Zum erstenmal kam ich mit dem
Wirken des Meisters Oh auf Europien in Berührung. Auf diesem
Planeten brodelte es seit eh und je, unter den Einwohnern gab es
oft Streit, es herrschten Haß und Böswilligkeit. Der Bruder
beneidete den Bruder, der Schüler haßte seinen Lehrer, der
Untergebene den Vorgesetzten. Aber als ich dort eintraf, fielen mir
die allgemeine Sanftmut und die zärtliche Liebe auf, die
ausnahmslos alle Mitglieder der planetaren Gesellschaft einander
angedeihen ließen. Ich versuchte natürlich zu ergründen, welches
die Ursache dieser so erbaulichen Veränderung gewesen sein
mochte.
Als ich einmal in Begleitung
eines guten Bekannten, eines Einheimischen, durch die Straßen der
Hauptstadt schlenderte, entdeckte ich in zahlreichen Schaufenstern
Köpfe von natürlicher Größe, die wie Hüte auf Ständern ausgestellt
waren, sowie große Puppen, die vortrefflich die Europier
darstellten. Mein Begleiter, den ich darüber befragte, erklärte
mir, es seien Ableiter für unfreundliche Gefühle. Sobald jemand
gegenüber einer Person Abneigung oder gewisse Vorurteile hege,
suche er einen solchen Laden auf und bestelle ein getreues Abbild
des Betreffenden, um sich mit ihm in den eigenen vier Wänden
einzuschließen und mit ihm nach Herzenslust zu verfahren. Begüterte
Personen könnten sich eine ganze Puppe leisten, bedürftigere müßten
sich mit der Mißhandlung bloßer Köpfe begnügen.
Diese mir bislang unbekannte
Errungenschaft sozialer Technik, die als Prothese des Freien
Handelns bezeichnet wurde, veranlaßte mich, genauere Erkundigungen
über ihren Schöpfer einzuholen, der sich dann als Meister Oh
herausstellte.
Später, wenn ich mich auf anderen
Himmelskörpern aufhielt, hatte ich immer wieder Gelegenheit, Spuren
seines wohltuenden Wirkens kennenzulernen. So lebte auf dem
Planeten Ardelurien ein berühmter Astronom, der behauptete, der
Planet drehe sich um seine eigene Achse. Diese These widersprach
jedoch dem Glauben der Ardeluren, demzufolge der Planet der
unbewegliche Mittelpunkt des Universums sei. Das Priesterkollegium
zitierte den Astronomen vor ein Gericht und verlangte, daß er seine
ketzerische Lehre widerrufe. Als er sich weigerte, verurteilte man
ihn zum Tode auf dem Scheiterhaufen, damit er von seinen Sünden
gereinigt werde. Als Meister Oh davon erfuhr, reiste er nach
Ardelurien und führte dort Gespräche mit den Priestern und mit dem
Gelehrten, aber beide Seiten beharrten fest auf ihrem Standpunkt.
Nachdem der weise Mann eine ganze Nacht überlegt hatte, kam er auf
die richtige Idee, die er sogleich in die Tat umsetzte. Er erfand
die Planetenbremse. Mit ihrer Hilfe wurde die Rotationsbewegung des
Planeten aufgehalten. Der Astronom, der im Gefängnis saß,
überzeugte sich nach einer erneuten Beobachtung des Himmels von der
eingetretenen Veränderung, er widerrief seine bisherigen
Behauptungen und akzeptierte bereitwillig das Dogma von der
Unbeweglichkeit Ardeluriens. Auf diese Weise wurde die Prothese der
Objektiven Wahrheit geschaffen.
Übte Meister Oh nicht gerade eine
gesellschaftliche Tätigkeit aus, dann befaßte er sich mit
Forschungsarbeiten anderer Art. So schuf er zum Beispiel ein
Verfahren zur Entdeckung von Planeten, die von vernunftbegabten
Wesen bevölkert sind – die Methode des »Schlüssels a posteriori«,
ein, wie jeder geniale Einfall, unerhört einfaches Verfahren.
Leuchtet an einer Stelle des Firmaments, an der es bislang keine
Sterne gab, ein neues Sternchen auf, so zeugt das davon, daß gerade
ein Planet zerfällt, dessen Bewohner eine hohe Zivilisationsstufe
erreicht und Methoden zur Freisetzung der Atomenergie ersonnen
haben. Meister Oh bemühte sich, derartige Vorkommnisse nach
Möglichkeit zu verhüten, und zwar dadurch, daß er den Bewohnern der
Planeten, auf denen die Vorräte an natürlichen Brennstoffen, wie
Kohle oder Erdöl, zur Neige gingen, die Aufzucht elektrischer Aale
empfahl. Diese Methode bürgerte sich auf mehreren Himmelskörpern
als Prothese des Fortschritts ein. Welcher Kosmonaut ist nicht
angetan von den Abendspaziergängen auf der Enteroptose, wenn ihn
bei einer Wanderung im Dunkeln ein dressierter Aal mit einer
kleinen Glühbirne im Maul begleitet!
Mit der Zeit wuchs in mir immer
mehr das Verlangen, Meister Oh kennenzulernen. Mir war allerdings
klar, daß ich mich, ehe ich seine Bekanntschaft suchte, noch
tüchtig auf den Hosenboden setzen mußte, um mich auf den Höhen
seines Intellekts bewegen zu können. Geleitet von diesem Gedanken,
beschloß ich, die gesamte Flugdauer, die auf neun Jahre berechnet
war, meiner Weiterbildung auf dem Gebiet der Philosophie zu widmen.
So startete ich denn auf der Erde mit einer Rakete, in der von der
Einstiegluke bis zum Bug Bücherregale aufgestellt waren, die sich
unter der Last der trefflichsten Früchte menschlichen Geistes nur
so bogen. Nachdem ich mich etwa sechshundert Millionen Kilometer
vom heimatlichen Gestirn abgesetzt hatte und nichts mehr meine Ruhe
stören konnte, begann ich mit der Lektüre. Angesichts des Umfangs
legte ich mir einen besonderen Plan zurecht. Um zu vermeiden, daß
ich Bücher irrtümlicherweise ein zweites Mal las, warf ich jedes
Werk, das ich kennengelernt hatte, durch die Luke aus der Rakete,
in der Absicht, die frei im Raum schwebenden Bücher auf dem Rückweg
wieder einzusammeln.
Ich studierte also
zweihundertachtzig Tage lang Anaxagoras, Platon und Plotinos,
Origenes und Tertullian, nahm den Scotus Eriugena durch, die
Bischöfe Hrabanus aus Mainz und Hinkmar aus Reims, las den
Ratramnus aus Corbie und den Servatus Lupus von A bis Z, ebenso
Augustinus, namentlich sein De Vita Beata,
De Civitate Dei und De Quantitate Anitnae. Darauf widmete ich mich
Thomas von Aquin, den Bischöfen Sinesius und Nemesius sowie dem
Pseudoareopagiten, dem heiligen Bernhard und Suárez. Beim heiligen
Viktor mußte ich eine Pause einlegen; ich habe nämlich die
Gewohnheit, beim Lesen Brotkügelchen zu formen, und die Rakete war
schon voll davon. Nachdem ich alles in den Weltraum gefegt hatte,
schloß ich die Klappe und ging wieder an mein Studium. Die nächsten
Regale waren mit Werken der neueren Zeit ge füllt – etwa
siebeneinhalb Tonnen im ganzen, und ich befürchtete schon, daß mir
die Zeit nicht reichen würde, alles zu ergründen, doch bald kam ich
dahinter, daß die Motive sich wiederholten und sich lediglich durch
die Art des Herangehens voneinander unterschieden. Was bei den
einen, bildlich gesprochen, auf den Füßen stand, stellten die
anderen auf den Kopf, so daß ich mir manches schenken
konnte.
Also durchforschte ich die
Mystiker und die Scholastiker, Hartmann, Gentile, Spinoza, Wundt,
Malebranche, Herbart, ich machte mich mit dem Infinitismus
vertraut, mit der Vollkommenheit des Schöpfers, mit der
Prästabilierten Harmonie und mit den Monaden, dabei kam ich aus dem
Staunen nicht heraus, wieviel doch jeder dieser Weisen über die
menschliche Seele zu sagen hatte, und zwar immer genau das
Gegenteil von dem, was die anderen behaupteten.
Als ich gerade in die wahrhaft
genußvolle Beschreibung der Prästabilierten Harmonie vertieft war,
riß mich ein recht drastisches Erlebnis aus meiner Lektüre. Ich
befand mich bereits in der Gegend der kosmischen Magnetwirbel, die
alle eisernen Gegenstände mit unglaublicher Kraft magnetisieren.
Das geschah auch mit den eisernen Beschlägen meiner Schuhe, und so
konnte ich, festgesaugt am stählernen Fußboden, nicht einen
einzigen Schritt tun, um zum Schränkchen mit den Lebensmitteln zu
gelangen. Mir drohte bereits der Hungertod, aber zur rechten Zeit
fiel mir ein, daß ich ja eine Taschenbuchausgabe des Ratgebers des
Kosmonauten auf der Brust trug, in der ich den Hinweis fand, daß
man in solchen Situationen am besten die Schuhe auszog. Hierauf
kehrte ich zu meinen Büchern zurück.
Als ich etwa sechstausend Bände
durchgesehen hatte und mich darin auskannte wie in meiner
Westentasche, trennten mich noch etwa acht Trillionen Kilometer vom
Planeten Hinterschein. Ich nahm gerade das nächste Regal in
Angriff, das mit der Kritik der reinen Vernunft ausgefüllt war, da
drang heftiges Klopfen an mein Ohr! Überrascht hob ich den Kopf, da
ich ja allein in der Rakete war und eigentlich keine Gäste aus dem
Weltraum erwartete. Das Klopfen wurde hartnäckiger, und ich vernahm
nun auch eine gedämpfte Stimme: »Aufmachen!«
Eilends schraubte ich die Luke
auf, und herein kamen drei Geschöpfe in Raumanzügen, die über und
über mit Milchstaub bedeckt waren.
»So! Da hätten wir einen
Wassermann auf frischer Tat ertappt!« rief der erste Ankömmling,
und der zweite fragte: »Wo ist Ihr Wasser?«
Bevor ich, starr vor Staunen,
antworten konnte, sagte der dritte etwas zu ihnen, was sie ein
wenig sanfter stimmte.
»Woher kommst du?« fragte mich
der erste.
»Von der Erde. Und wer seid
ihr?«
»Die freiheitliche Fipo von
Pinta«, knurrte er und reichte mir einen Fragebogen, den ich
ausfüllen sollte.
Kaum hatte ich einen Blick auf
die Spalten dieses Dokuments und sodann auf die Skaphander der
Geschöpfe geworfen, die bei jeder Bewegung einen glucksenden Laut
von sich gaben, da wurde mir klar, daß ich aus Unachtsamkeit in die
Nähe der Zwillingsplaneten Pinta und Panta geraten war; dabei
empfehlen sämtliche Ratgeber, einen möglichst großen Bogen um sie
zu machen. Leider war es dazu zu spät. Während ich den Fragebogen
ausfüllte, notierten die Wesen in den Raumanzügen systematisch
sämtliche Gegenstände, die sich in der Rakete befanden. Plötzlich
entdeckten sie eine Büchse Sprotten in Öl; sie stießen einen
triumphierenden Schrei aus, versiegelten die Rakete und nahmen sie
ins Schlepptau. Ich versuchte ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen,
jedoch ohne Erfolg. Mir fiel auf, daß die Skaphander, die sie
anhatten, in einen breiten, flachen Schößling ausliefen, so als
hätten die Pinter Fischschwänze anstelle von Füßen. Bald setzten
wir auf dem Planeten auf. Er war ganz mit Wasser bedeckt,
allerdings nicht hoch, denn die Dächer der Gebäude ragten daraus
hervor. Als die uniformierten Pinter auf dem Flugplatz ihre
Raumanzüge ablegten, stellte ich fest, daß sie den Menschen sehr
ähnlich waren und nur eigenartig verbogene, verrenkte Gliedmaßen
hatten. Man setzte mich in ein bootähnliches Gefährt, das insofern
seltsam anmutete, als es Löcher im Boden hatte und bis zur
Bordkante mit Wasser gefüllt war. In halber Tauchfahrt näherten wir
uns langsam dem Zentrum der Stadt. Ich fragte, ob man diese Löcher
nicht zustopfen und das Wasser ausschöpfen könnte, dann erkundigte
ich mich auch nach anderen Dingen, doch meine Gefährten antworteten
nicht, sie notierten lediglich fieberhaft meine Worte.
Durch die Straßen wateten die
Einwohner; sie hielten die Köpfe unter Wasser, tauchten jedoch alle
Augenblicke auf, um Atem zu holen. Durch die gläsernen Mauern
konnte man in die Häuser blicken. Die Zimmer waren etwa bis zur
Hälfte mit Wasser gefüllt. Als unser Vehikel an einer Kreuzung
neben der Hauptverwaltung für Bewässerung halten mußte, hörte ich
durch die offenen Fenster das Glucksen der Beamten. Auf den Plätzen
standen himmelragende Fischdenkmäler, geschmückt mit Kränzen aus
Wasserpflanzen. Als unser Boot wieder einen Augenblick hielt (es
herrschte sehr reger Verkehr), entnahm ich den Gesprächen der
Passanten, daß kurz zuvor an der Ecke ein Spion entlarvt worden
sei, als er Sengel triftete.
Dann schwammen wir durch eine
breite Allee, die mit prachtvollen Fischporträts und
verschiedenfarbigen Transparenten geschmückt war, wie: »Hoch lebe
die wäßrige Freiheit!« – »Flosse an Flosse bekämpfen wir
Wassermänner die Dürre!«, und vielen anderen, die ich alle gar
nicht lesen konnte. Schließlich legte das Boot bei einem gewaltigen
Wolkenkratzer an. Seine Fassade war mit Girlanden verziert, und
über dem großen Portal hing ein smaragdgrünes Schild:
»Freiheitliche Fipo«. Mit einem Fahrstuhl, der Ähnlichkeit mit
einem kleinen Aquarium besaß, fuhren wir ins 16. Stockwerk. Man
führte mich in einen Raum, der bis über den Schreibtisch mit Wasser
gefüllt war, und befahl mir zu warten. Der Raum war ganz mit
herrlichen smaragdgrünen Schuppen ausgeschlagen.
Ich legte mir in Gedanken genaue
Antworten auf Fragen zurecht: Woher ich komme und wohin ich zu
reisen gedenke, aber es fragte mich niemand danach. Der
Untersuchungsbeamte, ein Pin ter von kleiner Statur, betrat das
Zimmer, musterte mich mit strengem Blick, stellte sich dann auf die
Zehenspitzen und fragte, den Mund aus dem Wasser haltend: »Wann
hast du deine verbrecherische Tätigkeit begonnen? Hat man dir viel
dafür gegeben? Wer sind deine Komplizen?«
Ich erwiderte, daß ich durchaus
kein Spion sei, und erläuterte auch die Umstände, die mich auf den
Planeten geführt hätten. Als ich jedoch erklärte, ich hätte mich
nur zufällig auf Pinta eingefunden, lachte der Vernehmende laut und
sagte, ich solle mir etwas Besseres einfallen lassen. Dann widmete
er sich dem Studium der Protokolle und überschüttete mich alle
Augenblicke mit Fragen. Das bereitete ihm Mühe, denn er mußte
jedesmal aufstehen, um Luft zu holen, einmal verschluckte er sich
sogar und mußte lange husten. Später stellte ich fest, daß dies den
Pintern sehr oft widerfuhr.
Der Untersuchungsbeamte redete
mir freundlich zu, alles zuzugeben, als ich aber immer wieder
entgegnete, ich sei unschuldig, sprang er plötzlich auf, deutete
auf die Büchse mit den Sprotten und fragte: »Und was bedeutet
das?«
»Nichts«, erwiderte ich
verblüfft.
»Wir werden ja sehen. Führt
diesen Provokateur ab!« schrie er.
Damit war das Verhör
beendet.
Der Raum, in dem man mich
einschloß, war völlig trocken. Ich stellte das mit wahrer Freude
fest, denn das lästige Naß hatte sich bei mir bereits bemerkbar
gemacht. Außer mir befanden sich in der Zelle sieben Pinter, die
mich sehr freundlich aufnahmen und mir, dem Ausländer, auf der Bank
Platz machten. Von ihnen erfuhr ich, daß die Sprotten, die in der
Rakete gefunden worden waren, im Sinne ihrer Gesetze eine
furchtbare Beleidigung der höchsten pintischen Ideale bedeuteten,
und zwar wegen der sogenannten »verbrecherischen Anspielung«. Ich
wollte wissen, welcher Art diese Anspielung sei, aber sie konnten
oder – so schien mir – sie wollten es mir nicht sagen. Da ich sah,
daß ihnen derlei Fragen unangenehm waren, verstummte ich. Sie
erzählten mir noch, daß die Räume hinter Schloß und Riegel die
einzigen wasserfreien Örtlichkeiten auf dem Planeten seien. Ich
wollte wissen, ob sie sich im Laufe ihrer Geschichte schon immer im
Wasser aufgehalten hätten, und erfuhr, daß Pinta einst viele
Kontinente und wenig Meere besaß und daß es eine Unmenge
scheußlicher trockener Stellen gab.
Derzeitiger Herrscher über den
Planeten war der Große Wassermann Ermesineus der Hechter. Während
meines dreimonatigen Aufenthalts in der Trockenzelle hatten mich
achtzehn verschiedene Kommissionen untersucht. Sie konstatierten
die Form, die der Schleier auf dem Spiegel annahm, den ich
anzuhauchen hatte, zählten die Tropfen, die nach dem Untertauchen
ins Wasser an mir herabliefen, und verpaßten mir einen
Fischschwanz. Auch meine Träume mußte ich den Experten erzählen,
die sie sogleich klassifizierten und nach den Paragraphen des
Strafgesetzbuches ordneten. Im Spätsommer beliefen sich die Beweise
meiner Schuld bereits auf achtzig dicke Bände, und die Sachbeweise
füllten drei Schränke in dem mit Schuppen ausgeschlagenen Raum. Zu
guter Letzt gestand ich alles, was mir vorgeworfen wurde,
insbesondere das Perforieren der Chondriten und die mehrfache
umfangreiche Destillation zugunsten Pantas. Bis auf den heutigen
Tag weiß ich nicht, was das bedeutete. Unter Berücksichtigung
mildernder Umstände, vor allem meiner sturen Unkenntnis der
Segnungen des Unterwasserlebens, sowie im Hinblick auf den
bevorstehenden Namenstag des Großen Hechters wurde gegen mich das
milde Urteil von zwei Jahren ungehinderter Steinmetzarbeit mit
Bewährung im Wasser auf sechs Monate gefällt, woraufhin ich auf
freien Fuß gesetzt wurde.
Ich beschloß, mich für meinen
halbjährigen Aufenthalt auf Pinta möglichst bequem einzurichten, da
ich jedoch in keinem Hotel Unterschlupf fand, quartierte ich mich
bei einer Greisin ein, die sich mit dem Tremolieren von Schnecken
befaßte, das heißt, sie dressierte sie so, daß sie sich an
Nationalfeiertagen in bestimmte Muster legten.
Gleich am ersten Abend nach dem
Verlassen der Trockenzelle hörte ich mir die Darbietungen des
hauptstädtischen Chores an, der mich stark enttäuschte, denn er
sang glucksend unter Wasser.
Plötzlich konnte ich beobachten,
wie ein diensttuender Fipo eine Person herausführte, die beim
Verlöschen des Lichts durch ein Schilfrohr geatmet hatte. Die
Würdenträger, die ihre Plätze in den wassergefüllten Logen
einnahmen, wurden unaufhörlich von Duschen berieselt. Ich konnte
mich des eigenartigen Eindrucks nicht erwehren, daß sich dabei alle
ziemlich unbehaglich fühlten. Ich versuchte auch in dieser Hinsicht
bei meiner Hauswirtin Informationen einzuholen, aber sie geruhte
mir nicht zu antworten; sie fragte nur, bis zu welcher Höhe ich in
meinem Zimmer Wasser eingelassen haben möchte. Als ich erwiderte,
daß ich am liebsten überhaupt kein Wasser außerhalb der Badewanne
sähe, preßte sie nur den Mund zusammen, zuckte mit den Schultern
und ließ mich mitten im Satz stehen.
Da ich die Pinter allseitig
kennenlernen wollte, bemühte ich mich, an ihrem Kulturleben
teilzunehmen. Bei meinem Eintreffen auf dem Planeten wurde gerade
eine lebhafte Diskussion in der Presse über das Glucksen geführt.
Die Spezialisten sprachen sich für leises Glucksen aus, da es die
größte Zukunft habe.
Ein junger sympathischer Pinter,
Redakteur der populären Zeitung »Die Stimme des Fisches«, hatte
ebenfalls bei meiner Wirtin ein Zimmer gemietet. In den Zeitungen
konnte ich oft Hinweise über Balduren und Badubiner finden. Aus dem
Text war zu schließen, daß es sich dabei um Lebewesen handelte,
aber ich kam nicht dahinter, was sie mit den Pintern zu schaffen
hatten. Fragte ich jemanden danach, so pflegte er unterzutauchen
und meine Worte durch lautes Glucksen zu übertönen. Ich wollte den
Redakteur danach fragen, doch er war sehr beschäftigt. Beim
Abendessen gestand er mir erregt, ihm sei eine fatale Geschichte
passiert. Er habe aus Versehen in einem Leitartikel geschrieben, im
Wasser sei es naß. Nun hege er diesbezüglich die schlimmsten
Befürchtungen. Ich versuchte ihn zu trösten, erkundigte mich auch,
ob es denn nach Ansicht der Pinter im Wasser trocken sei. Er
schüttelte sich und meinte, ich verstünde rein gar nichts. Man habe
alles vom Standpunkt der Fische zu betrachten. Für die Fische ist
das Wasser nicht naß, folglich könne es darin nicht naß sein. Zwei
Tage später war der Redakteur verschwunden.
Auf besondere Schwierigkeiten
stieß ich, wenn ich öffentliche Veranstaltungen besuchte. Als ich
zum erstenmal ins Theater ging, störte mich ein unaufhörliches
Flüstern und verdarb mir den Genuß an der Darbietung. In der
Meinung, es seien meine Nachbarn, bemühte ich mich, nicht auf das
Geräusch zu achten. Schließlich ging es mir jedoch auf die Nerven,
und ich setzte mich auf einen anderen Platz, aber auch da war
dieses Flüstern zu hören. Als auf der Bühne vom Großen Hechter die
Rede war, flüsterte es leise: »Deine Glieder durchdringt
beglückendes Beben.« Ich bemerkte, daß der ganze Saal leicht zu
zittern begann. Dann stellte ich fest, daß an allen öffentlichen
Stellen besondere Flüsteranlagen angebracht waren, die den
Anwesenden die richtigen Empfindungen vorsagten. Da ich die Bräuche
und Eigenschaften der Pinter besser kennenlernen wollte, erwarb ich
eine größere Menge Bücher, Romane sowohl als auch Lesebücher und
wissenschaftliche Werke. Einige davon befinden sich noch in meinem
Besitz, zum Beispiel: »Der kleine Badubin«, »Von den Schrecken der
Dürre«, »Wie fischig ist es im Wasser«, »Glucksen zu zweit« und
ähnliches mehr. In der Universitätsbuchhandlung empfahl man mir ein
Werk über die persuasive Evolution, doch außer sehr detaillierten
Beschreibungen der Balduren und Badubiner konnte ich auch daraus
nichts entnehmen.
Wenn ich meine Wirtin auszufragen
versuchte, schloß sie sich mit ihren Schnecken in der Küche ein,
deshalb begab ich mich erneut in die Buchhandlung und fragte, wo
ich denn wenigstens einen Badubiner zu sehen bekommen könnte. Auf
diese Worte hin tauchten alle Verkäufer unter den Ladentisch, und
junge Pinter, die zufällig anwesend waren, führten mich als
Provokateur zur Fipo. Wieder in die Trockenzelle verbannt, traf ich
dort drei meiner früheren Gefährten an. Erst von ihnen erfuhr ich,
daß es auf Pinta keine Balduren oder Badubiner gebe. Dies seien
edle, in ihrer Fischhaftigkeit vollendete Formen, in die sich die
Pinter nach und nach gemäß der Lehre von der persuasiven Evolution
verwandeln würden. Ich fragte, wann dies geschehen sollte. Hierauf
begannen die Anwesenden zu zittern und versuchten unterzutauchen,
was aus Mangel an Wasser offensichtlich unmöglich war, und der
älteste an Jahren, dessen Gliedmaßen sich durch besondere
Verrenkungen auszeichneten, sagte: »Höre, Wassermann, dergleichen
Dinge kann man bei uns nicht straflos äußern. Wenn die Fipo von
deinen Fragen erführe, würde sie das Urteil gegen dich gehörig
verschärfen.«
Niedergeschlagen und traurig hing
ich meinen Gedanken nach, aus denen mich die Unterhaltung meiner
Leidensgefährten riß. Sie sprachen von ihren Vergehen und erwogen
deren Schwere. Der eine war in die Trockenzelle gekommen, weil er
auf einem vom Wasser umspülten Sofa eingeschlafen war, sich
verschluckt hatte und mit dem Ruf: »Krepieren kann man dabei!«
aufgesprungen war. Der zweite hatte sein Kind Huckepack getragen,
statt es von klein auf an ein Leben unter Wasser zu gewöhnen. Der
dritte schließlich, der älteste, hatte das Pech, während eines
Vortrags über dreihundert heldische Wassermänner, die bei einem
Rekordversuch, möglichst lange unter Wasser zu bleiben, ums Leben
gekommen waren, in einer Weise zu glucksen, die von kompetenten
Personen als vieldeutig und lästerlich bezeichnet wurde.
Bald schon wurde ich vor einen
Fipo zitiert, der mir erklärte, mein neuerliches schändliches
Verhalten zwinge ihn, mich zu einer Strafe von drei Jahren freier
Steinmetzarbeit zu verurteilen. Am Tage darauf schwamm ich in
Begleitung von siebenunddreißig Pintern mit einem Boot unter den
bereits bekannten Umständen, das heißt bis zum Kinn im Wasser, in
die Steinmetzgefilde. Sie lagen weit außerhalb der Stadt. Unsere
Arbeit bestand darin, Bildsäulen von Fischen der Gattung Wels
anzufertigen. Soweit ich mich erinnern kann, meißelten wir davon
rund 140 000 Stück. Frühmorgens schwammen wir zur Arbeit, Lieder
singend, von denen mir eines besonders gut in Erinnerung geblieben
ist. Es begann mit den Worten: »Im Wasser, im Wasser, da ist es
wunder schön…« Nach der Arbeit kehrten wir in unsere Räume zurück.
Vor dem Abendessen, das man unter Wasser einzunehmen hatte,
dozierte täglich ein Lektor über Unterwasserfreiheiten und gab uns
auf, den »Taucher« auswendig zu lernen. Freiwillige konnten sich in
den Klub der Verehrer der Flossenhaftigkeit eintragen lassen. Wenn
der Lektor seinen Vortrag beendet hatte, fragte er stets, ob jemand
von uns nicht die Lust zum Meißeln verloren habe. Da sich niemand
meldete, tat ich es ebenfalls nicht. Übrigens erklärten die im Saal
verteilten Flüsteranlagen, daß wir Lust hatten, noch lange zu
meißeln, und dies möglichst unter Wasser.
Eines Tages ließ unsere Leitung
Anzeichen besonderer Erregung erkennen, und beim Mittagessen
erfuhren wir, daß heute an unseren Werkstätten der Große Hechter
vorbeikommen werde, der zur Inkarnation baldurenhafter Milte
aufgebrochen sei. Wir schwammen also seit Mittag in Formationen
herum in Erwartung des hohen Gastes. Es regnete, und es war
entsetzlich kalt, so daß wir alle zitterten. Die auf Schwimmbojen
befestigten Flüsteranlagen verkündeten, daß wir vor Begeisterung
bebten. Die Vorbeifahrt des Gefolges des Großen Hechters in
siebenhundert Booten währte fast bis zum Einbruch der Dunkelheit.
Ich hatte Gelegenheit, den Hechter aus nächster Nähe zu sehen; er
besaß zu meinem Erstaunen nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem
Fisch. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war er ein ganz
gewöhnlicher, hochbetagter Pinter mit schauderhaft verrenkten
Gliedmaßen. Acht in scharlachrote und goldene Schuppen gekleidete
Magnaten stützten die würdigen Schultern des Herrschers, als er mit
seinem Kopf aus dem Wasser tauchte, um Atem zu holen. Dabei hustete
er so entsetzlich, daß er mir leid tat. Zu Ehren dieses festlichen
Ereignisses hämmerten wir achthundert Standbilder der Gattung Wels
über den Plan.
Eine Woche später spürte ich zum
erstenmal ein scheußliches Reißen in den Armen. Meine Gefährten
sagten, das seien einfach Anfänge von Rheumatismus, der größten
Plage in Pinta. Man dürfe aber keinesfalls äußern, daß es sich um
eine Krankheit handle, es seien vielmehr Anzeichen ideologisch
falschen Widerstandes des Organismus gegen die Fischwerdung. Erst
jetzt wurden mir die Verrenkungen der Pinter
verständlich.
Man führte uns jede Woche zu
Vorstellungen, die die Perspektiven des Unterwasserlebens
aufzeigten. Ich rettete mich damit, daß ich die Augen schloß, denn
die bloße Erwähnung des Wassers erweckte in mir Übelkeit.
Fünf Monate brachte ich auf diese
Weise zu. Gegen Ende dieses Abschnitts freundete ich mich mit einem
bejahrten Pinter an, einem Universitätsprofessor, der freiheitlich
meißeln mußte, weil er in einer Vorlesung erklärt hatte, das Wasser
sei zwar wirklich für das Leben unerläßlich, aber in anderem Sinne,
als dies allgemein praktiziert werde. In den Gesprächen, die wir
hauptsächlich nachts führten, schilderte mir der Professor die
Geschichte Pintas. Einst hatten den Planeten heiße Winde geplagt,
und die Gelehrten wiesen nach, daß ihm die Verwandlung in eine öde
Wüste bevorstünde. Sie arbeiteten deshalb einen großen
Bewässerungsplan aus. Damit er durchgeführt werden konnte, mußten
entsprechende Institutionen und übergeordnete Büros eingerichtet
werden. Später, als das Netz der Kanäle und Reservoirs angelegt
war, wollten sich die Büros nicht auflösen, sie blieben weiter
tätig und setzten die Bewässerung Pintas fort. So kam es dazu, daß
das, was beherrscht werden sollte, uns beherrschte, erzählte der
Professor. Niemand wollte sich das jedoch eingestehen, und der
nächste Schritt, der sich mit zwingender Notwendigkeit daraus
ergab, war die Feststellung, es sei eben alles so, wie es sein
müsse.
Eines Tages verbreitete sich eine
Nachricht, die uns in höchste Erregung versetzte. Es wurde erzählt,
eine außerordentliche Änderung stehe bevor; einige wagten sogar zu
behaupten, der Große Hechter persönlich würde in absehbarer Zeit
Wohnungstrockenheit – vielleicht gar allgemeine Trockenheit
anordnen. Die Leitung ging unverzüglich daran, den Defätismus zu
bekämpfen, indem sie neue Projekte für Fischdenkmäler ausarbeitete.
Dennoch, das hartnäckige Gerücht kehrte in immer phantastischeren
Versionen wieder. Ich hörte mit meinen eigenen Ohren, wie jemand
erzählte, man habe den Großen Hechter mit einem Handtuch
gesehen.
Eines Nachts tönte aus dem Gebäude der
Direktion das lärmen
de Treiben einer Belustigung zu uns herüber.
Ich schwamm auf den Hof und erblickte den Direktor und den Lektor,
die mit großen Kübeln Wasser aus dem Fenster gossen und laut dazu
sangen. Im Morgengrauen erschien der Lektor bei uns. Er saß in
einem abgedichteten Boot und erklärte uns, alles, was bisher
gewesen sei, hätte auf einem Mißverständnis beruht. Neue, wahrhaft
freie Existenzbedingungen würden nun geschaffen, zunächst werde
jedoch das Glucksen als quälend, gesundheitsschädlich und völlig
überflüssig abgeschafft. Während seiner Ansprache tauchte er einen
Fuß ins Wasser, zog ihn zurück und schüttelte sich voller Abscheu.
Zum Schluß fügte er hinzu, er sei schon immer gegen das Wasser
gewesen und habe wie kaum jemand begriffen, daß daraus nichts Gutes
kommen könne. Zwei Tage lang gingen wir nicht arbeiten. Dann wurden
wir an bereits fertige Bildsäulen abkommandiert. Wir mußten ihnen
die Flossen abschlagen und an ihrer Statt Beine anbringen. Der
Lektor ging daran, uns ein neues Liedchen zu lehren. »Vor Freude
ach die Seele schreit, herrscht ringsherum nur Trockenheit«, und
nun sprach man allgemein darüber, daß in den nächsten Tagen Pumpen
herbeigeschafft würden, um das Wasser abzusaugen.
Doch schon nach dem zweiten Vers
wurde der Lektor in die Stadt geholt und kam nicht wieder. Am
nächsten Morgen schwamm der Direktor zu uns heran, den Kopf im
Wasser, und verteilte an alle wasserdichte Zeitungen. Darin wurde
mitgeteilt, daß das Glucksen ein für allemal abgeschafft werde, da
es gesundheitsschädigend und dem Baldurieren durchaus nicht
förderlich sei. Das bedeute jedoch keineswegs die Rückkehr zur
verderblichen Dürre. Im Gegenteil. Zur Akklimierung von Badubinern
und zur Verklammung von Balduren werde auf dem ganzen Planeten
ausschließlich Unterwasseratmung angeordnet, da sie im höchsten
Maße fischhaft sei, wobei sie mit Rücksicht auf das öffentliche
Wohl allmählich eingeführt werde, das heißt – jeden Tag sollten
sich alle Bürger eine Weile länger als am Vortag unter Wasser auf
halten. Zur Erleichterung werde der allgemeine Wasserpegel auf elf
Stiele (Längenmaß) erhöht.
In der Tat wurde vor Einbruch der
Dunkelheit der Wasserstand erhöht, so daß wir im Stehen schlafen
mußten. Da die Flüsteranlagen überflutet waren, wurden sie ein
wenig höher befestigt, und der neue Lektor begann mit Übungen im
Unterwasseratmen. Nach einigen Tagen wurde durch gnädigen Erlaß des
Ermesineus der Bitte aller Bürger stattgegeben und der Wasserpegel
um einen weiteren halben Stiel erhöht. Alle liefen nun auf
Zehenspitzen, kleinere Personen verschwanden nach kurzer Zeit
irgendwo. Da das Unterwasseratmen niemandem gelingen wollte,
bildete sich die Praxis heraus, immer wieder an die Oberfläche zu
hüpfen, um Luft zu schnappen. Nach einem Monat gelang das schon
ganz gut, und alle gaben sich nun den Anschein, als täten sie es
selber nicht und sähen auch nicht, wie andere dies taten. Die
Presse berichtete von gewaltigen Fortschritten im Unterwasseratmen
im ganzen Land, und am freiheitlichen Meißeln mußten sich jetzt
viele Personen beteiligen, die weiter nach alter Manier
glucksten.
All das bereitete mir so viel
Ungelegenheiten, daß ich mich schließlich dazu aufraffte, das
Gelände der freiheitlichen Bildhauerei zu verlassen. Nach der
Arbeit versteckte ich mich hinter dem Sockel eines neuen Denkmals
(ich vergaß zu erwähnen, daß wir die den Fischen angeklebten Beine
abschlugen und wieder Flossen anbrachten), und als alle
verschwunden waren, schwamm ich zur Stadt. Ich hatte in dieser
Beziehung den Pintern viel voraus, die – so seltsam das anmutet –
gar nicht schwimmen konnten.
Ich rackerte mich tüchtig ab,
doch schließlich gelang es mir, den Flugplatz zu erreichen. Meine
Rakete wurde von Fipos bewacht. Zum Glück fing in der Nähe jemand
zu glucksen an, und die Fipos stürzten sich in diese Richtung.
Rasch riß ich die Siegel von der Rakete, sprang hinein und startete
mit Höchstgeschwindigkeit. Eine Viertelstunde später flimmerte der
Planet bereits in der Ferne wie ein winziger Stern, und ich hatte
doch auf ihm so viel erlebt. Ich legte mich schlafen und ergötzte
mich an dem trockenen Bett. Leider währte diese angenehme Ruhe nur
kurz. Heftiges Klopfen an der Luke riß mich plötzlich aus dem
Schlaf. Noch halb im Schlaf rief ich: »Hoch leben die pintischen
Freiheiten!« Dieser Ausruf sollte mich teuer zu stehen kommen, denn
draußen war eine Patrouille pantischer Angelizei. Vergebens waren
meine Worte, man habe sich verhört, ich hätte »pantische
Freiheiten« und nicht »pintische« gerufen. Die Rakete wurde
versiegelt und ins Schlepptau genommen. Zu allem Unglück hatte ich
in der Speisekammer noch eine zweite Dose Sprotten, die ich
geöffnet hatte, bevor ich mich zur Ruhe begab. Als die Angelizisten
die offene Büchse sahen, erbebten sie und setzten unter
Triumphgeschrei ein Protokoll auf. Kurz danach landeten wir auf dem
Planeten. Als man mich in das wartende Vehikel steckte, atmete ich
erleichtert auf, denn ich sah, daß der Planet, so weit das Auge
reichte, ohne Wasser war. Als meine Eskorte die Skaphander ablegte,
stellte ich fest, daß ich es mit Geschöpfen zu tun hatte, die mich
sehr stark an Menschen erinnerten. Ihre Gesichter jedoch glichen
einander so sehr, daß man sie alle für Zwillinge, obendrein für
lächelnde Zwillinge halten mußte.
Obgleich die Dunkelheit
hereinbrach, war es von den vielen Lichtern in der Stadt taghell.
Ich bemerkte, daß alle Passanten, die mich ansahen, vor Entsetzen
oder voller Mitleid den Kopf schüttelten, und eine Pantin wurde bei
meinem Anblick sogar ohnmächtig, was insofern bemerkenswert war,
als sie auch dann noch lächelte.
Nach einiger Zeit gewann ich den
Eindruck, daß alle Bewohner des Planeten Masken trugen, doch war
ich mir dessen nicht ganz sicher. Die Fahrt endete vor einem
Gebäude, an dem zu lesen war: FREIE ANGELIZEI PANTAS. Die Nacht
verbrachte ich einsam in einem kleinen Zimmer, dem Treiben des
Großstadtlebens lauschend, das durch das Fenster zu hören war. Tags
darauf wurde mir gegen Mittag im Vernehmungszimmer die
Anklageschrift vorgelesen. Man klagte mich der Angelophagie an,
betrieben auf Anstiften der Pinter, sowie des Verbrechens der
persönlichen Differenziertheit. Beweisstücke, die gegen mich
sprachen, gab es zwei: erstens die geöffnete Sprottendose, zweitens
einen Spiegel, in den mich der Vernehmende hineinschauen
ließ.
Er war Angelist IV. Ranges und
trug eine schneeweiße Uniform mit brillantenen Blitzen quer über
der Brust. Für die Vergehen, die ich begangen hätte, erklärte er,
drohe mir lebenslängliche Identifizierung, dann fügte er hinzu, daß
mir das Gericht vier Tage Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung
lasse. Meinen offiziellen Verteidiger könne ich jederzeit
sprechen.
Da ich bereits gewisse
Erfahrungen auf dem Gebiet gerichtlicher Verfahren in dieser Gegend
der Milchstraße besaß, wollte ich vor allem wissen, worin die mir
angedrohte Strafe bestünde. Auf meinen Wunsch wurde ich in einen
kleinen bernsteinfarbenen Saal geführt, in dem bereits mein
Verteidiger, ein Angelist II. Ranges, auf mich wartete.
Er zeigte sich sehr
verständnisvoll und geizte nicht mit Erklärungen. »Wisse, fremder
Ankömmling«, sagte er, »wir besitzen die höchste Einsicht in den
Ursprung aller Sorgen, Leiden und Nöte, die zu einer Gesellschaft
zusammengeschlossene Wesen erdulden. Er liegt im Individuum
begründet, in der privaten Seite seiner Persönlichkeit. Die
Gesellschaft, das Gemeinwesen sind ewig, sie unterliegen
dauerhaften, unerschütterlichen Gesetzen, ebenso wie gewaltige
Sonnen und Gestirne ihren Gesetzen unterliegen. Kennzeichen des
Individuums hingegen sind Schwankungen, Unsicherheit der
Entscheidungen, zufälliges Handeln, vor allem aber –
Vergänglichkeit. Deshalb haben wir den Individualismus zugunsten
des Gesellschaftlichen vollends liquidiert. Auf unserem Planeten
existiert ausschließlich das Gemeinwesen – Individuen gibt es nicht
mehr.«
»Wieso?« fragte ich verdutzt.
»Was du mir da erzählst, kann doch nur eine rhetorische Floskel
sein, du bist doch auch ein Individuum…«
»In einem sehr geringen Maße«,
erwiderte er mit gleichbleibendem Lächeln. »Du hast sicherlich
bemerkt, daß unsere Gesichter sich nicht voneinander unterscheiden.
Ebenso haben wir die höchste gesellschaftliche Austauschbarkeit
erreicht.«
»Das verstehe ich nicht. Was soll
das bedeuten?«
»Ich erkläre es dir gleich. Es
gibt in jedem Augenblick in der Gesellschaft eine bestimmte Anzahl
von Funktionen oder – wie das bei uns heißt – Planstellen. So gibt
es Berufsplanstellen für Herrscher, Gärtner, Techniker, Ärzte, aber
es gibt auch Familienplanstellen – für Väter, Brüder, Schwestern
und so weiter. Auf jedem dieser Posten ist ein Panter nur
vierundzwanzig Stunden tätig. Um Mitternacht vollzieht sich in
unserem ganzen Staat eine bestimmte Bewegung, als machten alle –
bildlich gesprochen – den gleichen Schritt. Auf diese Weise wird
eine Person, die gestern Gärtner war, heute Ingenieur, der gestrige
Bauarbeiter wird Richter, der Herrscher Lehrer und so weiter.
Ähnlich verhält es sich mit den Familien. Jede besteht aus
Verwandten, also dem Vater, der Mutter, den Kindern; nur die
Funktionen bleiben unverändert, die Personen, die sie ausüben,
wechseln jeden Tag. Unveränderlich bleibt also das Gemeinwesen,
begreifst du nun? Es gibt stets die gleiche Anzahl von Eltern und
Kindern, Ärzten und Krankenschwestern, und so ist es auf allen
Gebieten des Lebens. Der mächtige Organismus unseres Staates
besteht seit Jahrhunderten unverändert fort und ist unveränderlich,
fester als ein Fels. Seine Festigkeit verdankt er dem Umstand, daß
wir ein für allemal mit der ephemerischen Natur der Einzelexistenz
Schluß gemacht haben. Deshalb sagte ich auch, daß wir in
vollendeter Weise auswechselbar sind. Du wirst dich bald davon
überzeugen können, denn nach Mitternacht, wenn du nach mir
verlangen wirst, komme ich zu dir in einer neuen
Gestalt…«
»Aber wozu das alles?« fragte
ich. »Wie kann jeder von euch alle Berufe ausüben? Und wie kannst
du nicht nur Gärtner, Richter oder Verteidiger, sondern beliebig
auch Vater und Mutter sein?«
»Viele Berufe«, erwiderte mein
lächelnder Gesprächspartner, »führe ich nicht gut aus. Vergiß
jedoch nicht, daß jeder Beruf nur einen Tag ausgeübt wird. Überdies
führt in jeder Gesellschaft alten Typus eine gewaltige Anzahl von
Personen ihre beruflichen Funktionen mangelhaft aus, trotzdem hört
deshalb die gesellschaftliche Maschinerie nicht auf, weiter zu
wirken. Jemand, der ein schlechter Gärtner ist, wird bei euch einen
Garten herunterwirtschaften, ein schlechter Herrscher wird den
ganzen Staat in den Ruin führen, denn beide haben dazu Zeit, die
ihnen bei uns nicht gegeben ist. Überdies macht sich in einer
gewöhnlichen Gesellschaft außer fachlichem Mangel auch ein
negativer, sogar verderblicher Einfluß privater Bestrebungen von
Individuen bemerkbar. Neid, Stolz, Egoismus, Eitelkeit, Machtgier
üben eine zersetzende Wirkung auf das Leben der Allgemeinheit aus.
Diesen schlechten Einfluß gibt es bei uns nicht. Vor allem gibt es
bei uns nicht das Streben nach Karriere, es läßt sich auch niemand
von persönlichen Interessen leiten, denn es gibt bei uns kein
persönliches Interesse. Ich kann heute in meiner Planstelle keinen
Schritt tun in der Hoffnung, daß sich dieser Schritt morgen
auszahlen wird, denn morgen werde ich schon ein anderer sein, aber
ich weiß heute noch nicht, wer ich morgen sein werde. Der Wechsel
der Planstellen erfolgt um Mitternacht durch eine allgemeine
Auslosung, auf die kein Lebender Einfluß nehmen kann. Beginnst du
nun die tiefe Weisheit unserer Gesellschaftsordnung zu
begreifen?«
»Doch wie ist das mit den
Gefühlen?« fragte ich. »Kann man jeden Tag einen anderen Menschen
lieben? Und wie verhält es sich mit der Vaterschaft und der
Mutterschaft?«
»Eine gewisse Störung unseres
Systems bedeutete früher der Umstand, daß eine Person auf der
Planstelle des Vaters ein Kind gebar, denn es kann vorkommen, daß
eine Frau gerade am Tage ihrer Niederkunft die Planstelle eines
Vaters übernimmt. Jedoch ist diese Schwierigkeit verschwunden, seit
gesetzlich bestimmt worden ist, daß ein Vater Kinder gebären kann.
Was die Gefühle anlangt, so haben wir zwei, die scheinbar einander
ausschließen, befriedigt: das Verlangen nach Dauer und das
Verlangen nach Veränderung. Anhänglichkeit, Achtung, Liebe wurden
einst durch ständige Unrast, durch die Befürchtung, die geliebte
Person zu verlieren, ausgehöhlt. Diese Angst haben wir überwunden.
Denn was immer auch für Erschütterungen, Krankheiten, Kataklismen
unser Leben heimsuchen – jeder von uns hat stets einen Vater, eine
Mutter, einen Gatten und Kinder. Doch damit nicht genug. Was
unveränderlich ist, beginnt nach einer gewissen Zeit zu langweilen,
ganz gleich, ob uns Gutes oder Böses widerfährt. Gleichzeitig
jedoch verlangt es uns nach einem dauerhaften Schicksal, wir wollen
es vor Störungen und Tragödien bewahren. Wir wollen existieren und
nicht vergehen, uns verändern und doch von Bestand sein, alles
sein, ohne etwas zu riskieren. Diese Widersprüche, scheinbar
miteinander unvereinbar, sind bei uns Wirklichkeit. Wir haben sogar
den Antagonismus der sozialen Höhen und Tiefen abgetragen, jeder
kann nämlich an jedem Tag der höchste Herrscher sein, denn es gibt
keine Lebensweise, keine Wirkungssphäre, die jemandem verschlossen
wäre.
Jetzt kann ich dir enthüllen, was
das über dich verhängte Strafmaß bedeutet. Es bedeutet das größte
Unglück, das einem Panter zustoßen kann: nämlich den Ausschluß aus
der allgemeinen Auslosung und den Übergang zu einsamer
individueller Existenz. Die Identifikation ist ein Akt der
Zerschmetterung einer Person, indem man ihr die grausam
unerbittliche Last lebenslänglicher Individualität aufbürdet. Du
mußt dich beeilen, wenn du mir noch Fragen stellen willst, denn es
wird Mitternacht; ich muß dich bald verlassen.«
»Wie werdet ihr mit dem Tod
fertig?« fragte ich.
Der Verteidiger sah mich mit
gefurchter Stirn und mit lächelndem Gesicht an, als versuchte er,
diese Worte zu begreifen. Schließlich sagte er: »Tod? Das ist ein
veralteter Begriff. Es gibt dort keinen Tod, wo es keine Individuen
gibt. Bei uns stirbt niemand.«
»Aber das ist doch Unsinn, an den
du selbst nicht glaubst!« rief ich. »Jedes Lebewesen muß sterben,
also auch du!«
»Ich, das heißt wer?« unterbrach
er mich lächelnd.
Ein Augenblick des Schweigens
folgte.
»Du, du selbst!«
»Wer bin ich denn, ich selbst,
außer meiner heutigen Planstelle? Ein Name, ein Vorname? Ich habe
keinen. Ein Gesicht? Dank den biologischen Eingriffen, die bei uns
vor Jahrhunderten vorgenommen worden sind, ist mein Gesicht das
gleiche wie bei allen. Eine Planstelle? Die ändert sich um
Mitternacht. Was bleibt? Nichts. Überlege, was der Tod bedeutet. Er
ist ein Verlust, tragisch durch seine Unabwendbarkeit. Wen verliert
der, der stirbt? Sich selbst? Nein, denn ein Toter existiert nicht,
und wer nicht existiert, kann nichts verlieren. Der Tod ist eine
Angelegenheit der Lebenden – er ist der Verlust eines
Nahestehenden. Wir verlieren nie unsere Nächsten. Das habe ich dir
doch schon vorher gesagt. Jede Familie ist bei uns ewig. Tod – das
würde bei uns die Aufhebung einer Planstelle bedeuten. Die Gesetze
lassen das nicht zu. Ich muß nun gehen. Leb wohl,
Fremdling.«
»Warte!« rief ich, da ich sah,
daß mein Verteidiger aufstand. »Es gibt bei euch dennoch
Unterschiede, es muß welche geben, selbst wenn ihr einander wie
Zwillinge gleicht. Ihr müßt Greise haben, die…«
»Nein. Wir führen nicht Buch über
die Anzahl der Planstellen, die jemand innehatte. Wir führen auch
nicht Buch über die astronomischen Jahre. Niemand von uns weiß, wie
lange er lebt. Die Planstellen sind zeitlos. Ich muß
fort.«
Mit diesen Worten entfernte er
sich. Ich blieb allein. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und
der Verteidiger erschien wieder. Er trug die gleiche lilienfarbene
Uniform mit den goldenen Blitzen eines Angelisten II. Ranges, und
er hatte das gleiche Lächeln.
»Ich stehe dir zu Diensten,
angeklagter Fremdling von einem anderen Gestirn«, sagte er, und mir
schien, daß es eine neue Stimme war, die ich noch nicht gehört
hatte.
»Dennoch ist bei euch etwas
unveränderlich: die Planstelle des Angeklagten!« rief
ich.
»Du irrst. Das gilt lediglich für
die Fremden. Wir können es nicht zulassen, daß jemand unter dem
Schutz einer Planstelle versucht, unseren Staat von innen zu
zersetzen.«
»Bist du in der Rechtswissenschaft
bewandert?« fragte ich.
»Die Gesetzbücher kennen sich
darin aus. Im übrigen findet dein Prozeß erst übermorgen statt. Die
Planstelle wird dich verteidigen…«
»Ich verzichte auf eine
Verteidigung.«
»Du willst dich selbst
verteidigen?«
»Nein. Ich will verurteilt
werden.«
»Du bist leichtsinnig«, sagte der
Verteidiger lächelnd. »Denke daran, daß du nicht ein Individuum
unter Individuen sein wirst, sondern in einer Leere existieren
mußt, die größer ist als der planetare Raum…«
»Hast du jemals von dem Meister
Oh vernommen?« fragte ich. Ich weiß selbst nicht, wie ich auf diese
Frage kam.
»O ja. Er ist der Schöpfer
unseres Staates. Mit ihm vollbrachte er sein größtes Werk – die
Prothese der Ewigkeit.«
So endete unser Gespräch. Nach
drei Tagen wurde ich vor Gericht gestellt und zu lebenslänglicher
Identifikation verurteilt. Man brachte mich zum Flugplatz, von dem
ich unverzüglich startete. Ich weiß nicht, ob mich noch jemals die
Lust anwandeln wird, dem Wohltäter des Kosmos zu
begegnen.
VIERZEHNTE REISE
19. VIII.
Rakete in Generalüberholung
gegeben. Letztes Mal war ich zu dicht an die Sonne geraten; die
ganze Lackierung ging drauf. Der Werkstattleiter schlägt vor, das
Vehikel grün zu streichen. Kann mich noch nicht entscheiden.
Vormittags Kollektion in Ordnung gebracht. Das Fell des
prächtigsten Gargauns war voller Motten. Ich habe es mit Naphthalin
bestreut. Am Nachmittag – bei Tarantoga. Sangen gemeinsam
Marslieder. Habe mir von ihm Brizards Band »Zwei Jahre unter
Kulupen und Okteseln« geliehen. Ungemein interessant – bin bis zum
Morgen aufgeblieben.
20. VIII.
Habe mich entschlossen, doch
grünen Anstrich zu nehmen. Der Werkstattdirektor redet mir zu, ein
Elektronenhirn zu kaufen. Er hat gerade ein passendes auf Lager,
wenig gebraucht, mit einer Leistung von zwölf Dampfseelen. Er
meint, ohne solch ein Hirn würde sich heutzutage keiner mehr auch
nur hinter den Mond wagen. Ich zögere noch wegen der großen
Ausgabe. Den ganzen Nachmittag Brizard gelesen – mitreißende
Lektüre. Ich schäme mich fast, noch nie einen Kulupen gesehen zu
haben.
21. VIII.
Früh in der Werkstatt gewesen.
Der Direktor zeigte mir das Hirn. In der Tat recht ansehnlich, mit
einer Batterie Witze für fünf Jahre. Angeblich ist dadurch das
Problem der kosmischen Langeweile gelöst. »Sie lachen sich durch
die längste Reise hindurch«, sagte der Direktor. Ist die Batterie
erschöpft, kann eine neue eingesetzt werden. Das Leitwerk habe ich
orange anstreichen lassen.
Wegen des Elektronenhirns Bedenkzeit erbeten. Bis Mitternacht Brizard gelesen. Sollte ich nicht selbst auf Jagd gehen?
22. VIII.
Habe das Hirn doch gekauft. Ließ
es in die Wandung einbauen. Der Direktor gab mir ein Elektrokissen
dazu. Er muß mich tüchtig übers Ohr gehauen haben! Er meint, ich
würde eine Menge Geld einsparen. Die Sache ist die, daß man bei der
Ankunft auf einem Planeten gewöhnlich Einreisezoll zahlen muß. Hat
man nun ein solches Hirn, so kann man die Rakete im Vakuum
zurücklassen; sie kreist dann ungehindert als künstlicher Mond um
den Planeten. Das letzte Stück Weges legt man eben zu Fuß zurück
und zahlt keinen Pfennig. Das Hirn berechnet die astronomischen
Bewegungselemente und gibt an, wo nachher die Rakete zu suchen ist.
Brizard ausgelesen. Bin nahe daran, nach Enteropien zu
fahren.
23. VIII.
Rakete abgeholt. Sieht sehr gut
aus, nur das Leitwerk harmoniert in der Farbgebung nicht mit den
anderen Teilen. Machte mich selbst an die Arbeit und tünchte es
gelb. Nun bedeutend besser. Von Tarantoga einen Band Kosmische
Enzyklopädie, Buchstabe E, ausgeliehen und den Artikel über
Enteropien abgeschrieben. Hier ist er:
Enteropia, 6. Planet der
doppelten (roten und blauen) Sonne im Sternbild des Kalbes. 8
Kontinente, 2 Ozeane, 167 tätige Vulkane, 1 Torpe (s. d.). 1 Tag =
20 Stunden, warmes Klima, Lebensbedingungen mit Ausnahme der
Strömperiode (s. d.) gut.
Bewohner:
a) vorherrschende Wesen –
Ardriten, vernunftbegabt, vielflächigdurchsichtig, symmetrisch,
unpaare Extremitäten (3), zum Typ Siliconoidea, Ordnung Polytheria,
Klasse Luminifera gehörig. Wie alle Polytheria (s. d.) unterliegen
die Ardriten einer beliebigen periodischen Spaltung. Sie bilden
Familien kugeligen Typs: Regie rungssystem: Gradarchie II B, mit
dem vor 340 Jahren eingeführten Pönitentiären Transmus (s. d.).
Hochentwickelte Industrie, hauptsächlich der Konsumgüter.
Charakteristische Exportartikel: phosphorisierte Manubrien,
Herzflicken und Laupanien in mehreren Dutzend Sorten, geriefelt und
langsam gebräunt. Hauptstadt: Tentotam, 1400000 Einwohner.
Wichtigste Industriezentren: Haupr, Drur, Arbagellar. Kultur:
luminös mit Anzeichen von Verschimmelung infolge Verfilzung mit
Zivilisationsrelikten der durch die Ardriten ausgerotteten
Phytoziden (siehe Schwaemmer). Eine wachsende Rolle spielen in
letzter Zeit im kult. gesellschaftlichen Leben die Sepulken (s.
d.). Kultformen: vorherrschende Religion Monodrumismus. Laut M. ist
die Welt vom Großen Druma erschaffen worden, in Form der Urwirre,
aus der die Sonnen und Planeten mit Enteropien an der Spitze
entstanden sind. Die Ardriten bauen feste und zusammenlegbare
plattierte Tempel. Neben dem Monodrumismus sind noch ein Dutzend
Sekten tätig, die wichtigste ist die der Plakotralen. Die
Plakotralen glauben an nichts, ausgenommen an die Emphesis (s. d.),
und nicht einmal alle. Kunst: Tanz (Wälztanz), Radioakte,
Sepulieren, Phantodrama. Architektur: im Zshang mit den Ströms –
Preßblasen in Blockmasse. Trichterblöcke erreichen eine Höhe von
130 Stockwerken. Ovicellare (eiförmige) Bauten vorwiegend auf
künstlichen Monden.
b) Tiere. Fauna von silikonoidalem Typ,
wicht. Vertreter: Ekel
schleicher, autumale Dendrogen, Asmaniten,
Kulupen und Heulokteseln. Zur Zeit der Ströms Jagdverbot für
Kulupen und Okteseln. Die Tiere sind für Menschen ungenießbar, mit
Ausnahme der Kulupen (nur in der Gegend des Zard, s. d.).
Wasserfauna: liefert Rohstoffe für Lebensmittelindustrie.
Wichtigste Vertreter: Infernalia (Höllenschaben), Wänzel, Fläuse
und Filben. Zu den Besonderheiten Enteropiens gehört die Torpe mit
ihrer schlickbestimmten Flora und Fauna. Ähnliches finden wir in
unserem Milchstraßensystem nur in den Auen der stammlosen
Jupiterwälder. Das Leben auf Enteropien hat sich, wie die
Untersuchungen der Schule von Prof. Tarantoga ergeben, aus den
Balbasilschichten im Bereich der Torpe entwickelt. Infolge
fortschreitender Bebauung im Wasser und zu Lande ist damit zu
rechnen, daß die Reste der Torpe bald verschwinden. Da sie unter §
6 des Statuts über den Schutz planetarischer Denkmäler (Codex
Galacticus, T. MMDVII, vol. XXXII, pag. 4670) fällt, ist die Torpe
Naturschutzgebiet; verboten ist vornehmlich, im Dunkeln
daraufzutrampeln.
In dem Artikel ist mir alles
klar, ausgenommen die Sepulken, der Transmus und der Ström. Leider
endet der bisher letzte Band der Enzyklopädie mit dem Stichwort
»Soßen«, also sind Transmus und Ström noch nicht behandelt. Doch
ich ging zu Tarantoga, um bei »Sepulken« nachzuschlagen. Ich fand
einen kurzen Hinweis:
Sepulken – wichtiges Element in
der Zivilisation der Ardriten (s. d.) auf dem Planeten Enteropia
(s. d.); s. Sepulkaria.
Ich folgte dem Ratschlag und
las:
Sepulkaria – zum Sepulieren (s.
d.) dienende Objekte.
Ich suchte bei »Sepulieren« nach
und fand:
Sepulieren – Tätigkeit der
Ardriten (s. d.) auf dem Planeten Enteropia (s. d.); s. a.
Sepulken.
Der Kreis war geschlossen, nichts
blieb mehr zum Nachschlagen. Niemals würde ich vor dem Professor
meine Unkenntnis der Dinge eingestehen, und einen anderen könnte
ich ja gar nicht fragen. Also sind die Würfel gefallen – ich, habe
beschlossen, nach Enteropien zu fliegen. In drei Tagen reise ich
ab.
28. VIII.
Bin gleich nach dem Mittagessen
um zwei gestartet. Keine Bücher mit, da ich nun das neue
Elektronenhirn habe. Bis zum Mond seine Witze angehört. Habe ich
gelacht! Dann Abendbrot, und schlafen.
29. VIII.
Ich scheine mich im Mondschatten
erkältet zu haben, denn ich niese ununterbrochen. Aspirin
eingenommen. Auf der Bahn drei Lastraketen vom Pluto getroffen; der
Maschinist telegrafiert, ich solle Weg räumen. Ich erkundigte mich,
was er geladen habe, und dachte schon, Gott weiß was, da war’s
lauter Firlefanz. Gleich danach ein Eiltransport vom Mars,
schrecklich überfüllt. Durch die Fenster war zu sehen, daß die
Passagiere wie Heringe aufeinanderlagen. Mit Taschentüchern
gewinkt, bis nichts mehr zu erkennen war. Dann Witze gehört bis zum
Abendessen. Sind großartig, muß aber ständig niesen.
30. VIII.
Geschwindigkeit erhöht. Hirn
arbeitet tadellos. Es war schon so weit, daß mir das Trommelfell
weh tat; daher schaltete ich den Apparat für zwei Stunden aus und
knipste das Elektrokissen an. Hat mir gutgetan. Nach zwei
Radiosignal aufgefangen, das Popow im Jahre 1896 von der Erde
aufgelassen hat. Befinde mich bereits in beträchtlicher Entfernung
von der Erde.
31. VIII.
Sonne kaum noch sichtbar. Vor dem
Mittagessen Spaziergang rund um die Rakete, um mir die Beine zu
vertreten. Bis zum Abend – Witze. Die meisten haben einen langen
Bart. Ich glaube beinahe, der Werkstattleiter hat dem Hirn alte
humoristische Zeitschriften zu lesen gegeben und lediglich oben
mehrere Handvoll neuer Witze hinzugetan. Vergaß gänzlich die
Kartoffeln, die ich in die Atomsäule gestellt hatte, nun sind sie
restlos verbrannt.
32. VIII.
Infolge der Geschwindigkeit dehnt
sich die Zeit – es müßte längst Oktober sein, hier aber noch immer
August und weiter nichts. Im Fenster begann etwas zu flimmern. Ich
dachte schon, die Milchstraße, aber es ist nur der Lack, der
absplittert. Verdammter Schund! Auf meinem Kurs liegt eine
Dienstleistungsstation. Ich überlege, ob es sich lohnt,
anzuhalten.
33. VIII.
Immer noch August. Nachmittags
bei der Station gelandet. Sie steht auf einem kleinen kahlen
Planeten. Das Stationsgebäude ist wie ausgestorben, keine lebende
Seele weit und breit. Mit einer Blechbüchse in der Hand ging ich
auskundschaften, ob die hier nicht irgendwelchen Lack haben. So
trieb ich mich herum, bis ich ein Schnaufen vernahm. Ich schaue
genauer hin: Da stehen hinter dem Stationsgebäude mehrere
Dampfmaschinen in lebhafter Unterhaltung!
Als ich näher trete, höre ich die
eine sagen: »Es ist doch klar, die Wolken sind eine Lebensform der
Dampfmaschinen im Jenseits. Die Grundfrage lautet doch: Was war
zuerst – Dampfmaschine oder Wasserdampf? Ich behaupte – der
Dampf!«
»Schweig, ruchloser Idealist!«
zischte eine andere.
Ich versuchte, sie um Lackfarbe
zu bitten, sie schnoben und pfiffen aber so laut, daß ich mein
eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Also trug ich mich in das
Beschwerdebuch ein und flog weiter.
Soll dieser August nie enden?
Vormittags die Rakete geputzt. Entsetzliche Langeweile. Gleich
wieder hinein, zum Elektronenhirn. Statt lachen zu können, wurde
ich von einem solchen Gähnen befallen, daß ich mir schon wegen der
Kiefer Sorgen machte. Steuerbords ein kleiner Planet. Im
Vorbeifliegen bemerkte ich weiße Punkte. Durchs Fernrohr konnte ich
erkennen, daß es Warnschilder waren mit der Aufschrift: »Nicht
hinauslehnen!« Mit dem Gehirn ist etwas nicht in Ordnung – es
verschluckt die Pointen.
1. X.
Ich mußte auf dem Stroglon
haltmachen, denn der Treibstoff war ausgegangen. Beim Bremsen hatte
ich noch solchen Schwung, daß ich den ganzen September durch
geflogen bin.
Auf dem Flugplatz großer Betrieb.
Habe die Rakete im Vakuum gelassen, um dem Zoll zu entgehen, und
lediglich die Kanister mitgenommen. Zuvor berechnete ich mit Hilfe
des Elektronenhirns die Bewegungskoordinaten der Ellipse. Eine
Stunde später kehrte ich mit vollen Kannen zurück, von der Rakete
aber keine Spur. Natürlich machte ich mich auf die Suche. Ich
glaubte schon, den Geist aufgeben zu müssen, legte aber doch an die
viertausend Kilometer zu Fuß zurück. Natürlich – das Hirn hatte
sich geirrt. Ich werde mit dem Werkstattdirektor ein ernstes Wort
reden müssen, wenn ich wieder zu Hause bin.
2. X.
Die Geschwindigkeit ist so groß,
daß sich die Sterne in feurige Streifen verwandelt haben, als
schwenkte jemand in einem dunklen Zimmer eine Million angezündete
Zigaretten. Das Hirn stottert. Zu meinem Unglück ist obendrein der
Schalter abgebrochen, nun kann ich das Ding nicht abstellen. Es
redet pausenlos.
3. X.
Das Hirn scheint sich zu
erschöpfen, es buchstabiert nämlich schon. Allmählich gewöhne ich
mich daran. Soviel es geht, sitze ich draußen und lasse nur die
Beine hineinhängen, oben ist es ordentlich kalt.
7. X.
Gegen halb zwölf landete ich auf
der Anreisestation in Enteropien. Die Rakete war durch das Bremsen
stark erhitzt. Ich vertäute sie am Oberdeck des künstlichen Mondes,
auf dem die Station liegt, und stieg ins Innere hinab, um die
Formalitäten zu erledigen. In dem spiralförmigen Gang war ein
unheimlicher Betrieb; Zugereiste aus den entferntesten Gegenden der
Milchstraße wandelten, wogten und hüpften von Schalter zu Schalter.
Ich stellte mich in eine Schlange, vor mir stand ein hellblauer
Algolan, der mich mit höflicher Gebärde warnte, zu dicht an sein
hinteres elektrisches Organ heranzutreten. Nach mir kam ein junger
Saturnine in einer beigefarbenen Schlauchweste. Mit drei Saugarmen
hielt er Koffer, mit dem vierten wischte er sich den Schweiß. Es
herrschte in der Tat eine beträchtliche Hitze. Als ich an die Reihe
kam, musterte mich der Beamte, der durchsichtig war wie Kristall,
verfärbte sich grün (die Ardriten drücken Gefühle durch Veränderung
ihrer Farbe aus; grün entspricht unserem Lächeln) und fragte: »Sie
sind Säuger?«
»Ja.«
»Zweidüsig?«
»Nein. Nur Luft…«
»Danke, ausgezeichnet. Gemischte
Kost?«
»Ja.«
»Von welchem Planeten, wenn ich
fragen darf?«
»Erde!«
»Bitte an den nächsten
Schalter.«
Ich wandte mich dorthin, und als
ich hineinschaute, konstatierte ich, daß ich genau denselben
Beamten vor mir hatte, oder vielmehr seine Fortsetzung. Er
blätterte in einem dicken Band.
»So, da hätten wir’s«, sagte er,
»Erde… Hm, sehr gut. Kommen Sie als Tourist oder
geschäftlich?«
»Als Tourist.«
»Dann gestatten Sie…«
Mit einem Taster füllte er einen
Fragebogen aus, während er mit dem anderen einen zweiten zur
Unterschrift reichte und sagte: »In einer Woche setzt der Ström
ein. Würden Sie deshalb bitte die Freundlichkeit haben und sich
nach Zimmer hundertsechzehn bemühen, dort befindet sich unsere
Reservenfabrik, die sich Ihrer annehmen wird. Dann gehen Sie bitte
in Zimmer siebenundsechzig, das ist die pharmazeutische Kabine. Sie
erhalten dort Eufrugliumpillen, die Sie alle drei Stunden einnehmen
müssen, um die radioaktive Wirkung unseres Planeten, die für Ihren
Organismus schädlich ist, zu neutralisieren… Wünschen Sie während
Ihres Aufenthaltes hier zu leuchten?«
»Danke, nein.«
»Wie Sie meinen. Bitte, das sind
Ihre Papiere. Sie sind Säuger, nicht wahr?«
»Ja.«
»Also dann auf ein gutes
Saugen!«
Ich verabschiedete mich von dem
freundlichen Beamten und ging, wie er mir aufgetragen hatte, zum
Reservenlabor. Der eiförmige Raum schien auf den ersten Blick leer
zu sein. Ein paar elektrische Apparate standen darin; an der Decke
funkelte wie ein Brillant eine Kristallampe. Es war jedoch ein
Ardrit, der diensthabende Techniker, der sich sogleich von der
Decke herabließ. Ich setzte mich auf einen Sessel, er aber nahm mir
Maß und unterhielt sich mit mir. Schließlich sagte er: »Danke, wir
werden Ihre Knospe allen Brutstätten auf dem Planeten zuschicken.
Sollte Ihnen während des Ströms etwas zustoßen, dann können Sie
völlig beruhigt sein… wir liefern sofort die Reserve!«
Ich begriff nicht ganz, was er
meinte, aber ich hatte mir auf meinen langjährigen Wanderungen
Diskretion angewöhnt und fragte nicht weiter, denn nichts ist den
Bewohnern eines Planeten weniger angenehm, als einem Fremden die
lokalen Sitten und Bräuche erläutern zu müssen. Vor der
pharmazeutischen Kabine stellte ich mich wieder an. Die Schlange
bewegte sich jedoch so rasch vorwärts, daß ich recht bald von der
geschäftigen Ardritin im Fayencelampenschirm meine Portion Pillen
in Empfang nehmen konnte. Noch eine kleine Formalität mit dem Zoll
– ich wollte mich lieber nicht mehr auf das Elektronenhirn
verlassen –, und ich begab mich mit dem Visum in der Hand wieder an
Bord.
Gleich hinter dem Mond beginnt
die Kosmotrasse, die schön in Ordnung gehalten ist – zu beiden
Seiten hängen große Reklameparolen. Die einzelnen Buchstaben sind
mehrere tausend Kilometer voneinander entfernt, jedoch bei normaler
Fluggeschwindigkeit bekommt man die Worte so rasch zusammen, als
wären sie ein Zeitungstext. Eine Weile las ich mit Interesse, zum
Beispiel: »Jäger! Benutzt nur die Jagdpaste Mlin!« oder: »Willst du
großes Behagen – geh Oktesel jagen!« und ähnliche.
Um sieben Uhr abends landete ich
auf dem Flughafen von Tentotam. Die blaue Sonne war eben
untergegangen. In den Strahlen der roten, die noch ziemlich hoch am
Himmel stand, schien alles lichterloh zu brennen – ein
einzigartiger Anblick. Neben meiner Rakete senkte sich majestätisch
ein Milchstraßenkreuzer hernieder. Unter seinem Heck spielten sich
herzbewegende Szenen ab. Ardriten, lange Monate voneinander
getrennt, fielen sich mit Rufen des Entzückens in die Arme und
eilten dann – Väter, Mütter und Kinder in zärtlicher Umarmung zu
Kugeln vereint, die in den Sonnenstrahlen rötlich funkelten – dem
Ausgang zu. Auch ich folgte den harmonisch rollenden Familien;
dicht bei dem Flughafen liegt eine Glambushaltestelle. Ich stieg in
dieses Fahrzeug; es war oben mit goldenen Lettern verziert, die den
Satz bildeten: »Pasta raus – jagt allein!« Das Vehikel ähnelt in
gewisser Hinsicht einem Schweizer Käse; in den großen Löchern
nehmen die Erwachsenen Platz, in den kleinen die Kinder. Kaum saß
ich drinnen, fuhr der Glambus ab. Umgeben von seinem kristallischen
Mark, sah ich über, unter mir und ringsherum die sympathisch
durchscheinenden verschiedenfarbigen Mitreisenden. Ich langte in
die Tasche nach dem Baedeker, es war höchste Zeit, mich zu
informieren. Doch welche Enttäuschung harrte meiner! Hatte ich doch
aus Versehen den Band über den Planeten Enteuropien mitgenommen,
der drei Millionen Lichtjahre von meinem jetzigen Standort entfernt
lag. Vermaledeite Zerstreutheit.
Mir blieb nichts übrig, als die
Tentotamer Filiale des bekannten astronautischen Büros Galax
aufzusuchen. Der Schaffner ließ auf meine Frage den Glambus
unverzüglich halten, wies mit seinem Tastorgan auf ein riesiges
Gebäude und verfärbte sich herzlich zum Abschied.
Eine Weile stand ich still und
berauschte mich an dem ungewohnten Bild, das die im Dämmer
versinkende Innenstadt bot. Die rote Sonne war eben untergegangen.
Die Ardriten brauchen keine künstliche Beleuchtung, weil sie selbst
leuchten. Die Mrudrallee, auf der ich stand, funkelte nur so von
Passanten. Eine junge Ardritin kam vorbei; sie strahlte unter ihrem
Leuchtschirmchen kokett in goldenen Streifen, doch sogleich
verlosch sie züchtig – offenbar hatte sie in mir den Ausländer
erkannt.
Die Häuser nah und fern sprühten
und flammten von den heimkehrenden Bewohnern; in den Tempeln
glühten inbrünstig ins Gebet versunkene Massen; die Kinder
irisierten mit rasender Geschwindigkeit über die Treppenflure – das
alles war so bezaubernd, so bunt, daß ich recht unlustig meinen Weg
fortsetzte; doch ich fürchtete, die Galax würde schließen, wenn ich
länger verweilte.
Vom Vestibül des Reisebüros
schickte man mich in die Provinzabteilung im dreiundzwanzigsten
Stockwerk. Es ist nun einmal eine traurige, aber unumstößliche
Tatsache: Die Erde liegt in einer wenig bekannten Gegend, sie liegt
in der tiefsten Provinz des Kosmos.
Die Angestellte, die mich in der
Abteilung Touristenfürsorge empfing, sagte mir, ganz trüb vor
Verlegenheit, die Galax habe leider keine Reiseführer oder
Besichtigungspläne für Erdbewohner, da von diesen nur selten einer,
vielleicht einmal in hundert Jahren, nach Enteropien komme. Sie bot
mir daher einen Ratgeber für Jupiteraner an, im Hinblick auf die
gemeinsame Sonnenabstammung von Jupiter und Erde. Mangels eines
geeigneteren nahm ich ihn an und bat sie noch, im Hotel Kosmonia
ein Zimmer für mich zu bestellen. Schließlich ließ ich mich für die
Jagd vormerken, die von der Galax organisiert wird, und trat dann
wieder auf die Straße hinaus. Meine Lage war insofern mißlich, als
ich selber nicht leuchtete; als ich daher an der nächsten Kreuzung
einen Ardriten den Verkehr regeln sah, stellte ich mich in seinen
Lichtschein und blätterte den Reiseführer durch. Wie zu erwarten,
brachte er lediglich Informationen, wo man sich mit Methanprodukten
eindecken könne, wie bei offiziellen Empfängen die Fühler zu
stellen seien und so weiter. Ich warf das Heft also in einen
Papierkorb, hielt ein vorbeifahrendes Eborett an und ließ mich in
den Bezirk der Trichterblöcke fahren. Diese prächtigen
kelchähnlichen Bauten funkelten in der Ferne von den bunten
Lichtern der Ardriten, die sich ihrem Familienleben widmeten; in
den Verwaltungsgebäuden wogten wunderbar die Leuchthalsbänder der
Beamten.
Ich stieg ab und schlenderte
weiter; als ich staunend den hochgetürmten Bau der Suppenverwaltung
betrachtete, verließen ihn zwei höhere Beamte, die am intensiveren
Leuchten und an den roten Kämmen um ihren Schirm zu erkennen sind.
Sie blieben in meiner Nähe stehen, so daß ich folgendes Gespräch
auffangen konnte:
»Breitwischen der Ränder nicht
mehr verbindlich?« fragte der eine, der von hoher Gestalt und über
und über mit Orden behängt war.
Der andere hellte sich auf und
entgegnete: »Nein. Der Direktor meint, wir werden das Programm
nicht schaffen, und das alles wegen Grudrufs. Es bleibt nichts
übrig, sagt der Direktor, als ihn zu verwandeln.«
»Wen, Grudrufs?«
»Ja.«
Der erste verlosch, nur die Orden
leuchteten weiter in verschiedenfarbigen Kränzen; dann sagte er,
die Stimme dämpfend: »Schrumpfen wird er, der Arme.«
»Mag er schrumpfen, das hilft ihm
auch nicht. Sonst wird niemals Ordnung herrschen. Man transmutiert
doch Leute nicht jahrelang, damit es hinterher mehr Sepulken
gibt!«
Neugierig rückte ich an die
beiden Ardriten heran, doch sie entfernten sich schweigend.
Merkwürdig, daß mir erst nach diesem Erlebnis das Wort »Sepulken«
häufiger begegnete. Bestrebt, das Nachtleben der Metropole
kennenzulernen, durcheilte ich die Straßen, und aus der Menge der
Passanten drang immer wieder jenes rätselhafte Wort an mein Ohr,
teils im Flüsterton, teils laut mit Emphase gesprochen; man konnte
es auf den Anschlagkugeln lesen, die Auktionen und Versteigerungen
seltener Sepulken ankündigten, und in den flammenden Neonreklamen,
die die modischen Sepulkarien anpriesen. Vergebens rätselte ich,
was das sein mochte; um Mitternacht schließlich, als ich mich in
einer Bar im achtzigsten Stock eines Warenhauses mit Kulupensahne
erfrischte, indes eine ardritische Sängerin den Schlager
»Sepulkchen, mein Kleines« vortrug, da wuchs meine Neugier ins
Unerträgliche, so daß ich einfach einen vorbeieilenden Kellner
fragte, wo ich eine Sepulke erwerben könnte.
»Gegenüber«, antwortete der
mechanisch, während er kassierte. Dann sah er mich aufmerksam an
und verfinsterte sich ein wenig.
»Sind Sie allein?« forschte
er.
»Ja. Warum fragen Sie?«
»Ach, nichts. Ich habe leider
kein Kleingeld.«
Ich verzichtete auf den Rest und
fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter. In der Tat, gegenüber erblickte
ich eine riesige Sepulkenreklame; ich versetzte der Glastür einen
Stoß und schritt in das zu dieser Stunde leere Magazin. Ich trat an
den Ladentisch und verlangte mit geheucheltem Gleichmut eine
Sepulke.
»Für welches Sepulkarium?« fragte
der Verkäufer, der von seinem Bügel zu Boden glitt.
»Nun, für ein… ganz
gewöhnliches«, entgegnete ich.
»Wieso ein gewöhnliches?« fragte
er verwundert. »Wir führen nur Sepulken mit Pfiff…«
»Dann also geben Sie mir bitte
eine…«
»Und wo haben Sie Ihre
Matrixbüchse?«
»Hm, ich habe sie nicht bei
mir…«
»Wie wollen Sie dann die Sepulke
ohne Ihre Frau nehmen?« fragte der Verkäufer und schaute mich dabei
prüfend an. Er trübte sich allmählich.
»Ich habe keine Frau«, entfuhr es
mir unwillkürlich.
»Sie… haben… keine… Frau?«
stammelte der Verkäufer, nunmehr schwarz, und betrachtete mich
entsetzt. »Und da wollen Sie eine Sepulke? Ohne Gattin?«
Ich zitterte am ganzen Leibe. Wie
ein begossener Pudel flüchtete ich auf die Straße, erwischte ein
freies Eborett und ließ mich wütend zu einem Nachtlokal fahren. Es
hieß Myrgindragg. Als ich eintrat, hörte das Orchester gerade zu
spielen auf. Hier baumelten an die dreihundert Personen. Auf der
Suche nach einem Platz arbeitete ich mich durchs Gedränge – da
hörte ich plötzlich meinen Namen rufen; voller Freude entdeckte ich
ein bekanntes Gesicht, es gehörte einem Geschäftsreisenden, den ich
einst auf Antropien kennengelernt hatte. Er baumelte samt Frau und
Tochter. Ich stellte mich den Damen vor und tat mein Bestes, die
bereits recht angeheiterte Gesellschaft zu unterhalten, die sich
hin und wieder aufschwang, um bei den Klängen einer Tanzmelodie
über das Parkett zu rollen. Die Gattin meines Bekannten bat mich
inständig, es doch auch einmal zu versuchen; schließlich faßte ich
mir ein Herz, und zu viert fest umfangen, wälzten wir uns bei einem
feurigen Mambrin auf dem Boden. Ehrlich gesagt, holte ich mir dabei
etliche blaue Flecke, machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel und
heuchelte Begeisterung. Als wir an unseren Tisch zurückgingen,
fragte ich meinen Bekannten leise nach den Sepulken.
»Wie bitte?« Er hatte nicht
richtig verstanden. Ich wiederholte die Frage und fügte hinzu, daß
mir am Erwerb einer Sepulke gelegen sei. Offensichtlich hatte ich
zu laut gesprochen, denn die in unserer Nähe hängenden Ardriten
drehten sich herum und betrachteten mich mit trüben Gesichern,
indes mein Bekannter vor Angst die Taster faltete.
»Um Drumas willen, Herr Tichy –
Sie sind doch ledig.«
»Was macht das schon«, erwiderte
ich, nun bereits leicht gereizt, »darf ich etwa keine Sepulke
sehen?«
Die Worte fielen in eine
plötzlich entstandene Stille. Die Frau meines Bekannten fiel
ohnmächtig zu Boden, er stürzte zu ihr, während die Ardriten
ringsum auf mich zu wogten, durch ihre Farbe feindselige Absichten
verratend. In diesem Augenblick erschienen drei Kellner; sie
packten mich am Kragen und warfen mich auf die Straße.
Wutschnaubend hielt ich ein
Eborett an und ließ mich zum Hotel fahren. Die ganze Nacht tat ich
kein Auge zu, so sehr drückte und zwickte mich etwas; erst im
Morgengrauen kam ich dahinter, daß die Hotelbedienung mangels
klarer Anweisungen von der Galax – auf Grund ihrer Erfahrungen mit
Gästen, die die Matratzen bis zur Federung durchzubrennen pflegen –
mein Lager mit Asbest ausgelegt hatte. Die unangenehmen Ereignisse
des Vortages verloren im Lichte des neuen Morgens für mich ihre
Schärfe. Freudig begrüßte ich den Galaxvertreter, der mich um zehn
mit einem Eborett voll Schlingen, Kübeln mit Jagdpaste und einem
ganzen Jagdwaffenarsenal abholte.
»Sie hatten doch noch nie Kulupen
gejagt?« vergewisserte sich mein Begleiter, als das Vehikel mit
hoher Geschwindigkeit durch die Straßen von Tentotam
sauste.
»Nein. Vielleicht könnten Sie
mich kurz informieren?« antwortete ich lächelnd.
Meine langjährige Erfahrung, die
ich bei Streifzügen nach den größten Dickhäutern der Milchstraße
gesammelt hatte, berechtigte mich zu solcher Gemütsruhe.
»Ich stehe Ihnen zu Diensten«,
entgegnete der Reiseführer beflissen.
Er war ein hagerer Ardrit von
glasigem Teint, ohne Leuchtschirm, eingehüllt in ein dunkelblaues
Gewebe – eine solche Kleidung hatte ich auf dem Planeten noch nicht
gesehen. Als ich ihm das bedeutete, erklärte er, es sei die
Jägerkluft, für das Heranpirschen an das Tier geradezu
unentbehrlich; was ich für Stoff hielt, sei eine Spezialsubstanz,
die auf den Körper aufgetragen werde. Kurz, ein Spritzanzug,
bequem, praktisch und vornehmlich geeignet, das natürliche Leuchten
der Ardriten, das den Kulupen verscheuchen könnte, gänzlich
abzudunkeln.
Mein Begleiter holte ein
bedrucktes Blatt aus seiner Aktentasche und gab es mir zu lesen;
ich habe es noch unter meinen Papieren:
Kulupenjagd
Anweisung für Ausländer
Als Jagdwild stellt der Kulup
höchste Anforderungen sowohl an die persönlichen Qualitäten des
Jägers wie an seine Ausrüstung. Da sich dieses Wild im Zuge der
Evolution den Meteoritenniederschlägen angepaßt hat, indem es einen
undurchdringlichen Panzer herausbildete, werden die Kulupen von
innen gejagt.
Zur Kulupenjagd sind
erforderlich:
in der einleitenden Phase –
Grundierpaste, Pilzsoße, Schnittlauch, Pfeffer und Salz; in der
eigentlichen Jagdphase – Reisfeger, Zeitzünderbombe.
I. Vorbereitung auf dem Anstand.
Die Kulupen müssen geködert
werden. Der Jäger kauert sich, nachdem er sich mit Grundierpaste
eingerieben hat, in eine Bodenrille, dann bestreuen ihn seine
Gefährten mit feingehacktem Schnittlauch und würzen ihn.
II. In dieser Lage erwartet er
das Wild. Wenn sich das Tier genähert hat, ist die Höllenmaschine,
die zwischen den Knien gehalten wird, mit beiden Händen fest zu
umspannen; dabei Ruhe bewahren! Der hungrige Kulup schlingt den
Bissen gewöhnlich sofort. Falls ein Kulup nicht zuschnappen will,
kann man ihm zur Ermunterung sanft auf die Zunge klopfen. Wenn auch
das nicht hilft, so raten einige Sachkundige, man solle sich
zusätzlich salzen; das ist jedoch höchst riskant, weil der Kulup
dadurch zum Niesen gereizt wird. Es sind nur wenige Fälle bekannt,
in denen ein Jäger das Niesen eines Kulupen überlebt hat.
III. Hat der Kulup den Köder
genommen, so beleckt er sich und trottet von dannen. Wenn der Jäger
merkt, daß er verschlungen ist, dann schreitet er unverzüglich zur
aktiven Phase, das heißt, er stäubt mit dem Feger Schnittlauch und
Würze von seinem Körper, damit die Paste ungehindert ihre
purgierende Wirkung entfalten kann; danach stellt er die
Zeitzünderbombe ein und entfernt sich möglichst rasch in
entgegengesetzter Richtung.
IV. Beim Verlassen des Kulupen
ist darauf zu achten, daß man auf Hände und Füße fällt und keinen
Schaden erleidet.
Bemerkungen. Die Verwendung
scharfer Gewürze ist verboten. Ebenfalls verboten ist das Ködern
der Kulupen durch eingestellte und mit Schnittlauch bestreute
Zeitzünderbomben. Ein solches Vorgehen wird als Wilddieberei
geahndet.
An der Grenze des Jagdreservats erwartete uns bereits der Verwalter, Herr Wauwr, umringt von seiner Familie, die wie ein Kristall in der Sonne glitzerte. Dieser überaus herzliche und gastfreundliche Mann lud uns zu einem Imbiß ein; wir verbrachten mehrere Stunden in seiner angenehmen Gesellschaft und lauschten den Ge schichten aus dem Leben der Kulupen und den Jagderinnerungen Wauwrs und seiner Söhne. Plötzlich stürzte atemlos ein Bote herein und berichtete, die aufgespürten Kulupen seien von den Treibern in den Urwald gescheucht worden.
»Die Kulupen müssen nämlich erst
tüchtig gehetzt werden, damit sie Hunger bekommen!« erläuterte der
Verwalter.
Mit Paste eingerieben, bewehrt
mit Bombe und Gewürzen, betrat ich in Begleitung Wauwrs und des
Reiseführers die Gefilde der Torpe. Die Straße verlor sich bald in
undurchdringlichem Dickicht. Wir kamen nur mit Mühe voran, oft
behindert durch die Spuren der Kulupen, die Trichtern von fünf
Meter Durchmesser glichen. Als wir ein großes Stück Wegs marschiert
waren, erbebte auf einmal der Boden, der Reiseführer blieb stehen
und gebot mir mit dem Taster Schweigen. Ein Donnern erhob sich, als
tobte ein Gewitter hinter dem Horizont.
»Hören Sie?« flüsterte der
Reiseführer.
»Ich höre. Ein Kulup?«
»Ja. Er mistet.«
Wir bewegten uns jetzt langsamer
und vorsichtiger. Das Getöse hatte sich gelegt, und die Torpe
versank wieder in Schweigen. Endlich schimmerte eine weite Lichtung
durch das Dickicht. Meine Begleiter wählten an ihrem Rande einen
guten Anstand, würzten mich, und nachdem sie sich überzeugt hatten,
daß ich Feger und Bombe in Bereitschaft hielt, entfernten sie sich
auf Zehenspitzen, wobei sie mir Geduld empfahlen. Eine Zeitlang
herrschte Stille, unterbrochen nur durch die Klagelaute der
Okteseln; die Beine waren mir schon erstarrt, da erzitterte der
Boden. Ich gewahrte eine Bewegung in der Ferne – die Baumwipfel mir
gegenüber neigten sich und stürzten um, die Bahn des Wildes
zeichnend. Es mußte ein kapitaler Bursche sein. In der Tat ließ
sich auch bald ein Kulup am Rande der Lichtung blicken, stampfte
über die liegenden Stämme hinweg und schritt vor sich hin.
Majestätisch pendelnd, kam er mit lautem Schnuppern auf mich zu.
Ich packte mit beiden Händen die Bombengriffe und wartete
kaltblütig. Der Ku lup blieb in einer Entfernung von etwa fünfzig
Metern stehen und beleckte sich. In seinem durchsichtigen Innern
konnte ich deutlich die Überreste vieler gescheiterter Jäger
erkennen.
Der Kulup überlegte recht lange;
ich fürchtete schon, er würde umkehren, da trapste er heran und
probierte mich. Ich hörte ein dumpfes Schmatzen und verlor den
Boden unter den Füßen.
Angebissen! Glück gehabt! dachte
ich. Innen war es gar nicht so finster, wie ich im ersten
Augenblick geglaubt hatte. Ich säuberte mich, hob sodann die
schwere Zeitzünderbombe und wollte das Uhrwerk stellen, als mich
ein Räuspern auffahren ließ. Ich blickte auf und sah einen mir
fremden Ardriten, der sich ebenso wie ich über seine Bombe
bückte.
»Was tun Sie hier?« fragte ich,
nachdem wir einander eine Weile gemustert hatten.
»Ich jage den Kulupen«, erwiderte
er.
»Ich auch«, sagte ich, »doch
lassen Sie sich bitte nicht stören. Sie waren ja als erster
hier.«
»Aber nicht doch«, entgegnete der
andere. »Sie sind Ausländer.«
»Was tut’s zur Sache«, antwortete
ich, »ich behalte meine Bombe eben für ein andermal. Bitte nehmen
Sie auf mich keine Rücksicht.«
»Um nichts in der Welt!« rief er.
»Sie sind unser Gast.«
»In erster Linie bin ich
Jäger.«
»Und ich Gastgeber, darum erlaube
ich nicht, daß Sie meinetwegen auf diesen Kulupen verzichten
müssen! Bitte beeilen Sie sich, die Paste fängt bereits an zu
wirken!«
In der Tat wurde der Kulup
unruhig; sogar bis hierher drang sein gewaltiges Schnaufen, etwa
als ließen fünfzig Lokomotiven zugleich Dampf.
Als ich sah, daß der Ardrit nicht
nachgeben würde, stellte ich den Zeitzünder ein und wartete auf
meinen Gefährten. Der jedoch wollte mir unbedingt den Vortritt
lassen. Bald stiegen wir denn auch aus, das heißt wir fielen. Die
Fallhöhe entsprach einem zwei stöckigen Haus, und ich verstauchte
mir leicht einen Knöchel. Sichtlich erleichtert stampfte der Kulup
ins Dickicht und knickte dort die Bäume mit lautem Gedröhn. Auf
einmal ein fürchterliches Krachen, und alles wurde still.
»Da liegt er! Meinen herzlichsten
Glückwunsch!« schrie der Jäger und drückte mir innig die Rechte. In
diesem Augenblick nahten mein Reiseführer und der Verwalter des
Geheges.
Es dämmerte bereits, die Zeit
drängte; der Verwalter versprach, den erlegten Kulupen eigenhändig
auszustopfen und mir mit dem nächsten Raketenfrachter auf die Erde
nachzuschicken.
5. XI.
Vier Tage keine Eintragung
gemacht, bin sehr beschäftigt. Jeden Morgen Typen aus der
Kommission für Kulturelle Zusammenarbeit mit dem Kosmos, Museen,
Ausstellungen, Radioakte, und am Nachmittag Besuche, offizielle
Empfänge, Aussprachen. Bin ziemlich erschöpft. Mein Betreuer von
der KfKZK sagte mir gestern, demnächst würde der Ström
hereinbrechen, aber ich vergaß, ihn zu fragen, was das bedeutet.
Ich soll Professor Zazul, einem hervorragenden ardritischen
Gelehrten, vorgestellt werden, weiß nur noch nicht, wann.
6. XI.
Heute morgen riß mich ein
entsetzlicher Donner aus dem Schlaf. Ich sprang aus dem Bett und
erblickte über der Stadt hohe Rauch- und Feuersäulen. Sogleich rief
ich die Hotelauskunft an und fragte, was denn los sei.
»Nichts Besonderes«, erwiderte
die Telefonistin. »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, das ist
nur der Ström.«
»Der Ström?«
»Ja doch, die Meteorenströmung,
die uns alle zehn Monate heimsucht!«
»Das ist ja furchtbar!« rief ich
aus. »Muß man da nicht in den Schutzkeller?«
»Oh, gegen Meteorentreffer gibt
es keinen Schutz. Aber wie jeder einzelne Bürger besitzen Sie doch
eine Reserve und haben daher nichts zu befürchten.«
»Was für eine Reserve?« fragte
ich, aber die Telefonistin hatte schon aufgelegt. Ich zog mich
rasch an und trat ins Freie. Der Straßenverkehr war völlig normal;
die Passanten gingen ihren Angelegenheiten nach, die Amtspersonen
mit ihren bunt flammenden Orden auf der Brust fuhren in die
Büroblöcke, und in den Grünanlagen leuchteten und sangen die Kinder
im Spiel. Die Explosionen klangen nach einiger Zeit ab, und nur von
fern drang ein ununterbrochenes Donnern. So wähnte ich, der Ström
sei offenbar eine verhältnismäßig unschädliche Naturerscheinung, da
sich hier niemand etwas daraus machte, und ließ mich, wie
vorgesehen, zum zoologischen Garten befördern.
Ich wurde vom Direktor selbst
umhergeführt, einem hageren, nervösen Ardriten von schönem Glanz.
Der Tentotamer Zoo ist sehr ordentlich gehalten; der Direktor
erklärte mir stolz, daß er Tiersammlungen aus den entlegensten
Gegenden der Milchstraße besitze, darunter auch etwas von der
irdischen Fauna. Gerührt wollte ich es sehen.
»Jetzt ist es leider unmöglich«,
entgegnete der Direktor und fügte auf meinen fragenden Blick hinzu:
»Schlafenszeit. Wissen Sie, wir hatten große Schwierigkeiten mit
der Akklimatisierung, und ich fürchtete schon, daß wir ein Exemplar
davon nicht am Leben erhalten könnten, doch zum Glück zeitigte die
Vitamindiät, die unsere Gelehrten zusammenstellten, glänzende
Resultate.«
»Aha, aber was sind das
eigentlich für Tiere?«
»Fliegen. Haben Sie Kulupen
gern?«
Er musterte mich mit einem
eigenartigen erwartungsvollen Blick, so daß ich in einem Ton
antwortete, der ungeheuchelte Begeisterung verraten sollte: »O ja,
sehr, es sind doch so reizende Geschöpfe!«
Er hellte sich auf. »Das freut
mich. Wir gehen gleich zu ihnen, zuvor aber müssen Sie mich ein
Weilchen entschuldigen.«
Er kam sofort wieder, ein Seil um
den Leib, und führte mich in das Kulupengehege, das von einer
neunzig Meter hohen Mauer umgeben war. Er öffnete die Pforte und
ließ mir den Vortritt.
»Sie können ruhig hineingehen«,
sagte er, »meine Kulupen sind ganz zahm.«
Ich sah mich auf einer künstlich
angelegten Torpe, wo sechs oder sieben Kulupen weideten, lauter
Prachtexemplare, jedes etwa drei Hektar groß. Als der Leitkulup die
Stimme des Direktors hörte, trottete er heran und hielt den Schwanz
hin. Mein Begleiter erklomm ihn und forderte mich auf, ihm zu
folgen. Als es zu steil wurde, entrollte er das Seil und reichte
mir ein Ende, damit ich es mir umgürtete. Aneinandergeseilt
kletterten wir wohl an die zwei Stunden. Oben auf dem Gipfel
angelangt, ließ sich der Direktor, stumm vor Rührung, nieder. Auch
ich sprach kein Wort, um seine Gefühle nicht zu verletzen. Nach
einer Weile fragte er: »Ist die Aussicht von hier nicht
schön?«
Wir hatten tatsächlich fast ganz
Tentotam mit seinen Türmen, Tempeln und Trichterblöcken zu unseren
Füßen, in den Straßen wimmelte es von Passanten, die klein waren
wie Ameisen.
»Hängen Sie sehr an den Kulupen?«
fragte ich leise, als ich sah, wie zärtlich er dem Tier die Kruppe
streichelte.
»Ich liebe sie«, sagte er
schlicht und blickte mich an. »Die Kulupen sind schließlich die
Wiege unserer Zivilisation.« Nach einer besinnlichen Pause fuhr er
fort: »Einst, es ist Tausende von Jahren her, hatten wir weder
Städte noch Prachtbauten, weder Technik noch Reserven… Damals
pflegten uns diese mächtigen und doch sanften Wesen, waren sie
unsere Zuflucht in der Not der Strömperioden. Ohne die Kulupen
hätte kein einziger Ardrit die herrlichen Zeiten von heute erlebt.
Und da wird Jagd auf sie gemacht, man rottet sie aus – welche
Ungeheuerlichkeit, welch ein Zynismus!«
Ich wagte nicht, ihn zu
unterbrechen. Als er seiner Gemütsbewegung Herr geworden war, fuhr
er fort: »Wie ich diese Jäger has se, die Gutes mit Niedertracht
vergelten! Sie haben gewiß die Reklame für Jagdpasta gesehen, nicht
wahr?«
»Allerdings.«
Zutiefst beschämt, zitterte ich
bei dem Gedanken, der Direktor könnte erfahren, daß ich eigenhändig
einen Kulupen erledigt hatte. Um ihn von diesem heiklen Thema
abzulenken, fragte ich: »Verdanken die Ardriten ihnen tatsächlich
so viel? Das war mir ja gar nicht bekannt…«
»Was – Sie wissen nichts davon?
Zwanzigtausend Jahre lang trugen uns die Kulupen in ihrem Schoß!
Geschützt durch die gewaltigen Panzer vor dem Hagel der
todbringenden Meteore, vermochten wir das zu werden, was wir heute
sind: vernunftbegabte, schöne Wesen, die im Dunkeln leuchten. Und
Sie hätten nichts davon gewußt?«
»Ich bin Ausländer…«, flüsterte
ich, während ich mir im stillen gelobte, nie mehr die Hand gegen
einen Kulupen zu erheben.
»Nun ja, ja…«, erwiderte der
Direktor abwesend und stand auf. »Leider müssen wir umkehren, die
Pflicht ruft…«
Vom zoologischen Garten fuhr ich
im Eborett zur Galax, wo ich mir die Eintrittskarte für die
Nachmittagsvorstellung abholen wollte.
In der Innenstadt ließen sich von
neuem dröhnende Einschläge vernehmen, sie wurden immer lauter und
fielen immer dichter. Über den Dächern schossen feuerspeiende
Rauchsäulen hoch. Da ich sah, daß keiner der Passanten darauf
achtete, schwieg ich, bis das Eborett vor der Galax hielt. Der
diensttuende Angestellte fragte, ob mir der Zoo gefallen
habe.
»Doch, doch, sehr hübsch«,
antwortete ich, »aber… um Himmels willen, was ist das?«
Der gesamte Galaxkomplex erbebte.
Die beiden Büroblöcke gegenüber, die durchs Fenster wie auf dem
Präsentierteller zu sehen waren, barsten unter einem
Meteorentreffer. Ich taumelte an die Wand.
»Das ist nicht schlimm«, meinte
der Beamte. »Wenn Sie länger bei uns weilen, werden Sie sich daran
gewöhnen. Bitte, hier ist die Kar…«
Er sprach nicht zu Ende. Es
blitzte und donnerte, Staub wirbelte auf, und als er sich setzte,
erblickte ich an Stelle meines Gesprächspartners ein gewaltiges
Loch im Fußboden. Ich stand wie erstarrt. Es war noch keine Minute
vergangen, da hatten einige Ardriten in Monteurkleidung das Loch
geflickt und einen niedrigen Handwagen mit einem großen Paket
hereingeschoben. Ihm entstieg vor meinen Augen der Angestellte und
hielt die Eintrittskarte in der Hand. Er schüttelte die Reste der
Verpackung ab, machte es sich auf seinem Schwebehaken bequem und
sagte:
»Hier ist Ihre Karte. Ich sagte
Ihnen bereits, das sei nichts Besonderes. Jeder wird bei uns im
Bedarfsfall doubliert. Sie wundern sich über unseren Gleichmut?
Dieser Zustand währt ja seit dreißigtausend Jahren, da hat man
schon Zeit, sich daran zu gewöhnen… Falls Sie zu speisen wünschen,
das Galaxrestaurant ist schon geöffnet. Unten, links vom
Eingang.«
»Danke, mir ist der Appetit
vergangen«, erwiderte ich und verließ in dem unaufhörlichen Getöse
leicht schwankend den Raum. Doch bald packte mich Zorn. Die sollen
hier keinen Erdenmenschen zittern sehen! dachte ich, warf einen
Blick auf die Uhr und ließ mich ins Theater fahren.
Unterwegs zersplitterte ein
Meteorit das Eborett, so daß ich umsteigen mußte. An der Stelle, an
der gestern noch der Theaterbau gestanden hatte, türmte sich heute
ein qualmender Trümmerhaufen.
»Werden die Eintrittskarten
rückvergütet?« erkundigte ich mich bei dem Kassierer, der auf der
Straße stand.
»Keineswegs. Die Vorstellung
beginnt normal.«
»Was heißt normal? Hat nicht ein
Meteor…?«
»Es sind noch zwanzig Minuten
Zeit!« Er hielt mir seine Uhr hin.
»Aber…«
»Bitte blockieren Sie nicht die
Kasse! Wir wollen auch Karten haben!« riefen mehrere Personen
gleichzeitig aus der Schlange, die sich hinter mir gebildet hatte.
Achselzuckend trat ich zur Seite. Indessen verluden zwei riesige
Maschinen die Trümmer und schafften sie fort. Wenige Minuten später
war der Platz geräumt.
»Findet die Veranstaltung im
Freien statt?« fragte ich einen von den Wartenden, der sich mit dem
Programm Kühlung zufächelte.
»Keinesfalls; ich nehme an, es
wird wie üblich sein«, entgegnete er.
Ich biß mir wütend auf die Lippen
und erwiderte nichts, in der Meinung, er wolle mich zum Narren
halten. Jetzt wurde eine große Zisterne auf den Platz gefahren,
eine teerähnliche, rubinrot leuch tende Masse ergoß sich daraus und
wurde zu einem ansehnlichen Kegel aufgeschichtet; sogleich steckte
man Rohre in diese breiige, glühende Masse und begann Luft
hineinzupressen. Der Brei verwandelte sich in eine Blase, die sich
mit atemberaubender Geschwindigkeit ausdehnte. Eine Minute später
bildete sie bereits eine täuschend ähnliche Kopie des ehemaligen
Theatergebäudes, nur daß sie noch weich war und im Winde
schlotterte. Nach weiteren fünf Minuten fand ich den neugeblasenen
Bau erstarrt; in diesem Augenblick zertrümmerte ein Meteorit wieder
einen Teil des Daches. Also wurde ein neues Dach dazugeblasen, die
Flügeltüren öffneten sich, und die Zuschauermassen strömten hinein.
Als ich mich setzte, merkte ich, daß mein Platz noch warm war, aber
das war auch das einzige Zeugnis der Katastrophe. Ich fragte meinen
Nachbarn, wie dieser Blasebrei heiße, und erfuhr, das sei die
berühmte ardritische Blockmasse.
Die Aufführung begann mit nur
einer Minute Verspätung. Ein Gong ertönte, der Zuschauerraum wurde
dunkel und glich jetzt einem Ofenrost voll verglimmender Kohlen,
dafür erstrahlten die Künstler in herrlichem Glanze. Es wurde ein
historischsymbolisches Stück gegeben; offen gesagt, begriff ich
kaum etwas davon, um so weniger, als vieles durch Farbpantomime
dargestellt wurde. Der erste Akt spielte in einem Tempel; junge
Ardritinnen bekränzten eine Drumabildsäule und sangen von ihren
Geliebten.
Doch da erschien ein
bernsteingelber Prälat, der die Mädchen verjagte, ausgenommen das
schönste, das durchsichtig war wie Quellwasser. Der Prälat schloß
es in die Bildsäule ein. Nun rief die Gefangene singend den
Geliebten herbei, der auch prompt hereinstürmte und den Greis
auslöschte. In diesem Augenblick zerschmetterte ein Meteor das
Gewölbe, einen Teil der Dekoration und die Liebhaberin, aber schon
wurde aus dem Souffleurkasten die Reserve herausgeschoben, und zwar
so geschickt, daß man gar nichts merken konnte, wenn man sich
gerade räusperte oder blinzelte.
Im weiteren Spielverlauf kamen
die Liebenden überein, eine Familie zu gründen. Zum Abschluß wurde
der Prälat in den Abgrund gestürzt, und dann folgte die
Pause.
Als der Vorhang wieder hochging,
erblickte ich eine mysteriöse Kugel, bestehend aus den beiden
Gatten und ihrer Nachkommenschaft, die zur Musik auf und ab rollte.
Da erschien ein Dienstbote und verkündete, ein unbekannter Gönner
habe dem Ehepaar einen Armvoll Sepulken gesandt. In der Tat wurde
ein gewaltiges Paket auf die Bühne geschleppt, dessen Enthüllung
ich gespannt entgegensah. Als der Deckel angehoben wurde, erhielt
ich einen heftigen Schlag auf den Schädel und verlor die Besinnung.
Als ich auf demselben Platz wieder zu mir kam, wurde auf der Bühne
nicht mehr von Sepulken gesprochen, indes tobte der ausgelöschte
Prälat dort herum, stieß fürchterliche Verwünschungen aus, und um
ihn standen tragisch leuchtend Kinder und Eltern. Ich griff mir an
den Kopf, fand aber keine Beule.
»Was ist mit mir geschehen?«
fragte ich leise meine Nachbarin.
»Wie bitte? Ach so, ein Meteor
hatte Sie getötet, aber Sie haben von der Aufführung nichts
verloren, das Duett war geradezu fatal. Andererseits ist es einfach
skandalös: Ihre Reserve mußte erst aus der Galax geholt werden«,
hauchte die nette Ardritin zur Antwort.
»Was denn für eine Reserve?«
fragte ich und spürte, wie mir schwarz vor den Augen
wurde.
»Na, Ihre eigene…«
»Und wo bin ich?«
»Wieso? Im Theater natürlich.
Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Ich bin also die
Reserve?«
»Ja.«
»Und wo ist der Ich, der vorhin
hier war?«
Die Zuschauer vor uns begannen
schon laut zu zischen, und meine Nachbarin verstummte.
»Ein Wort noch, ich flehe Sie
an!« flüsterte ich. »Wo befinden sich die… na… Sie wissen
doch…«
»Ruhe! Was ist denn da los? Hier
wird nicht gestört!« tönte es immer lauter von allen Seiten. Mein
Nachbar, orangerot vor Wut, rief bereits nach den Ordnern. Fast
besinnungslos rannte ich aus dem Theater, jagte mit dem ersten
Eborett ins Hotel zurück und betrachtete gewissenhaft mein
Spiegelbild. Ich hatte schon wieder Mut gefaßt, denn ich sah aus
wie früher – da machte ich jedoch bei genauerer Musterung eine
furchtbare Entdeckung. Ich hatte das Hemd linksherum an, und die
Knöpfe waren verkehrt geschlossen – ein klarer Beweis dafür, daß
diejenigen, die mich angezogen hatten, keinen blassen Schimmer von
irdischer Wäsche hatten. Obendrein schüttelte ich noch einen Fetzen
Packpapier, der in der Eile übriggeblieben war, aus der Socke. Mir
ging die Luft aus; da klingelte das Telefon.
»Ich rufe schon zum viertenmal
bei Ihnen an«, sagte das Fräulein aus der KfKZK, »Professor Zazul
würde Sie heute gern sprechen.«
»Wer? Professor?« wiederholte ich
und suchte mühselig meine Gedanken zusammen. »Gut, und um welche
Zeit?«
»Wann Sie wünschen, auch jetzt,
sofort.«
»Dann fahre ich gleich zu ihm!«
rief ich kurz entschlossen. »Und… und dann, bitte, machen Sie die
Rechnung fertig!«
»Sie wollen schon fahren?« fragte
das Fräulein von der KfKZK.
»Ja, ich muß. Ich fühle mich gar
nicht wohl!« erklärte ich und legte den Hörer auf.
Ich kleidete mich um und ging
hinunter. Die letzten Ereignisse hatten mich so abgebrüht, daß ich
nicht einmal mehr mit der Wimper zuckte, als das Hotel unter einem
Meteor auseinanderbarst, sondern kaltblütig die Adresse des
Professors nannte, als ich in das Eborett stieg. Der Professor
wohnte in einer Vorstadt, zwischen silbrig glänzenden sanften
Hügeln. Ich ließ das Eborett in einiger Entfernung halten, froh,
mir nach der nervlichen Belastung der letzten Stunden die Beine
vertreten zu können. Als ich so vor mich hin schritt, bemerkte ich
einen betagten Ardriten, der langsam ein zugedecktes Wägelchen
schob. Er grüßte mich höflich, ich erwiderte seinen Gruß. Ein
Weilchen gingen wir zusammen. In einer Kurve tauchte eine Hecke
auf, die um das Heim des Professors führte; Rauchschwaden
flatterten dort gen Himmel. Der Ardrit neben mir stolperte, da
ertönte unter dem Wagendeckel eine Stimme: »Ist es schon
soweit?«
»Noch nicht«, antwortete der
Wagenlenker.
Ich wunderte mich ein wenig,
sagte aber nichts.
Als wir die Umzäunung erreicht
hatten, stutzte ich: Dort, wo es rauchte, mußte doch die Behausung
des Professors sein! Ich machte den Mann darauf aufmerksam, der
nickte. »Ja, da ist vor etwa einer Stunde ein Meteor
niedergegangen.«
»Was höre ich?« rief ich entsetzt
aus. »Aber das ist doch furchtbar!«
»Gleich kommt die Preßbläse«,
entgegnete der Mann. »Nach den Außenbezirken haben die es nicht so
eilig, wissen Sie. Da sind wir anders.«
»Schon da?« quäkte von neuem die
Stimme im Wagen.
»Noch nicht ganz«, antwortete der
Fahrer und wandte sich an mich: »Würden Sie bitte die Pforte
öffnen?«
Ich tat wie geheißen und fragte:
»Wollen Sie auch zum Professor?«
»Ja, ich bringe die Reserve«,
erwiderte der Ardrit und schickte sich an, den Deckel zu heben. Ich
hielt den Atem an: Ein sorgfältig verschnürtes großes Paket tauchte
vor meinen Augen auf. Das Papier war an einer Stelle angerissen;
ein lebendes Auge schaute hervor.
»Sie wollen zu mir… äh… zu mir
wollen Sie also…«, quäkte die Greisenstimme aus dem Paket, »Moment…
äh… einen Moment… in die Laube, wenn ich bitten darf…«
»Ja… ja… ich eile«, antwortete
ich. Der Wagenlenker rollte seine Last weiter, da machte ich kehrt,
übersprang die Hecke und rannte flugs zum Raketenhafen. Eine Stunde
später sauste ich bereits durch gestirnte Weltenräume. Ich hoffe,
daß mir Professor Zazul das nicht übelgenommen hat.
ACHTZEHNTE REISE
Die Reise, von der ich berichten möchte, war
in ihren Folgen und in ihrem Ausmaß das größte Werk meines Lebens.
Ich begreife sehr wohl, daß meinen Worten kaum jemand Glauben
schenken wird, doch obschon das paradox klingt – gerade die
Ungläubigkeit der Leser erleichtert mir meine Aufgabe. Ich kann
nämlich nicht behaupten, daß mir das, was ich beabsichtigte,
glänzend gelungen sei. Um die Wahrheit zu sagen, die Sache ist mir
eigentlich mißraten, und obwohl ich sie nicht selbst verpfuscht
habe, sondern gewisse Neider und Ignoranten, die meine Pläne zu
durchkreuzen suchten, so ist mir davon nicht leichter ums
Herz.
So hatte denn die Expedition, die
ich unternahm, zum Ziel, das Universum zu schaffen. Und zwar kein
neues, besonderes, nie dagewesenes – keineswegs. Es ging um das
Universum, in dem wir leben. Eine scheinbar sinnlose, ja verrückte
Erklärung, denn wie kann man schaffen, was schon besteht, und
obendrein schon so lange und so unwiderruflich wie der Kosmos?
Sollte es sich – so wird vielleicht der Leser denken – um eine
extravagante Hypothese handeln, die behauptet, daß es bis jetzt
außer der Erde nichts gegeben habe und daß alle Galaxien, Sonnen,
Wolken und Milchstraßen nur so etwas wie eine Fata Morgana gewesen
seien? Nein, es ist auch nicht an dem. Ich habe nämlich wirklich
alles geschaffen, absolut alles – also auch die Erde, den Rest des
Sonnensystems und die Metagalaxis, was gewiß Anlaß genug wäre, sich
etwas darauf einzubilden, wenn diese meine Schöpfung nicht so viele
Fehler besäße. Zum Teil gilt das für den Baustoff, vor allem aber
für die belebte Materie mit dem Menschen an der Spitze. Mit ihm,
dem Menschen, ist mein ärgster Kummer verbunden. Gewiß, jene
gewissen Leute, die ich noch beim Namen nennen werde, haben sich in
meine Sache eingemischt und sie verdorben, aber ich selbst halte
mich keinesfalls für unschuldig. Man hätte alles sorgfältiger
planen, beaufsichtigen, berücksichtigen sollen, zumal nun von
keinen Verbesserungen und Vervollkommnungen mehr die Rede sein
kann. Seit dem zwanzigsten Oktober vergangenen Jahres gehen alle,
aber auch wirklich alle Konstruktionsfehler des Universums und die
Entstellungen der menschlichen Natur auf meine Rechnung. Es gibt
keine Flucht vor dieser Erkenntnis.
Das Ganze begann vor drei Jahren
in Bombay, als ich durch Professor Tarantoga einen Physiker
slawischer Herkunft kennenlernte, der dort als ein sogenannter
»visiting professor« weilte. Jener Gelehrte, Solon Rasglas, befaßte
sich schon seit über dreißig Jahren mit der Kosmogonie, das heißt
mit jenem Zweig der Astronomie, der die Herkunft und die Umstände
der Entstehung des Weltalls untersucht.
Nach sorgfältiger Erforschung des
Gegenstandes war er zu einer mathematisch exakten Schlußfolgerung
gelangt, die ihn völlig berauschte. Bekanntlich zerfallen die
Theorien der Kosmogonie in zwei Gruppen. Die eine vereint jene, die
das Weltall für ewig während, das heißt für ohne Anfang halten. Die
andere umfaßt die Theorien, denen zufolge das Weltall einst
entstanden ist, und zwar auf explosive Weise, dank der Explosion
des Uratoms. Beide Standpunkte stießen stets auf gewaltige
Schwierigkeiten. Hinsichtlich der ersten besitzt die Wissenschaft
eine wachsende Anzahl Beweise dafür, daß der sichtbare Kosmos mehr
als ein Dutzend Milliarden Jahre existiert. Wenn sich etwas durch
ein bestimmtes Alter auszeichnet, dann gibt es nichts Einfacheres,
als bis zu jenem Augenblick Null zurückzurechnen, doch der ewige
Kosmos kann eine solche »Null«, das heißt einen Anfang nicht haben.
Unter dem Druck der neuen Erkenntnisse spricht sich die Mehrzahl
der Gelehrten nun für ein Universum aus, das vor fünfzehn oder
achtzehn Milliarden Jahren entstanden ist. Zuerst habe es ein
Gebilde gegeben, genannt Ylem, Uratom oder noch anders. Dieses
Gebilde explodierte, und daraus entstanden die Materie und die
Energie, die Sternwolken, die wirbelnden Galaxien, die dunklen und
hellen Nebelflecke, die in verdünntem Gas voller Strahlung
schwimmen. All das läßt sich sehr genau und schön ausrechnen,
solange es niemandem einfällt, die Frage zu stellen: »Und woher ist
dieses Uratom gekommen?« Denn auf diese Frage gibt es keine
Antwort. Es gibt gewisse Ausflüchte, gewiß, aber kein aufrichtiger
Astronom kann sich mit ihnen zufriedengeben.
Professor Rasglas hatte sich, ehe
er sich an die Kosmogonie heranmachte, lange mit theoretischer
Physik befaßt, vor allem mit den Erscheinungen der sogenannten
Elementarteilchen. Als sich Rasglas dem neuen Gebiet zuwandte,
gewann er bald das folgende Bild: Der Kosmos hatte zweifellos einen
Anfang. Unverkennbar war er vor 18,5 Milliarden Jahren aus einem
Uratom entstanden. Zugleich konnte es jedoch ein solches Uratom,
aus dem er hätte schlüpfen können, nicht gegeben haben, denn wer
hätte es an einer leeren Stelle unterschieben können? Am Anfang gab
es nichts. Hätte es etwas gegeben, dann hätte sich jenes Etwas –
klarer Fall – zu entwickeln begonnen, und der ganze Kosmos wäre
viel früher entstanden, wenn man es genau
nimmt – unendlich früher! Warum sollte
denn dieses ursprüngliche Uratom währen und währen, in Totenstarre
und Unbeweglichkeit ungeahnte Äonen hindurch währen, ohne sich zu
rühren, und was um Gottes willen hätte in einem bestimmten
Augenblick so an ihm zerren und reißen sollen, daß es sich zu etwas
so Gewaltigem ausdehnen und ausbreiten konnte, wie es das Universum
darstellt?
Nachdem ich mich mit der Theorie
von S. Rasglas vertraut gemacht hatte, befragte ich ihn unermüdlich
nach den näheren Umständen seiner Entdeckung. Solche Probleme
hatten mich immer leidenschaftlich bewegt, und es gibt wohl kaum
eine bedeutsamere Enthüllung als die der kosmogonischen Theorie von
Rasglas! Der Professor, ein stiller und unerhört bescheidener
Mensch, erklärte mir, daß er in seinen Überlegungen, vom orthodoxen
Standpunkt der Astronomie betrachtet, einfach auf »ungebührliche«
Weise vorgegangen sei. Alle Astronomen wissen sehr genau, daß jenes
Atomkernchen, aus dem der Kosmos gewachsen sein soll,
außerordentliche Probleme aufwirft. Was tun sie also? Nun, sie
gehen ihm einfach aus dem Weg, sie weichen dieser Frage aus, die so
unbequem ist. Rasglas hingegen hatte es gewagt, ihr seine ganze
Mühe zu widmen. In dem Maße, wie er die Fakten sammelte, wie er
sich in den Bibliotheken vergrub, wie er die Modelle baute, umgeben
von den schnellsten Komputern, sah er immer deutlicher, daß hier
ein außergewöhnlicher Hund begraben war. Anfangs hoffte er, daß es
ihm gelingen werde, den Widerspruch zu mindern, vielleicht sogar zu
beseitigen.
Doch er wurde immer größer. Alle
Tatsachen sprachen nämlich dafür, daß der Kosmos wirklich aus einem
Atom entstanden war, gleichzeitig aber auch dafür, daß ein solches
Atom nicht existiert haben konnte. Hier drängte sich ein Faktum
auf, die Hypothese vom Herrgott nämlich, aber die schob Rasglas als
indiskutabel beiseite. Ich erinnere mich noch seines Lächelns, mit
dem er zu mir sagte: »Man sollte nicht alles auf den Herrgott
abwälzen, und ein Astrophysiker dürfte sich schon gar nicht dazu
hergeben…« Während also Rasglas monatelang über dieses Dilemma
nachdachte, erinnerte er sich seiner früheren Studien. Wer mir das
folgende nicht glaubt, der mag den ersten besten Physiker fragen,
und der wird ihm sagen, daß gewisse Erscheinungen im kleinsten
Maßstab auf eine sozusagen kreditmäßige Art und Weise erfolgen. Die
Mesonen, diese Elementarteilchen, verstoßen manchmal gegen die
Verhaltensgesetze, aber sie tun das so unerhört schnell, daß sie
fast gar nicht gegen sie verstoßen. Das, was durch die Gesetze der
Physik verboten ist, tun sie blitzschnell, als ob gar nichts
geschähe, und sogleich ordnen sie sich wieder diesen Gesetzen
unter. Auf einem seiner morgendlichen Spaziergänge im
Universitätspark stellte sich Rasglas die Frage: Was wäre, wenn der
Kosmos im größten Maßstab das gleiche getan hat? Wenn die Mesonen
sich in einem Sekundenbruchteil, der so winzig ist, daß eine ganze
Sekunde dagegen wie eine Ewigkeit wirkt, so verhalten können, dann
müßte sich der Kosmos – bei seinen Ausmaßen – entsprechend
länger auf jene verbotene Weise verhalten.
Zum Beispiel fünfzehn Milliarden Jahre…
Er entstand somit, obwohl er im
Grunde nicht entstehen konnte, weil
er nichts hatte, woraus er hätte entstehen
können. Der Kosmos ist dem nach eine verbotene Fluktuation. Er
verkörpert eine Augenblickslaune, eine momentane Abweichung vom
richtigen Verhalten, wobei man berücksichtigen muß, daß dieser
Augenblick und dieser Moment monumentale Ausmaße besitzen. Das
Weltall ist eine solche Abweichung von den Gesetzen der Physik, wie
es im kleinsten Maßstab das Meson ist! Von der Vorahnung gepackt,
sich auf der Spur des Geheimnisses zu bewegen, begab sich der
Professor sogleich ins Labor und nahm verifizierende Berechnungen
vor, die Schritt für Schritt bewiesen, daß er recht hatte. Aber
noch bevor er sie beendete, schwante ihm, daß die Lösung des
Rätsels der Kosmogonie die größte Gefahr in sich barg, die man sich
denken konnte.
Der Kosmos besteht nämlich
auf Kredit. Er ist mit all seinen
Sternansammlungen und Galaxien eine ungeheuerliche Verschuldung,
gewissermaßen ein Pfandbrief, ein Obligo, das am Ende beglichen
werden muß. Das Weltall ist eine illegale Anleihe, eine
material-energetische Schuld, sein scheinbares Haben stellt eigentlich das nackte Soll dar. Somit wird der
Kosmos, da er nichts als eine gesetzwidrige Laune ist, eines
schönen Tages wie eine Seifenblase platzen. Als Anomalie wird er
wieder in das gleiche Nichtsein zurückfallen, aus dem er
hervorgetaucht ist. Erst dieser Augenblick wird die
Wiederherstellung der Ordnung der Dinge sein.
Der Umstand, daß er, der Kosmos,
so groß ist und daß in seinen Weiten schon soviel geschehen konnte,
resultiert einfach daraus, daß es sich um eine Laune im
allergrößten aller möglichen Maßstäbe handelt. Rasglas machte sich
unverzüglich an die Berechnungen, um festzustellen, wann dieses
fatale Ende eintreten würde, das heißt, wann die Materie, die
Sonne, die Sterne, die Planeten, also auch wir samt der Erde wie
weggeblasen im Nichts umkommen werden. Er überzeugte sich jedoch,
daß er dies nicht voraussehen könne. Natürlich nicht, da es sich
doch um eine Laune, das heißt um eine Abweichung von der Ordnung
der Gesetze handelt! Das Entsetzen, das diese Entdeckung auslöste,
trieb ihm den Schlaf aus den Augen. Nach längerem inneren Kampf
machte er, anstatt seine kosmogonischen Arbeiten zu
veröffentlichen, viele der hervor ragendsten Astrophysiker damit
bekannt, und die Gelehrten erkannten die Richtigkeit seiner Theorie
und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen an. Gleichzeitig
jedoch äußerten sie in privaten Unterhaltungen die Ansicht, eine
Veröffentlichung des Sachverhalts würde die Welt in ein geistiges
Chaos, in Angst und Schrecken stürzen, deren Folgen die gesamte
Zivilisation zerstören könnten. Wer würde noch etwas tun, würde
auch nur den kleinen Finger rühren, wenn er wüßte, daß in jeder
Sekunde alles mit ihm selbst verschwinden kann?
Die Angelegenheit war auf einem
toten Punkt angelangt. Rasglas, dieser größte Entdecker der nicht
nur menschlichen Geschichte, teilte die Auffassung seiner gelehrten
Kollegen. Schweren Herzens beschloß er, seine Theorie nicht zu
veröffentlichen. Statt dessen begann er im gesamten Arsenal der
Physik nach Mitteln zu suchen, die den Kosmos gewissermaßen
stützen, seine Kreditexistenz stärken und aufrechterhalten könnten.
Aber alle seine Bemühungen schlugen fehl. Kosmische Verschuldung
läßt sich nicht abzahlen, ganz gleich, was man gegenwärtig täte, da sie nicht innerhalb des
Universums, sondern in seinen Anfängen steckt – dort, wo das
Weltall zum mächtigsten und zugleich wehrlosesten Schuldner des
Nichts geworden ist.
Eben zu jener Zeit lernte ich den
Professor kennen und verbrachte lange Wochen in Gesprächen mit ihm,
bei denen er mich zunächst in den Kern seiner Entdeckung einweihte
und mir später ein Partner bei der Suche nach Rettung
war.
Ach, dachte ich, während ich mit
flammendem Kopf und Verzweiflung im Herzen ins Hotel zurückkehrte,
wenn es doch möglich wäre, für einen Sekundenbruchteil dort zu sein
– dort, vor 20 Milliarden Jahren –, dann brauchte man nur ein
einziges Atom im Vakuum unterzubringen, und daraus könnte, wie aus
einem gesteckten Korn, der Kosmos schlüpfen, nunmehr völlig legal,
den Gesetzen der Physik, dem Grundsatz der Erhaltung der Materie
und der Energie entsprechend – doch wie könnte man dorthin
gelangen?
Als ich dem Professor von dieser
Idee erzählte, lächelte er melancholisch und erklärte mir, das
Weltall könne nicht aus einem gewöhnlichen Atom entstehen, denn der
Keim des Kosmos müßte die ganze Energie all der Umgestaltungen und
Wirkungen enthalten, die sich bis zu metagalaktischen Abgründen
aufgebläht haben. Obwohl ich meinen Fehler begriff, erwog ich das
Problem weiter, bis ich eines Nachmittags – ich rieb mir gerade die
Beine mit Öl ein, die von Mückenstichen geschwollen waren – in der
Erinnerung in die früheren Jahre zurückwanderte, da ich, durch den
kugelförmigen Haufen der Jagdhunde fliegend, mangels besserer
Beschäftigung Bücher über theoretische Physik gelesen hatte.
Besonders eifrig studierte ich damals einen Band, der sich mit den
Elementarteilchen befaßte, und ich erinnerte mich der Hypothese von
Feynman, daß es Teilchen gäbe, die sich »gegen den Strich« des
Zeitflusses bewegen. Wenn sich ein Elektron so bewegt, gewahren wir
es als ein Teilchen mit positiver Ladung (Positron). Ich fragte
mich, während ich die Füße in einer Schüssel wusch, was geschehen
würde, wenn man ein Elektron nähme und beschleunigte, und zwar so
beschleunigte, daß es rückwärts in der Zeit immer schneller und
schneller raste – könnte man ihm da nicht einen so gewaltigen
Impuls verleihen, daß es über den Anfang der kosmischen Zeit
hinausschösse, bis zu jener Stelle im Kalender, an der es noch
nichts gab? Könnte dann nicht aus diesem Positron das Weltall
entstehen?!
So wie ich war, barfuß, mit
triefend nassen Beinen, rannte ich zum Professor. Er begriff
sogleich die Größe meiner Idee und ging ohne ein überflüssiges Wort
an die Berechnungen.
Resultat: Die Sache war möglich.
Das Elektron, das sich gegen den Strom der Zeit bewegte, würde, wie
die Kalkulation bewies, immer größere Energien annehmen, und wenn
es über den Anfang des Weltalls hinausflöge, würde die in ihm
angesammelte Macht es sprengen, und bei dieser Explosion würde
dieses Teilchen genau über den Vorrat
verfügen, der die Schuld begleichen
würde. Das Weltall wäre dann vor dem
Bankrott gerettet, denn es würde nicht länger auf Kredit
existieren.
Jetzt brauchte man nur noch an
die praktische Seite der Unternehmung zu denken, die unsere Welt
legalisieren, also einfach erschaffen sollte! Als Mensch von
lauterem Charakter unterstrich S. Rasglas mehrfach in Gesprächen
mit Prof. Tarantoga und auch seinen Assistenten und Mitarbeitern
gegenüber, daß die Konzeption der Schaffung des Universums mein
Verdienst sei und daß eigentlich mir – nicht ihm – die Bezeichnung
Schöpfer beziehungsweise Erlöser zukomme. Ich erwähne das nicht, um
mich zu brüsten, sondern um die Prahlsucht zu dämpfen – denn alles
Lob, alle Äußerungen der Anerkennung, der Begeisterung, die ich
damals in Bombay bis zum Überdruß zu hören bekam, waren mir, so
befürchte ich, ein wenig zu Kopf gestiegen, so daß ich die Arbeiten
nicht so überwachte, wie es sich gehörte. Ich ruhte mich leider auf
meinen Lorbeeren aus und dachte in meiner Naivität, mit dem
Denken sei die Hauptsache schon getan und
nun folge nur noch der rein ausführende Teil, mit dem sich die
anderen befassen könnten.
Ein fataler Irrtum! Gemeinsam mit
Prof. Rasglas legte ich den ganzen Sommer über und einen
erheblichen Teil des Herbstes hindurch die Parameter fest, das
heißt die Merkmale und die Eigenschaften, die aus dem Elektron –
dem kosmischen Kern – schlüpfen sollten. Vielleicht wäre es
richtiger, ihn, diesen Kern, Schöpfungsladung zu nennen, denn die
technische Seite der Erschaffung der Welt sah so aus, daß wir als
Kanone, die den Anfang der Zeit aufs Korn nahm, das entsprechend
umgearbeitete riesige Synchrophasotron der Universität wählten.
Seine ganze Energie, in richtiger Weise konzentriert, die auf das
eine, einzige Teilchen – eben auf jenes Schöpfungselektron –
zielte, sollte am 20. Oktober freigesetzt werden; Professor Rasglas
versteifte sich darauf, daß ich als der Urheber der Idee den
einzigen welterzeugenden Schuß aus der Chronokanone abfeuern müßte.
Da sich nun eine so unerhörte und in der Geschichte einzigartige
Gelegenheit bot, sollte unsere Maschine, unseren Werfer nicht etwa
das erste beste Elektron verlassen, sondern ein entsprechend
umgestaltetes, beschnittenes und dermaßen umgearbeitetes Teilchen,
daß daraus ein bedeutend or dentlicherer, erheblich soliderer Kosmos entstünde
als der gegenwärtig existierende – und ganz besondere
Aufmerksamkeit widmeten wir der mittelbaren und späten
Folge der Kosmokreation, die ja die Menschheit sein
sollte!
Gewiß: In einem Elektron irgend
etwas zu programmieren, eine so unbeschreibliche Menge von Steuer-
und Aufsichtsinformationen in ein Elektron hineinzugeben – das ist
nicht leicht. Ich gestehe auch, was der Wahrheit entspricht, daß
ich keineswegs alles allein getan habe. Die Arbeitsteilung zwischen
mir und Professor Rasglas sah so aus, daß ich die Vervollkommnungen
und Verbesserungen formulierte, während er sie in die exakte
Sprache der Parameter der Physik, der Raumtheorie, der Theorie der
Elektronen, Positronen und der zahlreichen anderen Tronen übertrug;
wir legten auch eine Art Brutstätte oder Zucht an, in der die
Versuchsteilchen in gehöriger Isolierung ruhten, aus denen wir das
gelungenste, eben jenes, aus dem, wie ich schon sagte, am 20.
Oktober das Weltall geboren werden sollte, auszuwählen
hatten!
Was habe ich in jenen heißen
Tagen nicht alles an Vollkommenheiten entworfen! Viele Nächte
brütete ich über physikalischen, ethischen und zoologischen
Wälzern, um die wertvollsten Informationen zu sammeln, sie in eins
zu pressen, zu konzentrieren, mit denen dann der Professor vom
Morgengrauen an das kosmische Brutelektron modellierte. Es ging
unter anderem darum, daß sich der Kosmos harmonisch entwickeln
sollte, daß ihn die Explosionen der Supernovae nicht so sehr
erschütterten, daß die Energie der Quasare und der Pulsare nicht so
sinnlos vergeudet wurde, daß die Sterne nicht so sprühten und
blakten wie Lichtstümpfe, die feuchte Dochte haben, daß geringere
interplanetare Entfernungen das Reisen von Ort zu Ort erleichterten
und somit aus der Kosmonautik ein besseres Instrument für Kontakte
und für die Einigung der vernünftigen Wesen machten. Was all die
anderen Reformen betrifft, so hätten sie nicht auf einer Kuhhaut
Platz gehabt, Verbesserungen, die ich in verhältnismäßig kurzer
Zeit einzuplanen vermochte. Sie waren übrigens nicht unbedingt das
Wichtigste, denn es bedarf meinerseits wohl keiner langen
Ausführungen, um zu erklären, daß ich mich vor allem auf die
Menschheit konzentrierte. Um sie zu bessern, änderte ich das
Prinzip der natürlichen Evolution.
Bekanntlich ist die Evolution
entweder ein massenhaftes Auffressen der Schwächeren durch die
Stärkeren, das heißt ein Zoozid, oder eine Absprache der
Schwächeren, die Stärkeren von innen anzugreifen, das heißt das
Parasitentum. Moralisch einwandfrei sind nur die grünen Pflanzen,
weil sie auf eigene Kosten vom Sonnenkonto leben. Ich ersann daher
eine Chlorophyllisierung alles Lebenden, und vor allem fixierte ich
einen belaubten Menschen. Da ich dadurch den Bauch entleerte,
brachte ich dort das entsprechend vergrößerte Nervensystem unter;
natürlich tat ich das alles nicht direkt, denn ich hatte ja nur ein
Elektron zur Verfügung. Ich legte nach einer entsprechenden
Vereinbarung mit dem Professor als grundlegendes Gesetz der
Entwicklung, die im neuen, unverschuldeten Kosmos erfolgen sollte,
die Regel vom anständigen Verhalten jedes einzelnen gegenüber den
anderen fest. Ich ersann auch einen viel ästhetischeren Körper,
eine subtilere Geschlechtlichkeit und noch viele andere
Verbesserungen, die ich hier nicht aufzählen will, weil mir bei der
Erwähnung all dieser Pläne das Herz blutet. Auf jeden Fall hatten
wir in den letzten Septembertagen bereits das welterschaffende
Geschütz und sein Elektronengeschoß fertig. Es waren noch gewisse,
äußerst komplizierte Berechnungen vonnöten, mit denen sich der
Professor samt seinen Assistenten befaßte, da das Einstellen auf
ein Ziel in der Zeit (und eigentlich schon außerhalb der Zeit) eine
Operation darstellte, die der höchsten Präzision
bedurfte.
Wäre es da nicht ratsam gewesen,
wie festgebunden an Ort und Stelle zu bleiben und alles zu
beaufsichtigen – angesichts der unheimlichen Verantwortung, die auf
mir lastete? Aber es gelüstete mich nach Erholung… und ich
verreiste an einen Badeort. Es ist blamabel, aber ich muß es
gestehen: Die Mücken hatten mir sehr zu schaffen gemacht, ich war
ganz verschwollen und träumte von kühlen Seebädern. Und eben wegen
dieser verdammten Mücken… aber ich habe nicht das Recht, meine
große Schuld auf irgendein Etwas oder auf irgend jemanden
abzuwälzen. Kurz vor meiner Abreise kam es zwischen mir und einem
der Mitarbeiter des Professors zu Reibereien. Eigentlich war es
nicht einmal ein Mitarbeiter von Rasglas, sondern ein gewöhnlicher
Laborant, ein gewisser Alois Hauffen. Dieser Mann, dem die Wartung
der Laborgeräte oblag, verlangte aus heiterem Himmel, daß man ihn
ebenfalls auf die Liste der Weltenschöpfer setzen solle, denn, so
sagte er, gäbe es ihn nicht, so würde das Kryotron nicht
ordnungsgemäß funktionieren, und wenn das Kryotron nicht
funktionierte, würde sich das Elektron nicht richtig verhalten… und
so weiter. Ich lachte ihn natürlich aus, und er schien auch schon
auf seine unbegründeten Ansprüche zu verzichten, doch heimlich
begann nun er eigene Pläne zu schmieden. Er selbst war zu nichts
Vernünftigem imstande, doch er verbündete sich mit zwei zufälligen
Bekannten, die sich in der Nähe des Instituts für Kernforschung in
Bombay herumtrieben und die danach trachteten, sich dort ein warmes
Pöstchen zu ergattern: der Deutsche Ast A. Roth sowie ein gewisser
Boels E. Bubb, halb Engländer und halb Holländer.
Wie eine leider zur Unzeit
durchgeführte Untersuchung ergab, hatte Hauffen ihnen des Nachts
Zutritt ins Labor gewährt, und das übrige bewirkte die
Nachlässigkeit des jüngeren Assistenten von Prof. Rasglas, eines
gewissen Magisters Serpentine. Er hatte die Schlüssel zum
Panzerschrank auf dem Schreibtisch liegenlassen, was den
Eindringlingen ihr Vorhaben erleicherte. Serpentine entschuldigte
sich dann durch Krankheit, er legte ärztliche Atteste vor, aber das
ganze Institut wußte, daß dieser unreife Grünschnabel eine
Liebesaffäre mit einer verheirateten Frau hatte, einer gewissen Eva
A. der er geradezu zu Füßen lag, wodurch er die Dienstpflichten aus
den Augen verlor. Hauffen führte seine Komplizen in den Saal mit
dem Kryotron; sie holten den DewarBehälter heraus und entnahmen ihm
das Futteral, in dem das unschätzbar kostbare Geschoß enthalten
war. Dann vollzogen sie an ihm ihre schändlichen
»Parameterberichtigungen«, deren Folgen jeder zur Genüge
besichtigen kann, wenn er sich nur ein wenig in dieser gräßlichen
Welt umsieht, in der wir leben. Später wetteifer ten sie darum,
nach Entschuldigungen zu suchen, indem sie behaupteten, daß sie nur
die »besten Absichten« gehabt und sogar mit Ruhm gerechnet hätten
(!), zumal sie ja zu dritt waren.
Auch eine Dreieinigkeit! Wie sie unter dem Druck der Beweise
und im Kreuzfeuer der Fragen gestehen mußten, hatten sie sich die
Arbeit geteilt. Ast A. Roth, einst Student in Göttingen (aber
Heisenberg selbst hatte ihn hinausgeworfen, weil er pornographische
Bilder in den Astonschen Spektrographen gelegt hatte), »befaßte
sich« mit der physikalischen Seite der Schöpfung und verpfuschte
sie gehörig. Durch seine Schuld stimmen die sogenannten schwachen
Einwirkungen nicht mit den starken überein, und die Symmetrie der
Verhaltensgesetze ist fehlerhaft. Jeder Physiker wird im Fluge
meine Worte verstehen. Demselben Roth unterlief ein Fehler beim
einfachen Addieren, was dazu führte, daß die Elektronenladung, wenn
man sie gegenwärtig berechnet, eine unendliche Größe erlangt. Wegen dieses Schafskopfes
kann man auch nirgends die Quarden finden, obwohl aus der Theorie
hervorgeht, daß sie vorhanden sein müßten!
Als Ignorant, der er ist, vergaß er, eine Korrektur in der
Dispersionsformel vorzunehmen! Auch der Umstand, daß
interferierende Elektronen in krassem Widerspruch zur Logik stehen, ist sein »Verdienst«. Und wenn man
bedenkt, daß das Dilemma, über das ein Heisenberg sich sein ganzes
Leben lang den Kopf zerbrach, ausgerechnet dessen schlechtester und
dümmster Schüler verursacht hat!
Übrigens hat er sich ein noch
schlimmeres Vergehen zuschulden kommen lassen. Mein Schöpfungsplan
sah Kernreaktionen vor, denn ohne sie gäbe es ja keine
Strahlungsenergie der Gestirne, aber ich hatte die Elemente der
Urangruppe kassiert, damit die Menschheit nicht schon in der Mitte
des zwanzigsten Jahrhunderts, das heißt vorzeitig, Atombomben
erzeugen könnte. Sie sollte die Kernenergie nur als eine Synthese
der Wasserstoffkerne im Helium beherrschen, und weil das
schwieriger ist, wäre diese Entdeckung nicht vor dem
einundzwanzigsten Jahrhundert zu erwarten gewesen. A. Roth führte
die Uraniden jedoch wieder in das Projekt ein. Leider konnte man
ihm nicht nachweisen, daß er auf Geheiß eines gewissen imperialen
Nachrichtendienstes gehandelt habe, was
mit den Plänen einer militärischen Vorherrschaft zusammenhing….
aber eigentlich verdiente er auch so einen Prozeß wegen
Völkermordes, denn wäre er nicht gewesen, dann hätte man im zweiten
Weltkrieg keine Atombomben auf japanische Städte
abgeworfen.
Der zweite »Spezialist« aus
dieser famosen Dreieinigkeit, E. Bubb, hatte einst ein
medizinisches Studium absolviert, doch wegen zahlreicher Vergehen
hatte man ihm das Recht entzogen, eine Praxis zu unterhalten. Er
nun »widmete sich« der biologischen Seite und »vervollkommnete« sie
dementsprechend. Was mich betrifft, so hatte ich folgendermaßen
überlegt: Die Welt ist so, wie sie ist, und die Menschheit verhält
sich so, wie sie sich eben verhält, weil all das auf zufällige,
also auf die erste beste Weise anläßlich eines Verstoßes gegen die
grundlegenden Gesetze entstanden ist. Man braucht nur einen
Augenblick zu überlegen, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß
es unter solchen Bedingungen noch schlimmer hätte sein können! Es
entschied ja so etwas wie eine Lotterie – wenn der »Schöpfer« eine
fluktuierende Laune des Nichts war, das sich ungeheuerlich und scheußlich
verschuldete, indem es die metagalaktische Blase ohne Sinn und ohne
Plan aufblähte!
Ich hatte erkannt, daß man
gewisse Merkmale des Kosmos, wenn man sie richtig retuschierte und
korrigierte, belassen konnte, wie sie waren, deshalb erarbeitete
ich gewissenhaft nur das, was notwendig war. Hinsichtlich des
Menschen verfuhr ich jedoch äußerst radikal. Die Pfuscherei, die
ich vorfand, strich ich in einem Zuge aus. Die oben erwähnte
Laubhaftigkeit, die die Behaarung des Körpers ersetzen sollte,
hätte der Verwirklichung einer neuen Lebensethik gedient, aber der
Herr Bubb hielt die Haare für wichtiger, denn sie waren ihm – man
beachte! – »zu schade«! Aus den Haaren könne man doch so schöne
Nackenfrisuren, Backenbärte und andere Schnörkel machen! Hier eine
neue solidaristischhumanistische Moral und dort Werte, die sich nur
mit dem Frisörkanon messen lassen! Ich versichere euch, ihr hättet
euch nicht wiedererkannt, wäre nicht dieser Boels E. Bubb gewesen,
der in das Elektron aus der Kassette erneut alle Scheußlichkeiten
hineinkopierte, die ihr bei euch und bei anderen bemerken
könnt.
Was schließlich den Laboranten
Hauffen betrifft, so konnte der zwar nichts von selbst tun, aber er
verlangte von seinen Kumpanen, daß sie seine Beteiligung an der
Weltschöpfung verewigten. So forderte er – mir zittern die Finger,
während ich das schreibe –, sein Name möge
an jeder Seite des Firmaments zu sehen sein, als ihm aber Roth
erklärte, daß sich die Sterne nicht dauerhaft in Monogramme oder
Buchstaben ordnen ließen, verlangte er, daß sie wenigstens zu
großen Scharen gruppiert werden sollten, also zu Haufen. So geschah es denn auch.
Am 20. Oktober, als ich den
Finger auf die Tasten des Steuerpults legte, hatte ich natürlich
keine Ahnung, was ich da eigentlich schuf. Das zeigte sich erst
nach ein paar Tagen, als wir die Berechnungen überprüften und auf
den Bändern den Inhalt entdeckten, den die unflätige Dreieinigkeit in unserem Positron fixiert hatte.
Der Professor war gebrochen. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß
ich nicht wußte, ob ich mir selbst oder jemand anderem eine Kugel
in den Kopf schießen sollte. Zu guter Letzt behielt jedoch die
Vernunft die Oberhand über den Zorn und die Verzweiflung, da ich
nun wußte, daß sich nichts mehr ändern ließ. Ich nahm nicht einmal
am Verhör der Schurken teil, die die von mir geschaffene Welt
verhunzt hatten. Professor Tarantoga sagte mir etwa ein halbes Jahr
später, daß die drei Eindringlinge in der Schöpfung eine Rolle
gespielt hätten, wie man sie in den Religionen dem Satan
zuschreibt. Ich zuckte nur mit den Schultern. Diese drei Esel – was
war das schon für ein Satan? Übrigens trage ich sowieso die größte Schuld, denn ich war
nachlässig geworden und hatte meinen Posten verlassen. Wenn ich
nach Rechtfertigungen suchen sollte, würde ich sagen, auch der
Pharmazeut aus Bombay sei schuld daran, denn er hatte mir statt
eines Mittels, das die Mücken vertreibt, ein Öl verkauft, das sie
anlockte wie der Honig die Bienen. Aber wollte man so verfahren, so
könnte man Gott weiß wen bezichtigen, er habe zur Entartung der
Natur unseres Seins beigetragen. Ich beab sichtigte nicht, mich zu
verteidigen, ich bin für die Welt verantwortlich, so wie sie ist,
und für alle Mängel des Menschen, denn es lag in meiner Hand, das
eine wie das andere besser zu machen.
ZWANZIGSTE REISE
Es begann knapp vierundzwanzig Stunden nach
meiner Rückkehr von den Hyaden, einer kugelförmigen Gruppe, die so
sternendicht war, daß sich die Zivilisationen darin wie Grütze in
einem Topf ausnahmen. Ich hatte noch nicht einmal die Hälfte der
Koffer mit den Erinnerungsstücken ausgepackt, und schon wollten mir
die Hände den Dienst versagen. Zunächst wollte ich das ganze Gepäck
in den Keller tragen und mich später damit befassen, wenn ich mich
ein wenig verschnauft hatte, denn die Heimreise war mir sehr lang
vorgekommen, und ich sehnte mich nur danach, mich in meinen
geschnitzten Sessel neben dem Kamin zu setzen, die Beine
auszustrecken, die Hände in die Taschen meiner speckigen Hausjacke
zu stecken und mir zu sagen, daß mir außer dem Überkochen der
Milch, die ich aufgesetzt hatte, nichts drohe. Denn nach vier
Jahren einer solchen Fahrt kann man vom Kosmos genug haben,
wenigstens für eine gewisse Zeit. Ich trete ans Fenster, dachte ich
mir, und davor gibt es keine schwarze Uferlosigkeit, keine
zischenden Protuberanzen, sondern eine Straße, Gärten, Büsche, ein
Hündchen erledigt an einem Bäumchen sein Geschäft mit einer solchen
Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der Milchstraße, daß einen
Freude überkommt.
Aber wie das mit den Träumen so
ist, es wurde nichts daraus. Als ich entdeckte, daß bereits das
erste Päckchen, das ich aus der Rakete holte, eine eingedrückte
Seite hatte, machte ich mich voller Sorge ans Auspacken. Die
Myrdangen waren gut erhalten, aber die Kaleeren waren unten
zerdrückt – ich konnte das einfach nicht so lassen. Binnen mehrerer
Stunden hatte ich die Deckel der größten Kisten aufgestemmt und die
Koffer geöffnet; ich legte die Gransen auf die Zentralheizung,
damit sie abtrockneten, denn sie waren vom Tee aus der
Thermosflasche völlig durchnäßt, und beim An blick der Stoßer
zuckte ich gar zusammen. Sie, die Stoßer, sollten die Zierde meiner
Kollektion werden, unterwegs hatte ich mir schon einen Ehrenplatz
für sie ausgesucht, denn diese Produkte der Militarisierung vom
Regulus sind die größte Rarität, die es gibt (es ist eine
Zivilisation, die ganz unter Waffen steht, man trifft dort keinen
einzigen Zivilisten an). Das »Wegstoßen« ist kein Hobby der
Regulaner, wie Tottenham schreibt, sondern ein Mittelding zwischen
religiöser Praxis und Sport. Tottenham hatte einfach nicht
begriffen, aus welchen Positionen man dort gestoßen wird. Das
»Wegstoßen« ist auf dem Regulus eine symbolische Tätigkeit; daher
sind auch die verblüffenden Bemerkungen samt den rhetorischen
Fragen bei Tottenham nur ein Ausdruck völliger Ignoranz. Eine Sache
ist das eheliche Wegstoßen, eine andere das in der Schule, auf
Ausflügen, in der Liebe und so weiter. Aber ich kann jetzt nicht
näher darauf eingehen. Es mag genügen, daß ich mir beim Tragen der
regulanischen Trophäen vom Erdgeschoß ins erste Stockwerk den
Handteller verstauchte, also sagte ich mir, obwohl noch ein Haufen
Arbeit übrigblieb, daß ich mit solcher Feuerwehraktion nicht viel
schaffen würde. Ich hängte im Keller nur noch die Matulken auf die
Wäscheleine und ging dann in die Küche, um mir das Abendbrot zu
bereiten. Jetzt nur noch Siesta, Idylle, dolce far niente – sagte
ich mir mit Entschiedenheit. Zwar füllte mich der Ozean der
Erinnerungen weiterhin aus, hartnäckig wie die tote Welle, wenn der
Sturm nachgelassen hat. Während ich die Eier aufschlug, blickte ich
auf die blaue Flamme des Gasherdes – scheinbar nichts Besonderes,
und doch hatte die Nova des Perseus ganz ähnlich ausgesehen. Ich
warf einen Blick auf die Gardine – sie war weiß wie die
Asbestplatte, mit der ich die Atomsäule zuzudecken pflegte, wenn…
Doch genug davon, sagte ich mir. Besser, ich überlege, was ich
lieber esse, Rührei oder Spiegelei? Ich hatte mich gerade für das
letztere entschieden, als das Haus erbebte. Die Eier, die noch
nicht geronnen waren, klatschten auf den Fußboden, und gleichzeitig
hörte ich, halb zur Treppe gewandt, einen durchdringenden Lärm, wie
von einer Lawine. Ich warf die Pfanne hin und hastete nach oben.
War das Dach eingestürzt? Ein Meteor? Unmöglich! Das gibt’s doch
gar nicht!
Der einzige Raum, den ich nicht
mit Gepäckstücken vollgestellt hatte, war mein Arbeitszimmer, und
eben von da kam das Gepolter. Das erste, was ich sah, war ein
Bücherhaufen zu Füßen des schief stehenden Regals. Unter den dicken
Bänden der kosmischen Enzyklopädie hervor kroch rückwärts ein Mann
auf den Knien, wobei er die heruntergefallenen Bücher zertrampelte,
als genügte ihm das bisherige Drunter und Drüber noch nicht. Bevor
ich etwas sagen konnte, riß er eine lange Metallstange unter sich
hervor, die er an einem Griff festhielt, der wie der Lenker eines
Fahrrades aussah, das keine Räder hatte. Ich hüstelte, doch der
Eindringling, immer noch auf allen vieren, beachtete das nicht im
geringsten. Ich räusperte mich lauter, aber schon in diesem
Augenblick kam mir seine Gestalt merkwürdig bekannt vor, und als er
aufstand, erkannte ich ihn. Das war ich.
Ganz als schaute ich in den Spiegel. Übrigens hatte ich schon eine
ganze Serie solcher Begegnungen erlebt, aber im Dickicht von
Gravitationsstrudeln und nicht in einer richtigen
Wohnung!
Er warf mir einen zerstreuten
Blick zu und beugte sich über sein Gerät – sowohl der Umstand, daß
er sich unbekümmert, zu schaffen machte, als auch die Tatsache, daß
er nicht zu antworten geruhte, brachte mich aus dem
Gleichgewicht.
»Was soll das heißen?« fragte
ich, ohne die Stimme zu heben.
»Ich werd’s dir gleich erklären…
warte…«, murmelte er. Er erhob sich, zog das Rohr zur Lampe,
verschob den Schirm, damit er besseres Licht hatte, rückte das
Papier zurecht, das den Haltearm stützte – er wußte, der Kerl, daß
der Schirm dauernd abzurutschen pflegte, also war ich das wirklich!
–, und befühlte, offensichtlich besorgt, mit dem Finger
irgendwelche Kurbeln.
»Es schickte sich wenigstens, mir
eine Erklärung zu geben!« Ich verbarg meinen Ärger nicht mehr. Er
lächelte, stellte seinen Apparat weg, das heißt, er lehnte ihn an
die Wand. Dann setzte er sich in meinen Sessel, zog die zweite
Schublade heraus, entnahm ihr meine geliebte Tabakspfeife und griff
untrüglich nach dem Tabaksbeutel.
Das war mir nun doch
zuviel.
»Unverschämtheit!« sagte
ich.
Er bat mich mit einer ausladenden
Geste, mich zu setzen. Während ich unwillkürlich den angerichteten
Schaden überschlug – die Einbände zweier schwerer Himmelsatlanten
waren zerknickt –, rückte ich einen Stuhl heran und begann mit den
Fingern eine Mühle zu drehen. Ich wollte ihm fünf Minuten zur
Rechtfertigung und zur Entschuldigung zubilligen – sollte er mir
dann keine Genugtuung geben, würde ich andere Seiten
aufziehen.
»Unsinn!« versetzte mein
ungebetener Gast. »Verhalte dich wie ein intelligenter Mensch! Was
für ›andere Seiten‹ willst du mit mir aufziehen? Jeder blaue Fleck,
den ich habe, würde dann auch der deine sein!«
Ich schwieg, und mir schwante
etwas. In der Tat, wenn er ich war und mir
eine solche (aber wie, zum Kuckuck?) Zeitschleife widerfuhr (warum
muß gerade ich immer solche Abenteuer erleben?), dann konnte er
gewisse Ansprüche auf meine Pfeife und sogar auf die Wohnung
erheben. Aber warum mußte er die Bücher herunterwerfen?
»Das war unabsichtlich«, sagte er
durch die Wolken des aromatischen Rauches, während er die Spitze
seines durchaus eleganten Schuhs anstarrte. Er schaukelte mit dem
Bein, das er über das andere geschlagen hatte. »Das Chronozykel hat
beim Bremsen geschleudert. Statt um acht Uhr dreißig bin ich um
acht Uhr dreißig und eine hundertstel Sekunde ins Haus geflogen.
Wenn sie die Zielvorrichtung besser eingestellt hätten, wäre ich
mitten im Zimmer gelandet.«
»Wieso denn?« (Ich begriff
nichts.) »Erstens: Bist du ein Telepath? Wie kannst du auf Fragen
antworten, die ich mir nur denke} Und
zweitens: Wenn du wirklich ich bist und in
der Zeit angekommen bist, was hat sie dann mit dem Ort zu tun?
Warum hast du die Bücher beschädigt?«
»Wenn du ein bißchen
nachdächtest, würdest du alles verstehen. Ich bin später als du, also muß
ich mich an alles erinnern, was du gedacht hast, das heißt was ich
gedacht habe, denn ich bin du, nur eben in der Zukunft. Und was
Zeit und Ort betrifft, so dreht sich doch die Erde! Ich bin um eine
hundertstel Sekunde abgerutscht, vielleicht sogar um weniger, und
in diesem Augenblick war sie mit dem Haus um diese vier Meter
weitergerückt. Ich hatte dem Rosenbeißer ja klargemacht, daß es
besser wäre, im Garten zu landen, aber er hat mir diese
Zielvariante aufgeschwatzt.«
»Nun gut. Nehmen wir an, daß es
so ist, wie du sagst. Aber was soll das alles bedeuten?«
»Das werde ich dir natürlich
erklären. Aber es wäre besser, erst das Abendbrot anzurichten, denn
das ist eine längere Geschichte von außerordentlicher Wichtigkeit.
Ich bin zu dir als Gesandter in einer historischen Mission
gekommen.«
Ein Wort gab das andere, er
überzeugte mich. Wir stiegen hinunter, das Abendbrot wurde
zubereitet, das heißt, ich öffnete eine Sardinenbüchse (im
Kühlschrank waren mir kaum ein paar Eier geblieben). Wir verweilten
in der Küche, denn ich wollte mir nicht die Laune durch den Anblick
der Bibliothek verderben. Er hatte wenig Lust, das Geschirr
abzuwaschen, aber ich redete ihm ins Gewissen, also trocknete er
wenigstens ab. Dann setzten wir uns an den Tisch, er sah mir ernst
in die Augen und sagte:
»Ich komme aus dem Jahr 2661, um
dir einen Vorschlag zu unterbreiten, den noch nie ein Mensch gehört
hat und den auch keiner hören wird. Der Wissenschaftliche Rat des
Instituts für Temporistik verlangt, mich, das heißt dich zum
Leitenden Direktor des Programms TEOPAGHIP zu machen. Diese
Abkürzung bedeutet: ›Telechronische Optimalisierung der Allgemeinen
Geschichte durch einen Hyperputer‹. Ich bin fest davon überzeugt,
daß du diesen ehrenvollen Posten annehmen wirst, denn er bedeutet
eine außerordentliche Verantwortung vor den Menschen und vor der
Geschichte, und ich bin, das heißt, du bist ein tüchtiger Mensch
voller Rechtschaffenheit.«
»Zuerst hätte ich lieber etwas
Konkreteres gehört. Vor allem begreife ich nicht, weshalb zu mir
nicht einfach ein Abgesandter dieses Instituts gekommen ist,
sondern du, also ich. Wie bist du, das heißt, wie bin ich dorthin
gekommen?«
»Das werde ich dir zum Schluß
noch im einzelnen erklären. Was die Hauptsache betrifft, so
erinnerst du dich sicherlich an jenen bedauernswerten Molteris, der
die Maschine zum Reisen in der Zeit erfunden hatte und bei dem
Versuch, sie dir zu demonstrieren, elend umkam, weil er gleich beim
Start auf den Tod gealtert war.«
Ich nickte.
»Solche Versuche wird es immer
wieder geben. Jede neue Technik hat in ihrer Anfangsphase Opfer im
Gefolge. Molteris hatte ein Einmannzeitauto ohne jede Sicherung
erfunden. Er hatte das gleiche getan wie jener mittelalterliche
Bauer, der mit Flügeln vom Kirchturm sprang und zu Tode kam. Im 23.
Jahrhundert entstanden Chronotrecker, Zeitflitzer und Tempobile –
das heißt, von deinem Zeitpunkt aus werden sie entstehen –, die
wahre Revolution in der Chronomotion wird aber erst dreihundert
Jahre später erfolgen, dank einigen Menschen, die ich nicht nennen
möchte – du wirst sie persönlich kennenlernen. Eine Wanderung in
der Zeit über eine kleine Strecke ist mit Expeditionen in die Tiefe
von Jahrmillionen nicht zu vergleichen. Die Proportionen sind mehr
oder weniger dieselben wie zwischen einem Spaziergang in die
Vorstadt und der Kosmonautik. Ich komme aus der Epoche der
Chronotraktion, der Chronomotion und der Telechronie. Über das
Reisen in der Zeit hat man schon ganze Berge von Ammenmärchen
geschrieben, wie seinerzeit über die Astronautik – etwa, daß ein
Erfinder mit Hilfe eines reichen Mannes in völliger
Abgeschiedenheit ohne weiteres eine Rakete baut, mit der beide,
obendrein in Gesellschaft bekannter Damen, zum anderen Ende der
Galaxis fliegen. Die Technologie der Chronomotion bedarf ebenso wie
die kosmonautische einer gewaltigen Industrie, sie benötigt
kolossale Investitionen, Planungen… aber damit wirst du dich auch
an Ort und Stelle, das heißt zur rechten Zeit vertraut machen
können. Die technische Seite ist jetzt nicht so wichtig, es geht um
das Hauptziel dieser Arbeit. Man pumpt nämlich nicht soviel in sie
hinein, damit jemand Pharaone erschrecken oder den eigenen
Ururgroßvater verprügeln kann. Die Gesellschaftsordnung ist
inzwischen geregelt, auch das Klima der Erde – im 27. Jahrhundert,
aus dem ich komme, ist es so gut, wie es besser nicht sein kann,
aber wir haben noch immer keine Ruhe, wenn wir an die Geschichte
denken. Du weißt, wie sie ausgesehen hat – es ist höchste Zeit, daß
man damit ein Ende macht!«
»Einen Moment…« Mir dröhnte der
Kopf. »Die Geschichte gefällt euch nicht, na und? Sie muß trotzdem
so bleiben, wie sie war, oder etwa nicht?«
»Red kein dummes Zeug. Auf der
Tagesordnung steht eben die Teopaghip, das heißt die Telechronische
Optimalisierung der Allgemeinen Geschichte durch einen Hyperputer.
Ich habe dir schon gesagt, daß wir die allgemeine Geschichte
natürlich regulieren, verbessern, ausgleichen und vervollkommnen
werden, entsprechend den Grundsätzen des Humanismus, des
Rationalismus und der allgemeinen Ästhetik; du wirst doch wohl
einsehen, daß man sich schämen muß, wenn man sich mit einer solchen
Schlächterei im Stammbaum in die hohen kosmischen Zivilisationen
einreihen will!«
»Regulierung der Geschichte…?«
wiederholte ich entgeistert.
»Ja. Wenn nötig, werden wir sogar
Korrekturen vor der Entstehung des
Menschen vornehmen, damit er besser entstehen
kann. Die Mittel und Geldfonds stehen schon zur Verfügung, nur
der Posten des Leitenden Direktors dieses Projekts ist noch immer
unbesetzt! Alle schrecken vor dem Risiko zurück, das mit dieser
Funktion verbunden ist.«
»Gibt es keine Anwärter?« Mein
Erstaunen wurde immer größer.
»Es ist nicht so wie in der
Vergangenheit, da jeder Esel die Welt regieren wollte. Ohne
entsprechende Qualifikation wird sich keiner nach dieser
schwierigen Aufgabe reißen. So ist also diese Stellung nicht
besetzt, und die Sache drängt!«
»Aber ich kenne mich doch da
nicht aus. Und warum ausgerechnet ich?«
»Du wirst über ganze Stäbe von
Fachleuten verfügen. Die technische Seite ist nicht dein Gebiet; es
gibt viele verschiedene Aktionspläne, viele Projekte, Methoden, es
sind verantwortliche, vernünftige Entscheidungen vonnöten. Ich muß,
das heißt du mußt sie treffen. Unser Hyperputer hat durch
Psychosonden alle Menschen untersucht, die irgendwann gelebt haben,
und hat erkannt, daß ich, das heißt du – die einzige Hoffnung des
Projekts bist.«
Nach einer längeren Weile
versetzte ich: »Es scheint eine wichtige Angelegenheit zu sein.
Vielleicht werde ich diese Stellung annehmen, vielleicht auch
nicht. Die allgemeine Geschichte, hoho! Das muß überlegt sein! Wie
ist es denn überhaupt dazu gekommen, daß ich, das heißt, daß
ausgerechnet du bei mir erschienen bist? Was mich betrifft, so habe
ich mich nirgends in der Zeit bewegt. Ich bin erst gestern von den
Hyaden zurückgekommen.«
»Klar!« unterbrach er mich. »Du
bist doch der frühere! Wenn du den
Vorschlag annimmst, gebe ich dir mein Chronozykel, und du begibst
dich dorthin, wohin du sollst.«
»Das ist keine Antwort auf meine
Frage. Sag mir, wie du in das
27. Jahrhundert geraten bist!«
»Ich habe mich mit dem geeigneten
Zeitvehikel dorthin begeben, das ist doch klar. Und dann bin ich
von dort in dein Jetzt und dein Hier gekommen.«
»Aber wenn ich nirgends mit einem Zeitvehikel gereist bin,
dann bist auch du, der du ja ich
bist…«
»Schwafele nicht! Ich bin
später als du, also kannst du ja noch gar nicht wissen, was
dir zustoßen wird, wenn du ins 27. Jahrhundert reist.«
»Ach was, du spinnst!« murmelte
ich. »Wenn ich diesen Vorschlag annehme, gerate ich sofort ins 27.
Jahrhundert. Ist es nicht so? Ich werde dort diesem TEOPAGHIP
vorstehen und so weiter. Aber woher bist du dorthin ge…«
»Auf diese Weise können wir die
ganze Nacht durchschwatzen! Was soll das Geschwafel? Übrigens,
weißt du was? Bitte doch Rosenbeißer, daß er dir das erklärt.
Schließlich ist er ein Zeitspezialist und nicht ich. Im übrigen ist
die Sache, obschon schwer zu begreifen, wie das bei einer
Zeitschleife immer ist, gar nichts im Vergleich zu meiner, das
heißt deiner Mission. Das ist doch eine historische Mission, oder?
Also wie? Bist du einverstanden? Das Chronozykel funktioniert. Ihm
ist nichts passiert, ich habe alles geprüft.«
»Laß mich mit deinem Chronozykel
zufrieden. Ich kann doch nicht gleich so auf der Stelle…«
»Du solltest aber! Es ist deine
Pflicht. Du mußt!«
»Na, na! Nur nicht diese Töne.
Kein ›du mußt‹! Du weißt, daß ich das nicht mag. Ich kann, wenn ich
will, wenn ich erkenne, daß die Lage es erfordert. Wer ist denn
dieser Rosenbeißer?«
»Der Wissenschaftliche Direktor
des INTs. Er wird dein nächster Untergebener sein.«
»Des INTs?«
»Des Instituts für
Temporistik.«
»Und was geschieht, wenn ich
nicht einwillige?«
»Du kannst nicht ablehnen… du
wirst es nicht tun… Das würde ja bedeuten, daß du gekniffen
hast…«
Während er dies sagte, verzogen
sich seine Lippen zu einem unterdrückten Lächeln. Das stimmte mich
mißtrauisch.
»Bitte. Und warum das?«
»Weil… ach, weshalb soll ich dir
das lange erklären. Das hängt mit der Struktur der Zeit selbst
zusammen.«
»Erzähl keinen Unsinn. Wenn ich
nicht einwillige, dann rühre ich mich nicht von hier fort, dann
wird mir also kein Rosenbeißer etwas erklären können, und ich werde
keine Geschichte regulieren.«
Ich sagte das einerseits, um Zeit
zu gewinnen, denn man entscheidet solche Probleme nicht im
Handumdrehen, andererseits aber – obschon ich nicht begriff, warum
er, das heißt ich zu mir gekommen war –, weil ich verschwommen
fühlte, daß darin eine Finte, ein Haken verborgen war.
»In achtundvierzig Stunden gebe
ich die Antwort!« sagte ich.
Er bedrängte mich, ich solle mich
auf der Stelle entscheiden, aber je mehr er drängte, desto weniger
gefiel mir die Sache. Schließlich begann ich sogar an seiner
Identität mit mir zu zweifeln, immerhin hätte er ja auch ein
zurechtgestutzter Sendling sein können! Kaum hatte ich das gedacht,
nahm ich ihn auch schon ins Verhör. Ich mußte ihm eine geheime
Frage stellen, die außer mir niemand beantworten konnte.
»Warum ist die Numerierung der
Reisen in meinen ›Sterntagebüchern‹ lückenhaft?« versetzte ich
unverhofft.
»Haha«, lachte er, »du zweifelst
also schon an mir? Deshalb, mein Lieber, weil die einen
Expeditionen im Raum stattfanden und andere in der Zeit, es kann
also gar keine erste geben. Man kann sich nämlich immer dorthin
zurückziehen, wo es keine gegeben hat, und irgendwo hinfahren, dann
wird jene, die die erste war, die zweite werden, und so weiter ohne
Ende!«
Das stimmte. Aber die Sache war
immerhin doch ein paar Leuten bekannt. Zwar waren es meine
vertrauten Bekannten aus dem tichologischen Institut des Professors
Tarantoga. Ich verlangte nun den Identitätsbeweis. Seine Papiere
waren in Ordnung, aber das wollte noch nichts besagen; so etwas
läßt sich ja fälschen. Er zerstreute meine Zweifel mit der
Behauptung, daß er alles singen könne, was ich nur dann singe, wenn
ich auf Reisen und einsam bin; ich bemerkte jedoch, daß er bei dem
Refrain »Meteoriten, Meteoriten!« scheußlich falsch sang. Ich sagte
ihm das. Er war daraufhin beleidigt und erwiderte, daß ich immer falsch sänge, nicht er. Das Gespräch, bis
dahin ziemlich ruhig, artete in Zank aus, dann in heftigen Streit,
bis er mich dermaßen in Rage brachte, daß ich ihm sagte, er solle
sich zum Teufel scheren. Das war so in der Wut dahingesagt, ich
meinte es nicht wörtlich, aber er stand auf, ging nach oben,
richtete sein Chronozykel, setzte sich wie auf ein Rad darauf,
bewegte daran etwas, und im Nu hatte er sich in Nebel aufgelöst,
eigentlich in Rauch wie von einer Zigarette. Nach einer Minute war
auch der nicht mehr zu sehen – nur die wirr durcheinanderliegenden
Bücher blieben zurück. Ich stand allein da, mit ziemlich dummer
Miene, denn ich hatte das nicht erwartet, aber als er seine
Vorbereitungen zur Abreise traf, wollte ich nicht mehr nachgeben.
Nach einiger Überlegung stieg ich erneut in die Küche hinab, denn
wir hatten beinahe drei Stunden durchgeschwatzt, und ich verspürte
wieder Hunger. Ich hatte noch ein paar Eier im Kühlschrank, auch
ein Stück durchwachsenen Speck, aber als ich das Gas angezündet
hatte und die Eier in die Pfanne schlug, ertönte aus dem ersten
Stock erneut ein lautes Poltern.
Ich war so überrascht, daß ich
das Rührei verdarb; es floß samt den Grieben in die Flamme, und ich
rannte, wie ein Müllkutscher fluchend, nach oben, wobei ich drei
Stufen auf einmal nahm.
In den Regalen stand kein
einziges Buch mehr an seinem Platz, sie bildeten einen großen
Haufen, aus dem er, das Chronozykel hinter sich herziehend, denn er
hatte es im Fallen an seinen Körper gedrückt,
hervorkroch.
»Was soll das heißen!« schrie ich
wütend.
»Ich werd’s dir gleich erzählen…
warte…«, murmelte er und schleppte das Chronozykel zur Lampe. Er
betrachtete es eingehend, ohne sich auch nur im geringsten zu
rechtfertigen. Nun hatte ich es wirklich satt.
»Es gehört sich, daß du mir
wenigstens eine Erklärung gibst!« brüllte ich.
Er lächelte. Stellte das
Chronozykel beiseite, das heißt, er lehnte es an die Wand, suchte
die Pfeife, stopfte sie aus meinem Tabaksbeutel, zündete sie an,
schlug ein Bein übers andere, so daß ich nicht mehr an mich halten
konnte.
»Unverschämtheit!« rief ich.
Obwohl ich mich nicht von der Stelle rührte, faßte ich dennoch den
feierlichen Entschluß, ihn windelweich zu schlagen. Scherze wollte
er mit mir treiben, in meinem eigenen Hause!
»Unsinn«, versetzte er
phlegmatisch. Er hatte offenbar nicht das geringste Schuldgefühl.
Dabei hatte er mir sämtliche Bücher auf den Fußboden
geschleudert!
»Das war unabsichtlich«, sagte
er, während er eine Rauchwolke ausstieß. »Das Chronozykel ist mir
wieder ausgerutscht…«
»Aber warum bist du erneut
zurückgekehrt?«
»Ich mußte.«
»Wieso?«
»Wir befinden uns, mein Lieber,
in einem Zeitkreis«, sagte er ruhig. »Ich
werde dich jetzt wieder von neuem überreden wollen, damit du dein
Einverständnis gibst, Direktor zu werden. Wenn du ablehnst, fahre
ich zurück, komme aber bald wieder, und alles fängt von vorn
an…«
»Nicht möglich! Wir sollten uns
in einem geschlossenen Zeitumlauf
befinden?«
»Genau.«
»Stimmt nicht! Wenn es so wäre,
müßte sich alles, was wir sagen und was wir tun, vollkommen, das
heißt Punkt für Punkt, wieder holen, aber das, was ich jetzt sage,
und das, was du sagst, ist nicht mehr vollkommen dasselbe wie beim
erstenmal!!«
»Die Leute reden viel dummes Zeug
über die Reisen in der Zeit«, entgegnete er, »und das, was du eben
von dir gegeben hast, gehört zum Unsinnigsten. In der Kreiszeit muß
alles ähnlich verlaufen, aber durchaus
nicht genauso, denn ein Zeiteinschluß,
analog einem räumlichen Einschluß, nimmt einem nicht jede Freiheit,
sondern beschränkt sie nur sehr stark! Wenn du den Vorschlag
annimmst, begibst du dich in das Jahr 2661, und damit verwandelt
sich der Kreis in eine offene Schleife. Wenn du aber ablehnst und
mich wieder wegjagst, kehre ich zurück… und du weißt, was dann sein
wird!«
»Ich habe also keinen anderen
Ausweg?« brauste ich auf. »O ja, mir war gleich so, als ob ein
Betrug hinter alledem steckt! Verschwinde, ich will dich nicht mehr
sehen!«
»Red kein albernes Zeug«,
erwiderte er kühl. »Das, was geschieht, hängt ausschließlich von
dir ab, nicht von mir – genauer gesagt, Rosenbeißers Leute haben
hinter uns beiden eine Schleife geschlossen, das heißt zugeknallt,
und wir werden so lange darin herumwandern, bis du Direktor
wirst!«
»Ein schöner ›Vorschlag‹!« schrie
ich. »Und was wird, wenn ich dir sämtliche Knochen
breche?«
»Nur das, daß du dir dann später
die Wunden verbinden mußt, zu gegebener Zeit. Du brauchst den
Vorschlag nicht anzunehmen, in dem Sinne, daß wir uns auf diese
Weise unterhalten können, solange unser Leben währt…«
»Ach was! Ich kann dich im Keller
einschließen und gehen, wohin es mir beliebt!«
»Eher werde ich dich dort
einschließen, ich bin nämlich stärker.«
»Was du nicht sagst!«
»Du sollst es wissen. Ich habe
von der Kost des Jahres 2661 gelebt, und die ist viel nahrhafter
als die jetzige, deshalb wirst du mir nicht einmal eine Minute
gewachsen sein.«
»Das wollen wir erst mal sehen…«,
knurrte ich drohend und erhob mich vom Sessel. Er rührte sich nicht
einmal.
»Ich kann ›Jurjudo‹!« bemerkte er
lässig.
»Was ist das?«
»Ein vervollkommnetes Judo aus
dem Jahre 2661. Ich mach dich im Nu unschädlich.«
Ich war wütend, aber die
langjährigen Lebenserfahrungen hatten mich gelehrt, mich sogar im
größten Zorn zu beherrschen. Deshalb kam ich nach dieser
Unterhaltung mit ihm, das heißt mit mir, zu dem Schluß, daß es
wirklich keinen anderen Ausweg gab. Im übrigen sagte die
historische Mission, die meiner in der Zukunft harrte, sowohl
meinen Ambitionen als auch meiner Natur zu. Mich empörte lediglich
der Zwang, aber ich erkannte, daß ich nicht mit ihm, dem Werkzeug,
sondern mit seinen Auftraggebern abrechnen mußte.
Er zeigte mir, wie man das
Chronozykel lenkt, und gab mir ein paar praktische Hinweise. Ich
nahm also auf diesem kleinen Sattel Platz und wollte ihm noch
sagen, daß er aufräumen und einen Tischler zur Reparatur der
Bücherregale holen solle, aber auch das brachte ich nicht mehr
hervor, denn er hatte schon auf den Starter gedrückt.
Er, das Lampenlicht, das ganze
Zimmer, alles war wie weggeblasen. Die Maschine unter mir, diese
Metallstange mit dem sich trichterförmig verbreiternden Auspuff,
begann zu zittern, mitunter hüpfte sie so stark, daß ich mit ganzer
Kraft die Griffe drückte, um nicht aus dem Sattel zu fallen. Ich
sah nichts, ich hatte nur den Eindruck, es reibe mir jemand Gesicht
und Körper mit Drahtbürsten; wenn ich glaubte, daß die
Geschwindigkeit in der Zeit allzusehr wuchs, zog ich die Bremse,
und dann tauchten undeutliche Formen aus dem schwarzen wallenden
Brausen um mich herum auf.
Es waren riesige Gebäude,
kugelförmig, dann wieder schlank, durch die ich wie der Wind durch
einen Zaun hindurchfegte. Jedesmal schien es so, als müßte ich mit
den Mauern zusammensto ßen, also schloß ich instinktiv die Augen
und beschleunigte wieder die Geschwindigkeit, das heißt das Tempo.
Einige Male wurde die Maschine so wild hin und her geworfen, daß
mein Kopf nur so hüpfte und mir die Zähne klapperten. In einem
bestimmten Augenblick verspürte ich eine schwer zu beschreibende
Veränderung; mir schien, als befände ich mich in einer Umgebung,
die dicht wie Sirup war, klebrig und erstarrend. Mir kam der
Gedanke, daß ich mich durch ein Hindernis hindurchkämpfte, das
letztlich mein Grab werden könnte, so daß ich, gefangen im Beton,
samt dem Chronozykel wie ein sonderbares Insekt in Bernstein
erstarren würde. Aber wieder zerrte es mich nach vorn, das
Chronozykel erbebte, und ich stürzte auf etwas Elastisches, das zu
schaukeln begann. Der Apparat glitt unter mir weg, weißer Glanz
schlug mir in die Augen, ich mußte sie wie geblendet
schließen.
Als ich sie aufschlug, umgab mich
Stimmengewirr. Ich lag mitten auf einem großen Schild aus
Schaumstoff, der mit konzentrischen Kreisen bemalt war wie eine
Zielscheibe auf einem Schießstand; das umgefallene Chronozykel
ruhte einen Schritt daneben, und ringsherum standen an die siebzig
Personen in funkelnden Kombinationen. Ein kleiner, zur
Kahlköpfigkeit neigender blonder Mann trat auf die Matratze des
Schildes, half mir beim Aufstehen und schüttelte mehrmals meine
Hand, während er sagte: »Ich begrüße Sie aufs herzlichste!
Rosenbeißer.«
»Tichy«, antwortete ich
mechanisch. Ich sah mich um. Wir standen in einer Halle ohne
Fenster, die so groß war wie eine Stadt, hoch oben bedeckt von
einem himmelfarbenen Gewölbe; in einer Reihe dicht nebeneinander
standen die gleichen Platten wie die, auf der ich gelandet war;
einige waren leer, an anderen wurde gearbeitet. Ich will nicht
verhehlen, daß ich schon ein paar bissige Bemerkungen an die
Adresse Rosenbeißers auf der Zunge hatte, auch an die Adresse der
anderen Schöpfer des temporalen Sackes, mit dem sie mich von zu
Hause weggeschleust hatten, aber ich schwieg, denn mir wurde
plötzlich klar, woran mich diese gewaltige Halle erinnerte. Sie sah
aus wie ein gigantisches Filmstudio! Drei Menschen in Rüstungen
schritten an uns vorüber; der erste hatte einen Pfauenschwanz am
Helm und einen vergoldeten Schild, die Helfer rückten seinen mit
Edelsteinen besetzten Ringkragen zurecht; ein Arzt verabreichte ihm
eine Injektion in den entblößten Unterarm, ein anderer knüpfte
schnell die Riemen der Bleche zusammen, man reichte ihm ein
zweihändiges Schwert und einen breiten Mantel, der mit Greifvögeln
als Wappenzeichen verziert war; die beiden anderen, in einfachem
Eisen, sicherlich die Knappen, setzten sich bereits auf die
Sättelchen eines Chronozykels im Zentrum des Schildes, und aus dem
Megaphon ertönte eine Stimme: »Achtung… zwanzig… neunzehn…
achtzehn…«
»Was ist das?« fragte ich
verblüfft, denn gleichzeitig bewegte sich etwa achtzig Meter weiter
eine Prozession von hageren Leuten mit riesigen Turbanen; auch
ihnen wurden Injektionen verabreicht, mit einem von ihnen zankte
sich ein Techniker, man hatte nämlich entdeckt, daß der Reisende
eine kleine Pistole unter seinem Burnus versteckt hatte; ich sah
Indianer in Kriegsbemalung, mit frisch geschärften Tomahawks, denen
die Laboranten fieberhaft den Federschmuck aufsetzten, und auf
einem kleinen Holzwagen schob ein Diener mit weißer Schürze einen
entsetzlich schmutzigen, verwahrlosten Bettler ohne Beine, der wie
ein Ei dem anderen den monströsen Invaliden Breughels glich, zu
einem anderen Schild.
»Null!« verkündete der
Lautsprecher. Die drei Gepanzerten verschwanden mit dem Chronozykel
in einem kleinen Lichtschein, der in der Luft in weißlichem Rauch
zerfloß, welcher an den Rauch von verbrannter Magnesia erinnerte;
ich kannte bereits diesen Effekt.
»Das sind unsere Befrager«,
erläuterte Rosenbeißer. »Sie untersuchen die öffentliche Meinung in
den verschiedenen Jahrhunderten – statistische Materialien, wissen
Sie, Informationsmaterial, nichts weiter. Wir haben noch keine
Verbesserungsmaßnahmen getroffen, weil wir auf Sie gewartet
haben!«
Er wies mir mit der Hand den Weg
und eilte mir nach; ich hörte zählende Stimmen, einmal hier, einmal
dort, es blitzte, Streifen weißlichen Rauchs lösten sich auf,
weitere Gruppen von Meinungsforschern verschwanden, unterdessen
kamen bereits neue, es war wie in einem riesigen Atelier bei
Aufnahmen zu einem superkitschigen historischen Schinken. Ich
stellte fest, daß man keine anachronistischen Gegenstände in die
Vergangenheit mitnehmen durfte, die Meinungsforscher bemühten sich
jedoch, sie aus Trotz oder der Bequemlichkeit halber
durchzuschmuggeln; mir kam der Gedanke, daß man hier mit eisernem
Besen Ordnung schaffen mußte, aber ich fragte nur: »Und wie lange
dauert ein solches Sammeln von Daten? Wann kehrt zum Beispiel
dieser Ritter mit den Knappen zurück?«
»Wir halten uns an den Plan«,
sagte Rosenbeißer mit zufriedenem Lächeln. »Die drei sind schon
gestern zurückgekehrt.«
Ich sagte nichts und überlegte,
daß es mir nicht leichtfallen würde, mich an die Lebensbedingungen
in der chronomotionalen Zivilisation zu gewöhnen. Da das
Elektromobil vom Labor, das uns zum Gebäude der Direktion bringen
sollte, eine Panne hatte, befahl Rosenbeißer ein paar
Meinungsforschern, die Beduinen verkörperten, von den Kamelen zu
steigen, und mit diesem improvisierten Beförderungsmittel gelangten
wir an Ort und Stelle.
Mein Arbeitszimmer war ungeheuer
groß, es war in modernem, das heißt durchsichtigem Stil
eingerichtet, und das ist im Grunde noch milde ausgedrückt, denn
man konnte die meisten Sessel gar nicht sehen, und wenn ich an
meinem Schreibtisch saß, zeigten nur die Stöße von Papieren an, wo
sich die Tischplatte befand. Da ich nun beim Arbeiten den Kopf
gesenkt hielt, sah ich stets meine eigenen Beine in den gestreiften
Hosen, und der Anblick dieser Streifen erschwerte mir die
Konzentration; ich ordnete später an, alle Möbel mit Farbe
nachzustreichen, damit sie für das Auge undurchsichtig wurden. Als
das geschehen war, zeigte es sich, daß sie geradezu idiotische
Formen hatten, weil sie nicht zum Betrachten entworfen worden
waren. Schließlich tauschte man sie mir gegen eine Garnitur antiker
Möbel aus der zweiten Hälfte des 23. Jahrhunderts aus, und nun erst
fühlte ich mich heimisch. Wenn ich von diesen Lappalien spreche,
greife ich nicht nur den Tatsachen vor, sondern ich charakterisiere
zugleich die Mängel des Projekts. Freilich wäre mein
Direktorenleben ein Paradies gewesen, wenn es sich auf dekorative
Möbelangelegenheiten beschränkt hätte.
Man brauchte eine Enzyklopädie,
um all das darzustellen, was das Projekt unter meiner Leitung
leistete, deshalb werde ich stark zusammenfassend die
hauptsächlichen Etappen der Arbeiten schildern. Was die Struktur
der Organisation betrifft, so war sie zweigleisig. Mir unterstanden
das REFTEK (Referat für Technik und Kalenderangelegenheiten) mit
den Abteilungen der Quantenstoßtemporistik und der dispersiven
Temporistik sowie das historische Referat, unterteilt in das
Menschliche und das Außermenschliche Ressort. Chef der Technologen
war Dr. R. Boskovic, die »Geschichtsmacher« leitete Prof. P. Latton
an. Außerdem standen die Abteilungen der Historanger und der
Zeitschirmjäger (der Chronochutisten) mit der Brigade zur
Notentthronisierung und dem Aufsichtsapparat zu meiner persönlichen
Verfügung. Diese Rettungseinheit, eine Art Feuerwehr für
unvorhergesehene und bedrohliche Angelegenheiten, nannte sich
abgekürzt MOIRA (Mobile Rettungsinspektion). Als ich eintraf, waren
die Zeittechnologen soweit, telechronische Operationen im großen
Maßstab zu beginnen, während im Ressort für Menschliche
Angelegenheiten (sein Leiter war Dozent Harry S. Totteles) die
Fachleute Hunderte von HAREMS ausarbeiteten (Harmonogramm der
Meliorativen Edukation). Parallel dazu projektierte das Ressort für
Außermenschliche Angelegenheiten (Körper-Ing. O. Goodlay) Varianten
zur Ausbesserung des Sonnensystems, d. h. der Planeten mit der Erde
an der Spitze, ebenso der Lebensevolution, der Anthropogenese und
so weiter. Alle hier erwähnten Untergebenen mußte ich nacheinander
entlassen; mit jedem von ihnen verbinden mich in meiner Erinnerung
Krisen im Schoße des Projekts; ich werde sie zu gegebener Zeit
erwähnen, damit die Menschheit erfährt, wem sie ihre Nöte zu
verdanken hat.
Zunächst war ich voll der besten
Hoffnungen. Nachdem ich einen verkürzten Lehrgang absolviert hatte,
eine Einführung in die Elemente der Telechronie und der
Chronomutation, und auch die organisatorischen Probleme (der
Ressortkompetenz, der Arbeitsteilung und so weiter) beherrschte,
wobei es schon damals zu einem Streit mit dem Hauptbuchhalter (Eug.
Clydes) kam, konnte ich erst ermessen, wie titanenhaft meine
Aufgabe war. Die Wissenschaft des 27. Jahrhunderts bot mir
verschiedene Technologien zum Handeln in der Zeit, und als ob das
noch nicht genügte, harrten Hunderte von
Plänen zur historischen Ausbesserung meiner Entscheidung. Hinter
jedem dieser Projekte stand das Wissen und die Autorität
vortrefflicher Fachleute, und ich sollte in diesem embarras de
richesse die Auswahl treffen! Es gab nämlich noch keine Einigung
darüber, nach welcher Methode die Vergangenheit ausgebessert werden
sollte und von welchem Zeitpunkt an das zu tun war, ja nicht
einmal, wie weit wir in unseren Interventionen gehen
würden.
In der ersten, vom Optimismus
geprägten Arbeitsphase hatten wir vor, die Geschichte der
Menschheit noch nicht anzurühren, sondern das instand zu setzen,
was ihr in Äonen vorausgegangen war; unser monumental
zugeschnittenes Programm – ich zähle das nur als Beispiel auf – sah
unter anderem folgendes vor: Entvulkanisierung der Planeten,
Geradebiegen der Erdachse, Vorbereitung günstiger Bedingungen für
eine künftige Kolonialisierung auf dem Mars und auf der Venus,
wobei der Mond als eine Art Brücke oder Übergangsstation für die
Auswandererkosmonautik dienen sollte, die in drei bis vier
Milliarden Jahren entstehen würde. Das Bild von der besseren
Vergangenheit beschwörend, ordnete ich die Ingangsetzung der
Generatoren des Isochronischen Systems (GENESIS) an. Drei Typen
standen schon bereit – BREKEKEK, KOAX und QUAK. Ich weiß nicht mehr
genau, was diese Abkürzungen bedeuteten; KOAX arbeitete koaxial,
der letzte bezeichnete die Quantenkorrektur.
Die Ergebnisse der Ingangsetzung
übertrafen die schlimmsten Erwartungen; Havarie folgte auf Havarie.
Anstatt weich zu bremsen und sich mit dem normalen Zeitverlauf zu
synchronisieren, glühte QUAK durch eine Explosion den Mars aus und
verwandelte ihn in eine einzige Wüste; alle Ozeane verdunsteten und
ver flüchtigten sich in den Weltraum, die geronnene Rinde des
Planeten barst und bildete ein Netz eigenartiger Gräben, die
Hunderte von Meilen breit waren. Das führte im 19. Jahrhundert zu
der Hypothese von den Marskanälen. Da ich nicht wünschte, daß eine
frühere Menschheit von unserer Aktion erfuhr, weil das bei ihr
schädliche Komplexe auslösen konnte, befahl ich, alle Kanäle
zuzuzementieren, was auch ein gewisser Ing. Lavache um das
Jahr
1910 herum tat; spätere Astronomen wunderten
sich über ihr Verschwinden nicht, sie hielten die Angelegenheit für
eine optische Täuschung ihrer Vorgänger. KOAX, der die Venus
fruchtbar machen sollte, war nun schon gegen QUAK-Havarien
gesichert, und zwar durch AMOREK (Amortisator der kinechronischen
Energie), aber dann versagten die POPOs (Potentielle Orbitale
Programm-Oberprüfer), und die gesamte Venus wurde von einer
giftigen Atmosphäre umgeben, die infolge des Chronoklasmus
entstand. Ich berief den Ingenieur Wadenlecker, der für diese
Operationen verantwortlich war, von seinem Posten ab, aber nach
einer Fürsprache des Wissenschaftlichen Rates gestattete ich ihm,
noch die letzte Phase der Experimente durchzuführen. Diesmal kam es
nicht nur zu einer Havarie, sondern zu einer Katastrophe im
kosmischen Maßstab. Der durch die Bewegung gegen den Zeitstrom
angetriebene BREKEKEK raste dermaßen in die Gegenwart vor 6,5
Milliarden Jahren hinein, und zwar ganz dicht an der Sonne vorbei,
daß er ein gewaltiges Stück Sternmaterie herausriß, das sich unter
dem Einfluß der Schwerkraft zu drehen begann und zum Anfang aller
Planeten wurde.
Wadenlecker versuchte sich zu
wehren, indem er behauptete, daß durch ihn das Sonnensystem
entstanden sei, denn hätte es nicht die Havarie des Chronalkopfes
gegeben, dann wäre die Chance der Entstehung der Planeten gleich
Null gewesen. Spätere Astronomen wunderten sich darüber, daß ein
Stern so dicht an der Sonne vorbeifliegen konnte, um daraus
protoplanetare Materie herauszureißen, denn tatsächlich gehören
solche nahen Passagen von Sternen zu den fast unmöglichen
Erscheinungen; ich setzte also den frechen Kerl endgültig ab, denn
ich sah den Sinn und die Ziele des Projekts nicht darin, daß solche
Dinge unabsichtlich passierten, durch
Nachlässigkeit und Unachtsamkeit. Wenn es soweit gewesen wäre,
hätten wir die Anordnung der Planeten viel ordentlicher gestalten
können. Im übrigen hatte das technische Referat in der Tat nichts
aufzuweisen, dessen es sich rühmen konnte, nachdem Venus und Mars
ruiniert waren.
Auf der Tagesordnung blieb der
Plan, die Umdrehungsachse der Erde zu begradigen; es ging darum,
ihr Klima gleichmäßiger zu gestalten, ohne polare Fröste und ohne
die Glut des Äquators. Das Ziel der Operation war humanitär; mehr
Gattungen sollten im Kampf ums Dasein überdauern. Das Ergebnis war
das Gegenteil: Die längste Eiszeit der Erde, die kambrische
Periode, hatte Ingenieur Hansjakob Plötzlich durch den Abschuß
einer schweren »Reguliereinheit« verursacht, die der Erdachse ein
sogenanntes Double verlieh. Die erste Glazialzeit wurde, statt den
eilfertigen Zeitingerenten zu warnen, mittelbar die Ursache einer
zweiten – als Ing. Plötzlich nämlich sah, was er angerichtet hatte,
schoß er ohne mein Wissen die nächste »Korrekturladung« ab. So kam
es zu einem Chronoklasmus und zu einer neuen Eiszeit, diesmal im
Pleistozän.
Ehe ich diesen unverbesserlichen
Menschen von seinem Posten absetzte, hatte er schon die dritte
Chronokollision verursacht; seither deckt sich, durch seine Schuld,
der magnetische Pol nicht mit der Umdrehungsachse, weil der Planet
noch nicht aufgehört hat zu schwanken. Ein Zeitspritzer des
»Korrektors« flog in ein Millionenjahr vor unserer Ära – an dieser
Stelle befindet sich heute der große Krater von Arizona; zum Glück
kam dabei niemand um, denn es gab damals noch keine Menschen; nur
der Urwald verbrannte. Der zweite Splitter wurde erst um das Jahr
1908 gebremst – die Leute aus jener Zeit kennen ihn als den
»tungusischen Meteoriten«. All das waren also keine Meteoriten,
sondern in der Zeit zerfallende Stücke des unbeholfen angefertigten
»Optimalisators«. Ich warf diesen Plötzlich hinaus, ohne mich nach
jemandem zu richten, und als man ihn nachts im Chronoratorium
ertappte (er hatte – man bedenke! – Gewissensbisse und wollte
»korrigieren«, was er uns eingebrockt hatte), verlangte ich als
Strafe für ihn eine Relegation in der Zeit.
Aber dann gab ich doch nach, was
ich heute bedauere, und besetzte auf Rosenbeißers Einflüsterungen
hin den frei gewordenen Posten durch den Ingenieur Dyndall, ohne zu
ahnen, daß er der Schwager des Professors war. Die Folgen der
Vetternwirtschaft, in die ich nun unwissentlich geriet, ließen
nicht lange auf sich warten. Dyndall war der Erfinder des FLÄZ
(Fehlerfreier ÄonenZerstäuber), den der Zeitingenieur Bummeland
vervollkommnete. Sie argumentierten folgendermaßen: Wenn die
ungeheure gigachronische Energie beim Chronoklasmus schon frei
wird, dann soll sie sich wenigstens, statt durch eine
Explosionswelle zu wirken (wie jene, die den Mars ausgeglüht hat),
in reine Strahlung verwandeln. Diese nicht voll ausgereifte Idee
(Absichten zählen nicht!) bereitete mir viel Sorgen. FLÄZ hatte
zwar die kinetische Energie in Strahlungsenergie umgewandelt, aber
was nutzte das, wenn durch die Strahlung – in der Mitte des
Mesozoikums – alle Echsen und Gott weiß wie viele andere Gattungen
umgekommen sind.
Bummeland versuchte sich mit der
Behauptung zu verteidigen, daß ja nichts Schlimmes passiert sei,
denn auf die verwaiste Szene des evolutiven Prozesses konnten eben
durch seine Hilfe nun die Säugetiere
treten, von denen schließlich auch der Mensch abstamme. Als wäre
das schon entschieden gewesen! Durch den Saurozid wurden wir eines
anthropogenetischen Manövers beraubt, und damit wollte man sich
noch brüsten! Dyndall heuchelte Reue und legte sogar Selbstkritik
ab, aber es ist nicht wahr, daß er freiwillig von seinem Posten
zurückgetreten ist. Ich hatte Rosenbeißer gesagt, daß ich die
Direktion nicht betreten würde, solange sein Schwager im Projekt
verbleibe.
Nach dieser fatalen Serie
trommelte ich die gesamte Belegschaft zusammen und hielt eine Rede,
in der ich warnte, daß ich mich gezwungen sehe, von nun an
drakonische Maßnahmen gegen jene anzuwenden, die gegen die
Sicherheit der Vergangenheit verstoßen. So etwas würde von nun an
nicht nur mit Absetzung geahndet werden!
Es gab Einwände. Havarien, so
hieß es, seien verständlich, ja unvermeidlich, wenn man eine solche
Technologie von nie dagewesenem Ausmaß in Gang setze; wie viele
Raketen seien einst in der Morgendämmerung der kosmonautischen Ära
auseinandergeflogen; und unsere Tätigkeit, die sich in der
Zeit abspiele, berge ungleich größere
Gefahren in sich. Der Wissenschaftliche Rat empfahl mir einen neuen
Zeitexperten; einen gewissen Professor L. Nardeau de Vince. Ihn und
Boskovic warnte ich vor dem nächsten Experiment; keine Macht der
Welt könne mich zwingen, bei durch Gewissenlosigkeit verschuldeten
Unfällen Nachsicht zu üben.
Ich zeigte ihnen die
Denkschriften, die Wadenlecker, Bummeland und Dyndall hinter meinem
Rücken an den Wissenschaftlichen Rat gerichtet hatten – sie waren
voller Widersprüche. Einmal beriefen sie sich auf objektive
Schwierigkeiten, ein andermal münzten sie die Folgen ihrer Fehler
in Verdienste um. Ich sagte ihnen, daß sich jene irrten, die mich
für einen Analphabeten hielten. Es genügten die arithmetischen
Kenntnisse im Bereich der vier Rechenarten, um festzustellen,
wieviel Sonnenmaterie bereits unproduktiv vergeudet worden sei,
denn alle Uranplaneten, wahre Abfallhalden, ach was, Kloaken voller
Ammoniak, seien nicht mehr zu gebrauchen; beim Mars und bei der
Venus hatte ich schon ein Kreuz gemacht und hatte nun grünes Licht
für den letzten Versuch der Ausbesserung des Sonnensystems gegeben.
Das Programm sah die Umarbeitung des Mondes in eine Oase für
erschöpfte Kosmonauten der Zukunft vor und gleichzeitig in eine
Umsteigestation auf dem Wege zur Athene.
Ihr wißt nicht, was die Athene
ist? Ich wundere mich gar nicht darüber. Diesen Planeten sollte die
Gruppe Gestirner, Starshite und Astroianni vervollkommnen. Das
Projekt war noch nie mit soviel Unbeholfenheit angepackt worden.
Das Telechronische Trottoirsystem (TROTTEL) versagte, die LIEBKOSI
(LiminalEntropisch Bremsende Kollisionssicherung) barst, und die
Athene, die bisher auf einer Umlaufbahn zwischen Erde und dem Mars
gekreist war, zersprang in neunundneunzigtausend Stücke – nur der
sogenannte Asteroidengürtel blieb von ihr übrig. Was den Mond
betrifft, so hatten die Herren Optimalisatoren seine Oberfläche
förmlich massakriert; sonderbar, daß nicht auch er
auseinandergeflogen ist. So ist das berühmte Rätsel der Astronomen
des
19. und des 20. Jahrhunderts entstanden, denn
damals konnte man nicht begreifen, wie die vielen Krater auf den
Mond geraten waren. Sie dachten sich zu diesem Thema zwei Theorien
aus – die vulkanische und die Meteoritentheorie.
Einfach komisch. Urheber der
sogenannten vulkanischen Krater war der Zeitingenieur Gestirner,
der für die LIEBKOSI verantwortlich zeichnete, sowie der Autor der
»Meteoritenkrater« Astroianni, der die Athene vor drei Milliarden
Jahren anvisierte und sie in Staub zermalmte, während der Rückstoß
des Chronoklasmus, nach allen Seiten ausschlagend, die Drehbewegung
der Venus vollends abbremste und dem Mars zwei falsche Satelliten
beifügte, die sich in einer verrückten Bewegung drehten, umgekehrt
als vorgesehen, so daß es dagegen geradezu eine Lappalie war, daß
dieser »Spezialist« die Mondoberfläche in einen wahren
Artillerieschießplatz verwandelte, auf den im Verlaufe einer
Milliarde von Jahren die Athenesplitter herunterfielen. Als ich
erfuhr, daß ein Splitter des Chronotraktors, der von einer
Explosion in die Zeit vor
2.950.000.000 Jahren geschleudert wurde und
prähistorische Zeiten erreichte, in den Ozean geflogen war, seinen
Boden durchbohrte und unterwegs die Atlantis versenkte, warf ich
die Urheber der komplexen Katastrophe persönlich aus dem Projekt
hinaus und wandte gegenüber den für die Gesamtheit der Operation
Verantwortlichen jene Sanktionen an, die meinem vorher gefaßten
Entschluß entsprachen. Ein Protest beim Rat half ihnen
nichts.
Den Professor Nardeau de Vince verbannte ich
ins 16. Jahrhun
dert und Boskovic ins 17. damit sie nicht
zusammenkommen und gegen mich intrigieren konnten. Wie man weiß,
hatte Leonardo da Vinci sein ganzes Leben lang versucht, ein
Zeitauto zu bauen, aber es ist ihm nicht gelungen; die sogenannten
»Hubschrauber« Leonardos und andere Maschinen, ebenso wunderlich
wie unbegreiflich für seine Zeitgenossen, waren die mißratenen
Früchte seiner Bemühungen, der Verbannung in die Zeit zu
entfliehen.
Boskovic verhielt sich, wenn man
das so sagen darf, vernünftiger. Er war ein äußerst fähiger Mann,
mit einem präzisen Geist, seiner Ausbildung nach ein Mathematiker;
er wurde im 17. Jahrhundert zwar ein berühmter, aber allgemein
verkannter Denker. Er versuchte Ideen der theoretischen Physik zu
popularisieren, aber keiner seiner Zeitgenossen begriff auch nur
ein Wort in seinen Traktaten. Um ihm die Verbannung zu versüßen,
schickte ich ihn nach Ragusa (Dubrownik), weil ich privat mit ihm
sympathisierte, mich aber gezwungen sah, die Verantwortlichen
streng zu bestrafen, obwohl mir der Wissenschaftliche Rat das
verübelte. So endete denn die erste Phase des Projekts mit einem
kompletten Fiasko, weil ich mein Veto einlegte und jeden weiteren
Versuch der Serie GENESIS unterband. Es waren schon genug
Investitionen vergeudet worden. Die kolossale Brache der
Jupitergloben, der restlos ausgeglühte Mars, die doppelt vergiftete
Venus, der ruinierte Mond (die sogenannten Mascons, die
Konzentrationen von Masse unter seiner Oberfläche, sind tief in den
Boden gewühlte, in Lava erstarrte Spitzenüberreste von TROTTEL und
LIEBKOSI), die verbogene Erdachse, das Loch im Boden des Ozeans,
das durch diesen Sprung verursachte Auseinandergehen Eurasiens und
der beiden Amerikas – all das war die traurige Bilanz der bisher
unternommenen Operationen. Dennoch versagte ich es mir, in
Resignation zu verfallen, und eröffnete den Mannschaften des
historischen Referats das Feld zu schöpferischer
Optimalisierung.
Es bestanden, wie schon gesagt,
zwei Ressorts; das für menschliche (Doz. Harry S. Totteles) und das
für außermenschliche Angelegenheiten (Ing. Goodlay); an der Spitze
des Referats stand der Professor P. Latton, der durch seinen
Radikalismus und seine Kompromißlosigkeit von Anfang an ein
gewisses Mißtrauen in mir hervorrief. Deshalb wollte ich immer noch
nicht an die eigentliche Geschichte herangehen, denn immerhin war
die Erzeugung solcher vernünftigen Individuen, die sich selbst
gehörig zivilisiert hätten, richtiger. Ich mäßigte also Latton und
Totteles (was mir nicht leichtfiel – dermaßen juckten ihnen die
Finger, Geschichte zu machen) und empfahl Goodlay die Ingangsetzung
der Evolution des Lebens auf der Erde. Damit man mir nicht die
Knebelung des schöpferischen Schaffens nachsagte, stattete ich das
HOPS-Projekt (Homo perfectus sapiens) mit einer erheblichen
Autonomie aus. Ich appellierte lediglich an die Leiter (Z. Goodlay,
H. Ohmer, H. Bosch, v. Eyck), aus den Fehlern der Natur zu lernen,
die alles Lebende verunstaltet und sich selbst die vorteilhaftesten
Wege, die zur Vernunft führten, versperrt habe, wofür man sie
übrigens nicht schelten dürfe, weil sie blind gehandelt habe, von
einem Tag zum anderen. Wir hingegen müßten zielgerecht arbeiten und
das Resultat, das heißt HOPS, ständig im Auge behalten. Sie
erklärten, daß sie sich nach diesen Leitlinien richten würden,
verbürgten sich für den Erfolg und schritten zur Tat.
Da sie nun ihre Autonomie hatten,
mischte ich mich nicht ein und kontrollierte sie anderthalb
Milliarden Jahre lang nicht, jedoch die Unmengen anonymer
Zuschriften, die ich erhielt, veranlaßten mich schließlich doch
dazu, eine Bestandsaufnahme zu machen. Man hätte graue Haare
bekommen können von dem, was ich vorfand. Zuerst hatten sie wie
Kinder gespielt, indem sie wohl vierhundert Millionen Jahre lang
gepanzerte Fischchen und irgendwelche Trilobiten schwimmen ließen;
als sie dann merkten, wie wenig Zeit ihnen bis zum Ende der
Jahrmilliarde verblieben war, wollten sie alles im Sturm erledigen.
Sie montierten Elemente ohne Sinn und Verstand, die einen
wunderlicher als die anderen; einmal ließen sie Fleischberge auf
allen vieren laufen, ein andermal lauter Schwänze, dann wieder
irgendwelche Stäubchen; einige Exemplare legten sie mit groben
Würfeln aus, anderen stopften sie Hörner, Hauer, Rohre, Trompeten,
Fühler hinein, wo es gerade ging; häßlich war das, abstoßend, ohne
Sinn, daß einem angst und bange wurde, wenn man hinsah: der reine
Abstraktionismus und Formalismus unter dem Zeichen des
Antiästhetischen.
Ihre Selbstzufriedenheit brachte
mich in Rage; sie behaupteten, jetzt sei nicht die Zeit für
geleckte Schöpfungen, ich verstünde nichts davon, ich hätte kein
»Formgefühl« und so weiter. Ich schwieg noch, doch wenn sie sich
wenigstens nur darauf beschränkt hätten! Aber woher! In diesem
auserlesenen Komitee bekämpfte einer den anderen. Niemand
verschwendete auch nur einen Gedanken an den vernünftigen Menschen,
jeder dachte nur daran, wie er die Projekte der Kollegen zu Fall
bringen konnte. Kaum betrat also ein neues Exemplar die Natur, da
bereitete man schon ein dergestalt ausgestattetes Monstrum vor, daß
es das Produkt des Rivalen totschlug und somit dessen
Minderwertigkeit bewies. Das, was man als »Kampf ums Dasein«
bezeichnete, war aus Neid und Intrigantentum geboren worden. Die
Hauer und die Krallen der Evolution sind nur die Folge der
Verhältnisse, die in dem Ressort herrschten. Statt Zusammenarbeit
gewahrte ich massenhafte Verschwendung und eine Praxis, die darauf
hinauslief, daß man den Gattungen der Kollegen ein Bein stellte;
jedem bereitete es die größte Genugtuung, die weitere Entwicklung
auf einer Linie, die zum Bereich der Mitarbeiter gehörte, zu
vernageln; das ist der Grund für die vielen Sackgassen im Reich des
Lebens. Sagte ich »des Lebens«? Sie hatten eine Mischung zwischen
einem Panoptikum und einem Friedhof errichtet. Ohne eine
Investition zu beenden, warfen sie sich auf die nächste; der Reihe
nach vergeudeten sie die Chancen der Doppelatmer und der
Gliederfüßer, denn sie hatten sie mit den Tracheen fertiggemacht.
Ohne mich wäre es überhaupt nicht zum Zeitalter der Dampfkraft und
der Elektrizität gekommen, denn sie hatten das Karbon »vergessen«,
das heißt, sie vergaßen jene Bäume zu pflanzen, aus denen die Kohle
für die künftigen Dampfmaschinen entstehen sollte.
Während der Besichtigung schlug
ich immer wieder die Hände zusammen – der ganze Planet war mit
Leichen und mit Wracks vollgestopft, und ganz besonders tobte sich
Bosch aus. Als ich ihn fragte, wozu denn dieser Rhamphornychus mit
dem Schwanz da wäre, der einem fliegenden Kinderdrachen
nachgebildet sei, ob er sich nicht wegen der Probosziden schäme und
wozu denn die Eidechsen auf dem Rücken Stachel wie ein Staketenzaun
trügen, erwiderte er, ich hätte keinen Sinn für die schöpferische
Leidenschaft. Ich verlangte, man möge mir zeigen, wo denn bei einem
solchen Sachverhalt der Verstand keimen solle – natürlich war das
eine rein rhetorische Frage, denn sie hatten sich gegenseitig alle
Wege ver nagelt. Ich hatte ihnen keine fertigen Lösungen
aufgezwungen, aber ich hatte zuvor etwas von Vögeln, von Adlern
erwähnt; sie hatten indessen allem, was flog, bereits die Köpfe
miniaturisiert, und was wie ein Strauß lief, war von ihnen bis zur
vollständigen Verblödung geführt worden. Es blieben nur noch zwei
Möglichkeiten offen: entweder den vernünftigen Menschen aus
Abfällen am Rande zu erzeugen oder die sogenannte »Evolution mit
Durchstich« zu betreiben, das heißt mit dem Durchschlagen der
verspundeten Entwicklungslinien. Aber ein Durchstich mit Gewalt war
unzulässig, weil solche ausgesprochenen Einmischungen von den
Paläontologen später als Wunder erklärt
worden wären; ich hatte indessen schon lange jede Art von
Wundertätigkeit verboten, um künftige Generationen nicht
irrezuführen.
Die undisziplinierten
Projektanten schickte ich in alle vier Winde, das heißt Zeiten;
dann kam es zu Hekatomben ihrer mißratenen Schöpfungen, denn sie
verendeten, da sie nicht vollkommen ausgereift waren, zu Millionen.
Das, was man sich erzählte, daß nämlich ich diese Gattungen umbringen ließ, ist nur eine
der vielen Verunglimpfungen, mit denen man nicht geizte, um mir
eins auszuwischen. Nicht ich hatte das Leben wie einen Schrank aus
einer Ecke des Evolutionsprozesses in die andere verschoben, nicht
ich hatte dem Amöbododo den Rüssel verdoppelt, nicht ich hatte das
Kamel (gigantocamelus) bis zu den Ausmaßen eines Elefanten
aufgeblasen, nicht ich hatte meine Zeit mit Walen vertrödelt, nicht
ich hatte die Mammute zur Selbstvernichtung geführt, denn ich lebte
von der Idee des Projekts und nicht von ausschweifendem Spiel, in
das die Gruppe Goodlay die Evolution verwandelt hatte. Eyck und
Bosch verbannte ich ins Mittelalter, Ohmer hingegen, dafür, daß er
das Leitbild des HOPS parodiert hatte (er verfertigte unter anderem
einen Pferdemenschen und eine Frau als Fisch, obendrein
ausgestattet mit einer hohen Sopranstimme), bis ins Altertum, nach
Thrazien. Und wieder erfolgte das, was ich auch später noch so
manches Mal erlebte. Die aus ihren Stellungen entlassenen
Verbannten, die nun nicht mehr in der Lage waren, schöpferisch
tätig zu sein, entluden ihre Frustration in einem Er satzschaffen.
Wer so neugierig ist zu erfahren, was zum Beispiel ein Bosch noch
in petto hatte, der mag sich seine Bilder ansehen. Natürlich war er
ein großes Talent – das läßt sich schon daraus ersehen, wie sehr er
sich dem Geist der Zeit anzupassen vermochte; daher auch die
vordergründige religiöse Thematik seiner Gemälde, all die Jüngsten
Gerichte und Höllen. Übrigens konnte sich Bosch gewisser
Indiskretionen nicht enthalten. Im »Garten der irdischen Freuden«,
in der »Hölle der Musik« (der rechte Flügel des Triptychons) steht
in der Mitte ein Chronobus für zwölf Personen – was sollte ich
damit anfangen?
Was H. Ohmer betrifft, so hatte
ich wohl richtig gehandelt, als ich ihn auf der Spur seiner
Kreaturen in das alte Griechenland verbannte. Das, was er gemalt
hat, ging verloren, aber seine Schriften sind erhalten geblieben.
Ich verstehe nicht, weshalb niemand erkannt hat, daß sie
anachronistisch sind. Sieht man denn nicht, daß er die Bewohner des
Olymps nicht ernst nahm, die sich gegenseitig befehdeten und sich
genauso verhielten wie seine Kollegen im Institut? Die »Ilias« und
die »Odyssee« sind Erzählungen mit einem Schlüssel; was den
Choleriker Zeus betrifft, so ist das ein Pasquill auf
mich.
Goodlay hatte ich nicht gleich
abgesetzt, denn Rosenbeißer war für ihn eingetreten: Wenn dieser
Mann enttäuscht, sagte er zu mir, dann könne ich ihn, den Direktor
des wissenschaftlichen Projekts, sogar ins Archäozoikum verbannen.
Goodlay hatte angeblich verborgene Produktionsreserven, und da ich
mich der Konzeption der Ausnutzung von Affenresten widersetzte,
nahm er die LUMP in Angriff (Lokale Unterwasser-Menschenporung).
Ich glaubte an diese LUMP nicht, betrieb aber keine Opposition,
denn es wurde schon davon geredet, daß ich alle Projekte zu Fall
brächte. Die nächste Flugkontrolle ergab, daß er ein paar kleine
Säugetiere ins Meer gezwungen, sie den Fischen angeglichen, ihnen
ein Stirnradar eingebaut hatte und sich gerade in der Etappe der
Delphine befand. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß zwei
vernünftige Gattungen für das Eintreten einer Harmonie erforderlich
seien: eine auf dem Lande und eine im Wasser. Was für eine Idiotie!
Das hätte doch zu Konflikten führen müssen! Ich sagte ihm: »Es wird
kein vernünftiges Wesen im Wasser geben!«
Der Delphin blieb also nun, wie er war, mit diesem Hirn auf
Zuwachs, und wir gerieten in eine Krise.
Was sollten wir tun? Die
Evolution noch einmal von vorn beginnen lassen? Dazu fehlten mir
die Nerven. Ich sagte Goodlay, daß er nach eigenem Ermessen handeln
möge, das heißt, ich akzeptierte den Affen als Halbprodukt,
verpflichtete ihn jedoch, das Modell ästhetischer zu gestalten, und
damit er sich später nicht herausreden konnte, schickte ich ihm die
Richtlinien schriftlich, auf dem offiziellen Dienstweg, ohne mich
jedoch auf alle Einzelheiten einzulassen. Ich betonte, wie
geschmacklos ein kahles Gesäß sei, und empfahl ein kultiviertes
Herangehen an die Fragen des Geschlechts, indem ich ihm etwas von
Blumen, von Vergißmeinnicht, von Knospen suggerierte. Und da ich
schon im Begriff war, abzureisen – ich mußte an einer Sitzung des
Rats teilnehmen –, bat ich ihn persönlich, nicht zu pfuschen wie
gewöhnlich, sondern sich ein paar schöne Modelle zu suchen. In
seiner Werkstatt herrschte ein wildes Durcheinander, irgendwelche
Blöcke, Bretter, Sägen lagen herum, und das im Zusammenhang mit der
Liebe! »Sind Sie verrückt geworden«, sagte ich, »die Liebe nach dem
Prinzip einer Kreissäge?« Er mußte mir sein Ehrenwort geben, den
Gedanken mit der Säge fallenzulassen, er stimmte mir eifrig zu und
lachte sich dabei ins Fäustchen, denn er hatte bereits erfahren,
daß seine Entlassung in meinem Schreibtisch lag, also war ihm alles
einerlei.
Er beschloß, mir
zuwiderzuhandeln. Er drohte, indem er überall erzählte, daß der
Direktor (das heißt ich) noch Augen machen würde, wenn er
wiederkomme; und ich war auch in der Tat schockiert. Du lieber
Himmel! Ich zitierte ihn unverzüglich herbei, er aber täuschte
Diensteifer vor: Er behauptete, er hätte sich an die Richtlinien
gehalten! Anstatt hinten diese Kahlheit zu liquidieren, hatte er
den ganzen Affen blankrasiert, das heißt,
er hatte das Gegenteil getan. Na, und was die Liebe und das
Geschlecht betrifft, so war das von seiner Seite geradezu Sabotage.
Allein die Wahl der Stelle! Ich brauche mich übrigens über diese
Diversion nicht lange zu ereifern. Welchen Effekt sie hatte, kann
jeder ermessen. Der Herr Ingenieur hatte sich abgemüht! Wie immer
diese Affen auch gewesen sein mochten, sie waren wenigstens
Vegetarier. Er nun hatte ihnen die Fleischfresserei
beigebracht!
Ich berief zur Begutachtung des
Homo sapiens eine außerordentliche Versammlung des Rates ein, auf
der ich vernahm, daß sich das Geschehene nicht auf einen Schlag
wiedergutmachen lasse; man müßte schon fünfundzwanzig bis dreißig
Millionen Jahre zusammenrollen. Ich wurde überstimmt und machte von
meinem Vetorecht keinen Gebrauch – vielleicht war das nicht
richtig, aber ich blies schon auf dem letzten Loch. Übrigens hatte
ich Signale aus dem 18. und 19. Jahrhundert erhalten: Um sich das
Leben zu erleichtern, hatten sich die Funktionäre der Mobilen
Rettungsinspektion MOIRA, die nicht immer in der Zeit hin- und
herreisen wollten, in verschiedenen alten Schlössern, Palästen und
Kellern einquartiert, ohne auch nur die geringsten
Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten, so daß Sagen über »verdammte
Seelen«, über »Kettenrasseln« (der Widerhall beim Anlassen eines
Chronozykels) und über Gespenster aufkamen (weil sie weiße Kleidung
trugen, als ob es keine bessere Farbe für Uniformen gab!). Sie
trübten den Menschen den Verstand, schreckten sie mit ihrem
Durchdringen von Wänden und Mauern (die Abfahrt in der Zeit sieht
immer so aus, weil das Chronozykel steht, während sich die Erde
weiterdreht) – mit einem Wort, sie hatten so viel angestellt, daß
daraus die Romantik geboren wurde. Nachdem ich die Schuldigen
bestraft hatte, nahm ich mir Goodlay und Rosenbeißer vor.
Ich verbannte sie beide. Ich
wußte, daß der Wissenschaftliche Rat mir das nicht vergessen würde:
Rosenbeißer, der sich später mir gegenüber skandalös benahm, führte
sich in der Verbannung verhältnismäßig anständig auf (als Julian
Apostata). Er tat so manches, um in Byzanz das Dasein der Ärmsten
zu bessern. Wie man daraus ersehen kann, hatte er auf seinem Posten
enttäuscht, weil er ihm nicht gewachsen war. Kaiser zu sein ist
einfacher, als die Verbesserung der gesamten Geschichte zu
leiten.
So ging die zweite Phase des
Projekts zu Ende. Ich übertrug das Recht zu handeln dem Ressort für
soziale Angelegenheiten, denn wir konnten nur noch die zivilisierte
Geschichte vervollkommnen. Als Totteles und Latton ans Werk gingen,
konnten sie sich kaum halten vor Freude, daß ihre Vorgänger
gestrauchelt waren, und gleichzeitig verwahrten sie sich, diese
Rückversicherer, von vornherein, daß man nun, angesichts eines
solchen Homo sapiens, noch viel von TEOPAGHIP erwarten
könne.
Harry S. Totteles vertraute die
Durchführung des ersten Experimentellen Ausbesserungsprogramms den
Chronallergisten an. Es waren dies Khand el Abr, Canne de la Breux,
Guirre Andaule und G. I. R. Andoll. Der Gruppe stand indirekt der
Ing. Hemdreißer vor. Er und seine Kollegen planten eine
Beschleunigung der Kultivierung durch urbanisierende Akzeleration.
Im Unterägypten der
12. oder 13. Dynastie, ich entsinne mich
nicht mehr so genau, häuften sie Berge von Baumaterial an, mit
Hilfe zeitweiliger Sendlinge, die bei uns allgemein als »momentane
Kontaktpersonen« bezeichnet werden; sie hoben das Niveau der
Bautechnik, doch der Plan wurde infolge mangelnder Aufsicht
entstellt. Kurz gesagt, statt eines großzügigen Wohnungsbaus kam es
im Rahmen des Personenkults zur Errichtung von Grabmälern für
verschiedene Pharaonen, die niemandem etwas nützten. Ich verbannte
das gesamte Team nach Kreta; dies war der Ursprung des
Minospalastes. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was Betterpart mir
erzählte, nämlich daß die Verbannten in Streit gerieten, ihren
ehemaligen Chef überfielen und ihn im Labyrinth einschlossen. Ich
hatte nicht in die Akten geschaut, also bin ich mir, wie bereits
gesagt, dieser Sache nicht sicher, jedenfalls sieht mir Hemdreißer
nicht wie Minotaurus aus.
Ich beschloß, mit der
Quertreiberei kurzen Prozeß zu machen, und befahl, mir die Projekte
mit komplexem Charakter vorzulegen. Wir mußten uns entscheiden, ob
wir offen oder im verborgenen handeln sollten, das heißt, ob die
Menschen der verschiedenen Epochen überhaupt erfahren sollten, daß
ihnen jemand in der Entwicklung ihrer Geschichte hilft. Totteles,
eher ein Liberaler, sprach sich für die Kryptochronie aus, für die
auch ich eintrat. Entsprechend der alternativen Strategie mußte man
nämlich die Völker der Vergangenheit unter ein offenes Protektorat
stellen, was in ihnen ein Gefühl der Entmündigung hätte aufkommen
lassen. Wir mußten also hilfreich, zugleich aber geheim handeln.
Latton widersetzte sich dem, er hatte nämlich den Plan eines
idealen Staates im Kopf, an den er alle Gesellschaften heranführen
wollte.
Ich ließ die Waagschale zugunsten
Totteles’ ausschlagen, der mir einen seiner jüngeren, aber wohl
besten Mitarbeiter vorstellte; dieser Assistent, Magister A.
Donnai, war der Erfinder des Monotheismus. Gott, so erklärte er
mir, könne als reine Idee niemandem schaden, und wir, die
Optimalisatoren, würden freie Hand haben, denn entsprechend dem
Projekt seien Gottes Entscheidungen unerforschlich; die Menschen
könnten sie nicht begreifen, also würden sie nichts auszusetzen
haben, und zugleich würden sie nicht argwöhnen, daß sich jemand in
ihre Geschichte – telechronisch – einmische. Diese Konzeption klang
nicht schlecht, doch vorsichtshalber stellte ich dem jungen
Magister nur einen kleinen Übungsplatz zur Verfügung, und den
obendrein noch in einem entfernten Winkel der Welt, nämlich in
Kleinasien. Auf diese Weise erlangte er Verfügungsgewalt über den
Stamm Juda. Sein Gehilfe war Ing. Geschichtstäter H. Yobb. Die
Kontrolle wies nach, daß sie sich schwere Ausschreitungen
zuschulden kommen ließen. Es ist noch nebensächlich, daß Donnai
sechzigtausend Tonnen Gerstengraupen während einer Wüstenwanderung
der Juden abwerfen ließ; die »diskrete Hilfe«, die er ihnen zu
gewähren vorgab, lief auf lauter Einmischungen hinaus (er öffnete
und schloß das Rote Meer, schickte den Feinden Judas ferngesteuerte
Heuschrecken), so daß er den Mündeln die Köpfe verwirrte – sie
betrachteten sich als ein auserwähltes Volk.
Es war typisch, daß der Autor,
sobald sein Plan in der Praxis versagte, immer bedeutendere
materielle Anreizmittel anwandte, statt die Taktik zu ändern. A.
Donnai übertraf alle, denn er wandte Napalm an. Wie ich das
erlauben konnte? Auch eine Frage! Ich wußte einfach nichts davon.
Auf dem Übungsplatz des Instituts de monstrierte er nur das
Anzünden eines Strauches aus der Entfernung und versicherte, er
werde auf ähnliche Weise in der Vergangenheit handeln, es würden
einfach nur ein paar Kakteen in der Wüste verbrennen; diese
Schaustellungen sollten die Verinnerlichung der moralischen Normen
festigen. Nachdem ich ihn auf die Halbinsel Sinai verbannt hatte,
verbot ich allen Leitern der Kollektive aufs entschiedenste,
Konzessionen für Handlungen mit der übernatürlichen Tarnkappe zu
gewähren. Andererseits hatte das, was Donnai und Yobb vollbrachten,
manche historischen Weiterungen.
Aber so ist das immer. Jede
telechronische Einmischung hat eine Lawine von Erscheinungen zur
Folge, die man ohne Anwendung entsprechender Mittel nicht
unterdrücken kann. A. Donnai verhielt sich in der Verbannung höchst
unschicklich, denn er nutzte die Fama, die er in seiner Stellung
als Geschichtstäter erlangt hatte. Zwar konnte er keine »Wunder«
mehr vollbringen, aber die Erinnerung an ihn blieb erhalten. Was H.
Yobb betrifft, so erzählte man auch, ich hätte Historanger auf ihn
gehetzt, aber das ist Verleumdung. Ich kenne die Einzelheiten der
Angelegenheit nicht, weil ich mich nicht mit solchen Detailfragen
befassen konnte – jedenfalls soll er sich mit A. Donnai entzweit
haben, und der setzte ihm dermaßen zu, daß daraus die Hiobslegende
entstand. Am schlimmsten erging es den Juden bei diesem Experiment,
weil sie an ihre Ausnahmestellung glaubten. Als nun das Projekt
abgebrochen wurde, erfuhren sie so manche Bitternis, sowohl in
ihrer Heimat als auch in der Diaspora. Was meine Widersacher im
Projekt zu diesem Thema über mich verbreiteten, davon will ich gar
nicht reden.
Im übrigen trat das Projekt nun
in die Phase seiner schwersten Krise. Mich trifft daran insofern
eine Schuld, als ich Totteles und Latton nachgegeben und ihnen
gestattet hatte, die Geschichte in breiter
Front zu verbessern, das heißt nicht an isolierten Stellen und
einzelnen Zeitpunkten, sondern auf der ganzen zeitlichen Länge. Die
Strategie jener Melioration, die als die integrale bezeichnet
wurde, führte zur Trübung des Aktionsbildes; um dem vorzubeu gen,
brachte ich in jedem Jahrhundert eine Beobachtergruppe unter.
Latton wiederum wurde von mir bevollmächtigt, eine geheime
Chronizei zu organisieren, die den Vandalismus
in der Zeit bekämpfen sollte.
Dieses wilde Benehmen, an das ich
nicht einmal im Traum gedacht hatte, hängt mit der sogenannten
Besen-Affäre zusammen. Scharen zügelloser Halbwüchsiger, die sich
zum Teil aus unserem Hilfspersonal rekrutierten, Laboranten,
Sekretärinnen und so weiter, hatten sie verübt. Eine Unmenge
mittelalterlicher Märchen über Pakte mit dem Teufel, über Inkuben
und Sukkuben, über Sabbate, Hexenprozesse und über die Versuchung
Heiliger rührten von der »wilden« Chronomotion her, die von
Jugendlichen ohne moralischen Halt betrieben wurde. Ein
individuelles Chronozykel besteht aus einem Rohr mit Sattel und
einem Auspufftrichter, daher kann man es, zumal bei ungenügender
Beleuchtung, durchaus für einen Besen halten. Schamlose Weibsbilder
unternahmen Fahrten, am liebsten nachts, um die Dorfbewohner des
frühen Mittelalters zu schrecken. Nicht genug, daß sie ihnen im
Tiefflug über die Köpfe sausten, sie wagten es, in das 13. oder 12.
Jahrhundert mit einer drastisch enthüllenden Kleidung (topless) zu
reisen – was Wunder also, daß man sie mangels besserer
Bezeichnungen für nackte Hexen hielt, die rittlings auf Besen
daherflitzten. Durch einen merkwürdigen Zufall half mir H. Bosch
bei der Untersuchung und Aufdeckung der Schuldigen, als er bereits
in der Verbannung war; er verlor beim Anblick des ersten besten
Zeitfahrers nämlich nicht die Geistesgegenwart und porträtierte in
seinem »Höllenzyklus« keine Teufel, sondern Dutzende illegaler
Chronozyklisten mit ihren Gefährtinnen, was ihm um so leichter
fiel, als er viele von ihnen persönlich kannte.
Ich erwog, zu wie vielen Opfern
diese Ausschweifungen der wilden Chronofahrer geführt hatten, und
schickte die Schuldigen siebenhundert Jahre zurück (»die
Kontestatoren des 20. Jahrhunderts«). Unterdessen erklärte mir N.
Betterpart, der oberste Chef der MOIRA, er sei nicht mehr Herr der
Lage und verlange deshalb Unterstützung in Form von
Havarieeinsatzbrigaden der Zeitsprin ger, weil die Front der
Arbeiten sich auf über vierzig Jahrhunderte ausgedehnt habe. Wir
engagierten also eine Menge neuer Mitarbeiter, die auf der Stelle
dorthin geschickt wurden, von wo die Alarmzeichen kamen, obwohl es
sich nicht um voll ausgebildete Leute handelte. Ihre Konzentration
in mehreren Jahrhunderten führte zu ernsten Zwischenfällen,
beispielsweise zur Völkerwanderung; und obschon wir versuchten, das
Erscheinen dieser Landetrupps zu tarnen, verbreiteten sich im 20.
Jahrhundert (etwa um die Mitte) Gerüchte über »fliegende
Untertassen«, zumal die damals bereits gut entwickelte Technik der
Massenmedien eine Zirkulation solcher Gerüchte
begünstigte.
Das war jedoch noch gar nichts im
Vergleich zu einer neuen Affäre, als deren Urheber und Hauptfigur
sich der Chef der MOIRA erwies. Ich erhielt Meldungen, daß seine
Leute nicht so sehr die Fortschritte der Melioration beobachteten,
als sich vielmehr aktiv in den historischen Prozeß einschalteten,
und das nicht im Sinne Lattons und Totteles’, sondern in Anlehnung
an eine eigene temporale Politik, wie Betterpart sie ungehindert
betrieb. Bevor ich ihn seines Postens entheben konnte,
verflüchtigte er sich, das heißt, er floh ins 18. Jahrhundert, weil
er dort auf seine Chronizisten zählen konnte, und ehe ich mich’s
versah, war er schon Kaiser von Frankreich. Dieser widerliche
Frevel schrie geradezu nach einer strengen Bestrafung; Latton riet
mir, eine Reservebrigade nach Versailles zu werfen, aber das waren
unakzeptable Ideen, denn eine solche Invasion hätte eine unerhörte
Störung in der ganzen späteren Geschichte hervorgerufen – der
Menschheit wäre bewußt geworden, daß sie unter Kuratel stand.
Totteles, der vernünftiger war, arbeitete Pläne für eine
»natürliche«, das heißt kryptochronische Bestrafung Napoleons aus;
die Einfädlung einer antibonapartistischen Koalition begann,
Feldzüge fanden statt, doch was nutzte das, wenn der ehemalige Chef
der MOIRA sogleich Lunte roch und, ohne zu warten, selbst zum
Angriff überging, Nicht umsonst war er ein Berufsstratege, die
Theorie hatte er im kleinen Finger, also schlug er der Reihe nach
alle Feinde, die Totteles ihm auf den Hals schickte; es schien, als
würde man ihn in Rußland in die Klemme nehmen können, aber auch von
dieser Expedition erholte er sich einigermaßen, indes halb Europa
in Trümmern und in Asche lag. Erst als ich meine Herren
Geschichtstäter beiseite drängte, vermochte ich mit Napoleon bei
Waterloo fertig zu werden. Viel Ursache, mich dessen zu rühmen,
hatte ich indes nicht!
Napoleon war von der Insel Elba
geflohen, weil ich keine ordentlichere Verbannung überwachen
konnte, denn ich hatte viele andere dringende Probleme zu lösen.
Diejenigen, die sich Ausschreitungen zuschulden kommen ließen,
blieben nun nicht mehr passiv auf ihren Stühlen sitzen, sondern
flüchteten selbst in die tiefe Vergangenheit, wobei sie die Mittel
mitnahmen, die es ihnen leicht machten, sich mit Ruhm zu bedecken
oder einen Glorienschein nie gekannten Ausmaßes zu erlangen (daher
die Alchimisten, Cagliostro, Simon Magus und Dutzende andere). Mir
kamen Informationen zu Ohren, die ich überhaupt nicht überprüfen
konnte: Atlantis zum Beispiel sei gar nicht durch einen
Querschläger der Operation GENESIS versunken, sondern Dr. Boloney
habe das mit Vorbedacht getan, damit ich nicht dahinterkam, was er
dort angestellt hatte. Mit einem Wort, alles, womit ich zu tun
hatte, brach zusammen. Ich verlor den Glauben an den Erfolg, und
schlimmer noch, ich wurde mißtrauisch. Ich wußte nicht mehr, was
eine Folge der Optimalisierung war, das Ergebnis ihrer Einstellung,
ein Unterschleif oder eine Willkür der säkularen
Chronizisten.
Ich beschloß, vom anderen Ende an
die Dinge heranzugehen. Ich begann die Große Allgemeine Geschichte
in zwölf Bänden zu studieren, und wo mir nur etwas verdächtig
erschien, dorthin schickte ich eine Flugkontrolle. So war es zum
Beispiel mit Kardinal Richelieu; nachdem ich mich in der MOIRA
erkundigt und mich vergewissert hatte, daß er nicht unser Agent
sei, befahl ich Latton, einen intelligenten Kontrolleur dorthin zu
senden. Er vertraute diese Mission einem gewissen Reichplatz an.
Etwas machte mich stutzig – ich sah ins Wörterbuch und erstarrte,
als ich mich davon überzeugte, daß Richelieu und Reichplatz
dasselbe bedeuteten, aber es war schon zu spät, denn er war bereits
in höhere ge sellschaftliche Sphären vorgedrungen und wurde die
graue Eminenz Ludwigs XIII. Ich ließ ihn ungeschoren, denn ich
wußte bereits aus den napoleonischen Kriegen, wonach solche
Versuche rochen.
Inzwischen reifte ein anderes
Problem heran. In den einzelnen Jahrhunderten wimmelte es von
Verbannten; die Chronizei konnte sie nicht alle im Auge behalten,
wenn sie Gerüchte oder Aberglauben verbreiteten, um mir
zuwiderzuhandeln, oder wenn sie versuchten, die Kontrolleure
unverblümt zu kaufen. So begann ich damit, alle, die etwas auf dem
Kerbholz hatten, an einen Ort und in eine Zeit, nämlich in die
griechische Antike zu deportieren, und der Effekt war der, daß sich
dort am raschesten eine hohe Kultur [{(entwikkelte)}] entwickelte;
allein in Athen zum Beispiel gab es mehr Philosophen als im ganzen
übrigen Europa. Das war bereits nach der Ausweisung Lattons und
Totteles’, denn beide hatten mein Vertrauen mißbraucht. Latton,
einer der hartnäckigsten Radikalen, sabotierte meine Empfehlungen
und betrieb seine eigene Politik (ihre Darlegung kann man in seiner
»Republik« finden), die extrem antidemokratisch war, ach was, die
auf Unterdrückung beruhte; so ist zum Beispiel das Reich der Mitte
sein Werk, aber auch die Kastenstruktur Indiens, das Römische Reich
Deutscher Nation und sogar der Umstand, daß die Japaner seit dem
Jahr 1868 an die Göttlichkeit des Mikado glauben. Ob er es war, der
eine gewisse Schicklgruber verheiratete, damit das sattsam bekannte
Kind geboren wurde, das halb Europa in Rauch aufgehen ließ –
darüber habe ich keine vollkommene Gewißheit, denn davon hatte mir
Totteles erzählt, und der lebte mit Latton wie Hund und
Katze.
Latton war der Projektant des
Aztekenstaates, Totteles schickte ihm die Spanier auf den Hals. Im
letzten Moment, als ich die Berichte der MOIRA bekam, befahl ich,
die Expedition des Kolumbus zu verzögern und in Südamerika Pferde
zu züchten, denn Cortez’ Kavallerie hätte der Reiterei der Indianer
nicht standgehalten. Die Kooperateure versagten jedoch, die Pferde
krepierten bereits im Quartär, als es noch keine Indianer gab, und
so gab es nieman den, der die Kampfwagen ziehen konnte, obwohl das
Rad rechtzeitig geliefert worden war. Was Kolumbus betrifft, so
hatte er im Jahre 1492 Erfolg, weil er dort genügend geschmiert
hatte. So sah diese Optimalisierung aus! Man warf mir sogar vor,
daß mir das Gedränge der Philosophen in Griechenland noch zu gering
sei, ich hatte ja H. S. Totteles und P. Latton dorthin verbannt.
Eine Lüge! Eben um meine Menschlichkeit zu beweisen, gestattete ich
ihnen, sich Zeit und Ort der Verbannung auszusuchen; zwar brachte
ich Plato nicht vollends dort unter, wohin es ihn drängte, sondern
in Syrakus; ich wußte nämlich, daß er in dieser Stadt wegen der
dort herrschenden Kriege seine über alles geliebte Idee vom »Staat
der Philosophen« nicht verwirklichen konnte.
Harry S. Totteles war bekanntlich
der Lehrer des jungen Alexander von Mazedonien. Er machte sich der
Nachlässigkeit schuldig, was zu scheußlichen Folgen führte, denn er
hatte immer die kleine Schwäche, große Enzyklopädien
zusammenzustellen und sich mit dem Klassifizieren sowie mit der
allgemeinen Methodologie der Theorie des Vollkommenen Projekts zu
amüsieren, während sich hinter seinem Rücken die wildesten Dinge
abspielten: Der Hauptbuchhalter flüchtete vor der Kontrolle,
verabredete sich mit einem Froschmann und fischte mit ihm das Gold
Montezumas aus dem Kanal, in den es während der Flucht von Cortez’
Leuten versenkt worden war. Schließlich begannen sie im Jahre 1922
an der Börse zu spielen – Gestohlenes macht nicht fett –, und so
kam es zu dem berühmten Börsenkrach im Jahre 1929. Ich glaube
nicht, daß ich Aristoteles unrecht getan habe, denn er verdankt mir
den Ruhm, der ihm angesichts seiner Verstöße im Projekt gewiß nicht
gebührte. Deshalb wurde nunmehr getuschelt, ich hätte unter dem
Vorwand von Verbannungen und Rotationen ein Nepotenkarussell
eingeführt und für alte Kumpel luxuriöse Sinekuren in allen
Jahrhunderten eingerichtet. Aber man sagte mir schon so viel Böses
nach, daß mir ohnehin alles verübelt wurde, was ich tat.
Ich kann mich nicht auf
Einzelheiten einlassen und werde mich deshalb nicht über die
Anspielungen hinsichtlich meiner Person äußern, die in Platons und
Aristoteles’ Schriften enthalten sind. Natürlich empfanden sie als
Verbannte keine Dankbarkeit, aber ich scherte mich wenig um
Ressentiments, wenn die Geschicke der Menschheit auf dem Spiele
standen. Anders war es mit Griechenland, dessen Niedergang mir sehr
naheging. Es ist nicht wahr, daß ich ihn durch Aufmärsche von
Philosophen herbeigeführt hätte; Latton tat es mit Rücksicht auf
Sparta, weil er es nach dem Ebenbild seiner geliebten Utopie
gestalten wollte, und so unterstützte denn nach seiner Absetzung
niemand mehr die Spartaner, und sie erlagen der persischen
Übermacht. Was konnte ich dagegen tun? Ein lokaler Protektionismus
war inakzeptabel, denn wir sollten ja unseren Schutz auf die
gesamte Menschheit ausdehnen, und hier
untergrub schon das Problem der Ausweisungen die größten Pläne. In
die Zukunft konnte ich niemanden verbannen, weil sie sich in acht
nahmen, und da jeder der Verurteilten an die Azurküste wollte, gab
ich nach. Eine Vielzahl von Personen mit höherer Bildung
konzentrierte sich also rings um das Mittelmeer, und daher nahmen
eben dort der Aufstieg der Zivilisation und später auch die Kultur
des Westens ihren Anfang.
Was Spinoza betrifft, so muß ich
durchaus einräumen, daß er ein grundanständiger Mensch war, aber er
hat es zu den Kreuzzügen kommen lassen, das heißt, er selbst hat
sie natürlich nicht ausgelöst. Mit Spinoza besetzte ich den freien
Posten Lattons; er hatte einen lauteren Charakter, war aber
zerstreut wie kaum einer; er unterschrieb, ohne hinzuschauen, was
man ihm hinhielt, er gab Löwenherz eine unbeschränkte Vollmacht –
jemand hatte dort im
13. Jahrhundert etwas ausgefressen –, und als
die Suche begann, warf Löwenherz einen Chronobus mit
Geheimpolizisten nach dem anderen dorthin, so daß der Gesuchte, ich
weiß nicht mehr, wer es war, die Kreuzzüge auslöste, um sich in dem
Durcheinander zu verstecken. Ich wußte nicht, was ich mit Spinoza
machen sollte, das alte Griechenland strotzte nur so von Denkern,
die ihm ähnlich waren, so schickte ich ihn zunächst kreuz und quer
durch alle Jahrhunderte, damit er so in der Skala von vierzig
Jahrhunderten pendelte, und daraus entstand die Legende vom »Ewigen
Juden«. Nach jeder seiner Wanderungen durch unsere Zeit klagte er
jedoch über die Mühen, so daß ich ihn schließlich nach Amsterdam
lenkte, weil er das Basteln so liebte, und dort konnte er Diamanten
schleifen.
Man hat mich manchmal gefragt,
warum denn keiner der Verbannten bekannte, woher er kam. Nun, das
wäre ihm übel bekommen. Jeder, der die Wahrheit gesagt hätte, wäre
ins Irrenhaus gewandert. Hätte man vor dem 20. Jahrhundert einen
Menschen etwa nicht für verrückt erklärt, der erzählte, man könne
aus gewöhnlichem Wasser eine Bombe machen, die imstande sei, den
ganzen Globus in Stücke zu reißen? Und vor dem 23. Jahrhundert
kannte man keine Chronomotion. Außerdem hätten solche Bekenntnisse
das Plagiat von Arbeiten vieler Verbannter entblößt. Es war ihnen
verboten, die Zukunft vorauszusagen, aber sie plapperten dennoch
manches aus. Im Mittelalter beachtete man das zum Glück nicht (ich
denke da an die Hinweise über die Düsenjäger und die
Tiefseetauchboote bei Bacon und an jene über die Computer in Lulls
ARS MAGNA); schlimmer war es jedoch mit denjenigen, die
unvorsichtigerweise ins 20. Jahrhundert verbannt worden waren – sie
nannten sich »Futurologen« und begannen Dienstgeheimnisse zu
verraten.
Zum Glück wandte A. Tylla, der
neue Chef der MOIRA nach Napoleon, die sogenannte Taktik des
Babelsystems an: Sechzehn Zeitingenieure, die zur Strafe nach
Kleinasien verbannt worden waren, entschlossen sich, einen
»Zeitzug« für die Flucht vorzubereiten, indem sie vorgaben, einen
Turm errichten zu wollen; seine Bezeichnung war die kryptonyme
Losung der Verschwörer (Bauunternehmen zur Beförderung der im Exil
Lebenden). MOIRA, die diese Arbeiten schon in ziemlich vorgerücktem
Stadium vorfand, schickte ihre eigenen Spezialisten als »neue
Verbannte« aus, die in den Konstruktionsplan absichtlich solche
Fehler einführten, daß das Werk beim ersten Probeversuch
auseinanderbarst. Tylla wiederholte dieses Manöver der
»Sprachenverwirrung«, indem er Diversionsgruppen ins 20.
Jahrhundert warf; sie diskreditierten die Weissagerkandidaten,
indem sie verschiedene Flunkereien – die sogenannte Science Fiction
– verbreiteten und einen unserer Ge heimräte, einen gewissen
McLuhan, in die Reihen der Futurologen einschleusten.
Zwar faßte ich mich an den Kopf,
als ich die von MOIRA fabrizierten Faseleien las, die McLuhan als
»Prognosen« verbreiten sollte, denn mir erschien es unmöglich, daß
jemand, der sein Hirn am rechten Fleck hatte, auch nur eine Sekunde
lang das dumme Zeug von einem »globalen Dorf«, zu dem die Welt
angeblich tendiere, ernst nehmen konnte, und auch den anderen
Unsinn, der da aufgetischt wurde. Doch es erwies sich, daß McLuhan
erheblich mehr Furore machte als all die Leute, die die reine
Wahrheit verrieten; er erlangte einen solchen Ruf, daß er
schließlich, wie es scheint, selbst an die Absurditäten zu glauben
begann, die wir ihn verbreiten hießen. Wir ließen ihn übrigens in
Ruhe, denn das schadete uns nicht. Was Swift und seine Schrift
»Gullivers Reisen« betrifft, in der ein Hinweis auf zwei kleine
Marsmonde mit all ihren Bewegungselementen enthalten ist, die in
jener Zeit niemand kennen konnte, so war das die Folge eines
idiotischen Mißverständnisses. Die Orbitaldaten der Marsmonde
stellten damals die Erkennungslosung einer Gruppe unserer
Kontrolleure in Südengland dar, und einer von ihnen, ein
Kurzsichtiger, hielt Swift in einer Schenke für einen neuen
Agenten, mit dem er sich dort treffen sollte; er meldete den Irrtum
nicht, denn er glaubte, Swift habe nichts von seinen Worten
verstanden, indes konnten wir ein paar Jahre später (1726) in der
ersten Ausgabe von »Gullivers Reisen« Angaben über jene beiden
Marsmonde lesen; die Erkennungslosung wurde sofort geändert, aber
der Passus mußte nun schon im Druck bleiben.
Derartige Lappalien fielen nicht
sonderlich ins Gewicht, anders jedoch war es mit Plato bestellt.
Stets packt mich Mitleid, wenn ich seine Erzählung von der Höhle
lese, in der man mit dem Rücken zur Welt sitzt und an den Wänden
kaum ihre Schatten erkennt. Ist es verwunderlich, daß er das 27.
Jahrhundert für die einzige authentische Wirklichkeit ansah und daß
ihm die primitive Zeit, in der ich ihn gefangenhielt, als eine
»düstere Höhle« vorkam? Seine Doktrin über das Wissen, das nur ein
»Sich-Erinnern« dessen dar stelle, was man einst, »vor dem Leben«,
bedeutend besser gewußt habe, ist eine
noch deutlichere Anspielung.
Indessen brachen immer größere
Sorgen über mich herein. Ich mußte Tylla verbannen, weil er
Napoleon geholfen hatte, von der Insel Elba zu fliehen; ich wählte
diesmal die Mongolei als Ort der Verbannung, denn er hatte in
schrecklicher Wut gedroht, daß ich mich seiner noch erinnern werde.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was er inmitten dieser Einöden
vollbringen könnte, und dennoch hielt er Wort. Als die Projektanten
sahen, was geschah, überboten sie sich im Entwerfen immer
absonderlicherer Pläne, sie wollten zum Beispiel mit ganzen
Chronozügen den Völkern die notwendigen Warenmassen liefern – aber
das hätte ja jeden Fortschritt gehemmt. Dann wieder wollten sie
eine Million aufgeklärter Bürger aus unserer Gegenwart nehmen und
sie im Paläolithikum landen lassen – ein vorzüglicher Gedanke, aber
was sollte ich mit der Menschheit anfangen, die dort bereits in den
Höhlen saß?
Die Lektüre dieser Pläne weckte
mein Mißtrauen bei der Besichtigung des 20. Jahrhunderts. Hatte man
da nicht Massenvernichtungsmittel untergeschoben? Angeblich wollten
ein paar Radikale unseres Instituts die Zeit in einen Kreis
zwängen, damit die Neuzeit irgendwann nach dem 21. Jahrhundert mit
der Vorgeschichte zusammenwachsen konnte. Auf diese Weise sollte
sich alles noch einmal, aber besser bewegen. Eine krankhafte Idee,
phantastisch, wahnwitzig, aber ich sah schon gewisse Anzeichen der
Vorbereitung. Das Zusammenwachsen erforderte ein vorheriges
Zerstören der bereits bestehenden Zivilisation, eine »Rückkehr zur
Natur«. So nahm denn auch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die
Verwilderung zu, das Rauben und das Sprengen; die Jugend wurde von
Jahr zu Jahr zottiger, die Erotik wurde vertierter, Horden
Zerlumpter tauchten auf, die mit Gebrüll nicht mehr die Sonne,
sondern irgendwelche Sterne oder Stars ehrten, es ertönten Rufe
nach der Zerstörung der Technik, der Wissenschaft, und sogar die zu
Wissenschaftlern erklärten Futurologen verkündeten – auf wessen
Betreiben eigentlich? – eine nahende Katastrophe, einen Nieder
gang, das Ende; hier und da baute man sogar schon Höhlen, die man,
wohl zur Tarnung, als Schutzräume bezeichnete.
Ich beschloß also, mich auf die
folgenden Jahrhunderte zu konzentrieren, weil mir das Ganze nach
Umkehrarbeit roch, das heißt nach einer Arbeit, die die Zeit zur
Umkehr zwingt, eben im Sinne der Kreistheorie. Gerade in dieser
Phase erhielt ich eine Einladung zu einer außerordentlichen Sitzung
des Wissenschaftlichen Rates. Freunde sagten mir im Vertrauen, daß
dort über mich Gericht gehalten werden solle, doch das hielt mich
von der Erfüllung meiner Pflichten nicht ab. Meine letzte Tätigkeit
war die Entscheidung in der Sache eines gewissen Adel, der in
seiner Tätigkeit als Kontrollfunktionär ein Mädchen aus dem 12.
Jahrhundert mitnahm, das er auf freiem Felde geraubt hatte – er
überfiel sie vor den Augen der Menge und zerrte sie am hellichten
Tage auf sein Chronozykel. Man hielt sie für heilig und betrachtete
die Entführung als »Himmelfahrt«. Ich hätte ihn schon längst
entfernen sollen, denn er war ein durch und durch brutales
Individuum, und auch sein Äußeres war abstoßend – er ähnelte mit
seinen tiefsitzenden Äuglein und dem schweren Kiefer einem Gorilla
–, aber ich befürchtete, man könnte mich einer persönlichen
Abneigung bezichtigen. Nun aber verbannte ich ihn, und das für alle
Fälle ziemlich weit zurück – um 65000 Jahre. Er wurde ein
Höhlen-Casanova und zeugte die Neandertaler.
Erhobenen Hauptes ging ich zur
Sitzung, ich fühlte mich in keiner Weise schuldig. Die Sitzung
dauerte zehn Stunden; ich bekam eine Unmenge Anklagen zu hören. Man
warf mir Willkür vor, Gängelung der Gelehrten, Geringschätzung der
Expertenmeinungen, das Favorisieren Griechenlands, den Untergang
Roms, die Sache mit Caesar (auch das war eine Verleumdung: ich
hatte nirgendwohin einen Brutus geschickt), die Affäre mit
Reichplatz, das heißt mit dem Kardinal Richelieu, den Mißbrauch im
Referat der MOIRA und der geheimen Chronizei, die Päpste und
Antipäpste und so weiter. (Im Grunde hatte Betterpart die
»Finsternis des Mittelalters« hervorgerufen, der nach seiner
geliebten Regel von der »starken Hand« zwischen das 8. und 13.
Jahrhundert so viele Vertrauensleute eingeschleust hatte, daß es zu
einer Bevormundung und zum Untergang der Kultur kam.)
Die Lektüre des in siebentausend
Paragraphen formulierten Anklageaktes war im Grunde eine
öffentliche Lesung in einem Geschichtsbuch. Was bekam ich nicht
alles zu hören: wegen des A. Donnai, wegen des feurigen Strauches,
wegen Sodom und Gomorra, wegen der Wikinger, wegen der Räder der
kleinasiatischen Kampfwagen, wegen des Fehlens von Rädern und Wagen in Südamerika, wegen
der Kreuzzüge, wegen der Niedermetzelung der Albigenser, wegen
Berthold Schwarz und seines Pulvers (wohin sollte ich ihn
verbannen, ins Altertum, damit man sich schon dort kartätschte?) –
und so weiter, immer weiter, ohne Ende. Nichts wollte jetzt dem
ehrenwerten Rat mehr gefallen, weder die Reformation noch die
Gegenreformation, und diejenigen, die mich vorher mit eben diesen
Projekten bestürmt und mich ihrer rettenden Wirkung versichert
hatten (Rosenbeißer hatte mich fast auf Knien um die Erlaubnis für
die Reformation gebeten), saßen jetzt da und taten, als verstünden
sie kein Sterbenswörtlein von alledem.
Als man mir das letzte Wort
erteilte, erklärte ich, daß ich mich überhaupt nicht zu verteidigen
gedenke, die künftige Geschichte würde ihr Urteil über uns fällen.
Ich erlaubte mir allerdings, ich gebe es zu, gegen Ende meiner Rede
eine spöttische Bemerkung. Ich sagte nämlich, der einzige
Fortschritt, also das einzig Gute, das die Geschichte nach den
Arbeiten des Projekts aufweise, sei ausschließlich mein Verdienst. Es handele sich da nämlich um die
positiven Folgen der massenhaften Verbannungen, die ich verfügt
hatte. Mir verdanke die Menschheit Homer, Plato, Aristoteles,
Boskovic, Leonardo da Vinci, Bosch, Spinoza und ungezählte anonyme
Persönlichkeiten, die ihr schöpferisches Bemühen in den
Jahrhunderten unterstützt haben. Wie schlimm auch das Schicksal der
Verbannten gewesen sein mag, sie hatten es verdient, und
gleichzeitig sühnten sie durch mich ihre Schuld vor der Geschichte,
denn sie unterstützten sie nach Kräften – aber erst nach der Entfernung aus ihren hohen Stellungen im
Projekt! Wer dagegen nachprüfen wollte, was parallel dazu die
Fachleute des Projekts ge tan haben, der
mag auf den Mars, den Jupiter, die Venus, auf den massakrierten
Mond schauen oder sich das Grab der Atlantis auf dem Grunde des
Atlantischen Ozeans ansehen, er mag die Opfer der beiden großen
Eiszeiten, der Plagen und Epidemien, der Pest, der Kriege, der
religiösen Fanatismen zählen – mit einem Wort, er soll sich die
allgemeine Geschichte einmal näher betrachten, die nach der
»Verbesserung« ein einziges Schlachtfeld der Meliorationspläne sei,
auf dem Chaos und Verwüstung herrsche. Die Geschichte ist das Opfer
des Instituts, der darin herrschenden Atmosphäre des
Intrigantentums, der Unordnung, des Improvisierens, des ständigen
Ränkespiels und fortwährender Inkompetenzen, und wenn das von mir
abhinge, hätte ich all die Herren Geschichtstäter dorthin
geschickt, wo die Brontosaurier überwintern.
Ich brauche wohl nicht zu
erklären, daß meine Worte ziemlich sauer aufgenommen wurden. Obwohl
dies das letzte Wort sein sollte, hatten sich noch ein paar würdige
Zeitingerenten zu Wort gemeldet, so zum Beispiel I. G. Noranz, M.
Tageule und Rosenbeißer selbst, der auf der Session zugegen war,
denn seine ehrenwerten Kollegen hatten ihn schon aus Byzanz
zurückgeholt. Da sie von vornherein das Ergebnis der Abstimmung
kannten, die über meinen Direktorposten entscheiden sollte, hatten
sie Julian Apostatas »Tod auf dem Schlachtfeld« (363) inszeniert,
weil ihm soviel an der Anwesenheit bei diesem Schauspiel gelegen
war. Bevor er sprach, bat ich in einer formalen Angelegenheit ums
Wort, um zu fragen, seit wann denn byzantinische Kaiser das Recht
besäßen, an den Beratungen des Instituts teilzunehmen, aber niemand
geruhte mir darauf auch nur zu antworten.
Rosenbeißer hatte sich besonders
vorbereitet, er mußte bereits in Konstantinopel Material erhalten
haben; niemand versuchte, diese grob eingefädelte Verschwörung auch
nur vor mir zu verheimlichen. Rosenbeißer bezichtigte mich des
Dilettantismus und der Vortäuschung von Kenntnissen auf dem Gebiet
der Musik, die angesichts meines schlechten Gehörs zu erheblichen
Entstellungen in der Entwicklung der theoretischen Physik geführt
hätte. Das Ganze soll sich nach den Worten des Herrn Professors
folgen dermaßen zugetragen haben: Nachdem unser Hyperputer durch
Fernsondieren die Intelligenz aller Kinder um die Wende des 19. zum
20. Jahrhundert untersucht hatte, entdeckte er kleine Bürschchen,
die trotz ihres jugendlichen Alters fähig waren, das Prinzip der
Gleichwertigkeit von Materie und Energie zu formulieren, was
entscheidend für die Freisetzung der Macht des Atoms ist. Das waren
unter anderen Pierre Solitaire, T. Adnokamenjak, Stanislaw Rasglas,
John Onestone, Trofim Odinzew-Bulyshnikow, Aristides Monolapides
und Giovanni Unapietra – neben dem kleinen Albert Einstein. Ich
wagte, den letzteren zu favorisieren, weil mir sein Geigenspiel so
gefiel; nach Jahren kam es dadurch zum Bombenabwurf über
Japan.
Rosenbeißer verdrehte die
Tatsachen so schamlos, daß mir die Luft wegblieb. Das Geigenspiel
hatte damit nichts zu tun. Der Verleumder wälzte seine eigene
Schuld auf mich ab. Der Hyperputer, der prognostisch den weiteren
Verlauf der Ereignisse modellierte, sagte eine Atombombe in
Mussolinis Italien für die Relativitätstheorie Unapietras und eine
Serie noch schlimmerer Kataklysmen für die übrigen Bürschchen
voraus. Ich hatte mich für Einstein entschieden, weil er ein
artiges Kind war, und dafür, daß es später zu den Atombomben kam,
können weder ich noch er die Verantwortung tragen. Ich handelte
entgegen den Ratschlägen Rosenbeißers, der empfahl, die Erde
»prophylaktisch« von Kindern im Vorschulalter zu entblößen, damit
die Atomenergie im sicheren 21. Jahrhundert entdeckt werden konnte,
und er präsentierte mir sogar einen Chronizisten, der bereit war,
diese Aktion auf sich zu nehmen. Natürlich verbannte ich diesen
gefährlichen Menschen namens H. Errod sogleich nach Kleinasien, wo
er sich ungeheuerliche Taten zuschulden kommen ließ; übrigens
figurierten sie in einem der Anklagepunkte. Und was hätte ich denn
mit ihm tun sollen? In irgendeine Zeit
mußte ich ihn ja verbannen. Aber ich hätte mich auf eine Polemik
mit solcherart präparierten Verleumdungen gar nicht einlassen
sollen.
Als man durch Abstimmung über
meine Entfernung aus dem Projekt entschieden hatte, befahl mir
Rosenbeißer, unverzüglich in der Direktion zu erscheinen; ich fand
ihn bereits in meinem Sessel sitzend vor – als den neuen Herrn
Direktor. Was meint ihr, wen ich in seiner Umgebung erblickt habe?
Aber natürlich: Goodlay, Gestirner, Astroianni, Starshite und die
übrigen Pfuscher; Rosenbeißer hatte es bereits zuwege gebracht, sie
aus all den Jahrhunderten, in denen sie saßen, zurückzuholen. Ihm
selbst hatte der Aufenthalt in Byzanz sehr gut getan; während des
Feldzuges gegen die Perser war er schlank geworden, sein Gesicht
war sonnengebräunt, er hatte Münzen mitgebracht, auf denen sein
eigenes Profil eingeprägt war, goldene Broschen, Siegelringe und
eine Menge modischer Gegenstände, die er gerade seiner Clique
zeigte, aber sogleich in der Schublade verschwinden ließ, als ich
eintrat, und er blähte sich auf, thronte, redete durch die Zähne,
ohne mich anzuschauen, jeder Zoll ein Kaiser. Das Triumphgefühl,
das ihn erfüllte, mit Mühe unterdrückend, sagte er mir von oben
herab, daß ich nach Hause zurückkehren könnte, wenn ich mich
verpflichtete, gewisse Empfehlungen zu erfüllen. Ich sollte nämlich
jenen Ijon Tichy, der die ganze Zeit über bei mir gewohnt hatte,
dazu überreden, die Leitung des TEOPAGHIP zu übernehmen.
Mich durchfuhr ein Gedankenblitz.
Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, weshalb man mich auserwählt hatte – ich sollte zu mir selbst
den Boten spielen! Die Prognose des Hyperputers blieb ja in Kraft,
also eignete sich niemand besser für die Stellung des Direktors der
Geschichtsausbesserung. Sie handelten nicht aus Edelmut – davon
hatten sie nicht für einen Sechser –, sondern aus reiner
Berechnung. In der Tat, I. Tichy, der mich zu dieser Unternehmung
überredet hatte, war ja in der Vergangenheit verblieben und
bewohnte mein Haus. Ich begriff außerdem, daß sich der Zeitkreis
erst dann schließen würde, wenn ich – nunmehr
ich – in die Bibliothek stürzen und beim Bremsen des
Chronozykels alle Bücher von den Regalen stoßen würde. Jenen Tichy
würde ich in der Küche mit der Bratpfanne in der Hand vorfinden und
ihn durch mein unerwartetes Erscheinen überraschen, denn jetzt trat
ich in der Rolle eines Sendboten der Zukunft auf, während er, der
Hausbewohner, derjenige sein würde, zu dem ich mit der Mission kam.
Das scheinbar Paradoxe der Situation war eine Folge der
unvermeidlichen Relativität der Zeiten, die die Beherrschung der
chronomotionalen Technologie mit sich bringt. Die
Niederträchtigkeit des Plans, den der Hyperputer ausgeheckt hatte,
beruhte darauf, daß er einen doppelten Kreis in der Zeit geschaffen
hatte: einen kleinen in einem großen. In dem kleinen Kreis hatte
ich mich am Anfang mit meinem Doppelgänger gedreht, bis ich
schließlich meine Zustimmung zu meiner Reise in die Zukunft gab.
Aber dann blieb der große Kreis weiterhin offen; deshalb begriff
ich damals nicht, woher er in diese
zukünftige Epoche geraten war, aus der er, wie seinen Worten zu
entnehmen war, ja kam.
In dem kleinen Kreis war ich
immer noch der frühere und er der spätere I. Tichy. Erst jetzt
sollten sich die Rollen umkehren, denn die Zeiten hatten sich
umgestellt: Ich kam jetzt zu ihm als ein Sendbote aus der Zukunft –
er, gegenwärtig schon der frühere, sollte
das Steuer des Projekts nun in seine Hände nehmen. Kurzum: Wir
sollten endgültig unsere Orte in der Zeit austauschen. Ich begriff
nur nicht, warum er mir das damals in der Küche nicht verraten
hatte, aber auch das erkannte ich sehr bald, denn Rosenbeißer
verlangte von mir mein Ehrenwort, tiefes Schweigen über alles zu
bewahren, was im Projekt geschah.
Wenn ich mich weigerte, das
Geheimnis zu wahren, würde ich statt eines Chronozykels eine
Pension erhalten und nirgendwohin verreisen. Was sollte ich also
tun? Diese Betrüger wußten, daß ich mich nicht weigern würde. Ich
hätte abgelehnt, wenn ein anderer Mensch für meinen Posten
kandidiert hätte, aber wie konnte ich mir, als meinem Nachfolger,
nicht vertrauen? Somit hatten sie in Gedanken an eine solche
Möglichkeit ihren raffinierten Plan ausgeheckt!
Ohne alle Ehrungen, ohne Pomp,
ohne ein gutes Wort des Dankes, ohne jegliche
Abschiedsfeierlichkeit, im tiefen Schweigen der einstigen
Mitarbeiter, die mir von früh bis spät lauter Honig um den Bart
geschmiert und sich in der Bewunderung meiner geistigen Horizonte
geradezu überboten hatten, während sie mir jetzt den Rücken
zukehrten – schritt ich zur Starthalle. Eine gemeine Bos heit
veranlaßte die ehemaligen Untergebenen, mir das klapprigste
Chronozykel zu geben, das sie auftreiben konnten. Ich wußte nun
auch schon, warum ich bestimmt nicht imstande sein würde zu bremsen
und weshalb ich daher alle Bücherregale umstoßen würde! Aber auch
dieser letzte Affront focht mich nicht an. Obwohl das Chronozykel
an den Jahrhundertwenden (das sind die sogenannten säkularen
Durchbrüche) scheußlich hin und her schleuderte, weil die Dämpfer
nicht funktionierten, verließ ich das 27. Jahrhundert ohne Zorn
oder Bitterkeit, nur an das eine denkend, wie es wohl meinem
Nachfolger bei der Telechronischen Optimalisierung der allgemeinen
Geschichte ergehen würde.