also wirklich… Ja. Aber an Eier, Fersen und Bischöfe kann jeder denken. Das ist kein schlüssiger Beweis, sondern nur eine Annahme. Was bleibt also noch? Solipsismus? Nur ich allein existiere, ohne irgendwohin zu fliegen… Aber das bedeutete doch, daß es keinen Anonymus Tichy, keinen Jeremias, keinen Igor, Esteban oder Auror gegeben hat, keinen Barnabas, Eusebius, kein Raumschiff, das »Kosmozyste« hieß, daß ich nie in der Schublade von Vaters Schreibtisch gelegen habe und auch er, auf Großvater Arabeus sitzend, nicht geflogen ist – nun, das ist nicht möglich! Sollte ich mir aus dem Nichts eine solche Anzahl Personen und Familiengeschichten zusammengereimt haben? Es heißt doch: ex nihilo nihil fit! Somit existierte die Familie, sie ist es, die mir den Glauben an die Welt wiedergibt und an diesen meinen Flug, dessen Ende unerforscht ist. Alles ist wieder in Ordnung gekommen, dank euch, meinen Vorfahren! Bald werde ich diese vollgeschriebenen Blätter in ein leeres Sauerstofffäßchen stecken und es über Bord werfen, es den Tiefen des Alls übergeben, mag es dahingleiten in die schwarze Ferne, denn navigare necesse est, und ich fliege, fliege seit Jahren…

Januar 1966







Aus den Erinnerungen Ijon Tichys







I




Ihr wollt, daß ich wieder etwas erzähle? Ja. Ich sehe, daß Tarantoga schon nach seinem Stenogrammblock greift… Warten Sie, Professor. Ich habe wirklich nichts zu erzählen. Wie? Nein, ich scherze nicht. Schließlich könnte ich ja auch mal Lust haben, einen Abend lang in eurer Gesellschaft zu schweigen. Weshalb? Nun, weshalb wohl! Meine Lieben – ich habe nie davon gesprochen, aber der Kosmos ist vor allem von solchen Wesen bevölkert wie wir. Nicht nur, daß sie menschenähnliche Gestalt haben, sie sind uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Hälfte der bewohnten Planeten sind Erden, die einen etwas größer, die anderen kleiner, mit etwas kälterem oder etwas wärmerem Klima, aber was sind das schon für Unterschiede! Und ihre Bewohner… – die Menschen – denn es sind schließlich Menschen – erinnern so sehr an uns, daß die Unterschiede nur die Ähnlichkeiten hervorheben. Daß ich nie darüber gesprochen habe? Wundert euch das? Überlegt doch mal. Man blickt hinauf zu den Sternen. Verschiedene Begebenheiten fallen einem ein, Bilder tauchen auf… Am liebsten jedoch kehrt man zu den außergewöhnlichen zurück. Vielleicht sind sie schrecklich oder unheimlich oder makaber, ja sogar lächerlich, aber dadurch auch harmlos. Doch hinaufblicken zu den Sternen, meine Freunde, und wissen, daß diese blauen Fünkchen – setzt man den Fuß darauf – Staaten der Häßlichkeit, der Trauer, des Unwissens und des Ruins sind; daß es dort, im blauschwarzen Himmel, ebenfalls von alten Häusern, schmutzigen Höfen, Rinnsteinen, Müllplätzen, verwilderten Friedhöfen wimmelt…?
  Sollen die Erzählungen eines Mannes, der die Milchstraße besucht hat, an die Klagen eines Hausierers erinnern, der ein paar Provinzstädtchen abgeklappert hat? Wer würde ihm zuhören wollen? Und wer würde ihm glauben? Solche Gedanken befallen ei nen, wenn man etwas niedergeschlagen ist oder einen ungesunden Hang zu offenherzigen Ergüssen hat. Somit also – um niemanden zu betrüben oder zu beleidigen – heute nichts von den Sternen. Nein, schweigen werde ich nicht. Ihr würdet euch betrogen fühlen. Ich erzähle etwas, einverstanden, aber das wird nicht von einer Reise handeln. Schließlich habe ich auch auf der Erde so manches erlebt. Professor, wenn Sie unbedingt wollen, können Sie mit Ihren Notizen beginnen.
  Wie ihr wißt, habe ich hin und wieder Gäste, bisweilen sehr sonderbare. Ich werde eine gewisse Kategorie auswählen: verkannte Erfinder und Gelehrte. Ich weiß nicht weshalb, aber auf sie habe ich immer wie ein Magnet gewirkt. Tarantoga lächelt, seht ihr? Aber nicht über ihn wollte ich reden, er ist schließlich kein Erfinder. Heute werde ich von solchen erzählen, die keinen Erfolg hatten, oder vielmehr, die zu großen Erfolg hatten: Sie hatten ihr Ziel erreicht und die Vergeblichkeit ihres Tuns erkannt. Natürlich gestanden sie sich das nicht ein. Von keinem beachtet, vereinsamt, halten sie an diesem Wahn fest, den nur Ruhm und Erfolg bisweilen – allerdings äußerst selten – in ein Werk des Fortschritts verwandeln. Selbstverständlich waren die meisten von denen, die zu mir kamen, besessene Menschen, die nur eine Idee beseelte und die nicht einmal die ihre war, die sie von den vorangegangenen Generationen übernommen hatten, wie die Erfinder des Perpetuum mobile, arm an Einfällen, trivial in den Lösungen. Aber selbst in ihnen steckt jene Glut der Uneigennützigkeit, die das Leben verbrennt, die dazu zwingt, Anstrengungen zu erneuern, die von vornherein zum Mißerfolg verurteilt sind. Kläglich sind diese unvollkommenen Genies, Titanen zwergenhaften Geistes, bei ihrer Geburt durch die Natur verstümmelt, die, in einem ihrer makabren Scherze, ihre Talentlosigkeit durch eine schöpferische Verbissenheit wettzumachen suchte, die eines Leonardo würdig wäre. Alles, was das Leben ihnen zu bieten hat, ist Gleichgültigkeit oder Spott, und alles, was man für sie tun kann, ist, ein oder zwei Stunden lang ein geduldiger Zuhörer und Teilhaber ihrer Monomanie zu sein.
  In jener Schar, die nur die eigene Dummheit vor der Verzweiflung schützt, tauchten vereinzelt andere Menschen auf – ich will sie weder näher bezeichnen noch sie verurteilen, das bleibt euch überlassen. Die erste Gestalt, die mir vor Augen steht, wenn ich davon spreche, ist Professor Corcoran.
  Ich lernte ihn vor neun oder zehn Jahren kennen, auf einer wissenschaftlichen Konferenz. Wir unterhielten uns kaum ein paar Minuten, als er mich plötzlich, ohne jeden Zusammenhang fragte: »Was halten Sie von Geistern?«
  Im ersten Augenblick glaubte ich, das sei ein exzentrischer Scherz, aber mir fiel ein, daß ich von seiner Außergewöhnlichkeit gehört hatte – ich wußte nur nicht mehr, in welchem Sinne, im positiven oder im negativen, deshalb erwiderte ich für alle Fälle: »Zu diesem Gegenstand habe ich keine Meinung.«
  Ohne ein weiteres Wort kehrte er zu dem vorhergehenden Thema zurück. Doch als das Klingelzeichen bereits den Beginn der weiteren Beratungen ankündigte, beugte er sich plötzlich vor – er war bedeutend größer als ich – und sagte: »Tichy, Sie sind mein Mann. Sie haben keine Vorurteile. Möglicherweise irre ich mich, aber ich bin zu einem Risiko bereit. Besuchen Sie mich!« Hier reichte er mir eine Visitenkarte. »Aber rufen Sie mich vorher an, denn auf Klingelzeichen reagiere ich nicht und mache niemandem auf. Übrigens, wie Sie wollen…«
  Noch am selben Abend, bei einem Essen mit Savinelli, dem bekannten Juristen und Spezialisten für kosmisches Recht, fragte ich meinen Begleiter, ob er einen Professor Corcoran kenne.
  »Corcoran!« rief er mit dem ihm eigenen Temperament, angefeuert noch durch die zweite Flasche sizilianischen Weins. »Dieser verrückte Kybernetiker? Was ist denn mit ihm? Ich habe schon eine Ewigkeit nichts mehr von ihm gehört!«
  Ich erwiderte, daß ich nichts Genaueres über ihn wisse, nur sein Name sei mir dann und wann zu Ohren gekommen. Eine solche Antwort dürfte wohl im Sinne Corcorans gewesen sein. Savinelli erzählte mir beim Wein ein paar Klatschgeschichten, die in Umlauf waren. Daraus ging hervor, daß Corcoran als junger Wissenschaftler zu den größten Hoffnungen berechtigte, obwohl er schon damals einen völligen Mangel an Hochachtung für Ältere erkennen ließ, der zuweilen in Arroganz umschlug. Allmählich entwickelte er sich zu einem jener Typen, die daraus, daß sie anderen Leuten ohne Umschweife die Meinung sagen, ebensoviel Genugtuung zu schöpfen scheinen wie aus der Tatsache, daß sie sich auf diese Weise am meisten schaden. Als er bereits seine Professoren und Kollegen tödlich beleidigt hatte und sich vor ihm alle Türen schlossen, kaufte er, durch eine unerwartete Erbschaft zu Reichtum gekommen, irgendein verfallenes Haus außerhalb der Stadt und baute es in ein Laboratorium um. Darin hielt er sich mit seinen Robotern auf, denn nur solche Assistenten und Gehilfen duldete er um sich. Vielleicht erreichte er dort auch etwas, aber die Spalten der wissenschaftlichen Zeitschriften blieben ihm verschlossen. Er kümmerte sich überhaupt nicht darum. Wenn er damals noch Beziehungen zu Menschen knüpfte, dann nur, um sie, sobald er auf etwas vertrauterem Fuße mit ihnen stand, auf äußerst ordinäre Weise und ohne ersichtlichen Grund vor den Kopf zu stoßen und zu beleidigen. Als er endgültig alterte und dieses abscheulichen Spiels müde war, wurde er ein Einsiedler. Ich fragte Savinelli, ob er gehört habe, daß Corcoran an Geister glaube. Der Jurist, der gerade am Weinglas nippte, verschluckte sich fast vor Lachen.
  »Der? An Geister glauben?!« rief er. »Der glaubt ja nicht einmal an Menschen!«
  Ich wollte wissen, wie er das meine. Er meine das ganz wörtlich, erwiderte er. Nach Savinellis Auffassung war Corcoran ein Solipsist – er glaubte nur an die eigene Existenz, alle anderen hielt er für Phantome, Traumvisionen; angeblich sei er deshalb früher sogar mit seinen Nächsten so umgesprungen: Wenn das Leben eine Art Traum ist, dann ist alles erlaubt. Ich bemerkte, daß er somit auch an Geister glauben könne. Savinelli fragte, ob ich jemals von einem Kybernetiker gehört hätte, der an Geister glaubte. Wir sprachen dann von etwas anderem, aber auch das, was ich gehört hatte, genügte, mich neugierig zu machen. Ich bin ein Mann von raschen Entschlüssen, also rief ich gleich am nächsten Tag an. Das Gespräch nahm ein Roboter entgegen. Ich sagte, wer ich sei und was ich wolle. Corcoran meldete sich erst am nächsten Tag, am späten Abend – ich wollte gerade schlafen gehen. Er sagte, ich könne gleich zu ihm kommen. Es war kurz vor elf. Ich versprach, sofort zu kommen, zog mich an und fuhr hin. Das Laboratorium war ein großes, düsteres Gebäude, nicht weit von der Chaussee entfernt. Ich hatte es schon einigemal gesehen, es jedoch für eine alte Fabrik gehalten. Es war in Dunkelheit getaucht. Nicht der schwächste Lichtschimmer erhellte eines der tief in die Mauer eingelassenen quadratischen Fenster. Auch der große Platz zwischen der eisernen Umzäunung und dem Tor war nicht erhellt. Ein paarmal stieß ich gegen scheppernde rostige Bleche oder Schienen, so daß ich schon etwas böse an der Tür ankam, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Ich läutete in der verabredeten Art, doch erst nach etwa fünf Minuten öffnete mir Corcoran selbst in einem grauen, von Säuren verbrannten Laborkittel. Er war entsetzlich mager, knochig, hatte eine Brille mit riesigen Gläsern und einen grauen Schnurrbart, der an einer Seite etwas kürzer war, als sei er angeknabbert.
  »Folgen Sie mir«, sagte er ohne jede Einleitung. Durch einen langen, kaum erhellten Gang, in dem Maschinen, Fässer, verstaubte, weiße Säcke Zement lagen, führte er mich zu einer großen stählernen Tür. Darüber brannte eine grelle Lampe. Er entnahm der Tasche seines Kittels einen Schlüssel, öffnete und ging als erster hinein. Ich folgte ihm. Über eine eiserne Wendeltreppe gelangten wir in die erste Etage. Eine große Fabrikhalle mit verglastem Gewölbe öffnete sich vor uns – die wenigen unverhüllten Glühbirnen beleuchteten sie nicht, sondern zeigten nur ihr dämmeriges Riesenausmaß. Sie war leer, tot, verlassen, hoch an der Decke tobten Luftzüge, der Regen, der zu fallen begann, als ich mich dem Sitz Corcorans genähert hatte, peitschte die Scheiben, die dunkel und schmutzig waren. Hier und da floß Wasser durch die Öffnungen in den eingeschlagenen Scheiben. Corcoran schien das nicht zu se hen, er ging vor mir über die blecherne Galerie, die unter den Schritten dröhnte; wieder eine stählerne, verschlossene Tür – dahinter ein Gang, an den Wänden entlang unordentlich, wie auf der Flucht hingeworfenes Werkzeug, mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Gang machte eine Biegung, wir stiegen nach oben, nach unten, gingen an Transmissionsriemen vorbei, die wie vertrocknete Schlangen anmuteten. Die Wanderung, bei der ich die Geräumigkeit des Baus kennenlernte, dauerte an; ein- oder zweimal warnte mich Corcoran an völlig dunklen Stellen vor einer Stufe oder einem zu niedrigen Türbalken. Vor der letzten dieser stählernen, dicht mit Nieten beschlagenen Türen, die wohl gegen Brände schützen sollten, blieb er stehen. Als er sie öffnete, bemerkte ich, daß sie im Gegensatz zu den anderen überhaupt nicht quietschte, so als wären die Angeln frisch geölt worden. Wir betraten einen hohen Saal, der fast leer war – Corcoran blieb in der Mitte stehen, dort, wo der Beton des Fußbodens etwas heller war, als hätte irgendwann eine Maschine an der Stelle gestanden, von der nur die herausragenden Lagereisen übriggeblieben waren. Es sah hier wie in einem Käfig aus. Mir fiel die Frage nach den Geistern ein… An den Stäben waren Regale angebracht, sehr stabil, mit Stützen, darauf standen eiserne Kisten, etwa ein Dutzend; ihr wißt doch, wie die Schatztruhen aussehen, die in den Legenden von Piraten vergraben werden? Genauso sahen diese Kästen aus, mit gewölbten Deckeln. An jedem hing ein in Zellophan gefaßten weißes Kärtchen, ähnlich dem Krankenbild am Bett eines Patienten. Hoch oben an der Decke brannte eine verstaubte Glühbirne, aber es war zu dunkel, um auch nur ein Wort entziffern zu können. Die Kästen standen in zwei Reihen übereinander, der eine jedoch etwas höher, gesondert – ich weiß noch, daß ich sie gezählt habe. Es waren etwa zwölf oder vierzehn, genau kann ich es nicht sagen.
  »Tichy«, wandte sich der Professor an mich, die Hände in den Taschen seines Kittels vergraben. »Lauschen Sie doch mal, hören Sie sich das an. Ich rede später…«
  Eine außergewöhnliche, auffallende Ungeduld war in ihm. Er wollte sofort, als er anfing zu sprechen, auf den Kern eingehen, wollte die Sache hinter sich bringen, wollte rasch fertig sein. Als hielte er jeden Augenblick, den er mit einem anderen verbrachte, für vergeudete Zeit.
  Ich kniff die Augen zusammen und stand eine Weile reglos da, eher aus Höflichkeit als aus Neugier auf irgendwelche Laute. Beim Eintreten hatte ich eigentlich nichts wahrgenommen, vielleicht irgendwo ein schwächliches Summen des elektrischen Stroms in den Wicklungen, etwas in dieser Art, aber ich versichere euch, das war so geringfügig, daß man das Summen einer verendenden Fliege dabei ausgezeichnet vernommen hätte.
  »Na, was hören Sie?« fragte er.
  »Fast nichts«, bekannte ich, »eine Art Summen… Aber das kann auch das Rauschen in den Ohren sein…«
  »Nein, das ist kein Rauschen in den Ohren. Tichy, hören Sie aufmerksam zu, denn ich wiederhole mich nicht gern. Ich sage das, weil Sie mich nicht kennen. Ich bin weder ordinär noch unverschämt, wie man immer sagt, aber mich regen Idioten auf, denen man zehnmal ein und dasselbe wiederholen muß. Ich hoffe, daß Sie nicht zu ihnen zählen.«
  »Wir werden sehen«, erwiderte ich. »Sprechen Sie, Herr Professor…«
  Er nickte, zeigte auf die Reihen der eisernen Kisten und sagte: »Kennen Sie sich in elektronischen Hirnen aus?«
  »Nur soviel, wie das bei der Navigation notwendig ist. Mit der Theorie ist es bei mir schlecht bestellt.«
  »Das habe ich mir gedacht. Na, macht nichts. Tichy, hören Sie. In diesen Kisten befinden sich die vollendetsten Elektronenhirne, die es jemals gab. Wissen Sie, worauf ihre Vollkommenheit beruht?«
  »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
  »Daraufhin, daß sie niemandem dienen, daß sie absolut zu nichts zu gebrauchen sind, daß sie unnütz sind; es sind von mir in die Tat umgesetzte, in Materie gekleidete Leibnizsche Monaden…«
  Ich schwieg abwartend, und er redete weiter, dabei sah sein grauer Schnurrbart in dem herrschenden Dämmerlicht aus, als flattere ein weißlicher Falter um seine Lippen.
  »Jede dieser Kisten enthält ein Elektronensystem, das Bewußtsein erzeugt. Wie unser Hirn. Es besteht zwar aus einem anderen Baustoff, aber das Prinzip ist das gleiche. Damit ist es auch schon aus mit der Ähnlichkeit. Denn unsere Hirne – geben Sie acht! – sind sozusagen an die äußere Welt angeschlossen, vermittels der Sinnenrezeptoren: der Augen, der Ohren, der Nase, der Haut und so weiter. Die hier hingegen«, er deutete mit dem Finger auf die Kisten, »haben ihre ›Außenwelt‹ da drinnen…«
  »Wie ist das möglich?« fragte ich. Mir dämmerte etwas, die Vermutung war nur vage, aber sie erweckte einen Schauer.
  »Ganz einfach. Woher wissen wir, daß so unser Körper aussieht und so unser Gesicht, daß wir stehen, daß wir ein Buch halten, daß die Blumen duften? Daher, daß gewisse Reize auf unsere Sinne einwirken und Anregungen durch die Nerven zum Hirn fließen. Stellen Sie sich vor, Tichy, daß ich Ihren Geruchssinn auf die gleiche Weise zu reizen vermag, wie das eine duftende Nelke tut – was werden Sie dann wahrnehmen?«
  »Nelkenduft natürlich«, erwiderte ich, und der Professor nickte, als sei er froh, daß ich ihm folgen konnte.
  »Wenn ich nun dasselbe mit allen Ihren Nerven tue, dann nehmen Sie nicht mehr die Außenwelt wahr, sondern das, was ich durch Ihre Nerven an Ihr Hirn telegrafiere… klar?«
  »Klar.«
  »Und nun folgendes. Diese Kisten haben Organrezeptoren, die analog zu unserem Geruchssinn, Gesichtssinn, Tastsinn, Gehör und so weiter wirken. Die Drähte dieser Rezeptoren – gewissermaßen die Nerven – sind anstatt an die Außenwelt, wie unsere, an diese Trommel dort in der Ecke angeschlossen. Sie haben sie noch gar nicht bemerkt, nicht wahr?«
  »Nein«, sagte ich. In der Tat, im Hintergrund stand senkrecht wie ein aufgestellter Mühlstein eine Trommel von etwa drei Meter Durchmesser. Nach einer Weile stellte ich fest, daß sie sich ganz langsam drehte.
  »Das ist ihr Schicksal«, sagte Professor Corcoran ruhig. »Ihr Schicksal, ihre Welt, ihr Dasein – alles, was sie erfahren und erkennen mögen. In der Trommel befinden sich besondere Bänder mit registrierten elektrischen Reizen, mit solchen, die den hundert oder zweihundert Milliarden Erscheinungen entsprechen, mit denen ein Mensch in einem an Eindrücken sehr reichen Leben konfrontiert werden kann. Wenn Sie die Hülle der Trommel hochheben, sehen sie nur glänzende Bänder, bedeckt mit weißen Zickzacklinien, wie Schimmel auf Zelluloid, aber das sind, Tichy, die heißen Nächte des Südens und das Rauschen der Wellen, die Formen tierischer Leiber und Schießereien, Begräbnisse und Zechereien und der Geschmack von Äpfeln und Birnen, Schneewehen, Abende, die man im Familienkreis am brennenden Kamin verbringt, und das Geschrei an Deck eines untergehenden Schiffes und die Konvulsionen einer Krankheit. Das sind die Gipfel der Berge und Friedhöfe und die, Halluzinationen Phantasierender – Ijon Tichy: Dort ist die ganze Welt!«
  Ich schwieg, und Corcoran, der mich mit eisernem Griff am Arm gepackt hatte, sagte: »Diese Kisten, Tichy, sind an eine künstliche Welt angeschlossen. Dieser hier«, er deutete auf die zunächst stehende, »scheint es, sie sei ein siebzehnjähriges Mädchen, grünäugig, mit rotblondem Haar, mit einem Körper, der einer Venus würdig wäre. Sie ist die Tochter eines Staatsmanns… Sie liebt einen Jüngling, den sie fast jeden Tag durchs Fenster sieht und der ihr Fluch sein wird. Die nächste ist ein Gelehrter. Er ist schon der allgemeinen Gravitationstheorie nahe, die in seiner Welt verbindlich ist, in dieser Welt, deren Grenzen die eisernen Wände der Trommel sind, und er bereitet sich zum Kampf um seine Wahrheit vor, in einer Vereinsamung, die durch die ihm drohende Blindheit noch größer wird, denn er wird erblinden, Tichy… Und dort, darüber, ist das Mitglied eines Priesterkollegiums, ein Mann, der seine schwersten Tage erlebt, denn er hat den Glauben an die Existenz seiner unsterblichen Seele verloren. Daneben, hinter der Einfriedung, steht…. aber ich kann Ihnen nicht das Leben aller Wesen, die ich geschaffen habe, erzählen…«
  »Darf ich Sie unterbrechen?« fragte ich. »Ich hätte gern gewußt…«
  »Nein! Sie dürfen nicht!« brüllte Corcoran. »Niemand darf! Jetzt rede ich, Tichy! Sie begreifen noch nichts. Sie denken sicherlich, daß dort in dieser Trommel verschiedene Signale festgehalten sind, wie auf einer Grammophonplatte, daß die Ereignisse so wie eine Melodie angeordnet sind, mit allen Tönen, und nun warten, wie die Musik auf der Platte, daß eine Nadel sie belebt, daß diese Kästen lediglich Komplexe von Erlebnissen nachgestalten, die bereits von vornherein bestimmt sind. Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!« rief er durchdringend, daß es von der blechernen Decke nur so widerhallte. »Der Inhalt dieser Trommel bedeutet denen dort, was Ihnen die Welt, in der Sie leben, bedeutet! Es fällt Ihnen doch nicht ein, wenn Sie essen, schlafen, aufstehen, reisen, alte Sonderlinge besuchen, daß das alles eine Grammophonplatte ist, deren Berührung Sie Gegenwart nennen!«
  »Aber…«, versetzte ich.
  »Schweigen Sie!« donnerte er. »Unterbrechen Sie mich nicht! Ich rede!«
  Im stillen dachte ich mir, daß jene, die ihn einen ungehobelten Klotz nannten, nicht so unrecht hatten, aber ich mußte aufpassen, denn das, was er sagte, war wirklich unerhört.
  »Das Schicksal meiner eisernen Kästen«, schrie er, »ist nicht bis zum Schluß vorher bestimmt, denn die Ereignisse dort in der Trommel sind auf Reihen paralleler Bänder gebannt, und nur ein entsprechend der Regel des blinden Zufalls wirkender Selektor entscheidet, aus welcher Bandreihe der Rezipient der Sinneswahrnehmungen einer bestimmten Kiste im nächsten Augenblick die Inhalte aufnehmen wird. Natürlich ist das nicht so einfach, wie ich es hier schildere, denn die Kisten können bis zu einem gewissen Grade selbst auf die Bewegungen des Sammlers Einfluß nehmen; eine absolute Zufallsselektion tritt nur dann ein, wenn die von mir Geschaffenen sich passiv verhalten – denn sie haben einen eigenen Willen, dem nur die gleichen Schranken gesetzt sind wie uns: die eigene Persönlichkeitsstruktur, Leidenschaften, angeborene Gebrechen, die äußeren Bedingungen, der Intelligenzgrad – ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten eingehen…«
  »Wenn es so ist«, warf ich rasch ein, »wie sollten sie dann nicht wissen, daß sie eiserne Kisten sind und nicht ein rotblondes Mädchen oder ein Prie…«
  Soviel vermochte ich vorzubringen, ehe er mich unterbrach: »Stellen Sie sich nicht dumm, Tichy. Sie setzen sich aus Atomen zusammen, wie? Fühlen Sie Ihre Atome?«
  »Nein.«
  »Diese Atome bilden Eiweißteilchen. Fühlen Sie ihr Eiweiß?«
  »Nein.«
  »In jeder Stunde des Tages und der Nacht werden Sie von kos
mischen Strahlen durchbohrt. Spüren Sie das?«
  »Nein.«
  »Wie sollen dann meine Kisten erfahren, daß sie Kisten sind, Sie
Esel! Genauso wie für Sie diese Welt authentisch und einzig ist, genauso sind für diese Hirne die Inhalte authentisch und einzig real, die zu ihren elektrischen Hirnen aus meiner Trommel fließen… In dieser Trommel ist ihre Welt, Tichy, und ihre Körper, die in unserer Wirklichkeit nur als bestimmte relativ stabile Lochgruppierungen in perforierten Bändern existieren, befinden sich innerhalb der Kisten selbst, sie stecken mittendrin… Diese da am Rande, auf der anderen Seite, hält sich für eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit. Ich kann Ihnen genau sagen, was sie sieht, wenn sie sich nackt im Spiegel betrachtet. Welche Edelsteine sie liebt. Welcher Kunststückchen sie sich bedient, um die Männer zu erobern. Ich weiß das alles, weil ich sie mit Hilfe meines Schicksalslaufs geschaffen habe, ihre – für uns imaginäre, für sie aber reale – Gestalt, mit einem Gesicht, mit Zähnen, Schweißgeruch, einer Narbe von einem Dolchstich auf dem Schulterblatt, mit einer Orchidee im Haar, so real, wie für Sie Ihre Hände und Beine, Ihr Bauch, Hals und Kopf real sind! Ich hoffe, daß Sie nicht an Ihrer Existenz zweifeln…?«
  »Nein«, erwiderte ich. Niemand hatte mich jemals so angeschrien, und vielleicht hätte mich das sogar belustigt, aber ich war von des Professors Worten zu sehr erschüttert – ich glaubte ihm, denn ich sah keinen Anlaß zu Mißtrauen –, als daß ich in diesem Augenblick auf seine Manieren geachtet hätte.
  »Tichy«, fuhr der Professor etwas leiser fort, »ich habe gesagt, daß ich hier unter anderem einen Gelehrten habe, das ist die Kiste Ihnen genau gegenüber. Dieser Gelehrte untersucht seine Welt, aber nie, verstehen Sie, nie wird er auch nur ahnen, daß seine Welt nicht real ist, daß er Zeit und Kräfte darauf vergeudet, das zu ergründen, was eine Reihe von Trommeln mit aufgewickeltem Filmband ist, und seine Hände, seine Beine, die Augen, seine eigenen, erblindenden Augen, sind nur Illusionen, hervorgerufen durch Entladungen entsprechend gewählter Impulse in seinem elektronischen Hirn. Um das zu ergründen, müßte er heraus aus seiner eisernen Kiste, das heißt, er müßte aus sich selbst herauskommen und aufhören, mit seinem eigenen Hirn zu denken, was unmöglich ist, wie es unmöglich ist, daß Sie die Existenz dieser kalten, schweren Kästen anders wahrnehmen als durch ihren Tast- und Gesichtssinn.«
  »Aber ich weiß dank der Physik, daß ich aus Atomen gebaut bin«, warf ich ein. Corcoran hob mit kategorischer Bewegung die Hand.
  »Er weiß das auch, Tichy. Er hat sein Laboratorium und darin alle Apparate, die seine Welt ihm liefern kann… Er sieht durchs Fernrohr die Sterne, untersucht ihre Bewegungen, und gleichzeitig spürt er den kühlen Druck der Brille im Gesicht – nein, nicht jetzt. Jetzt befindet er sich nach seiner Gewohnheit im leeren Garten, der sein Labor umgibt, und spaziert im Sonnenschein, weil in seiner Welt gerade Sonnenaufgang ist…«
  »Und wo sind die anderen Menschen, die anderen, inmitten derer er lebt?« fragte ich.
  »Die anderen Menschen? Natürlich bewegt sich jede dieser Kisten, jedes dieser Wesen unter Menschen. Sie befinden sich – alle – in der Trommel… Ich sehe, daß Sie noch immer nicht begreifen können! Vielleicht versinnbildlicht Ihnen das ein Beispiel. Sie begegnen in Ihren Träumen verschiedenen Menschen – manchmal auch solchen, die Sie nie gesehen oder gekannt haben, und führen mit ihnen im Traum Gespräche – stimmt doch?«
  »Ja…«
  »Diese Menschen erzeugt Ihr Gehirn. Aber während Sie träumen, wissen Sie das nicht. Das war, wie gesagt, nur ein Beispiel. Mit denen dort« – er streckte die Hand aus – »ist es anders, sie erschaffen nicht selbst ihre Nächsten und all die Fremden – die sind in der Trommel, ganze Scharen, und wenn mein Gelehrter plötzlich Lust verspürte, aus seinem Garten herauszukommen und sich an den ersten besten Spaziergänger zu wenden, dann könnten Sie, würden Sie die Hülle der Trommel abheben, sehen, wie das vor sich geht: Sein Sinnenrezipient weicht unter dem Einfluß des Impulses etwas von seinem bisherigen Weg ab, er geht auf ein anderes Band über und nimmt auf, was sich darauf befindet: ich sage ›Rezipient‹, doch das sind im Grunde Hunderte mikroskopisch kleiner Stromsammler, denn ebenso wie Sie die Welt mit dem Blick, mit dem Geruch, mit dem Tastsinn, mit dem Gleichgewichtsorgan aufnehmen – genauso erkennt er seine ›Welt‹ vermittels getrennter Sinneseingänge, getrennter Kanäle, und erst sein elektrisches Hirn fügt all diese Eindrücke zu einer Einheit zusammen. Aber das sind unwesentliche technische Einzelheiten, Tichy. Glauben Sie mir, mit dem Augenblick, da der Mechanismus einmal in Bewegung gesetzt worden ist, war das nur eine Frage der Geduld, nichts weiter. Lesen Sie die Philosophen, und Sie werden erkennen, wie wenig man sich auf unsere Sinneseindrücke verlas sen kann, wie unzuverlässig, wie trügerisch, wie leicht irrezuführen sie sind, dabei haben wir doch nichts außer ihnen; ebenso«, fuhr er mit erhobener Hand fort, »ergeht es ihnen. Aber das hindert sie sowenig wie uns, zu lieben, zu verlangen, zu hassen. Sie können andere Menschen berühren, um sie zu küssen oder um sie zu töten… Und so geben sich diese meine Schöpfungen in ihrer ewigen eisernen Unbeweglichkeit Leidenschaften und heftigen Gefühlen hin, sie üben Verrat, empfinden Sehnsucht, sie träumen…«
  »Sie meinen, daß das unfruchtbar ist?« fragte ich unerwartet.
  Corcoran maß mich mit seinem durchbohrenden Blick. Lange Zeit gab er keine Antwort.
  »Ja«, antwortete er schließlich, »gut, daß ich Sie hier eingeführt habe, Tichy. Jeder der Idioten, dem ich das gezeigt habe, wetterte erst einmal über meine Grausamkeit… Was wollen Sie damit sagen?«
  »Sie liefern ihnen nur den Rohstoff«, sagte ich, »in der Form dieser Impulse. Ähnlich liefert die Welt sie uns. Wenn ich dastehe und zu den Sternen aufschaue – so ist das, was ich dabei empfinde, was ich denke, nur noch mein eigener Besitz, nicht der der Welt. Mit ihnen«, ich deutete auf die Reihe der Kisten, »ist es ebenso.«
  »Richtig«, sagte der Professor trocken. Er stand nun gebeugt da und wirkte dadurch kleiner. »Aber da Sie das schon ausgesprochen haben, ersparen Sie mir lange Ausführungen, denn Sie begreifen doch wohl, wozu ich sie geschaffen habe?«
  »Ich vermute es. Aber vielleicht sagen Sie es mir doch lieber selbst.«
  »Gut. Einst – es ist schon sehr lange her, begann ich an der Realität der Welt zu zweifeln. Ich war damals noch ein Kind. Die sogenannte Tücke des Objekts, Tichy – wer hat sie nicht erfahren? Wir können eine Kleinigkeit nicht finden, obwohl wir uns genau erinnern, wo wir sie zuletzt gesehen haben, endlich finden wir sie anderswo wieder, mit dem Gefühl, die Welt in flagranti bei einer Ungenauigkeit, einer Nachlässigkeit ertappt zu haben… Die Erwachsenen sagen selbstverständlich, das sei ein Irrtum – und das natürliche Mißtrauen des Kindes wird auf diese Weise erstickt… Oder das, was man als sentiment du déjà vu bezeichnet – der Eindruck, in einer Situation, die zweifellos neu ist, die man zum erstenmal erlebt, schon einmal gewesen zu sein… Ganze metaphysische Systeme wie der Glaube an Seelenwanderung, an die Reinkarnation sind in Anlehnung an diese Erscheinungen entstanden. Und weiter: das Gesetz der Serie, die Wiederholung besonders seltener Erscheinungen, die so oft in Paaren auftreten, daß die Ärzte das in ihrer Sprache duplicitas casuum genannt haben. Und schließlich… die Geister, nach denen ich Sie gefragt habe. Gedankenlesen, Levitationen und die – zwar seltenen, aber am wenigsten mit den Grundlagen unseres Wissens zu vereinbarenden, am schwersten zu erklärenden – Fälle von Zukunftsvorhersagen… Ein Phänomen, das seit der frühesten Zeit beschrieben wird, obwohl es doch gar nicht möglich ist, da jede wissenschaftliche Anschauung der Welt es ausschließt. Und was ist das alles? Was bedeutet es? Wollen Sie es aussprechen? Dazu fehlt Ihnen doch der Mut, Tichy… Nun gut. Schauen Sie…«
  Er trat an die Wand und zeigte auf die gesondert stehende Kiste auf dem höchsten Regal.
  »Das ist der Wahnsinnige meiner Welt«, sagte er, und während er lächelte, wandelte sich sein Gesicht. »Wissen Sie, wozu er in seinem Wahn, der ihn von den anderen abgesondert hat, gelangt ist? Er hat sich der Suche nach der Unvollkommenheit seiner Welt gewidmet. Denn ich habe nicht behauptet, Tichy, daß diese seine Welt vollkommen sei. Der effektvollste Mechanismus kann plötzlich klemmen, irgendein Luftzug kann die Kabelschnüre in Schwingungen versetzen, so daß sie sich für einen Augenblick schneiden, oder es dringt eine Ameise in das Innere der Trommel… Wissen Sie, was er dann denkt, dieser Tollkopf? Daß die Telepathie durch einen lokalen Kurzschluß von Drähten zweier verschiedener Kisten hervorgerufen wird… Daß ein Blick in die Zukunft dann erfolgt, wenn der Rezipient schwankt und plötzlich von dem richtigen Band auf eins überspringt, das erst in vielen Jahren abrollen soll. Daß das Gefühl, er habe schon einmal erlebt, was ihm in Wirklichkeit zum erstenmal widerfährt, durch ein Klemmen des Selektors bewirkt ist, und wenn er in seinem Kupferlager nicht nur erzittert, sondern wie ein Pendel zu schaukeln beginnt, weil ihn, was weiß ich, eine Ameise angestoßen hat – dann ereignet sich in seiner Welt Erstaunliches und Unerklärliches: In jemandem entflammt ein plötzliches und unvernünftiges Gefühl, jemand beginnt zu prophezeien, die Gegenstände bewegen sich von selbst oder tauschen ihren Standort. Vor allem aber tritt im Ergebnis dieser rhythmischen Bewegungen… das Gesetz der Serie auf. Der Gruppierung seltener und wunderlicher Erscheinungen zu Folgen… Und sein Wahn, genährt durch solche von der Allgemeinheit unterschätzten Phänomene, gipfelt in der Behauptung – für die man ihn bald in ein Irrenhaus sperren wird –, daß er selbst eine eiserne Kiste sei, so wie alle, die ihn umgeben, daß die Menschen nur Einrichtungen in der Ecke eines verstaubten Laboratoriums seien, und die Welt, ihre Reize und Schrecken, nur Illusionen. Ja, er wagte sogar an seinen Gott zu denken, Tichy, an einen Gott, der früher, als er noch naiv war, Wunder tat, aber dann erzog die Welt ihren Schöpfer, lehrte ihn, das einzige, was er tun dürfe, sei, sich nicht einzumischen, nicht zu existieren, nichts an seinem Werk zu verändern, denn nur zu einer Göttlichkeit, die man nicht anruft, kann man Vertrauen haben. Wird sie angerufen, dann erweist sie sich als unvollkommen und machtlos… Und wissen Sie, was sein Gott denkt, Tichy?«
  »Ja«, erwiderte ich. »Daß er ihm ähnelt. Aber dann ist es auch möglich, daß der Eigentümer des verstaubten Labors, auf dessen Regalen WIR stehen, selbst eine Kiste ist, die ein anderer, in der Rangordnung noch höherer Gelehrter erbaut hat, der über originellere und phantastischere Konzeptionen verfügt… und so bis ins Unendliche. Jeder dieser Experimentatoren ist ein Gott – der Schöpfer seiner Welt, dieser Kisten und ihres Schicksals, und er hat seine Adame und seine Evas und über sich – seinen in der Hierarchie nächsthöheren Gott. Und deshalb haben Sie das gemacht, Professor…«
  »Ja. Und da ich das gesagt habe, wissen Sie eigentlich genausoviel wie ich, ein weiteres Gespräch wäre sinnlos. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, und möchte mich jetzt verabschieden.«
  So, meine Freunde, endete diese ungewöhnliche Bekanntschaft. Ich weiß nicht, ob Corcorans Kästen noch in Bewegung sind. Vielleicht ja, vielleicht träumen sie noch ihr Leben mit seinem Glanz und seinem Entsetzen, und alles ist nur ein Gewimmel auf Filmbändern erstarrter Impulse. Corcoran aber begibt sich, nachdem er sein Tagewerk verrichtet hat, jeden Abend über die eiserne Treppe nach oben, öffnet nacheinander die stählernen Türen mit dem großen Schlüssel, den er in der Tasche seines von Säuren zerfressenen Kittels trägt, und bleibt dort, in dem staubigen Dunkel, stehen, um dem schwachen Summen des Stroms zu lauschen und dem kaum vernehmbaren Laut, mit dem träge die Trommel sich dreht… mit dem sich das Band bewegt… und ein Schicksal erfüllt wird. Und ich denke, daß er dann, entgegen seinen Worten, Lust verspürt, einzudringen in die Tiefe der Welt, die er geschaffen hat, mit blendender Allmacht einzudringen, um darin jemanden zu retten, der Sühne verkündet; daß er schwankt, allein, im trüben Licht der nackten Glühbirne, ob er jemandes Leben, ob er eine Liebe retten soll, und ich bin mir sicher, daß er das nie tun wird. Er wird sich den Verlockungen widersetzen, denn er will Gott sein, die einzige Göttlichkeit aber, die wir kennen, ist das schweigende Einverständnis mit jeder menschlichen Handlung, für sie gibt es keinen höheren Lohn als die in jeder Generation sich erneuernde Auflehnung der eisernen Kästen, wenn sie sich, in ihrer Vernunft, darin bestärken, daß Er nicht existiert. Dann lächelt er stumm und geht, die Tür hinter sich schließend, hinaus; und in der Leere ertönt nur das schwache, dem Laut einer sterbenden Fliege gleichende Summen des Stroms.


II




Vor ungefähr sechs Jahren, nach meiner Rückkehr von einer Reise, als ich der Ruhe und der Freude an der naiven Ordnung des häuslichen Lebens schon wieder überdrüssig war, jedoch nicht in dem Maße, daß ich eine neue Exkursion plante, kam eines späten Abends, als ich niemanden mehr erwartete, ein Mann zu mir und unterbrach mich beim Schreiben meiner Erinnerungen.
  Er war im besten Alter, rothaarig, und schielte entsetzlich, so sehr, daß es schwerfiel, ihm ins Gesicht zu blicken, obendrein hatte er ein grünes Auge und ein braunes. Dadurch wurde noch der besondere Ausdruck dieses Gesichts betont, als hätten darin zwei Menschen Platz, ängstlich und nervös der eine, arrogant und ein scharfsinniger Zyniker der andere, dominierende; daraus ergab sich ein verblüffendes Durcheinander, denn er betrachtete mich einmal mit dem unbeweglichen, gleichsam verwunderten braunen Auge, ein andermal mit dem grünen, das halb zugekniffen war und dadurch spöttisch wirkte.
  »Herr Tichy«, sagte er, kaum daß er mein Arbeitszimmer betreten hatte, »sicherlich werden Sie von verschiedenen Bauernfängern, Betrügern, Verrückten heimgesucht, die Sie anpumpen wollen oder danach trachten, Ihnen ihre Märchen aufzuschwatzen, stimmt’s?«
  »In der Tat«, erwiderte ich, »das kommt vor… Was wünschen Sie?«
  »Unter der Vielzahl solcher Personen«, fuhr der Ankömmling fort, ohne seinen Namen oder den Grund seines Besuchs zu nennen, »muß sich – vielleicht einer unter tausend – von Zeit zu Zeit ein wirkliches Genie befinden. Das erfordern schon die unumstößlichen Gesetze der Statistik. Dieser Mensch, Herr Tichy, bin ich. Mein Name ist Decantor. Ich bin Professor der vergleichenden Ontogenetik, ordentlicher Professor. Einen Lehrstuhl habe ich augenblicklich nicht inne, weil ich dafür keine Zeit habe. Übrigens ist Unterrichten eine absolut unfruchtbare Beschäftigung. Niemand kann jemanden etwas lehren. Aber nicht darum geht es. Ich befasse mich mit einer Frage, der ich schon achtundvierzig Jahre meines Lebens widme; jetzt habe ich sie zu Ende geführt.«
  »Auch ich habe wenig Zeit«, entgegnete ich. Der Mann gefiel mir nicht. Sein Verhalten war nicht fanatisch, sondern arrogant, und wenn ich schon wählen muß, ziehe ich die Fanatiker vor. Außerdem war es offensichtlich, daß er Unterstützung verlangen würde, ich aber bin geizig und habe den Mut, mich dazu zu bekennen. Das bedeutet nicht, daß ich eine bestimmte Sache mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nicht unterstützen würde, aber ich tue das ungern, mit großem Widerstreben und gewissermaßen gegen meinen Willen; ich weiß einfach, daß man so handeln muß.
  Deshalb fügte ich nach einer Weile hinzu: »Vielleicht erklären Sie mir, worum es sich handelt? Ich kann Ihnen natürlich nichts versprechen. Mir ist da etwas in Ihren Worten aufgefallen. Sie haben gesagt, daß Sie achtundvierzig Jahre Ihrem Problem gewidmet haben. Wie alt sind Sie überhaupt, wenn ich fragen darf?«
  »Achtundfünfzig«, antwortete er wesentlich kühler.
  Er stand noch immer mitten im Zimmer, als wartete er, daß ich ihm einen Stuhl anbot. Ich hätte es getan, denn ich gehöre zu den höflichen Geizhälsen, aber ich ärgerte mich, daß er so ostentativ darauf wartete. Außerdem habe ich bereits gesagt, daß er mir über die Maßen unsympathisch war.
  »Diesem Problem«, begann er von neuem, »habe ich mich als zehnjähriger Junge zugewandt. Denn ich bin nicht nur ein genialer Mensch, Herr Tichy, ich war auch ein geniales Kind.«
  Solche Großtuer sind mir nichts Neues, aber soviel Genialität ging mir entschieden zu weit. Ich biß mir auf die Lippe.
  »Bitte fahren Sie fort«, sagte ich. Hätte der eisige Ton die Temperatur senken können, dann hingen jetzt Stalaktiten von der Decke.