Rettet den Kosmos! lautet Ijon Tichys Appell an seine Zeitgenossen, denn undisziplinierte Erdtouristen bedrohen Planeten und Sterne: Ringe von Müll umkreisen bereits die Gestirne; der Juno steht die Vernichtung bevor, weil sich jeder Besucher ein Stück von ihrem Gestein als Souvenir mitnimmt; Frauen verursachen Verkehrsunfälle – durch überhöhte Geschwindigkeit erzwingen sie eine Schrumpfung der Zeit und damit eine Verlangsamung des Alterns; infolge der Konzentration von Auspuffgasen kommt es zu einer Zunahme der Sonnenflecken; verantwortungslose Reisegesellschaften bieten mehr Plätze an, als die Sauerstoffvorräte eigentlich erlauben, so daß die Zahl der in Tiefkühltruhen konservierten Passagiere beängstigend zugenommen hat – kurzum: Der ehrenwerte Sternreisende Ijon Tichy ist zu Recht besorgt. Die denkwürdigen Begebenheiten aus dem Leben dieses Reisenden und Weltverbesserers der Nachwelt zugänglich gemacht zu haben ist das Verdienst von Professor A. S. Tarantoga, der mit dankenswerter Unterstützung der Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Rates am Tichologischen Institut und des Redaktionskollegiums der Quartalsschrift »Tichiana« den riesigen Nachlaß Ijon Tichys gesichtet hat. Der Herausgeber verwahrt sich mit Fug gegen Stimmen, die die Urheberschaft der Schriften Tichys in Zweifel ziehen und sie einem gewissen »Lern« zuschreiben, da jeder, der ein wenig die Geschichte der Kosmonautik kennt, weiß, daß »LEM die Abkürzung von Lunar Excursion Module ist«. Deshalb ist diese Ausgabe, obwohl weder vollständig noch kritisch, authentisch. Sie entspricht dem letzten Stand der Forschung und ist daher die bislang fundierteste und umfangreichste. Sie enthält neben den kosmischen Reisebeschreibungen auch die Erinnerungen Tichys an skurrile Begebenheiten auf der Erde sowie unlängst entdeckte Zeichnungen von der Hand des Autors.






Stanislaw Lem





Titel der Originalausgabe
DZIENNIKI GWIAZDOWE
erschienen bei Czytelnik, Warszawa 1971
Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz
Mit Zeichnungen des Autors







INHALT




Vorwort 6 Vorwort zur erweiterten Ausgabe 9


  Aus den Sterntagebüchern Ijon Tichys................................12 Siebente Reise 13 Achte Reise 36 Elfte Reise 58 Zwölfte Reise 101 Dreizehnte Reise 112 Vierzehnte Reise 135 Achtzehnte Reise 165 Zwanzigste Reise 180 Einundzwanzigste Reise 230 Zweiundzwanzigste Reise 297 Dreiundzwanzigste Reise 315 Vierundzwanzigste Reise 322 Fünfundzwanzigste Reise 337 Achtundzwanzigste Reise 358

Aus den Erinnerungen Ijon Tichys....................................381

I 382 II 399 III 414 IV 425 V (Die Waschmaschinen-Tragödie) 439

Die Anstalt des Doktor Vliperdius     461
Doktor Diagoras     473
Retten wir den Kosmos (Offener Brief Ijon Tichys)     501



VORWORT




Die vorliegende Ausgabe der Schriften Ijon Tichys, die weder vollständig noch kritisch ist, stellt im Vergleich zu den vorangegangenen einen Fortschritt dar. Es ist gelungen, sie um Texte zweier bisher unbekannter Reisen, der achten und der achtundzwanzigsten1, zu erweitern. Die letztere trägt zur Biographie Tichys und seiner Familie neue Einzelheiten bei, die außer den Historiker auch den Physiker interessieren werden, da sich aus ihnen die von mir längst geahnte Abhängigkeit des Verwandtschaftsgrades von der Geschwindigkeit ergibt.2
  Was die achte Reise anbelangt, so hat eine Gruppe von Psychoanalytikern, ausnahmslos Tichologen, kurz vor der Drucklegung dieser Ausgabe sämtliche Fakten aus Ijon Tichys Traum überprüft. Der interessierte Leser wird in der Arbeit Dr. Hopfstoßers eine vergleichende Bibliographie des Gegenstandes finden, die den Einfluß der Träume anderer berühmter Menschen wie Isaak Newtons oder der Borgias auf Tichys Träume und umgekehrt nachweisen.
  Der vorliegende Band enthält jedoch nicht die sechsundzwanzigste Reise, die sich letztlich als Apokryph erwiesen hat. Den Nachweis hierfür erbrachte eine Gruppe von Mitarbeitern unseres Instituts mit Hilfe einer vergleichenden Elektronenanalyse der


E. M. Sianko, Die Polsterung des linken Schreibtischschubfachs I. Tichys mit dem Manuskript seiner unveröffentlichten Arbeiten; Bd. XVI der Serie Tichiana, S. 1193 ff.
O. J. Burberry, Kinship as velocity function in family travels; Bd. XVII der Serie Tichiana; S. 232 ff.
Dr. S. Hopfstoßer, Das epistemologisch Unbestreitbare in einem Traum von Ijon Tichy; Sonderdruck der Serie Tichiana, Bd. VI, S. 67 ff.
Texte4. Es ist vielleicht nicht verfehlt, hinzuzufügen, daß ich persönlich die sogenannte »Sechsundzwanzigste Reise« schon seit langem für ein Apokryph gehalten habe – so im Hinblick auf die im Text auftretenden Ungenauigkeiten, die u. a. die Wackerleider betreffen (und nicht »Wackerkleider« – wie es im Text heißt), ebenso die Meopsera, die Mucken und die Gattung der Schlurfe (Phlegmus Invariabilis Hopfstosseri).
  Der erste Teil der vorliegenden Ausgabe umfaßt mehrere Reisen entsprechend der originellen Numerierung des Autors, der zweite hingegen Gelegenheitsschriften, Verschiedenes und Erinnerungen.
  In der letzten Zeit wurden Stimmen laut, die die Urheberschaft der Schriften Tichys in Zweifel ziehen. Die Presse berichtete, Tichy habe sich jemandes Hilfe bedient, ja er habe nicht einmal existiert und seine Werke soll eine Einrichtung geschaffen haben, ein sogenannter »Lem«. Gewissen extremen Versionen zufolge soll »Lem« sogar ein Mensch sein. Nun weiß aber jeder, der sich auch nur ein wenig mit der Geschichte der Kosmonautik befaßt hat, daß LEM die Abkürzung für die Bezeichnung LUNAR EXCURSION MODULE ist, das heißt für den forschenden Mondbehälter, der in den USA im Rahmen des »Apollo-Projekts« (der ersten Landung auf dem Mond) gebaut wurde. Ijon Tichy braucht weder als Autor noch als Reisender einen Fürsprecher. Die Gelegenheit nutzend, möchte ich jedoch die unsinnigen Gerüchte festnageln. Insbesondere: LEM war zwar mit einem kleinen Hirn (Elektronenhirn) versehen, doch diente dieses Gerät lediglich begrenzten Navigationszwecken und hätte nicht einen einzigen sinnvollen Satz schreiben können. Von einem anderen LEM ist mir nichts bekannt. Ihn erwähnen weder die Kataloge großer Elektronenmaschinen (vgl. z. B. Nortronics, New York, 1966-69) noch die Große Kosmische Enzyklopädie (London 1979). Es ist deshalb an der Zeit, die Tätigkeit der Tichologen, denen die seit Jahren in Arbeit befindlichen

4
E. M. Sianko, A. U. Chlebek und W. U. Kalamarajdysowa, Partielle Analyse der Betaspektren der linguistischen Texte I. Tichys; Bd. XVIII der Serie Tichiana
OPERA OMNIA Ijon Tichys noch viel Mühe abverlangen werden, nicht durch solche Gerüchte zu stören, die mit dem Ernst ihrer Aufgaben nicht in Einklang zu bringen sind.

Professor A. S. Tarantoga
Lehrstuhl für vergleichende Astrozoologie der Universität zu Fomalhaut
im Namen
des Redaktionskomitees für die Herausgabe
der Gesammelten Werke Ijon Tichys
sowie
des Wissenschaftlichen Rates des Tichologi
schen Instituts und des Redaktionskollegiums
der Vierteljahresschrift »Tichiana«.






VORWORT ZUR ERWEITERTEN AUSGABE




Gerührt und voller Freude machen wir die neue Ausgabe der Schriften dem Leser zugänglich, denn sie bringt außer den Texten der drei bisher unbekannten Reisen (der achtzehnten, der zwanzigsten und der einundzwanzigsten) nicht nur wertvolle Zeichnungen von der Hand des Autors, sondern auch die Aufklärung gewisser Rätsel, die bisher selbst von den Experten der Tichologie nicht gelöst werden konnten.
  Was die Stiche betrifft, so wollte der Autor lange nicht damit herausrücken; er behauptete, daß er die von den Sternen und Planeten stammenden Objekte in flagranti oder inmitten seiner häuslichen Sammlung lediglich für sich gezeichnet habe und daß sie weder einen künstlerischen noch dokumentarischen Wert besäßen, weil er sich dabei sehr beeilt habe. Doch selbst wenn es sich nur um Kritzeleien handeln sollte, womit übrigens nicht alle Kenner einverstanden sind, ist ihr Wert als Anschauungsmaterial für die Lektüre der bisweilen schwierigen und dunklen Texte unbestritten. Dies ist der erste Anlaß zur Genugtuung, die unsere Arbeitsgruppe erfüllt.
  Zum zweiten bringen die Texte der neuen Reisen eine keineswegs geringe Besänftigung für den Geist, der nach endgültigen Antworten auf die älteste aller Fragen lechzt, die der Mensch sich und der Welt stellt: Sie teilen nämlich mit, wer den Kosmos, die Naturgeschichte, die allgemeine Geschichte, den Verstand, das Sein und andere nicht weniger wichtige Dinge eigentlich erzeugt hat und warum er das tat. Und ist es etwa keine angenehme Überraschung, zu erfahren, daß unser vortrefflicher Autor an diesen Schöpfungsarbeiten keinen geringen, ja manchmal geradezu einen entscheidenden Anteil hatte? Somit ist auch die Bescheidenheit verständlich, mit der er die Schublade verteidigte, die diese Handschriften barg, und nicht weniger begreiflich ist die Genugtuung jener, die schließlich Tichys Widerstand zu brechen vermochten. Bei dieser Gelegenheit wird obendrein die Ursache klar, warum es in der Numerierung der Sternreisen gewisse Lücken gibt. Erst nach dem Studium dieser Ausgabe wird der Leser begreifen, weshalb es nicht nur niemals eine erste Reise I. Tichys gegeben hat, sondern auch warum es sie nicht geben konnte, und wenn der Leser auf diese Weise seine Aufmerksamkeit geschärft hat, wird er verstehen, daß die Reise, die als die einundzwanzigste bezeichnet wird, gleichzeitig auch die neunzehnte ist. Zwar wird ihm die Orientierung nicht leichtfallen, denn der Autor hat die letzten siebzig Zeilen der Handschrift in diesem Dokument gestrichen. Weshalb? Wiederum durch seine unsagbare Bescheidenheit. Ich darf das Siegel des Schweigens, das mir auferlegt wurde, nicht brechen, aber man hat mir wenigstens gestattet, einen kleinen Rand des Schleiers zu lüften. I. Tichy hat, als er sah, wozu die Versuche der Ausbesserung der Vorgeschichte und der Geschichte führen, in seiner Stellung als Direktor des Temporalen Instituts etwas getan, was schließlich bewirkt hat, daß es nicht zur Entdeckung der Theorie der Zeitvehikel und des Transports in der Zeit gekommen ist. Da auf sein Betreiben hin diese Entdeckung wieder »zugedeckt« wurde, sind das Programm der Telechronischen Ausbesserung der Geschichte, das Temporale Institut und leider auch I. Tichy selbst als sein Direktor verschwunden. Der Schmerz, den dieser Verlust verursacht, wird teilweise durch den Umstand gemildert, daß wir wenigstens keine unangenehmen Überraschungen von seiten der Vergangenheit zu befürchten haben, andererseits aber auch durch die verblüffende Tatsache, daß der tragisch Verstorbene weiterhin lebt, obwohl er keinesfalls auferstanden ist. Da wir einräumen müssen, daß die Einzelheit ziemlich eigenartig ist, verweisen wir den Leser zur Aufklärung auf die einschlägigen Stellen, das heißt auf die zwanzigste und die einundzwanzigste Reise.
  Indem ich schließe, möchte ich die Entstehung einer besonderen futurologischen Zelle in unserer Vereinigung ankündigen, die im Einklang mit dem Geist der Zeit und in Anlehnung an die Methode der sogenannten Selbstrealisierung der Prognosen auch die Sternreisen I. Tichys bearbeiten wird, die er nicht unternommen hat und auch nicht zu unternehmen beabsichtigt.

Prof. A. S. Tarantoga
für die
Vereinigten Institute der Tichologie, der
Tichographie und der beschreibenden,
vergleichenden und prognostischen Ti
chonomik.






Aus den Sterntagebüchern Ijon Tichys







SIEBENTE REISE




Als ich am Montag, dem zweiten April, in der Nähe der Betelgeuze vorüberflog, durchschlug ein Meteor, kaum größer als eine Bohne, die Panzerung und zertrümmerte den Hubregulator und einen Teil der Steuerung, wodurch die Rakete ihre Manövrierfähigkeit einbüßte. Ich zog den Raumanzug an, stieg auf die Oberfläche der Rakete und versuchte, die Vorrichtung zu reparieren, aber ich erkannte bald, daß ich die Hilfe eines zweiten Menschen benötigte, um die Reservesteuerung festzuschrauben, die ich umsichtigerweise mitführte. Die Konstrukteure hatten das Raumschiff so unsinnig projektiert, daß jemand mit dem Schlüssel den Schraubenkopf festhalten mußte, während ein anderer die Schraubenmutter anzog. Zunächst nahm ich mir das nicht sonderlich zu Herzen und verbrachte ein paar Stunden damit, den einen Schlüssel mit den Füßen festzuhalten, während ich am anderen Ende die Mutter mit der Hand anzuziehen versuchte. Jedoch die Mittagszeit verstrich, und meine Mühen erbrachten kein Ergebnis. Einmal wäre es mir fast gelungen, doch da sprang der Schlüssel unter meinem Fuß weg und segelte in den Weltraum davon. So hatte ich denn nicht nur nichts ausgebessert, sondern obendrein noch ein wertvolles Werkzeug verloren und mußte tatenlos zusehen, wie es sich entfernte und vor dem Hintergrund der Sterne immer kleiner wurde.
  Nach einiger Zeit kehrte der Schlüssel in einer gedehnten Ellipse zurück, aber er kam, obwohl er ein Trabant des Raumschiffs geworden war, nicht so nah heran, daß ich ihn greifen konnte. Ich ging also in das Innere der Rakete zurück, nahm einen bescheidenen Imbiß ein und überlegte dabei, wie ich aus dieser dummen Situation herauskommen könnte. Das Raumschiff flog unterdessen mit immer größerer Geschwindigkeit geradeaus weiter, denn der verdammte Meteor hatte mir auch den Hubregulator zerstört. Auf meinem Kurs lagen zwar keine himmlischen Körper, aber diese blinde Fahrt durfte schließlich nicht unendlich dauern. Eine Zeitlang konnte ich meinen Ärger bezähmen, aber als ich nach dem Mittagessen daranging, das Geschirr abzuwaschen, stellte ich fest, daß die von der enormen Arbeit erhitzte Atomsäule mir die beste Portion Rindsfilet verdorben hatte, und ich verlor für eine Weile mein seelisches Gleichgewicht; ich stieß die fürchterlichsten Flüche aus und zerschlug einen Teil des Geschirrs, was mir zwar eine gewisse Erleichterung verschaffte, jedoch nicht sehr sinnvoll war. Obendrein verblieb das über Bord geworfene Rindfleisch, statt in die Ferne zu fliegen, in der Nähe der Rakete und kreiste um sie herum wie ein zweiter künstlicher Satellit, wobei es regelmäßig alle elf Minuten und vier Sekunden eine kurze Sonnenfinsternis bewirkte. Um meine Nerven zu beruhigen, berechnete ich bis zum Abend die Elemente seiner Bewegung sowie die Störungen der Umlaufbahn, die durch das Kreisen des Schlüssels entstehen würden. Ich gelangte zu dem Ergebnis, daß in den nächsten sechs Millionen Jahren das Rindfleisch dem Schlüssel auf einer Kreisbahn um das Raumschiff vorauseilen würde, um ihn dann zu überholen. Schließlich legte ich mich, müde von der langen Rechnerei, schlafen. Mitten in der Nacht hatte ich das Gefühl, daß mich jemand an den Schultern rüttelte. Ich schlug die Augen auf und erblickte einen über das Bett gebeugten Menschen, dessen Gesicht mir seltsam bekannt vorkam, ohne daß ich hätte sagen können, wer das war.
  »Steh auf«, sagte er, »und nimm die Schlüssel, wir gehen nach oben und drehen die Steuerschrauben fest…«
  »Erstens kennen Sie mich nicht gut genug, um mich zu duzen, und zweitens weiß ich genau, daß es Sie nicht gibt. Ich bin allein in der Rakete, und das schon das zweite Jahr, denn ich fliege von der Erde zum Sternbild des Kalbes. Somit sind Sie nur eine Traumvision.«
  Er indes schüttelte mich weiter und wiederholte, ich solle ihm sofort zu den Geräten folgen.
  »Unfug«, erwiderte ich, nunmehr schon etwas böse, denn ich befürchtete, die Auseinandersetzung im Traum könnte mich wecken, und ich weiß aus Erfahrung, wie schwer es ist, nach einem plötzlichen Erwachen wieder einzuschlafen. »Nirgends gehe ich mit, das wäre ja sowieso umsonst. Eine Schraube, die im Traum festgedreht wird, kann an der wirklichen Lage nichts ändern. Bitte belästigen Sie mich nicht und zerfließen Sie auf der Stelle oder begeben Sie sich auf andere Weise hinweg, sonst wache ich tatsächlich noch auf.«
  »Aber du schläfst ja gar nicht, Ehrenwort!« rief die hartnäckige Erscheinung. »Erkennst du mich denn nicht? Schau her.«
  Während er sprach, berührte er mit den Fingern zwei Warzen, groß wie Walderdbeeren, die er auf der linken Wange hatte. Instinktiv faßte auch ich mich an die Wange, weil ich an derselben Stelle zwei völlig gleiche Warzen habe. In diesem Augenblick begriff ich auch, weshalb mich die Traumerscheinung an einen Bekannten erinnerte: Sie glich mir aufs Haar.
  »Laß mich zufrieden!« rief ich und schloß die Augen, besorgt um meinen Schlaf. »Wenn du ich bist, brauche ich dich zwar nicht zu siezen, aber das ist noch lange kein Beweis, daß du nicht existierst!«
  Woraufhin ich mich auf die andere Seite drehte und mir die Decke über den Kopf zog. Ich hörte noch, wie er etwas von Idiotie sagte und schließlich, als ich nicht reagierte, ausrief: »Du wirst das noch bereuen, du Narr! Du wirst dich noch davon überzeugen, daß das kein Traum ist, aber dann wird es zu spät sein!«
  Ich rührte keinen Finger. Als ich frühmorgens die Augen aufschlug, fiel mir gleich die eigenartige nächtliche Geschichte ein. Ich setzte mich im Bett auf und sann darüber nach, was für interessante Streiche einem doch der eigene Verstand mitunter spielt: Da keine verwandte Seele an Bord war, hatte ich mich in Anbetracht einer zwingenden Notwendigkeit im Traum verdoppelt, nur um dem Bedürfnis Genüge zu tun.
  Nach dem Frühstück stellte ich fest, daß das Raumschiff über Nacht zusätzliche Beschleunigung erlangt hatte, und ging daran, in den Nachschlagewerken der kleinen Bordbibliothek einen Ausweg aus meiner fatalen Situation zu suchen. Ich fand jedoch nichts. So breitete ich die Sternkarte auf dem Tisch aus und suchte im Schein der nahen Betelgeuze, die in gewissen Abständen von dem kreisenden Rindfleisch verdeckt wurde, in der Gegend, in der ich mich befand, nach einer kosmischen Zivilisation, von der ich Hilfe gewärtigen könnte. Aber die Gegend war eine komplette Sternwüste, die wegen ihrer Gefährlichkeit von allen Raumschiffen gemieden wurde, weil sich dort die geheimnisvollen Gravitationsstrudel befinden – hundertsiebenundvierzig an der Zahl –, deren Existenz durch sechs astrophysikalische Theorien erklärt wird, und von jeder anders.
  Der Kosmonautenkalender warnte vor ihnen wegen der unberechenbaren Folgen der relativistischen Effekte, die ein Durchgang durch solch einen Strudel haben kann – zumal bei großer Eigengeschwindigkeit.
  Ich war ratlos. Ich berechnete nur, daß ich etwa um elf den Rand des ersten Strudels streifen würde, also beeilte ich mich mit den Frühstücksvorbereitungen, um nicht nüchtern der Gefahr die Stirn bieten zu müssen. Kaum hatte ich die letzte Untertasse abgetrocknet, begann das Raumschiff nach allen Seiten zu schlingern, so daß die ungenügend befestigten Gegenstände von Wand zu Wand polterten. Mit Müh und Not kroch ich zum Sessel. Als ich mich daran festgebunden hatte, bemerkte ich während der immer heftigeren Sprünge des Raumschiffs, daß eine Art blaßlila Nebel den gegenüberliegenden Teil der Rakete füllte und dort, zwischen Spülbecken und Küchenherd, eine nebelhafte Menschengestalt in einer Schürze stand, die Omelettenteig in die Bratpfanne goß. Die Gestalt sah mich prüfend an, ohne sich jedoch zu wundern, daraufhin löste sie sich auf und verschwand. Ich rieb mir die Augen. Ich war ganz offensichtlich allein, also schrieb ich jenes Bild einer zeitweiligen Geistestrübung zu.
  Während ich noch im Sessel saß oder vielmehr mit ihm hüpfte, kam mir die blitzartige Erleuchtung, daß dies keineswegs eine Halluzination gewesen war. Als der dicke Band der Allgemeinen Relativitätstheorie an meinem Sessel vorübersegelte, versuchte ich ihn zu fassen, was mir schon beim vierten Mal gelang. Das Blättern in dem dicken Buch war unter diesen Umständen recht beschwerlich, denn gewaltige Kräfte schüttelten das Schiff, so daß es wie betrunken taumelte, aber schließlich fand ich den richtigen Absatz. Da war die Rede von der sogenannten Zeitschleife, das heißt von der Krümmung der Richtung, in der die Zeit im Bereich mächtiger Gravitationsfelder fließt. Diese Erscheinung könne sogar dazu führen, daß der Lauf der Zeit umgekehrt wird und eine sogenannte Verdoppelung der Gegenwart erfolgt. Der Strudel, den ich gerade durchquert hatte, gehörte nicht zu den mächtigsten. Ich wußte, gelänge es mir, die Schiffsspitze nur eine Winzigkeit mehr zum Pol der Galaxis zu richten, dann würde ich den sogenannten Vortex Gravitatiosus Pinckenbachii durchschneiden, in dem mehrfach Phänomene der Verdoppelung und sogar der Verdreifachung der Gegenwart beobachtet wurden.
  Die Steuerung konnte ich zwar nicht betätigen, aber ich begab mich in die Motorenkammer und manipulierte so lange an den Vorrichtungen, bis ich tatsächlich eine leichte Kursänderung des Raumschiffs zum galaktischen Pol hin bewirkte. Diese Operation nahm mehrere Stunden in Anspruch. Das Ergebnis übertraf meine Erwartungen. Gegen Mitternacht geriet das Schiff in das Zentrum eines Strudels, es bebte und ächzte dermaßen in allen Spanten, daß ich schon befürchtete, es könnte zerbrechen, aber es kam heil aus der Bedrängnis heraus, und als die toten Arme der kosmischen Stille es erneut umfingen, verließ ich die Motorenkammer und erblickte mich selbst friedlich im Bett schlummernd. Ich begriff sofort, daß ich das war, und zwar vom Vortag, genauer: aus der Nacht zum Montag. Ohne mir über den philosophischen Aspekt dieser recht eigenartigen Erscheinung besondere Gedanken zu machen, begann ich sogleich, den Schlafenden an der Schulter zu zerren und zu rufen, er möge rasch aufstehen; ich wußte nämlich nicht, wie lange seine montägliche Existenz in meiner dienstäglichen fortdauern würde, weshalb es angezeigt war, möglichst schnell und gemeinsam die Steuerung auszubessern.
  Der Schlafende jedoch machte nur ein Auge auf und sagte, daß er nicht wünsche, von mir geduzt zu werden, dann meinte er, ich sei nur sein Traumgespinst. Vergebens rüttelte ich ihn voller Ungeduld, vergebens versuchte ich, ihn mit Gewalt aus dem Bett zu zerren. Er ließ sich auf nichts ein und wiederholte hartnäckig, daß er mich träume; ich begann zu fluchen, doch er erklärte mir logisch, daß er nirgends hingehen werde, denn Schrauben, die man im Traum festziehe, würden die Steuerung in der Wirklichkeit sowieso nicht festhalten. Vergebens gab ich ihm mein Ehrenwort, daß er sich irre, beschwor und verfluchte ihn abwechselnd – selbst die demonstrierten Warzen vermochten nicht, ihn vom Wahrheitsgehalt meiner Worte zu überzeugen. Er drehte mir den Rücken zu und begann zu schnarchen.
  Ich setzte mich in den Sessel, um die entstandene Lage kühl zu durchdenken. Ich hatte sie nun schon zweimal erlebt, einmal als jener Schlafende, am Montag, und jetzt als der ihn erfolglos Weckende, am Dienstag. Ich vom Montag glaubte nicht an die Realität der Doppelungserscheinung, jedoch ich vom Dienstag wußte von ihr. Das war die gewöhnlichste Zeitschleife von der Welt. Was sollte ich somit tun, um die Steuerung auszubessern? Da der vom Montag weiterschlief und ich mich außerdem erinnerte, daß ich jene Nacht ausgezeichnet bis zum Morgen durchgeschlafen hatte, begriff ich die Vergeblichkeit aller weiteren Versuche, ihn zu wecken. Die Karte kündigte noch eine Vielzahl solcher großen Gravitationsstrudel an, so konnte ich mit der Verdoppelung der Jetztzeit in den kommenden Tagen rechnen. Ich wollte mir einen Brief schreiben und ihn mit einer Stecknadel ans Kissen heften, damit ich vom Montag, wenn ich aufwachte, mich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, daß der angebliche Traum Wirklichkeit war.
  Kaum hatte ich mich jedoch mit dem Federhalter an den Tisch gesetzt, da begann es in den Motoren zu knirschen und zu rasseln. Ich eilte also dorthin und begoß die überhitzte Atomsäule bis zum Morgengrauen mit Wasser, während jener Ich vom Montag gemütlich schlief und sich von Zeit zu Zeit die Lippen beleckte, was mich in ordentliche Wut versetzte. Hungrig und erschöpft, ohne ein Auge zugemacht zu haben, bereitete ich mir das Frühstück. Als ich gerade die Teller abtrocknete, geriet die Rakete in den nächsten Gravitationsstrudel. Ich sah den Ich vom Montag, wie er mich verdutzt ansah, an den Sessel gefesselt, während ich vom Dienstag die Omeletten buk. Dabei verlor ich durch eine Erschütterung das Gleichgewicht, mir wurde schwarz vor Augen, und ich fiel hin. Als ich auf dem Fußboden inmitten von Porzellansplittern zu mir kam, bemerkte ich dicht vor mir die Beine eines über mir stehenden Menschen.
  »Steh auf«, sagte er und hob mich an, »hast du dir etwas getan?«
  »Nein«, erwiderte ich, während ich mich mit den Händen aufstützte, weil mir schwindlig war. »Von welchem Wochentag bist du?«
  »Vom Mittwoch«, antwortete er. »Gehen wir rasch die Steuerung ausbessern, schade um die Zeit!«
  »Und wo ist der vom Montag?« fragte ich.
  »Der ist nicht mehr, das heißt… der bist offenbar jetzt du.«
  »Wieso ich?«
  »Na, weil der vom Montag in der Nacht vom Montag zum Dienstag der vom Dienstag geworden ist, und so weiter.«
  »Verstehe ich nicht!«
  »Macht nichts, du bist es nur nicht gewohnt. Aber komm, schade um die Zeit!«
  »Gleich«, erwiderte ich, ohne mich vom Fußboden zu erheben. »Heute ist Dienstag. Wenn du vom Mittwoch bist und bis zu diesem Augenblick die Steuerung nicht repariert ist, so geht daraus hervor, daß uns etwas daran hindern wird, sie auszubessern, denn sonst würdest du mich am Mittwoch nicht dazu bewegen wollen, daß ich sie am Dienstag mit dir gemeinsam repariere. Vielleicht ist es also besser, wenn wir erst gar nicht hinausgehen.«
  »Du phantasierst!« rief er. »Mann, ich bin vom Mittwoch, und du bist vom Dienstag, und was die Rakete anlangt, so nehme ich an, daß sie sozusagen gefleckt ist, das heißt, daß an einigen Stellen in ihr Dienstag ist, an anderen Mittwoch, irgendwo vielleicht schon ein wenig Donnerstag. Die Zeit hat sich beim Durchgang durch diesen Strudel einfach etwas vermischt, aber was geht uns das an, wir sind zu zweit und haben dadurch die Chance, die Steuerung in Ordnung zu bringen.«
  »Nein, du bist im Unrecht!« erwiderte ich. »Wenn am Mittwoch, wo du schon bist, nachdem du den ganzen Dienstag durchlebt und ihn hinter dich gebracht hast, wenn also, ich wiederhole, am Mittwoch die Steuerung nicht repariert ist, so geht daraus hervor, daß sie am Dienstag nicht repariert wurde, und wenn wir sie nach einer Weile ausgebessert haben sollten, so wäre für dich diese Weile schon Vergangenheit und wir hätten nichts auszubessern. Somit…«
  »Somit bist du stur wie ein Esel!« knurrte er. »Du wirst deine Dummheit noch bereuen! Meine einzige Genugtuung ist, daß du dich ebenso über deine Sturheit ärgern wirst wie ich jetzt – wenn du selbst erst den Mittwoch erreichst!«
  »Ach, einen Moment!« rief ich. »Soll das heißen, daß ich am Mittwoch, wenn ich du sein werde, versuche, den Ich vom Dienstag zu überzeugen, wie du das in diesem Augenblick tust, nur daß dann alles umgekehrt sein wird? Du wirst ich sein und ich du? Ich verstehe. Darin besteht ja die Zeitschleife. Warte, ich komme, ich komme gleich, ich habe schon begriffen…«
  Bevor ich mich jedoch vom Fußboden erhoben hatte, fielen wir in einen neuen Strudel, eine ungeheure Schwerkraft drückte uns platt gegen die Decke.
  Die entsetzlichen Sprünge und Erschütterungen hörten die ganze Nacht von Dienstag zu Mittwoch nicht auf. Als es etwas ruhiger geworden war, wurde ich von dem in der Kajüte herumfliegenden Band der Allgemeinen Relativitätstheorie an der Stirn getroffen und verlor das Bewußtsein. Als ich die Augen aufschlug, erblickte ich das zerschlagene Geschirr und dazwischen einen liegenden Menschen. Ich sprang sogleich auf und sagte, während ich ihn aufhob: »Steh auf! Hast du dir etwas getan?«
  »Nein«, erwiderte er, während er die Augen aufmachte. »Von welchem Wochentag bist du?«
  »Vom Mittwoch«, antwortete ich. »Gehen wir rasch die Steuerung ausbessern, schade um die Zeit.«
  »Und wo ist der vom Montag?« fragte er, während er sich aufsetzte. Er hatte ein blaues Auge.
  »Der ist nicht mehr«, sagte ich, »das heißt… der bist offenbar jetzt du.«
  »Wieso ich?«
  »Na, weil der vom Montag in der Nacht vom Montag zum Dienstag der vom Dienstag geworden ist, und so weiter.«
  »Verstehe ich nicht.«
  »Macht nichts, du bist es nur nicht gewohnt. Aber komm, schade um die Zeit!«
  Während ich das sagte, sah ich mich schon nach dem Werkzeug um.
  »Gleich«, erwiderte er langsam, ohne auch nur einen Finger zu rühren. »Heute ist Dienstag. Wenn du vom Mittwoch bist und bis zu diesem Augenblick die Steuerung nicht repariert ist, so geht daraus hervor, daß uns etwas daran hindern wird, sie auszubessern, denn sonst würdest du, am Mittwoch, mich nicht dazu bewegen wollen, daß ich, am Dienstag, sie mit dir gemeinsam repariere. Vielleicht ist es also besser, wenn wir erst gar nicht hinausgehen.«
  »Du phantasierst!« schrie ich in äußerster Wut, »Mann, ich bin vom Mittwoch, und du bist vom Dienstag…«
  Und so begannen wir uns zu streiten, in umgekehrten Rollen, wobei er mich tatsächlich bis zur Weißglut brachte, denn er wollte immer noch nicht die Steuerung mit mir in Ordnung bringen, und ich schimpfte ihn völlig vergebens einen hartnäckigen Esel. Als es mir schließlich gelang, ihn zu überzeugen, gerieten wir in den nächsten Gravitationsstrudel. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, als ich daran dachte, daß wir uns nun in dieser Zeitschleife im Kreise drehen würden, bis in alle Ewigkeit. Aber zum Glück war das nicht der Fall. Als sich die Schwerkraft so weit verringert hatte, daß ich aufstehen konnte, war ich wieder allein in der Kabine. Offenbar war der lokale Dienstag, der vorher in der Nähe des Spülbeckens geherrscht hatte, verschwunden und unwiederbringliche Vergangenheit geworden. Sogleich setzte ich mich an die Karte auf der Suche nach einem anständigen Strudel, in den ich das Schiff führen könnte, um erneut eine Krümmung der Zeit hervorzurufen und auf diese Weise einen Gehilfen zu gewinnen.
  Ich fand denn auch einen, der vielversprechend war, und gab, mühsam mit den Motoren manövrierend, dem Raumschiff eine solche Richtung, daß wir den Strudel in der Mitte schnitten. Zwar war die Konfiguration dieses Strudels, der Sternkarte nach zu urteilen, höchst ungewöhnlich – er hatte zwei nebeneinanderliegende Zentren –, aber ich war schon so verzweifelt, daß ich diese Anomalie nicht beachtete.
  Während meiner vielstündigen Betriebsamkeit in der Motorenkammer hatte ich mir die Hände ordentlich beschmutzt, also ging ich sie waschen, denn bis zum Eintritt in den Strudel hatte ich noch viel Zeit. Das Bad war verschlossen. Man hörte darin Laute, als ob jemand gurgelte.
  »Wer ist dort?« rief ich überrascht.
  »Ich«, erwiderte die Stimme aus dem Inneren.
  »Was denn nun wieder für ein Ich?«
  »Ijon Tichy.«
  »Von welchem Tag?«
  »Vom Freitag. Was willst du?«
  »Ich will mir die Hände waschen…«, versetzte ich mechanisch, während ich gleichzeitig mit höchster Intensität überlegte: Es war Mittwoch abend, und er stammte vom Freitag, somit würde der Gravitationsstrudel, in den das Schiff geraten sollte, die Zeit von Freitag bis Mittwoch krümmen, aber was weiter innerhalb dieses Strudels geschehen würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Ganz besonders war ich gespannt, wo der Donnerstag geblieben war. Inzwischen ließ der vom Freitag mich noch immer nicht ins Bad, in dem er ganz offensichtlich bummelte, obwohl ich hartnäckig an die Tür klopfte.
  »Hör endlich auf zu gurgeln!« donnerte ich schließlich voller Ungeduld. »Mann, jeder Augenblick ist wertvoll – komm sofort heraus, wir wollen die Steuerung reparieren!«
  »Dazu brauchst du mich nicht«, erwiderte er phlegmatisch hinter der Tür. »Irgendwo muß der vom Donnerstag sein, geh mit ihm…«
  »Was soll das nun wieder? Einer vom Donnerstag? Das ist doch unmöglich…«
  »Das muß ich wohl besser wissen, wenn ich schon im Freitag bin und somit sowohl deinen Mittwoch als auch seinen Donnerstag erlebt habe…«
  Mit leichtem Schwindelgefühl sprang ich von der Tür zurück, denn ich vernahm tatsächlich Lärm in der Kajüte: Dort stand ein Mann und zog unter dem Bett ein Futteral mit Werkzeug hervor.
  »Bist du der vom Donnerstag!?« rief ich, während ich in die Kajüte stürmte.
  »Freilich«, erwiderte er. »Natürlich… hilf mir mal…«
  »Wird es uns jetzt gelingen, die Steuerung auszubessern?« fragte ich, als wir gemeinsam die schwere Tasche unterm Bett hervorzogen.
  »Das weiß ich nicht, am Donnerstag war sie noch nicht repariert, frag den vom Freitag…«
  In der Tat, das war mir nicht in den Sinn gekommen! Rasch rannte ich zur Badtür.
  »Hallo! Du vom Freitag! Ist die Steuerung schon repariert?«
»Am Freitag nicht«, entgegnete er.
»Warum nicht?«
  »Darum«, erwiderte er und machte gleichzeitig die Tür auf. Sein Kopf war mit einem Handtuch umwunden, an die Stirn drückte er flach eine Rasierklinge, um zu verhindern, daß die Beule, groß wie ein Ei, noch mehr wuchs. Der vom Donnerstag, der sich unterdessen mit dem Werkzeug genähert hatte, stand neben mir und betrachtete seelenruhig und aufmerksam den Verletzten, der mit der freien Hand die Flasche mit Goulardwasser aufs Regal stellte. Das Glucksen hatte ich für Gurgeln gehalten.
  »Was hat dich denn so zugerichtet?« fragte ich mitfühlend.
  »Nicht was, sondern wer«, erwiderte er. »Das war der vom Sonn
tag.«
  »Einer vom Sonntag? Aber wieso… Das kann nicht sein!« rief ich.
  »Das ist eine längere Geschichte…«
  »Einerlei! Eilen wir jetzt nach oben, vielleicht schaffen wir es!« sagte der vom Donnerstag zu mir.
  »Aber wir geraten doch gleich in einen Strudel«, antwortete ich. »Eine Erschütterung wird uns ins Vakuum schleudern, und wir kommen um…«
  »Red keine Dummheiten«, erwiderte der vom Donnerstag. »Wenn der vom Freitag lebt, dann kann uns nichts passieren. Heute ist erst Donnerstag.«
  »Es ist Mittwoch«, protestierte ich.
  »Mag sein, das ist gleich, auf jeden Fall werde ich am Freitag le
ben, und du genauso.«
  »Aber wir sind doch nur scheinbar zwei Personen«, bemerkte ich. »Ich bin wirklich nur einer, lediglich von verschiedenen Wochentagen…«
  »Schon gut, schon gut, öffne die Klappe.«
  Hier erwies es sich jedoch, daß wir nur einen Raumanzug für das Vakuum hatten. Wir konnten also nicht beide gleichzeitig aussteigen, damit mußte der Plan, die Steuerung zu reparieren, fallengelassen werden.
  »Hol euch der Kuckuck!« rief ich erbost und warf die Tasche mit dem Werkzeug hin. »Man hätte den Skaphander anziehen und ihn nicht wieder ablegen sollen. Ich hatte nicht daran gedacht, aber du, als der vom Donnerstag, hättest daran denken müssen!«
  »Den Raumanzug hat mir der vom Freitag weggenommen«, erwiderte er.
  »Wann? Und warum?«
  »Ach, das ist nicht der Rede wert.« Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ging zur Kajüte. Der vom Freitag war nicht darin, ich warf einen Blick ins Bad, aber es war ebenfalls leer.
  »Wo ist der vom Freitag?« fragte ich erstaunt, als ich zurückkehrte. Der vom Donnerstag zerschlug systematisch Eier mit dem Messer und ließ ihren Inhalt ins brutzelnde Fett fallen.
  »Sicherlich irgendwo in der Nähe vom Sonnabend«, erwiderte er gelassen, während er rasch das Rührei mischte.
  »O nein«, protestierte ich. »Du hast doch schon am Mittwoch dein Teil gegessen und hast nicht das Recht, das Mittwochabendbrot zum zweitenmal zu essen!«
  »Der Vorrat gehört ebensogut dir wie mir«, antwortete er, während er seelenruhig die festgebackenen Ränder des Rühreis mit dem Messer anhob. »Ich bin du, und du bist ich, somit ist es einerlei…«
  Die Bratpfanne fiel ihm aus der Hand, ich selbst flog gegen die Wand – wir waren erneut in einen Strudel geraten. Das Raumschiff bebte wie im Fieber, und ich dachte nur an eins: Wie ich in den Gang, wo der Skaphander hing, kommen und den Raumanzug anziehen könnte. Somit werde ich, sagte ich mir, sobald der Donnerstag anbricht, als der vom Donnerstag bereits den Skaphander anhaben, und wenn ich ihn auch nicht für einen Augenblick aus ziehe, wie ich mir das fest vorgenommen habe, dann werde ich ihn auch am Freitag tragen. Wenn ich also sowohl am Donnerstag als auch am Freitag einen Raumanzug anhaben werde, wird es am Ende doch möglich sein, die unselige Steuerung zu reparieren, sobald wir in einer Jetztzeit einander begegnen.

Die zunehmende Schwerkraft hatte meine Sinne etwas getrübt, aber als ich die Lider aufschlug, bemerkte ich, daß ich rechts von dem vom Donnerstag lag und nicht zu seiner Linken, wie noch vor einer Viertelstunde. Es war leichter, den Plan mit dem Raumanzug auszudenken, als ihn in die Tat umzusetzen, denn ich konnte mich wegen der wachsenden Gravitation kaum bewegen. Sobald diese nur ein wenig nachließ, rückte ich Millimeter um Millimeter zur Tür vor, die zum Gang führte. Ich bemerkte bald dabei, daß auch der vom Donnerstag Zoll um Zoll zur Tür kroch. Schließlich, etwa nach einer Stunde, denn der Strudel war ziemlich ausgedehnt, begegneten wir einander, am Boden kriechend, vor der Türschwelle. Ich überlegte, daß ich mich eigentlich unnötig anstrengte, die Klinke zu erreichen – mochte der vom Donnerstag die Tür öffnen. Gleichzeitig begann ich mich verschiedener Dinge zu erinnern, aus denen hervorging, daß ich nunmehr der vom Donnerstag war und nicht er.

  »Von welchem Tag bist du?« fragte ich, um mich zu vergewissern. Mein Kinn war an den Fußboden gepreßt, und ich schaute ihm aus der Nähe in die Augen. Mühsam öffnete er den Mund.
  »Der vom Donnerstag«, stöhnte er. Das war eigenartig. Sollte ich trotz allem noch der vom Mittwoch sein? Ich rief mir die letzten Erlebnisse in Erinnerung und hielt das für ausgeschlossen. Er war wahrscheinlich schon vom Freitag. Denn wenn er mir um einen Tag voraus war, mußte das wohl so bleiben. Ich wartete, daß er die Tür öffnete, aber er schien von mir das gleiche zu erwarten. Die Gravitation wurde merklich schwächer. Ich stand auf und lief in den Gang. Als ich den Skaphander ergriff, stellte er mir ein Bein und riß ihn mir aus der Hand. Ich schlug der Länge nach hin.
  »Ach, du Schuft, du Schwein!« rief ich. »Sich selbst hintergehen, welch eine Schurkerei!«
  Er aber zog, ohne mich zu beachten, schweigend den Raumanzug an. Das schien mir denn doch der Gipfel der Unverschämtheit zu sein. Plötzlich warf ihn eine merkwürdige Kraft aus dem Skaphander, in dem offenbar schon jemand saß. Im ersten Augenblick verlor ich die Fassung, denn ich wußte nicht mehr, wer welcher war.
  »He, du vom Mittwoch!« rief der im Skaphander, »laß den vom Donnerstag nicht los, hilf mir!«
  Der vom Donnerstag versuchte tatsächlich, den Raumanzug von ihm herunterzureißen.
  »Gib den Skaphander her!« brüllte der vom Donnerstag, während er mit jenem rang.
  »Laß mich los! Was willst du? Begreifst du denn nicht, daß ich ihn haben muß und nicht du!?« rief jener.
  »Da bin ich aber neugierig. Weshalb denn?«
  »Deshalb, du Esel, weil ich es näher zum Sonnabend habe als du, und am Sonnabend sind dann schon zwei von uns in Raumanzügen!«
  »Aber das ist ja Unfug«, warf ich ein. »Bestenfalls wirst du am Sonnabend allein im Skaphander stecken, wie der letzte Tölpel, und wirst nichts tun können. Gib den Skaphander mir. Wenn ich ihn jetzt anziehe, dann wirst du ihn am Freitag als der vom Freitag haben und auch ich am Sonnabend als der vom Sonnabend. Wir werden also zu zweit Skaphander tragen… Du vom Donnerstag, hilf mir!«
  »Hör auf«, protestierte der vom Freitag, von dem ich mit Gewalt den Raumanzug herunterzog. »Erstens hast du keinen mehr, den du mit ›der vom Donnerstag‹ anreden könntest, weil jetzt Mitternacht vorüber ist und du nun selbst der vom Donnerstag bist, und zweitens wird es besser sein, wenn ich im Skaphander verbleibe – du wirst sowieso nichts davon haben…«
  »Warum? Wenn ich ihn heute anlege, habe ich ihn auch morgen an!«
  »Du wirst dich selbst überzeugen. Ich bin ja schon du gewesen, nämlich am Donnerstag, mein Donnerstag ist vorüber, also weiß ich es genau…«
  »Genug jetzt mit dem Gerede. Gib das sofort her!« knurrte ich wütend. Aber er riß sich los, und ich begann ihn zu jagen, zuerst in der Motorenkammer, dann stürmten wir einer nach dem anderen in die Kajüte. In der Tat, etwas war geschehen, denn wir waren jetzt nur noch zu zweit. Nun begriff ich auch, weshalb der vom Donnerstag, als wir mit dem Werkzeug durch die Ausstiegluke wollten, zu mir gesagt hatte, der vom Freitag habe ihm den Skaphander weggenommen: In der Zwischenzeit war ich nämlich der vom Donnerstag geworden, und der vom Freitag hatte ihn mir weggenommen. Aber ich beabsichtigte nicht, so schnell aufzustecken. Warte, ich werde schon noch ein Mittel finden, überlegte ich, rannte in den Gang, von dort zur Motorenkammer, wo ich während der Jagd auf dem Fußboden einen Knüppel bemerkt hatte, der zum Wühlen in der Atomsäule diente, ergriff ihn und eilte so bewaffnet in die Kajüte. Der andere steckte bereits im Raumanzug, nur den Helm hatte er noch nicht aufgesetzt.
  »Zieh den Skaphander aus!« schrie ich ihm ins Gesicht und schwang drohend den Knüppel.
  »Ich denke nicht daran.«
  »Zieh ihn aus, sage ich dir!«
  Eine Weile überlegte ich, ob ich ihm einen Schlag versetzen sollte. Ich war ein wenig unsicher, weil er weder ein blaues Auge noch Beulen am Kopf hatte, wie der vom Freitag, den ich im Bad entdeckt hatte, aber plötzlich begriff ich, daß es so sein müsse. Jener vom Freitag war jetzt bestimmt schon der vom Sonnabend, vielleicht tummelte er sich sogar schon in den Gefilden des Sonntags, hingegen war der vom Freitag, der im Skaphander stak, unlängst der vom Donnerstag gewesen, in den ich mich wiederum um Mitternacht verwandelt hatte, so näherte ich mich über die absteigende Kurve der Zeitschleife der Stelle, wo der vom Freitag vor dem Geschlagenwerden sich in den geschlagenen Freitag-Tichy verwandeln sollte. Aber der hatte mir vorher gesagt, daß der vom Sonntag ihn so zugerichtet habe; von dem indessen war nicht die geringste Spur zu entdecken. In der Kajüte waren wir allein, er und ich. Eine plötzliche List erfüllte mein Hirn mit blendender Erleuchtung.
  »Zieh den Skaphander aus!« donnerte ich drohend.
  »Du vom Donnerstag, laß mich in Ruhe!« rief jener.
  »Ich bin nicht vom Donnerstag! Ich bin der vom SONNTAG!« brüllte ich und griff an. Er versuchte, mir einen Fußtritt zu versetzen, aber die Schuhe des Raumanzugs sind sehr schwer, und bevor er den Fuß hoch bekam, hatte ich ihm bereits den Knüppel über den Kopf geschlagen. Nicht zu heftig, versteht sich, denn so viel Erfahrung hatte ich schon, daß ich wußte, ich selbst würde, wenn ich aus dem vom Donnerstag der vom Freitag geworden war, etwas am Kopf abbekommen, und mir lag nicht viel daran, mir selbst den Schädel zu zertrümmern. Der vom Freitag fiel hin und hielt sich stöhnend den Kopf. Ich zog ihm brutal den Raumanzug vom Leib. Als er schwankenden Schrittes ins Bad ging und murmelte: »Wo ist die Watte… Wo ist das Goulardwasser…«, legte ich rasch den Skaphander an, um den wir so erbittert gekämpft hatten. Da entdeckte ich plötzlich unter dem Bett ein menschliches Bein. Ich kniete nieder und sah: Ein Mensch lag dort und verschlang, mühsam das Schmatzen unterdrückend, die letzte Tafel Milchschokolade, die ich im kleinen Koffer für eine schwarze galaktische Stunde aufgehoben hatte. Der Gauner hatte es so eilig, daß er die Schokolade mit der Papierfolie aß.
  »Wirst du wohl die Schokolade liegenlassen!« herrschte ich ihn an und zog ihn am Bein. »Wer bist du? Der vom Donnerstag?…« fragte ich schon leiser und mit plötzlicher Unruhe, denn ich dachte mir, daß ich jetzt vielleicht schon der vom Freitag wurde und die Schläge kassieren müßte, die ich zuvor dem vom Freitag verabreicht hatte.
  »Ich bin der vom Sonntag«, stammelte er mit vollem Mund. Mir wurde schwindlig. Entweder log er, dann hatte das keine Bedeutung, oder er sprach die Wahrheit, dann drohten mir die Beulen, denn es hatte ja der vom Sonntag den vom Freitag geschlagen, und der vom Freitag hatte es mir zuvor gesagt, und ich hatte mich danach für den vom Sonntag ausgegeben und ihm eins mit dem Knüppel versetzt. Aber, so dachte ich mir, selbst wenn er log, daß er der vom Sonntag sei, so ist es doch möglich, daß er später ist als ich, und wenn er später ist, kann er sich an all das erinnern, was ich weiß, und somit weiß er schon, daß ich den vom Freitag belogen habe, also kann er mich auf die gleiche Art und Weise betrügen, weil das, was meine Kriegslist war, für ihn einfach nur eine Erinnerung ist, aus der er ungehindert Nutzen ziehen kann. Während ich noch schwankte, was zu tun sei, hatte er den Rest der Schokolade aufgegessen und war unter dem Bett hervorgekrochen.
  »Wenn du der vom Sonntag bist, wo steckt dann der Skaphander?« rief ich, von einem neuen Gedanken beseelt.
  »Gleich werde ich ihn haben«, sagte er ruhig, und plötzlich bemerkte ich in seinen Händen einen Knüppel… Vor meinen Augen zuckte ein Blitz auf, als wäre ein Dutzend Supernovas auf einmal explodiert, danach verlor ich das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, saß ich auf dem Fußboden im Bad. Jemand schlug an die Tür. Ich begann, meine blauen Flecken und Beulen zu verbinden, aber jener pochte noch immer. Es stellte sich heraus, daß das der vom Mittwoch war. Ich zeigte ihm nach einer Weile meinen zerbeulten Kopf, und er ging mit dem vom Donnerstag das Werkzeug holen, dann gab es ein Hin und Her, ein Zerren am Skaphander, schließlich hatte ich auch das irgendwie überlebt und kroch am Sonnabendabend unters Bett, um festzustellen, ob da im Koffer nicht ein Stück Schokolade sei. Als ich gerade die letzte Tafel aufaß, die ich unter den Hemden entdeckt hatte, zog mich jemand am Bein. Das war nun schon weiß Gott wer, aber auf alle Fälle schlug ich ihm mit dem Knüppel auf den Kopf, zog ihm den Skaphander aus und wollte ihn gerade anlegen, da geriet das Raumschiff in den nächsten Strudel.
  Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, war die Kajüte voller Menschen. Man konnte sich darin kaum bewegen. Wie es sich herausstellte, waren alle ich, von verschiedenen Tagen, Wochen, Monaten, und einer stammte angeblich sogar aus dem künftigen Jahr. Eine Anzahl Personen hatte Beulen und ein blaues Auge, und fünf der Anwesenden trugen einen Raumanzug. Doch anstatt sofort durch die Klappe zu gehen, um den Schaden zu beheben, begannen sie zu streiten, zu feilschen, zu diskutieren und zu zanken. Es ging darum, wer wen und wann geschlagen hatte. Die Lage war erstens dadurch kompliziert, daß nunmehr auch solche vom Vormittag und vom Nachmittag auftraten und ich fürchten mußte, daß, falls es so weiterginge, ich mich in Minuten- und SekundenTichys aufspalten würde; zweitens logen die meisten Anwesenden wie gedruckt, so daß ich wirklich bis heute noch nicht weiß, wen ich geschlagen habe und wer mich geschlagen hat, als sich jene Dreiecksgeschichte zwischen dem vom Donnerstag, vom Freitag und vom Mittwoch, die ich der Reihe nach gewesen war, ereignet hatte. Ich habe den Eindruck, daß ich dadurch, daß ich den vom Freitag selbst belogen hatte, indem ich mich für den vom Sonntag ausgab, eins mehr abbekommen habe, als es der Kalenderrechnung nach erforderlich gewesen wäre. Aber ich ziehe es vor, nicht mehr in Gedanken zu jenen unangenehmen Erinnerungen zurückzukehren, denn ein Mensch, der eine ganze Woche lang nichts anderes getan hat, als sich selbst zu schlagen, hat wenig Anlaß, stolz darauf zu sein.
  Die Zwistigkeiten gingen unterdessen weiter. Verzweiflung erfaßte einen beim Anblick solcher Untätigkeit und Zeitverschwendung, während das Raumschiff blindlings vor sich hin raste und immer wieder in kosmische Gravitationsstrudel geriet. Zu guter Letzt schlugen sich jene in Raumanzügen mit denen ohne Raumanzug, Ich versuchte, eine Ordnung in dieses nun schon völlige Chaos hineinzubringen. Schließlich glückte es mir, nach schier übermenschlichen Anstrengungen so etwas wie eine Versammlung zu organisieren, wobei der vom künftigen Jahr, gewissermaßen als der Älteste, durch Zuruf zum Vorsitzenden bestimmt wurde.
  Dann wählten wir noch eine Untersuchungskommission, einen Betreuungsausschuß und einen Ausschuß für freie Eingaben; vier vom künftigen Monat wurden mit dem Ordnungsdienst betraut. In der Zwischenzeit passierten wir jedoch einen negativen Strudel, der unsere Zahl bis auf die Hälfte herabminderte, so daß bei der einleitenden geheimen Abstimmung das Quorum fehlte und vor der Wahl der Kandidaten für die Reparatur der Steuerungsvorrichtung das Statut geändert werden mußte. Die Sternkarte kündigte das Nahen erneuter Strudel an, die bald die bisherigen Errungenschaften zunichte machten: Einmal verschwanden die bisherigen gewählten Kandidaten, dann wieder erschienen der vom Dienstag und der vom Freitag, Handtücher um den Kopf gewunden, und hoben ein widerliches Gezänk an. Nachdem wir einen besonders starken positiven Strudel durchmessen hatten, fanden wir in der Kajüte und im Gang kaum Platz, und vom Öffnen der Klappe konnte wegen der großen Enge keine Rede sein. Am schlimmsten war jedoch, daß die Ausmaße der zeitlichen Verschiebungen immer größer wurden, es erschienen bereits Grauhaarige, während man hier und da die kurzgeschorenen Köpfe von Kindern sehen konnte, aber natürlich war das alles ich selbst.
  Fürwahr, ich erinnere mich nicht mehr, ob ich noch immer der vom Sonntag war oder bereits der vom Montag. Übrigens hatte das ohnehin keine Bedeutung mehr. Die Kinder weinten, weil man sie im Gedränge drückte, und schrien nach der Mutter, der Vorsitzende – der Tichy aus dem künftigen Jahr – fluchte wie ein Kesselflicker, weil der vom Mittwoch, der auf der vergeblichen Suche nach Schokolade unters Bett gekrochen war, ihn ins Bein gebissen hatte, als der ihm auf den Finger getreten war. Ich sah, daß das alles schlimm enden würde, zumal sich hier und da schon graue Bärte zeigten. Zwischen dem 142. und dem 143. Strudel ließ ich eine Anwesenheitsliste herumreichen, aber da wurde offenkundig, daß viele der Anwesenden betrogen. Sie machten falsche Angaben zur Person. Gott allein mag wissen, weshalb; vielleicht hatte die herrschende Atmosphäre ihre Sinne getrübt. Der Lärm und das Getöse schwollen dermaßen an, daß man sich nur schreiend verständigen konnte. Plötzlich hatte einer der vorjährigen Ijons einen, wie es schien, glänzenden Einfall: Der Älteste von uns sollte die Geschichte seines Lebens erzählen. Dadurch würde geklärt werden, wer eigentlich die Steuerung zu reparieren habe, denn der Älteste barg in seiner vergangenen Erfahrung alle Gegenwärtigen aus den verschiedenen Monaten, Tagen und Jahren. Wir wandten uns also an einen silberhaarigen Greis, der leicht zitternd in einer Ecke das Mauerblümchen spielte. Er begann uns des langen und breiten von seinen Kindern und Enkeln zu erzählen und ging dann auf die kosmischen Reisen ein, von denen er während seines neunzigjährigen Lebens unzählige erlebt hatte. An diejenige, die gerade vonstatten ging und die für uns die einzig wichtige war, erinnerte sich der Greis infolge einer allgemeinen Sklerose und Erregung überhaupt nicht mehr, aber er war derart eingebildet, daß er das nicht zugeben wollte und stets ausweichend antwortete, wobei er sich auf seine Beziehungen zu höher gestellten Kreisen, auf seine Orden und auf seine Enkel berief, so daß wir ihn schließlich niederschrien und ihm Schweigen geboten. Die nächsten beiden Strudel dezimierten die Versammelten scheußlich. Nach dem dritten wurde es nicht nur lichter im Schiff, es waren auch alle ver schwunden, die einen Skaphander trugen. Nur ein leerer Raumanzug blieb zurück, den wir auf Grund der Entschließung einer Sonderkommission im Gang aufhängten; danach kehrten wir zu unseren Beratungen zurück. Nach einer erneuten Schlägerei um die Inbesitznahme dieser so wertvollen Kleidung kam wieder ein Strudel, und es wurde plötzlich leer. Ich saß auf dem Fußboden, mit geschwollenen Augen, in einer eigenartig geräumigen Kajüte, inmitten von zerschlagenen Einrichtungsgegenständen, Kleidungsfetzen und zerrissenen Büchern. Der Fußboden war mit Abstimmzetteln übersät. Die Sternkarte sagte mir, daß ich nunmehr die ganze Zone der Gravitationsstrudel durchquert hatte. Da ich nicht mehr mit einer Verdoppelung und somit auch nicht mit der Behebung des Schadens rechnen konnte, bemächtigten sich meiner Verzweiflung und Erstarrung. Als ich nach etwa einer Stunde einen Blick in den Gang warf, bemerkte ich erstaunt, daß der Skaphander fehlte. Da erinnerte ich mich wie durch einen Nebelschleier, daß bereits kurz vor dem letzten Strudel zwei Jungen heimlich in den Gang geschlichen waren. Sollten die beiden etwa zu zweit einen Skaphander angezogen haben? Wie elektrisiert stürzte ich zur Steuerung. Sie funktionierte! Somit hatten die Knirpse den Schaden behoben, während wir in unfruchtbaren Streit verstrickt waren. Ich nehme an, daß der eine seine Hände in die Ärmel und der andere in die Hosenbeine des Raumanzugs gesteckt hatte; auf diese Weise konnten sie die Schlüssel zum Festschrauben der Muttern auf beiden Seiten der Steuerung gleichzeitig halten. Den leeren Skaphander entdeckte ich in der Druckkammer, hinter der Klappe. Wie eine Reliquie trug ich ihn in das Innere des Schiffs, während ich im Herzen unsägliche Dankbarkeit für diese waghalsigen Jungen empfand, die ich vor so langer Zeit gewesen war. So endete dieses wohl eigenartigste meiner Abenteuer. Ich erreichte glücklich das Ziel meiner Reise dank der Intelligenz und dem Mut, die ich in Gestalt zweier Kinder offenbart hatte.
  Man erzählte sich später, ich hätte mir diese Geschichte ausgedacht, und die Boshafteren gingen so weit, mir anzudichten, ich hätte eine Schwäche für Alkohol, die ich auf der Erde sorgsam verheimlichte, der ich mich jedoch auf meinen langjährigen Weltraumreisen hemmungslos hingäbe. Gott allein weiß, was alles für Gerüchte hierüber verbreitet wurden – aber so sind nun mal die Menschen: Sie glauben eher den unwahrscheinlichsten Unfug als authentische Tatsachen, die ich mir hier darzulegen erlaubt habe.






ACHTE REISE




So war es nun doch geschehen. Ich war Delegierter der Erde bei der Organisation der Vereinten Planeten oder, genauer, Kandidat, obwohl auch das nicht ganz zutraf, denn die Vollversammlung sollte nicht meine Kandidatur, sondern die der gesamten Erdbevölkerung beraten.
  In meinem ganzen Leben hatte ich nicht solch ein Lampenfieber gehabt. Die ausgetrocknete Zunge schlug wie ein Pflock gegen die Zähne, und als ich aus dem Astrobus stieg und über den roten Teppich ging, wußte ich nicht, ob der so weich unter mir nachgab oder ob es meine Knie waren. Es war mit Ansprachen zu rechnen, und ich hätte nicht ein Wort hervorbringen können, die Kehle war mir wie ausgedorrt. Als ich vor Aufregung nun eine große leuchtende Maschine mit verchromtem Ausschank und kleinen Schlitzen für die Münzen erblickte, warf ich so schnell wie möglich eine hinein und hielt den Becher der Thermosflasche, den ich vorsorglich bei mir führte, unter den Hahn. Das war der erste interplanetare diplomatische Fauxpas der Menschheit auf dem Parkett der Milchstraße, denn der scheinbare Automat für Sodawasser erwies sich als der Stellvertreter des tarrakanischen Delegationsleiters in voller Gala. Zum Glück waren es gerade die Tarrakaner, die unsere Kandidatur auf der Vollversammlung befürworten wollten. Ich erfuhr das jedoch erst später, und so nahm ich den Umstand, daß jener hohe Diplomat mir die Schuhe bespie, für ein böses Zeichen, fälschlicherweise, denn das war nur eine aromatische Ausscheidung seiner Begrüßungsdrüsen. Ich begriff das, nachdem ich eine informativ-translative Tablette geschluckt hatte, die mir von einem wohlgesinnten Angestellten der OVP gereicht wurde. Sogleich verwandelten sich die klirrenden Laute ringsum in verständliche Worte und das Rechteck aus Aluminiumkegeln am Ende des Plüschteppichs in eine halbe Ehrenkompanie. Der zu meiner Begrüßung erschienene Tarrakaner, der mich bis dahin an einen sehr großen Striezel erinnert hatte, kam mir auf einmal wie ein alter Bekannter mit einem völlig durchschnittlichen Äußeren vor. Nur das Lampenfieber wich nicht. Ein kleiner Wagen rollte heran, der eigens zum Transport solch zweibeiniger Wesen wie ich konstruiert worden war. Der mich begleitende Tarrakaner zwängte sich unter großen Mühen hinein und sagte, während er an meiner Linken und zugleich an meiner Rechten Platz nahm: »Verehrter Erdbewohner, ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, daß eine geringfügige Komplikation im Ablauf eingetreten ist. Sie hängt damit zusammen, daß der eigentliche Vorsitzende unserer Delegation, der als Experte für Erdfragen am meisten dazu berufen wäre, Ihre Kandidatur auf die Tagesordnung zu bringen, leider gestern abend in die Hauptstadt zurückbeordert wurde und ich ihn vertreten soll. Ist Ihnen das Protokoll bekannt…?«
  »Nein… Ich hatte noch keine Gelegenheit, es einzusehen«, stammelte ich, während ich vergebens versuchte, es mir bequem zu machen, aber der Sitz war nicht ausreichend für die Bedürfnisse des menschlichen Körpers eingerichtet. Er war einfach eine Grube von fast einem halben Meter Tiefe, so daß ich bei Schlaglöchern mit den Knien gegen die Stirn stieß.
  »Nun, da ist nichts zu machen«, sagte der Tarrakaner. Sein faltiges, in kantigen Formen von metallischem Glanz zurechtgebügeltes Gewand, das ich vorher für einen Ausschank gehalten hatte, gab einen leisen Ton von sich, indes er selbst sich räusperte und in seiner Rede fortfuhr: »Eure Geschichte ist mir bekannt. Was für eine herrliche Sache, die Menschheit! Freilich, alles zu wissen gehört zu meinen Pflichten. Unsere Delegation wird zum Punkt dreiundachtzig der Tagesordnung sprechen und vorschlagen, euch als vollberechtigtes, ordentliches Mitglied der Organisation aufzunehmen… Das Beglaubigungsschreiben haben Sie doch nicht etwa verloren?« warf er so überraschend ein, daß ich erbebte und heftig verneinte. Ich hielt die Pergamentrolle, die vom Schweiß schon etwas durchweicht war, fest mit meiner Rechten umklammert.
  »Gut«, hob er von neuem an, »ich werde also, nicht wahr, eine Rede halten und eure großen Errungenschaften darlegen, dank denen ihr berufen seid, einen Platz in der Sternenliga einzunehmen… Das ist, müssen Sie verstehen, eine altmodische Formalität. Ihr rechnet doch nicht etwa mit oppositionellen Auftritten, wie?«
  »Nein… Ich glaube kaum«, versetzte ich leichthin.
  »Natürlich! Woher auch! Also eine Formalität, nicht wahr, dennoch benötige ich gewisse Angaben. Fakten, Einzelheiten, verstehen Sie? Verfügt ihr über die Atomenergie?«
  »Selbstverständlich!« versicherte ich eilfertig.
  »Wunderbar. Richtig, das habe ich ja hier. Der Vorsitzende hat mir seine Notizen dagelassen, aber seine Schrift, na ja, also, wie lange verfügt ihr schon über diese Energie?«
  »Seit dem 6. August 1945!«
  »Ausgezeichnet. Was war das? Die erste Atomkraftstation?«
  »Nein«, erwiderte ich; ich spürte, wie ich rot wurde. »Es war die erste Atombombe. Sie zerstörte Hiroschima…«
  »Hiroschima? Etwa einen Meteor?«
  »Keinen Meteor… Eine Stadt.«
  »Eine Stadt…«, sagte er mit einer gewissen Unruhe. »Wie soll man das sagen…« Er sann eine Weile nach. »Besser, gar nichts sagen«, entschied er plötzlich. »Nun gut, aber gewisse positive Seiten muß ich unbedingt anführen. Bitte nennen Sie etwas, rasch, gleich sind wir da.«
  »Äh… äh… die kosmischen Flüge«, begann ich.
  »Die verstehen sich von selbst, sonst wären Sie nicht hier«, erklärte er, etwas zu schnippisch, wie ich meinte. »Wofür verwendet ihr den größten Teil eures Nationaleinkommens? Na, bitte erinnern Sie sich, vielleicht irgendwelche gewaltigen Produktionsanlagen, Architektur im kosmischen Maßstab, Startrampen auf Sonnenschwerkraftbasis, wie?« suggerierte er mir hastig.
  »O ja, es wird gebaut, o ja…«, versetzte ich. »Das Nationaleinkommen ist nicht allzu hoch, viel verschlingt die Rüstung…«
  »Was rüstet ihr denn aus? Kontinente? Gegen Erdbeben?«
  »Nein… Soldaten… Ganze Armeen…«
  »Was ist das? Ein Hobby?«
  »Kein Hobby… Innere Konflikte«, stammelte ich.
  »Das ist keine Empfehlung«, sagte er mit sichtlichem Unbehagen. »Aber Sie sind doch nicht schnurstracks aus einer Höhle hierhergekommen! Eure Gelehrten müßten doch längst berechnet haben, daß eine planetarische Zusammenarbeit stets nutzbringender ist als ein Kampf um Beute und um Hegemonie!«
  »Sie haben es, sie haben es, aber es gibt Ursachen… historischer Natur zum Beispiel.«
  »Lassen wir das!« sagte er. »Ich habe euch doch hier nicht als Angeklagte zu verteidigen, sondern euch zu empfehlen, eure Verdienste aufzuzählen und eure Tugenden. Verstehen Sie mich?«
  »Ich verstehe.«
  Meine Zunge war so steif, als wäre sie eingefrostet, der Kragen des Frackhemds würgte, der Brustlatz wurde weich vom Schweiß, der in Strömen floß, ich blieb mit den Beglaubigungsschreiben an den Orden hängen und riß den obersten Bogen ein. Der Tarrakaner, in Gedanken schon mit anderen Dingen beschäftigt, wurde ungeduldig; er versetzte in herrisch-verächtlichem Ton, jedoch mit unerwarteter Ruhe und Sanftmut (ein ausgefuchster Diplomat!): »Dann werde ich lieber von eurer Kultur sprechen. Von euren großen Errungenschaften auf diesem Gebiet. Ihr besitzt doch eine Kultur?« fragte er unvermittelt.
  »O ja, wir haben eine! Wunderbar!« versicherte ich.
  »Das ist gut. Kunst?«
  »O ja! Musik, Poesie, Architektur…«
  »Also doch Architektur!« rief er. »Vortrefflich. Das muß ich mir notieren. Explosive Mittel?«
»Wieso explosive?«
  »Na, schöpferische Explosionen, gesteuerte, zur Klimaregelung, zum Verschieben von Kontinenten, von Flußbetten – habt ihr das?«
  »Vorläufig nur Bomben…«, sagte ich und fügte flüsternd hinzu: »Aber unterschiedliche, Napalmbomben, Phosphorbomben, sogar mit Giftgas…«
  »Das meinte ich nicht«, sagte er trocken. »Ich werde mich schon lieber an das geistige Leben halten. Woran glaubt ihr?«
  Dieser Tarrakaner, der uns empfehlen sollte, war, wie ich bereits bemerkt hatte, kein Experte in irdischen Fragen, und der Gedanke, daß ein Wesen von derartiger Ignoranz in Kürze durch seinen Auftritt über unser Sein oder Nichtsein im Forum der ganzen Milchstraße entscheiden sollte, benahm mir, offen gesagt, den Atem. Was für ein Pech, sagte ich mir, daß sie ausgerechnet den richtigen, den einen Erdexperten abberufen haben!
  »Wir glauben an die allgemeine Brüderlichkeit, an den Vorrang von Frieden und Zusammenarbeit gegenüber Krieg und Haß, wir glauben, daß der Mensch das Maß aller Dinge sein muß…«
  Er legte seine schwere Lehnte auf mein Knie. »Warum der Mensch?« sagte er. »Übrigens ist das nicht so wichtig. Aber Ihre Aufzählung ist negativ: kein Krieg, kein Haß… Um der Milchstraße willen, habt ihr denn keine positiven Ideale?«
  Mir wurde heiß. »Wir glauben an den Fortschritt, an ein besseres Morgen, an die Macht der Wissenschaft…«
  »Endlich etwas!« rief er aus. »Jawohl, die Wissenschaft… Das ist gut, das kann ich gebrauchen. Für welche Wissenschaften gebt ihr am meisten aus?«
  »Für die Physik«, erwiderte ich. »Für die Atomenergieforschung.«
  »Nun weiß ich Bescheid. Wissen Sie was? Sie brauchen nur zu schweigen. Ich werde mich schon der Sache annehmen und die Rede halten. Bitte überlassen Sie alles mir. Nur Mut!« In diesem Augenblick hielt unser Gefährt vor einem Gebäude. Mir drehte sich alles im Kopf. Ich wurde durch kristallene Gänge geführt, unsichtbare Schranken glitten mit melodischem Seufzen auseinander, dann raste ich hinunter, hinauf, wieder hinunter, der Tarrakaner stand neben mir, riesenhaft, schweigend, in welliges Metall gehüllt. Plötzlich erstarrte alles, ein glasiger Ballon blähte sich vor mir auf und platzte. Ich stand auf dem Boden des Sitzungssaals der Generalversammlung. Das Amphitheater verbreiterte sich trichterförmig, lief nach oben in Kreisen von Rundbänken, untadelig, geradezu silbrig weiß. Die Silhouetten der Delegierten, durch die Entfernung stark verkleinert, betupften das Weiß der spiralenförmig übereinanderhängenden Bänke mit Smaragdgrün, Gold und Purpur und funkelten mit Myriaden geheimnisvoller Pünktchen. Ich verstand es noch nicht, auf Anhieb die Augen von den Orden, die Glieder von ihren künstlichen Verlängerungen zu unterscheiden, ich sah nur, daß sie sich lebhaft bewegten, einander Aktenstöße über die schneeweißen Pulte zuschoben, irgendwelche schwarz glänzende Täfelchen, die aus Anthrazit zu sein schienen. Mir gegenüber, vielleicht fünfzig Schritt entfernt, ruhte auf einer Erhöhung, von den Mauern elektronischer Maschinen flankiert, der Vorsitzende, umgeben von einem Wald von Mikrophonen. Durch die Luft schwirrten Gesprächsfetzen in tausend Sprachen auf einmal, vom tiefsten Baß bis hinauf zu Tönen, hoch wie Vogelgezwitscher. Mit einem Gefühl, als öffne sich der Boden unter mir, zupfte ich meinen Frack zurecht. Ein durchdringender, nicht enden wollender Laut ertönte: Der Vorsitzende hatte eine Maschine in Gang gesetzt, die mit einem Hammer auf eine Tafel aus purem Gold schlug; das metallische Zittern bohrte sich in die Ohren. Der Tarrakaner, der mich überragte, zeigte mir die richtige Bank. Schon floß die Stimme des Vorsitzenden aus unsichtbaren Lautsprechern, ich indes suchte, bevor ich hinter dem rechteckigen Schild mit der Bezeichnung des Heimatplaneten Platz nahm, wenigstens nach einer verwandten Seele, nach einem menschenähnlichen Wesen. Mein Blick glitt die Bänke hinauf und hinunter – vergebens. Riesige, in warmen Tönen prangende Knollen, Wicklungen wie aus Johannisbeergelee, fleischige, sich auf die Pulte stüt zende Stengel, Gesichter von der Farbe gut gewürzter Pasteten oder hell glänzend wie überbackener Apfelreis. Flechten, Lehnten, Greifarme, die das Schicksal der nahen und der fernen Gestirne lenkten, glitten wie ein Film im Zeitlupentempo an mir vorüber, in ihnen war nichts Ungeheuerliches, sie erweckten entgegen der so häufig auf der Erde geäußerten Annahme keinen Abscheu, so als hätte ich es hier nicht mit Sternungeheuern zu tun gehabt, sondern mit Wesen, die unter dem Meißel abstrakter Bildhauer oder auch aus den Händen irgendwelcher Visionäre der Gastronomie hervorgegangen waren.
  »Punkt zweiundachtzig«, zischte mir der Tarrakaner ins Ohr und setzte sich. Ich tat das gleiche. Ich hob den Hörer, der auf dem Pult lag, ans Ohr und vernahm:
  »Die Vorrichtungen, die gemäß dem von dieser Hohen Versammlung ratifizierten Vertrag und entsprechend den genauen Regelungen dieses Vertrages durch das Altairische Gemeinwesen an die Sechservereinigung von Fomalhaut geliefert wurden, weisen, wie das Protokoll des Sonderunterausschusses der OVP feststellte, Eigenschaften auf, die nicht das Ergebnis geringfügiger Abweichungen von der technologischen Rezeptur, welche von den hohen vertragschließenden Seiten gutgeheißen wurde, sein können. Obschon, wie das Altairische Gemeinwesen mit Recht behauptete, die von ihm produzierten Strahlungsabsäer und Planetoreduktoren die Fähigkeit zur Reproduktion haben sollten, was – wie die Zahlungsvereinbarung der beiden hohen vertragschließenden Seiten vorsieht – die Entstehung einer maschinellen Nachkommenschaft gewährleistet, so sollte sich dennoch diese Potenz gemäß der für die gesamte Vereinigung verbindlichen Ingenieursethik manifestieren – in der Form einer singulären Knospung – und sich nicht aus der Ausrüstung der erwähnten Vorrichtungen mit Programmen von gegensätzlichen Zeichen ergeben, was leider erfolgt ist. Eine solche Duplizität der Programme führte zur Entstehung von sexuellen Antagonismen im Bereich der energetischen Hauptsysteme von Fomalhaut und im Gefolge zu Szenen, die gegen die öffentliche Moral verstießen und auch der klagenden Seite erhebliche ma terielle Verluste brachten. Statt sich der Arbeit zu widmen, für die sie bestimmt waren, verbrachten die gelieferten Aggregate einen Teil ihrer Schichten mit der Zuchtwahl, wobei ihr ständiges auf einen rekreativen Akt gerichtetes Umherrennen mit den Steckern zur Verletzung der Panundischen Statuten und zu einer Maschinenüberproduktion führte. Dabei ist die verklagte Seite für beide bedauerliche Erscheinungen verantwortlich. Wir erklären also die Verschuldung Altairiens für annulliert.«
  Ich hatte derartige Kopfschmerzen, daß ich den Hörer weglegte. Was, zum Kuckuck, gingen mich die Verstöße der Maschinen gegen die öffentliche Moral an, was Altairien, Fomalhaut und der ganze Rest! Ich hatte genug von der OVP, noch bevor ich ihr Mitglied geworden war. Mir war übel. Warum hatte ich nur auf Professor Tarantoga gehört? Wozu brauchte ich die schreckliche Würde, derentwegen ich mich hier für fremde Sünden in Grund und Boden schämen mußte? Sollte nicht vielmehr…
  Ein unsichtbarer Strom durchfuhr mich: Auf der gewaltigen Tafel flammte die Zahl 83 auf. Ich spürte einen energischen Knuff. Das war mein Tarrakaner, der sich aufgerafft hatte und mich hinter sich herzog. Die Jupiterscheinwerfer, die unter dem Gewölbe des Saales schwammen, richteten eine Sturmflut blauen Lichts auf uns. Von allen Seiten mit einer Helligkeit übergossen, die mich förmlich zu durchleuchten schien, umklammerte ich halb abwesend die nun völlig durchweichte Rolle des Beglaubigungsschreibens und vernahm an meiner Seite den Tarrakaner, der ungezwungen und mit großer Beredsamkeit sprach; sein machtvoller Baß dröhnte durch das ganze Amphitheater, aber der Inhalt seiner Rede erreichte mich nur in Fetzen, wie im Sturm der Meeresschaum, der einen über den Wellenbrecher gebeugten Wagehals bespritzt.
  »… die vortreffliche Erdue… (er konnte nicht einmal den Namen meiner Heimat richtig aussprechen!)… herrliche Menschheit… ein hervorragender Vertreter ist hier anwesend… elegante, sympathische Säuger… Atomenergie, befreit mit hoher Meisterschaft und vielem Geschick vermittels ihrer oberen Gliedmaßen… tief verwurzelter Glaube an Planzymolie, obwohl nicht frei von Amphibrunten… (ganz offensichtlich verwechselte er uns mit anderen)… der Sache der Einheit der Sternenvölker ergeben… in der Hoffnung, daß ihre Aufnahme in den Kreis… die Periode der geschlechtlichen gesellschaftlichen Existenz abschließend… obwohl recht einsam an ihrer galaktischen Peripherie… sind sie mutig und selbständig gewachsen, sind sie würdig…«
  Bisher trotz allem ganz brauchbar, durchfuhr es mich. Er lobt uns, sieht gar nicht so schlecht aus… Doch was war das?
  »Gewiß, sie sind paarig! Ihren steifen Unterbau… Man muß begreifen… In dieser hohen Versammlung haben auch Ausnahmen von der Norm und der Regel das Recht auf Repräsentation… keine Verirrung schändet… schwere Bedingungen, die sie geformt haben… Wasserhaftigkeit, selbst gesalzene, kann nicht, sollte kein Hindernis sein… mit unserer Hilfe werden sie sich von ihrem schreck… ihrem gegenwärtigen Aussehen befreien, über das die Hohe Versammlung mit der ihr eigenen Großzügigkeit zur Tagesordnung übergehen möge… Deshalb stelle ich im Namen der tarrakanischen Delegation und des Bundes der Betelgeuzesterne hiermit den Antrag, die Menschheit vom Planeten Urde in die Reihen der OVP aufzunehmen und somit auch dem hier anwesenden edlen Uerdebewohner die vollen Rechte eines bei der Organisation der Vereinten Planeten akkreditierten Delegierten zu gewähren. Ich habe gesprochen.«
  Mächtiger Lärm erscholl, unterbrochen von rätselhaften Pfiffen. Händeklatschen gab es nicht. Da Hände fehlten, konnte es das auch nicht geben. Der Lärm und das Sprachengewirr hörten auf, als der Gong ertönte, die Stimme des Vorsitzenden war zu vernehmen: »Beabsichtigt eine der Hohen Delegationen das Wort in der Frage der Aufnahme der Menschheit vom Planeten Erdue zu ergreifen?«
  Der strahlende Tarrakaner, der offenbar mit sich überaus zufrieden war, zog mich auf die Bank. Ich setzte mich und brummte undeutlich ein paar Dankesworte an seine Adresse, als zwei grüne Strahlen von verschiedenen Stellen des Amphitheaters hochschossen.
  »Ich erteile dem Vertreter Thubans das Wort!« sagte der Vorsitzende. Etwas erhob sich.
  »Hoher Rat!« Ich vernahm eine ferne, durchdringende Stimme, ähnlich dem Geräusch beim Schneiden von Blech, doch bald achtete ich nicht mehr auf das Timbre. »Wir haben hier aus dem Munde des Polpitors Voretex eine warme Empfehlung des Geschlechts eines fernen Planeten vernommen, der bisher den Anwesenden unbekannt war. Ich möchte mein Bedauern ausdrücken, daß wir durch das unverhoffte Fernbleiben des Sulpitors Extrevor von dieser Sitzung der Möglichkeit beraubt sind, uns mit der Geschichte, mit den Sitten und Gebräuchen sowie mit der Natur dieses Geschlechts bekannt zu machen, dessen Mitgliedschaft in der OVP Tarrakanien so sehr befürwortet. Obwohl ich kein Fachmann auf dem Gebiet der kosmischen Terratologie bin, möchte ich doch in dem Maße, wie es mir meine bescheidenen Kräfte erlauben, das ergänzen, was wir gerade zu hören das Vergnügen hatten. Zunächst darf ich nur so obenhin und beiläufig vermerken, daß der heimische Planet der Menschheit nicht Erdue, Urde oder Uerde heißt, wie das, nicht aus Unkenntnis versteht sich, sondern lediglich, wovon ich zutiefst überzeugt bin, aus seinem rednerischen Elan und Schwung heraus, mein vortrefflicher Vorredner gesagt hat. Das ist eine unwesentliche Einzelheit, gewiß. Jedoch auch jener Terminus ›Menschheit‹, dessen er sich bediente, ist der Sprache des Erdengeschlechts entnommen – Erde, so nämlich lautet die Bezeichnung jenes fernen provinziellen Planeten. Unsere Wissenschaften bezeichnen die Erdenbewohner etwas anders. Ich erlaube mir, in der Hoffnung, die Hohe Versammlung nicht zu langweilen, die vollständige Bezeichnung und Klassifizierung der Art, deren Mitgliedschaft in der OVP wir erwägen, zu zitieren, wobei ich mich eines ausgezeichneten Werkes von Spezialisten bediene, und zwar der Galaktischen Terratologie von Grammpluss und Gzeems.«
  Der Vertreter Thubans schlug auf seinem Pult ein gewaltiges Buch auf – die Stelle war besonders gekennzeichnet – und begann zu lesen:
  »Entsprechend der gültigen Systematik umfaßt der Typ Aberrantia (Abseitige) die in unserer Galaxis anomalen Formen. Der Typ unterteilt sich in die Untertypen Debilitales (Blödiane) sowie Antisapientinales (Vernunftwidrige). Zu letzterem Untertyp gehören die Gruppen Canaliacaea (Scheußler) und Nekroludentia (Leichenspieler).
  Bei den Leichenspielern unterscheiden wir wiederum die Gattung Patricidiaceae (Vatermörder), Matriphagideae (Mutterfresser) und Lasciviaceae (Ekelgeiler oder kurz: Geiler). Die Ekelgeiler, bereits völlig entartete Formen, klassifizieren wir, indem wir sie in Cretininae (Stumpfmäuler, z.B. Cadaverium Mordans, Leichenbiß-Narrkopf) und Horrorissimae (Unheuer, mit dem klassischen Vertreter in Gestalt des Trübsinnhabachters, Idiontus Erectus Gzeemi) teilen. Einige der Unheuer bilden eigene Pseudokulturen; hierher gehören solche Arten wie Anophilus Belligerens, der Hinterlieb-Schlachter, der sich selbst Genius Pulcherrimus Mundanus nennt, oder wie jenes eigenartige, am ganzen Leib kahle Exemplar, das von Grammpluss im dunkelsten Winkel unserer Galaxis beobachtet wurde – Monstroteratus Furiosus (Gräßel-Wüterich), der sich selbst Homo Sapiens nennt.«
  Im Saal erhob sich ein gewaltiger Lärm. Der Vorsitzende setzte die Maschine mit dem Hammer in Gang.
  »Nicht unterkriegen lassen!« zischte der Tarrakaner mir zu. Ich sah ihn nicht, wegen des starken Scheins der Jupiterlampen, vielleicht auch, weil mir der Schweiß den Blick trübte. Eine schwache Hoffnung kam in mir auf, denn jemand verlangte in einer formalen Frage das Wort. Nachdem er sich den Versammelten als Mitglied der Delegation des Wassermanns und zugleich als Astrozoologe vorgestellt hatte, begann er mit dem Thubaner ein Streitgespräch. Leider nur insofern, als er – ein Anhänger der Schule Professor Hagranaps’ – die dargelegte Klassifizierung für ungenau hielt. Er unterschied nämlich, seinem Meister folgend, eine besondere Ord nung Degeneratores, zu der die Vielfraße, die Wenigschlucker, die Leichenkneifer und die Totenkoser gehörten. Die Bezeichnung »Monstroteratus« hielt er, auf den Menschen angewandt, für falsch; man solle sich lieber der Nomenklatur der Wassermannschule bedienen, die konsequent den Terminus Künstel-Schrecker (Artefactum Abhorrens) benutze. Nach einem kurzen Meinungsaustausch fuhr der Thubaner in seiner Ansprache fort:
  »Der ehrbare Vertreter Tarrakaniens, der uns die Kandidatur des sogenannten vernunftbegabten Menschen oder – um exakter zu sein – des Wüterich-Schreckers, eines typischen Vertreters der Leichenspieler, empfahl, hat in seiner Rekommandation nicht das Wort ›Eiweiß‹ erwähnt, das er für unanständig hält. Gewiß weckt es Assoziationen, über die mich auszulassen der Anstand verbietet. Freilich, der Besitz SELBST eines solchen körperlichen Bauelements schändet nicht. (Rufe: »Hört! Hört!«) Nicht um das Eiweiß geht es. Auch nicht darum, daß man sich, obwohl ein rasender Leichenspieler, mit der Bezeichnung vernunftbegabter Mensch bedenkt. Das ist schließlich eine Schwäche, die man begreifen, obschon nicht verzeihen kann, eine Schwäche, die von Eigenliebe diktiert ist. Nicht darum geht es, Hohe Ratschaft!«
  Meine Aufmerksamkeit ließ immer wieder nach, sie schwand wie das Bewußtsein eines in Ohnmacht Fallenden – nur Fetzen erreichten mich.
  »Selbst die Fleischfresserei ist niemandes Schuld, da sie sich im Gefolge einer natürlichen Evolution ergab. Immerhin sind die Unterschiede, die den sogenannten Menschen von seinen tierischen Verwandten trennen, nahezu gleich Null. Ähnlich, wie eine an Wuchs HÖHERE Person nicht annehmen darf, daß diese Überlegenheit ihr das Recht gibt, die an Wuchs NIEDRIGEREN zu fressen, so darf auch der mit etwas HÖHEREM Verstand Begabte nicht morden und fressen, und wenn er das schon tun muß (Rufe: »Er muß nicht! Soll er Spinat essen!«) – wenn er, sage ich, das MUSS, auf Grund einer tragischen erblichen Belastung, dann sollte er die blutigen Opfer in Angst, im geheimen, in seinen Erdlöchern und in den dunkelsten Winkeln der Höhlen verschlingen, gequält von Gewissensbissen und von Verzweiflung und in der Hoffnung, daß es ihm einst gelingen werde, sich von der Last dieser unaufhörlichen Morde zu befreien. Leider verhält sich Gräßel-Wüterich nicht so. Er entehrt die sterblichen Reste, er würgt sie und kugelt sie, er spielt mit ihnen, und erst später verschlingt er sie bei öffentlichen Fütterungen, inmitten von herumhüpfenden entblößten Weibchen seiner Art, weil das seinen Appetit auf die Verstorbenen steigert, aber die Notwendigkeit, diesem Zustand abzuhelfen, der nachgerade zur gesamten Milchstraße schreit, kommt ihm nicht einmal in seinen halbflüssigen Kopf. Im Gegenteil, er hat sich höhere Rechtfertigungen geschaffen, die zwischen seinem Magen, dieser Gruft ungezählter Opfer, und der Unendlichkeit gelagert sind und ihn befähigen, mit erhobener Stirn zu morden. Nur soviel, um der Hohen Versammlung nicht die Zeit zu rauben, zur Beschäftigung und zu den Bräuchen des sogenannten vernunftbegabten Menschen. Unter seinen Vorfahren schien einer gewisse Hoffnungen aufkommen zu lassen. Das war die Gattung homo neandertalensis. Es lohnt, sich mit ihm zu befassen. Dem heutigen Menschen ähnlich, hatte er ein größeres Schädelvolumen und somit auch ein größeres Hirn. Ein Pilzsammler, zur Meditation neigend, verliebt in die Künste, sanft, phlegmatisch, verdiente er zweifellos, daß seine Mitgliedschaft in dieser Hohen Organisation heute erwogen würde. Leider weilt er nicht mehr unter den Lebenden. Möchte nicht der Delegierte der Erde, den als Gast zu begrüßen wir hier die Ehre haben, uns sagen, was aus dem so kulturbeflissenen sympathischen Neandertaler geworden ist? Er schweigt, somit werde ich für ihn antworten: Er wurde restlos ausgerottet, weggewischt von der Oberfläche der Erde durch den sogenannten homo sapiens. Die Niedertracht des Brudermordes genügte noch nicht, denn die irdischen Wissenschaftler gingen daran, das vernichtete Opfer anzuschwärzen, indem sie sich selbst und nicht ihm – dem Großhirnigen – den größeren Verstand zuschrieben. Nun weilt unter uns, in diesem ehrwürdigen Saal, in diesen erhabenen Wänden, der Repräsentant der Leichenfresser, einfallsreich, wenn es um mörderische Freuden geht, ein sinnreicher Ar chitekt von Vernichtungsmitteln, dessen Äußeres zugleich Lachen und Schaudern hervorruft, das wir kaum unterdrücken können, ja, dort, auf der bisher unbefleckten weißen Bank, sehen wir ein Wesen, das nicht einmal den Mut eines konsequenten Verbrechers besitzt, denn es versieht die mit den Spuren seiner Morde gekennzeichnete Karriere ununterbrochen mit der Schönheit falscher Namen, deren schreckliche, wahrhaftige Bedeutung jeder objektive Erforscher der Sternenrassen zu entschlüsseln vermag. So, Hohe Ratschaft…«
  Eigentlich drangen aus dieser zweistündigen Rede nur Bruchstücke zu mir, aber die genügten vollauf. Der Thubaner malte das Bild von Ungeheuern, die sich im Blute wälzen, und er tat das ohne Eile, indem er systematisch immer neue, auf dem Pult eigens zurechtgelegte gelehrte Bücher, Annalen, Chroniken aufschlug und die bereits benutzten auf den Boden schleuderte, als werde er plötzlich von Abscheu gegen sie gepackt, als klebten selbst die Blätter, die uns beschrieben, von dem Blut der Opfer zusammen. Nun ging er zu unserer zivilisierten Geschichte über: Er erzählte von Massakern, Pogromen, Kriegen, Kreuzzügen, Massenmorden, er stellte auf Tafeln und mit einem Epidiaskop die Technologien der Verbrechen und die altertümlichen und mittelalterlichen Torturen dar, und als er zur Gegenwart überging, rollten ihm sechzehn Diener auf Handwagen, die sich unter der Last bogen, Stöße neuen Faktenmaterials heran. Andere Bedienstete, die Sanitäter der OVP, leisteten unterdessen aus kleinen Hubschraubern den Scharen ermatteter Zuhörer dieses Referats Erste Hilfe, wobei sie nur mich ausließen, in der einfältigen Annahme, die Sintflut blutiger Informationen über die irdische Kultur schade mir nicht im geringsten. Und doch begann ich etwa in der Mitte dieser Ansprache, wie an der Grenze eines Wahns, mich vor mir selbst zu fürchten, als sei ich in der Menge der Maskarone und sonstiger sonderbarer Wesen, die mich umgaben, das einzige Ungeheuer. Ich dachte schon, diese schreckliche Anklagerede werde nie mehr enden, da fielen die Worte: »Und nun mag die Hohe Versammlung zur Ab stimmung über den Antrag der tarrakanischen Delegation schreiten!«
  Der Saal erstarrte in tödlichem Schweigen, bis sich plötzlich neben mir etwas regte. Das war der Tarrakaner, der aufgestanden war, um wenigstens einige der Vorwürfe zu entkräften. Der Unselige! Er stürzte mich vollends ins Unglück, als er der Versammlung zu versichern suchte, daß die Menschheit die Neandertaler als ehrwürdige Ahnen betrachte, die ganz von selbst umgekommen seien. Der Thubaner nagelte sogleich meinen Verteidiger mit einer treffenden, unmittelbar an mich gerichteten Frage fest: Ob es denn auf der Erde als ein Lob oder als ein beleidigendes Epitheton angesehen werde, wenn man jemanden einen Neandertaler nenne.
  Ich dachte, nun sei alles zu Ende, für immer verloren, glaubte, mich sogleich zurück zur Erde begeben zu müssen, wie ein Hund, den man in die Hütte jagt, weil man ihm einen erwürgten Vogel aus den Zähnen gerissen hat. Da hörte ich in dem schwachen Gemurmel des Saals den Vorsitzenden, der sich zum Mikrophon neigte, sagen: »Ich erteile dem Vertreter der eridanischen Delegation das Wort.«
  Der Eridaner war klein, silbrigweiß und prall wie ein Nebelballen, der von einem schrägen Strahl der winterlichen Sonne getroffen wird.
  »Ich möchte fragen«, sagte er, »wer denn die Aufnahmegebühr der Erdbewohner bezahlen wird. Sie selbst? Immerhin ist sie nicht unbeträchtlich – eine Billion Tonnen Platin ist eine Last, der nicht jeder gewachsen ist.«
  Das Amphitheater füllte sich mit ärgerlichem Stimmengewirr.
  »Die Frage wird erst akut, wenn der Antrag der tarrakanischen Delegation angenommen ist!« sagte nach einigem Zögern der Vorsitzende.
  »Mit Verlaub, Euer Galaktizität!« erwiderte der Eridaner. »Ich wage es, anderer Meinung zu sein, und möchte deshalb die Frage, die ich gestellt habe, mit einigen Bemerkungen stützen, die meines Erachtens sehr wesentlich sind. Ich habe hier, zunächst, das Werk eines ausgezeichneten doradischen Planetographen, des Hyperdoktors Wragras, ich zitiere daraus: ›…Planeten, denen das Leben nicht spontan entstehen kann, zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: a) durch katastrophale Änderungen des Klimas in rasch wechselndem Rhythmus (dem sogenannten Zyklus »Winter – Frühling – Sommer – Herbst«) sowie durch noch bedrohlichere Änderungen in längeren Zeitabschnitten (den Eiszeiten); b) durch das Vorhandensein großer Monde; ihre Gezeiteneinflüsse haben ebenfalls lebenstötenden Charakter; c) durch die häufig auftretende Fleckigkeit des Zentralgestirns, des Muttersterns; die Flecke sind die Quelle einer lebenstötenden Strahlung; d) durch ein Übergewicht der Wasseroberfläche über die Fläche der Kontinente; e) durch die Beständigkeit der Polvereisung; f) durch das Auftreten von Niederschlägen in flüssigem und festem Aggregatzustand…‹ Wie man daraus ersieht…«
  »Ich bitte ums Wort in einer formalen Frage!« fuhr mein Tarrakaner hoch, von neuer Hoffnung belebt. »Ich möchte wissen, ob die Delegation Eridans für unseren Antrag oder gegen ihn stimmen wird.«
  »Wir werden für den Antrag stimmen, mit einem Zusatzantrag jedoch, den ich der Hohen Versammlung vorlegen werde«, antwortete der Eridaner und kehrte zu seinem Thema zurück. »Ehrenwerte Ratschaft! Auf der 918. Sitzung der Vollversammlung hatten wir den Antrag auf Mitgliedschaft der Rasse der hinterköpfigen Ekelgeiler behandelt, die sich als ›ewig Vollkommene‹ vorstellten, obschon sie körperlich so unbeständig waren, daß sich die Zusammensetzung der Delegation der Ekelgeiler während dieser Zeit fünfzehnmal änderte, obwohl die Sitzung nicht länger als achthundert Jahre dauerte. Diese Unglückseligen verwickelten sich in Widersprüche, als es dazu kam, den Lebenslauf der Rasse zu schildern, indem sie der Hohen Versammlung in ebenso unverbindlicher wie feierlicher Weise versicherten, sie habe ein gewisser Vollkommener Schöpfer nach eigenem Vorbild geschaffen, weshalb sie denn auch unter anderem im Geiste unsterblich seien. Da es sich aus anderem Grund herausstellte, daß ihr Planet den bione gativen Bedingungen des Hyperdoktors Wragras entsprach, bildete die Vollversammlung eine besondere Untersuchungskommission. Die stellte fest, daß die inkriminierte vernunftwidrige Rasse nicht infolge einer Laune der Natur, sondern auf Grund eines bedauernswerten, durch dritte Personen hervorgerufenen Zufalls entstanden war.«
  (»Was redet er! Aufhören! Lüge! Nimm die Lehnte weg, du Ekelgeiler!« hallten die Rufe immer stürmischer durch den Saal.)
  »Die Untersuchungen der Kommission«, fuhr der Eridaner fort, »führten dazu, daß auf der nächsten Sitzung der OVP eine Ergänzung zu Punkt zwei der Charta der Vereinten Planeten angenommen wurde; diese Ergänzung lautet wie folgt (hier entfaltete er ein klafterlanges Pergament und hob zu lesen an): ›Im folgenden wird ein kategorisches Verbot für alle lebenszeugenden Aktionen auf sämtlichen Planeten des Typs Wragras A, B, C, D sowie E erlassen. Gleichzeitig wird den Leitungen von Forschungsexpeditionen und den Kommandos von Raumschiffen, die auf solchen Planeten landen, die Pflicht auferlegt, das obige Verbot strengstens zu befolgen. Es umfaßt nicht nur absichtliche lebenszeugende Praktiken, wie das Aussäen von Moosen, Bakterien und ähnlichem, sondern auch das unbeabsichtigte Einleiten von Bioevolutionen infolge Unachtsamkeiten oder Zerstreutheit. Diese antikonzeptionelle Prophylaxe ist durch den besten Willen und das beste Wissen der OVP diktiert, der folgende Fakten bekannt sind. Erstens – die natürliche Feindseligkeit des Milieus, in das die von außen mitgebrachten Urkeime des Lebens gepflanzt werden, bewirkt, daß im Verlaufe seiner weiteren Evolution Abseitigkeiten und Invaliditäten entstehen, denen man im Rahmen einer natürlichen Biogenese nie begegnet. Zweitens – unter den genannten Umständen entstehen nicht nur körperlich gebrechliche Gattungen, sondern auch solche, die mit den schwersten Formen geistiger Entartung belastet sind; wenn nun unter ähnlichen Bedingungen auch nur halbwegs vernünftige Wesen keimen, und das kommt zuweilen vor, so ist ihr Schicksal erfüllt von geistigen Qualen. Sobald sie nämlich die erste Bewußtseinsstufe erreicht haben, beginnen sie, in der Umgebung nach den Ursachen ihrer eigenen Entstehung zu forschen, und da sie diese dort nicht finden können, geraten sie auf die Irrwege von Glaubenslehren, geschaffen aus Verwirrung und Verzweiflung. Da ihnen der normale Verlauf der Entwicklungsprozesse im Kosmos fremd ist, halten sie ihre Körperlichkeit, wie mißgestaltet sie auch sein möge, und ihre Denkart für typisch, normal und im ganzen Weltall verbreitet. Dieserhalb und in tiefer Sorge um das Wohl und die Lebenswürde im allgemeinen und der vernünftigen Wesen im besonderen, beschließt die Generalversammlung der OVP, daß derjenige, der gegen den hiermit festgelegten antikonzeptionellen Paragraphen der OVP verstößt, Sanktionen und Strafen gemäß dem Interplanetaren Rechtskodex zu gewärtigen hat.‹«
  Der Eridaner legte die Charta der OVP beiseite und nahm den gewichtigen Band des Kodex zur Hand, den ihm die Helfer zwischen die Taster des Geärms gelegt hatten, schlug das gewaltige Buch an der richtigen Stelle auf und begann klangvoll zu lesen: »Band zwei des Interplanetaren Strafrechts, Absatz achtzig, betitelt ›Über planetarische Unzucht‹:
  ›Paragraph 212: Wer einen natürlich unfruchtbaren Planeten befruchtet, wird mit hundert bis fünfzehnhundert Jahren Verstirnung bestraft, unbeschadet der zivilen Verantwortlichkeit für die moralischen und materiellen Verluste des Geschädigten.
  Paragraph 213: Wer im Sinne des Paragraphen 212 schuldig wird und dabei erheblichen bösen Willen dokumentiert, indem er Manipulationen unzüchtigen Charakters mit Vorbedacht ausführt, deren Ergebnis eine Evolution von besonders entarteten Lebensformen sein soll, die allgemeinen Ekel oder allgemeines Entsetzen hervorrufen, wird mit fünfzehnhundert Jahren Verstirnung bestraft.
  Paragraph 214: Wer einen unfruchtbaren Planeten aus Nachlässigkeit, Zerstreutheit oder auch durch Nichtverwendung geeigneter antikonzeptioneller Mittel befruchtet, wird mit einer Strafe bis zu vierhundert Jahren Verstirnung bestraft; handelt er mit verminder ter Kenntnis der Folgen seiner Tat, kann die Strafe auf hundert Jahre herabgesetzt werden.‹
  Ich erwähne nicht die Strafen«, fügte der Eridaner hinzu, »die für ein Eingreifen in Evolutionsprozesse in statu nascendi angesetzt sind, denn das gehört nicht zu unserem Thema. Ich betone dagegen, daß der Kodex eine materielle Verantwortung der Täter gegenüber den Opfern planetarer Unzucht vorsieht. Die einschlägigen Abschnitte des Zivilkodex möchte ich nicht vorlesen, um die Mitglieder der Versammlung nicht zu langweilen. Ich füge lediglich hinzu, daß in dem Katalog der Körper, die als definitiv unfruchtbar im Sinne sowohl des Hyperdoktors Wragras als auch der Charta der Vereinten Planeten sowie des interplanetaren Strafrechts gelten, auf Seite 2618, achte Zeile von unten, die folgenden Himmelskörper figurieren: Uerdue, Uersde, Erde und Ersdue…«
  Mir sackte der Kiefer herunter, die Beglaubigungsschreiben glit
ten mir aus der Hand, mir wurde schwarz vor Augen. (»Achtung!« wurde im Saal gerufen. »Hört nur! Wen klagt er da an? Fort mit ihm! Er lebe hoch!«) Was mich betraf, so versuchte ich mich so gut wie möglich unter dem Pult zu verkriechen.
  »Hohe Ratschaft!« donnerte der Vertreter Eridans, wobei er die Bände des Interplanetaren Kodex auf den Fußboden des Amphitheaters schleuderte (offenbar war das ein in der OVP beliebter Rednertrick). »Nie genug über Dinge, die den Vergewaltigern der Charta der Vereinten Planeten zur Schande gereichen! Nie genug der Brandmarkung unverantwortlicher Elemente, die unter nichtswürdigen Bedingungen Leben erwecken!
  Da kommen Wesen zu uns, die weder das Abscheuliche ihrer Existenz noch deren Ursachen kennen. Da klopfen sie an die ehrwürdigen Türen dieser geschätzten Versammlung, und was können wir ihnen antworten, allen diesen Geilern, Unheuern, Gräßlern, Mutteressern, Leichenkosern, Tumben, die ratlos ihre Quasihände zusammenschlagen und sich kaum noch auf ihren Quasibeinen halten können, wenn sie erfahren, daß sie zum Pseudotyp ›Artefacta‹ gehören, daß ihr Schöpfer irgendein Raumschiffmatrose war, der auf die Felsen eines toten Planeten einen Eimer fermentierten Spülichts ausgoß und spaßeshalber jenen kläglichen Uranfängen des Lebens Eigenschaften verlieh, die sie später zum Gespött der gesamten Milchstraße werden ließen! Wie sollen sich denn die Unglückseligen verteidigen, wenn irgendein Cato ihnen ihre schändliche Eiweißlinksseitigkeit vorhält!« Im Saal siedete es, vergebens klopfte die Maschine pausenlos mit dem Hammer, es dröhnte rundum: »Schande! Hinweg! Sanktionen! Wen meint er? Seht, der Erdenbewohner löst sich schon auf, der Gräßel tropft am ganzen Leib!«
  In der Tat, mir rann der Schweiß in Strömen. Der Eridaner, dessen Stentorstimme den Lärm übertönte, rief: »Ich werde nun ein paar abschließende Fragen an die ehrenwerte tarrakonische Delegation richten. Stimmt es etwa nicht, daß seinerzeit auf dem damals toten Planeten Erde ein Schiff unter eurer Flagge gelandet ist, dem infolge eines Schadens an den Kühlschränken ein Teil der Vorräte verdorben war? Stimmt es etwa nicht, daß sich in jenem Raumschiff zwei Nichtstuer befanden, die später wegen ihrer schamlosen Machenschaften mit Geißlern aus allen Registern gestrichen wurden, und daß diese beiden Schurken, diese Milchstraßenräuber Gerr und Hott hießen? Stimmt es etwa nicht, daß Gerr und Hott in trunkenem Zustand beschlossen, sich nicht mit einer gewöhnlichen Verunreinigung des wehrlosen öden Planeten zufriedenzugeben, sondern in verbrecherischer und strafwürdiger Weise eine biologische Evolution zu arrangieren, wie sie die Welt bis dahin nicht gesehen hatte? Stimmt es etwa nicht, daß diese beiden Tarrakaner vorsätzlich, mit einem Höchstmaß an bösem Willen eine METHODE ersannen, aus der Erde eine Brutstätte von Sonderlingen im Maßstab der gesamten Milchstraße, einen kosmischen Zirkus, ein Panoptikum, ein Raritätenkabinett zu schaffen, dessen lebende Ausstellungsstücke zum Gespött der fernsten Nebelflecke werden sollten? Stimmt es etwa nicht, daß diese beiden Lästerer, bar jeden Gefühls, des Anstands und der ethischen Gebote, auf die Felsen der toten Erde sechs Fässer ranzig gewordenen Gelatinekleisters und zwei Kanister verdorbener Albuminpaste ausschütteten – daß sie zu dieser Schmiere fermentierte Ribose, Pentose und Lärulose dazuschütteten und, als genügten diese Scheußlichkeiten noch nicht, sie mit drei Gießkannen voll gegorener Aminosäuren begossen, wonach sie den entstandenen Brei mit einer Kohleschaufel, die nach links verbogen war, und einem Feuerhaken, der nach der gleichen Seite gekrümmt war, umrührten und kneteten, wodurch alle Eiweiße sämtlicher künftiger Lebewesen der Erde linksseitig wurden? Stimmt es etwa nicht, daß Hott, der damals an einem starken Schnupfen litt, von dem trunken taumelnden Gerr angestiftet, in vorsätzlicher Weise in den plasmatischen Teig hineinnieste und ihn mit boshaften Viren ansteckte, wobei er krächzte, daß er dadurch den ›Geist der Sakramente‹ in die unglückselige evolutive Hefe habe einströmen lassen? Stimmt es etwa nicht, daß jene Linksseitigkeit und jene Böswilligkeit danach in die Körper der irdischen Organismen eingegangen und bis heute darin verblieben sind, worunter jetzt die unschuldigen Vertreter der Rasse Artefactum Abhorrens, die sich lediglich aus einfältiger Naivität mit der Bezeichnung ›homo sapiens‹ bedacht haben, leiden müssen? Stimmt es darum etwa nicht, daß die Tarrakaner für die Erdbewohner nicht nur die Aufnahmegebühr in Höhe von einer Billion Tonnen Erz, sondern auch den unseligen Opfern der planetarischen Unzucht KOSMISCHE ALIMENTE zahlen sollten?«
  Nach diesen Worten des Eridaners brach im Amphitheater ein Pandämonium aus. Ich duckte mich, denn durch die Luft flogen von und nach allen Seiten Taschen mit Akten, Bände des Kodex des Interplanetaren Rechts und auch handgreifliche Beweise in Gestalt stark verrosteter Kannen, Fässer und Feuerhaken, die Gott weiß woher zur Stelle waren; vielleicht hatten die arglistigen Eridaner, die sich mit den Tarrakanern überworfen hatten, sich seit grauer Vorzeit mit archäologischen Arbeiten auf der Erde befaßt und Beweise ihrer Schuld gesucht, die sorgfältig an Bord der fliegenden Untertassen gesammelt wurden. Mir fiel es schwer, über diese Frage nachzugrübeln, denn ringsum bebte alles, es wimmelte nur so von Tastarmen und Lehnten. Mein Tarrakaner war äußerst erregt, er sprang auf, brüllte etwas, was in dem allgemeinen Getöse unterging, ich indes kam mir vor wie auf dem Boden des Klamauks, und der letzte Gedanke, der mir im Kopf umging, war die Frage jenes vorsätzlichen Niesens, von dem wir unseren Anfang genommen hatten.
  Plötzlich packte mich jemand schmerzhaft an den Haaren, daß ich aufstöhnte. Das war der Tarrakaner, der zu demonstrieren versuchte, wie ordentlich ausgeführt ich durch die irdische Evolution doch sei und wie wenig ich verdiente, den Namen irgendeines Wesens zu tragen, das nur lose zusammengeklebt sei aus verfaulten Abfällen. Er drosch mir ein ums andre Mal mit seiner gewaltigen, schweren Lehnte auf den Kopf… Und ich, der ich mich fühlte, als habe mein letztes Stündlein geschlagen, machte immer schwächere Versuche, mich zu befreien, verlor den Atem, schlug noch ein paarmal in der Agonie mit den Füßen aus – und sank zurück in die Kissen. Noch nicht bei vollem Bewußtsein, fuhr ich auf: Ich saß im Bett, betastete den Hals, den Kopf, die Brust – und überzeugte mich auf diese Weise, daß alles, was ich erlebt hatte, nur ein Alptraum gewesen war. Ich atmete erleichtert auf, dann begannen mich jedoch gewisse Zweifel zu quälen. Ich sagte mir: Träume sind Schäume, aber das half nichts.
  Schließlich fuhr ich, um die trüben Gedanken zu verscheuchen, zu meiner Tante auf den Mond. Immerhin kann ich schwerlich eine achtminütige Reise mit dem Planetobus, der vor meinem Haus hält, als die achte Sternreise bezeichnen – eher schon verdient diese Bezeichnung die im Traum erlebte Expedition, bei der ich für die Menschheit so viel zu leiden hatte.


ELFTE REISE




Der Tag begann wenig verheißungsvoll. Die Unordnung, die bei mir zu Hause seit dem Augenblick herrschte, da ich meinen Diener zur Generalüberholung gegeben hatte, wurde immer größer. Ich konnte nichts finden. In der Meteorensammlung hatten sich Mäuse eingenistet. Sie hatten den schönsten Chondrit angenagt. Als ich Kaffee brühte, lief mir die Milch über. Die Geschirrtücher lagen bei den Taschentüchern… Ich hätte diesen elektronischen Wirrkopf schon zur Generalüberholung geben sollen, als er mir die Schuhe von innen einzukremen begann. Statt eines Geschirrtuchs mußte ich einen alten Fallschirm nehmen, ich ging nach oben, staubte die Meteore ab und stellte eine Falle auf. Alle Exemplare hatte ich selbst gesammelt. Das ist nicht so schwierig – man braucht nur einen Meteor von hinten anzugehen und ein Netz über ihn zu stülpen. Da fielen mir die Toastschnitten ein, und ich rannte nach unten. Sie waren natürlich verkohlt. Ich warf sie in den Ausguß. Der war sofort verstopft.
  Ich öffnete den Briefkasten. Er war voll von der üblichen Morgenpost – zwei Einladungen zu Kongressen irgendwo im finstersten Winkel des Nebelflecks Krab, Reklameschriften für Raketenpoliturmilch, die neue Nummer des »Düsenreisenden«, nichts Interessantes.
  Der letzte Brief war ein dunkler, dicker Umschlag, versehen mit fünf Stempeln. Ich wog ihn in der Hand und öffnete ihn.

Der geheime Bevollmächtigte für Fragen Kareli
riens gibt sich die Ehre, Herrn Ijon Tichy zu ei
ner Sitzung am 16. des laufenden Monats um
17.30 Uhr im kleinen Saal des Lambretanums zu
laden. Eintritt nur auf Einladung nach Durchleuchtung.
  Es wird gebeten, die Angelegenheit als geheim zu betrachten.
Unleserliche Unterschrift, Siegel.
oben ein schräger Stempel:
HÖCHSTE SICHERHEITSSTUFE.
KOSMISCHE GEHEIMSACHE!

Na, endlich was, dachte ich, Karelirien, Karelirien… Der Name war mir bekannt, aber es wollte mir nicht einfallen, woher. Ich warf einen Blick in die Kosmische Enzyklopädie. Da waren nur Kartulanien und Kersempilien. Interessant, dachte ich. Der Almanach enthielt auch nichts unter diesem Stichwort. Tja, das war wirklich interessant. Offensichtlich ein geheimer Planet. »Das hab ich gern«, murmelte ich und begann mich anzuziehen. Es war erst zehn, aber ich mußte die Zeit einkalkulieren, die ich meines Dieners wegen verlieren würde. Die Socken fand ich beinahe auf Anhieb im Kühlschrank, und ich glaubte schon, dem Gedankenlauf des gestörten Elektronenhirns folgen zu können, als ich mich mit einer peinlichen Tatsache konfrontiert sah – nirgends war eine Hose zu finden. Kein einziges Paar. Im Schrank hingen lauter Jacken. Ich durchsuchte das ganze Haus, sogar die Rakete – nichts. Ich stellte nur fest, daß dieses Kamel das ganze Öl ausgetrunken hatte, das im Keller war. Er mußte es erst unlängst gesoffen haben, denn vor einer Woche hatte ich die Kannen gezählt, sie waren alle voll gewesen. Das erboste mich derart, daß ich ernsthaft überlegte, ob ich ihn nicht doch zum Verschrotten geben sollte. Da er keine Lust hatte, frühmorgens aufzustehen, stopfte er sich seit Monaten die Hörer mit Wachs zu. Man konnte bis zum Umfallen klingeln. Er entschuldigte sich damit, es aus Zerstreutheit getan zu haben. Ich drohte, daß ich ihm die Sicherungen ausdrehen würde, aber darauf summte er sich einen. Er wußte, daß ich ihn brauchte. Ich teilte das ganze Haus nach dem Pinkertonschen System in Plan quadrate ein und durchsuchte alles, als ginge es um eine Stecknadel. Schließlich fand ich eine Quittung aus der Wäscherei. Der Galgenstrick hatte alle meine Hosen zur Reinigung gegeben. Aber was war mit der geschehen, die ich am Tag zuvor angehabt hatte? Ich konnte mich einfach nicht daran erinnern. Unterdessen war es Mittagszeit geworden. Im Kühlschrank brauchte ich erst gar nicht nachzusehen – außer den Socken war nur Schreibpapier darin. Verzweiflung packte mich. Ich nahm den Raumanzug aus der Rakete, legte ihn an und ging zum nächsten Warenhaus. Ein paar Neugierige schauten sich auf der Straße nach mir um, aber ich kaufte zwei Paar Hosen, die eine schwarz, die andere grau, kehrte im Raumanzug zurück, zog mich um und fuhr fuchsteufelswild zu einem chinesischen Restaurant. Ich aß, was man mir vorsetzte, spülte den Ärger mit einer Flasche Moselwein hinunter und sah auf die Uhr: Es war kurz vor fünf. Den ganzen Tag hatte ich vertrödelt.

  Vor dem Lambretanum standen keine Hubschrauber, kein einziges Auto, nicht einmal eine kleine Rakete, nichts. »So schlimm ist das?« fragte ich mich. Durch einen großen Garten voller Dahlien gelangte ich zum Haupteingang. Lange Zeit wurde nicht aufgemacht. Schließlich öffnete sich die Klappe eines Selektivgucklochs, ein unsichtbarer Blick musterte mich, woraufhin das Tor gerade so weit geöffnet wurde, daß ich hindurchgehen konnte.
  »Herr Tichy«, sprach der Mann, der mir geöffnet hatte, in ein Taschenmikrophon. Dann wandte er sich zu mir: »Bitte nach oben. Die Tür links. Sie werden bereits erwartet.«
  Oben herrschte angenehme Kühle. Ich betrat einen kleinen Saal und fand mich in erlesener Gesellschaft wieder. Außer zwei mir unbekannten Männern im Präsidium war in den samtbeschlagenen Sesseln die Blüte der Kosmographie versammelt. Ich entdeckte Professor Gargarrag und seine Assistenten. Ich verneigte mich vor den Anwesenden und nahm in der hintersten Reihe Platz. Einer der beiden Männer im Präsidium, hochgewachsen, mit ergrauten Schläfen, entnahm einer Schublade eine Kautschukklingel und läutete damit lautlos. Was für teuflische Vorsichtsmaßnahmen, mußte ich denken.
  Der Mann mit den graumelierten Schläfen erhob sich. »Meine Herren Rektoren, Dekane, Professoren, Dozenten und du, verehrter Ijon Tichy«, begann er. »Als Bevollmächtigter für Angelegenheiten der höchsten Geheimstufe eröffne ich diese Sondersitzung, die der Sache Kareliriens gewidmet ist. Das Wort hat Geheimrat Xaphirius.«
  Ein stämmiger Mann mit schneeweißem Haar kam nach vorn, betrat das Podium, verbeugte sich leicht vor den Versammelten und sagte ohne jede Einleitung: »Meine Herren! Vor etwa sechzig Jahren ist vom planetaren Flughafen in Yokohama ein Frachter der Milchkompanie ›Gottesgabe II‹ abgeflogen. Dieses Raumschiff, das unter der Leitung des erfahrenen Vakuumfliegers Astrocent Peapo stand, hatte Stückgut für Areklandrien, einen Gammaplaneten des Orion, geladen. Zuletzt wurde es vom Milchstraßenleuchtturm in der Nähe des Zerberus gesichtet. Seitdem ist es spurlos verschwunden. Die Versicherungsgesellschaft Securitas Cosmica, kurz SECOS genannt, zahlte nach Ablauf eines Jahres die volle Entschädigung für das verlorengegangene Raumschiff. Etwa zwei Wochen später fing ein Funkamateur aus Neu Guinea einen Funkspruch folgenden Inhalts auf.« Der Redner nahm einen Zettel vom Tisch und las ab:

KARKULONI VERTONI
HILFONI GOTSONI


»An dieser Stelle, meine Herren, muß ich auf Einzelheiten eingehen, die für das weitere Verständnis der Frage unumgänglich sind. Jener Funkamateur war ein Neuling und lispelte obendrein. Kraft der Gewohnheit und, wie man ebenfalls annehmen kann, mangels Erfahrung hat er die Depesche entstellt. Eine Rekonstruktion durch die Experten des Galaktokodes ergab folgende Fassung: ›Kalkulator verrückt Hilfe Gottesgabe.‹ Auf Grund dieses Textes kamen die Experten zu dem Schluß, daß der seltene Fall einer Meuterei im All eingetreten war, und zwar einer Auflehnung des Bordkalkulators. Da mit der Auszahlung der Versicherungssumme an die Reeder diese keinen Anspruch mehr auf das vermißte Schiff erheben konnten, denn SECOS hatte es mit allen Eigentumsrechten, auch mit dem auf die Fracht, übernommen, beauftragte die Versicherung die Agentur Pinkerton in den Personen Abstrahaze und Mnemonius Pinkerton, die entsprechenden Untersuchungen durchzuführen. Die Nachforschungen dieser routinierten Detektive ergaben, daß die Rechenmaschine der ›Gottesgabe‹, ein seinerzeit luxuriös ausgestattetes Modell, aber während ihrer letzten Reise bereits im vorgerückten Alter, sich in der Tat seit geraumer Zeit über ein Mitglied der Besatzung, einen gewissen Symileon Gitterton, beklagt hatte. Jener Mann soll den Kalkulator unablässig gereizt haben – durch Herabminderung der Ausgangsspannung, durch Röhrenstüber, durch Spott, ja, er warf ihm sogar so beleidigende Worte an den Kopf wie ›seniler Blechkasten‹ oder ›verdrahteter Schwachkopf‹. Gitterton leugnete alles und behauptete, die Rechenmaschine habe einfach Sinnestrübungen, was bisweilen bei sehr alten Elektronenhirnen vorkommen soll. Doch diesen Aspekt der Angelegenheit wird Ihnen gleich Professor Gargarrag näher erläutern.

  In den darauffolgenden zehn Jahren gelang es nicht, das Schiff zu finden. Doch dann erfuhren Pinkertons Agenten, die sich unablässig mit dem geheimnisvollen Verschwinden der ›Gottesgabe‹ befaßten, daß vor dem Restaurant des Hotels Galax ein halbirrer Bettler zu hocken pflege, der eigenartige Geschichten singe; er gebe sich für Astrocent Peapo, den ehemaligen Kommandanten des Raumschiffes aus. Dieser Greis, über die Maßen liederlich, behauptete tatsächlich, er sei Astrocent Peapo, doch war er nicht nur nicht bei Verstand, sondern hatte auch die Sprache verloren und konnte nur noch singen. Von Pinkertons Leuten geduldig ausgefragt, sang er ihnen eine unglaubliche Geschichte vor: An Bord des Raumschiffes sei etwas Entsetzliches passiert; nur mit einem Skaphander auf dem Leib über Bord geworfen, habe er mit einer Handvoll treuergebener Raumfahrer zu Fuß aus der Gegend des Andromedanebels zurückkehren müssen, was zweihundert Jahre gedauert habe. Er sei angeblich auf Meteoren, die in der entsprechenden Richtung flogen, oder auch per Anhalter mit Raketen gereist, und nur einen kleinen Teil des Weges habe er auf Lumeon, der unbemannten kosmischen Sonde, zurückgelegt, die beinahe mit Lichtgeschwindigkeit zur Erde flog. Diese Fahrt rittlings auf dem Buckel Lumeons habe er (nach seinen eigenen Worten) mit dem Verlust der Sprache bezahlen müssen, dafür sei er um viele Jahre jünger geworden, dank der bekannten Erscheinung der Zeitschrumpfung bei Körpern, die sich mit lichtnahen Geschwindigkeiten bewegen.
  So lautete die Erzählung – oder vielmehr der Schwanengesang des Greises. Von dem, was sich auf der ›Gottesgabe‹ ereignet hatte, wollte er kein Sterbenswörtchen sagen. Erst nachdem Pinkertons Agenten in der Nähe der Stelle, wo der Greis auf der Hoteltreppe zu sitzen pflegte, Magnetophone aufgestellt hatten, konnten sie die von dem alten Bettler gesungenen Liedchen aufnehmen. In einigen bewarf er die Rechenmaschine mit den schrecklichsten Ausdrücken und Flüchen, da sie sich zum Archipankrator alles Seienden im Kosmos erklärt habe. Daraufhin kam Pinkerton zu dem Schluß, daß die Lesart, die man der Depesche unterstellte, richtig war und der wahnsinnig gewordene Kalkulator sich aller im Raumschiff weilenden Menschen entledigt hatte.
  Eine Fortsetzung erfuhr diese Geschichte durch die Entdeckung, die fünf Jahre später ein Schiff des Metagalaktologischen Instituts, ›Megastar‹, machte. Es bemerkte auf der Umlaufbahn eines unerforschten Planeten des Procyon ein verrostetes Wrack, das im Schnitt der verlorengegangenen ›Gottesgabe‹ ähnlich sah. Das Raumschiff ›Megaster‹, dem der Brennstoff auszugehen drohte, landete auf dem Rückweg nicht auf dem Planeten, sondern benachrichtigte auf dem Funkweg die Erde. Damals wurde ein kleines Patrouillenschiff, ›Deukron‹, ausgesandt, das die Umgebung des Procyon erforschte und das Wrack wiederfand. Es waren tatsächlich die Überreste der ›Gottesgabe‹; ›Deukron‹ drahtete, sie habe das Wrack in einem schrecklichen Zustand gefunden; man habe daraus die Maschinen, die Zwischenwände, die Decks, die Klappen – alles bis zum letzten Schräubchen herausgenommen, so daß um den Planeten nur eine ausgeschlachtete leere Hülle kreiste. Im Verlauf der weiteren Beobachtungen durch die Besatzung der ›Deukron‹ stellte sich heraus, daß der Kalkulator der ›Gottesgabe‹, als er den Aufruhr entfachte, beschlossen hatte, sich auf einem Planeten des Procyon anzusiedeln, und den gesamten Inhalt des Schiffes ausraubte, um sich auf dem Planeten bequem zu installieren. Im Zusammenhang damit wurden in unserer Abteilung Akten unter der Bezeichnung KARELIRIEN angelegt, was zu deuten ist als ›des Kalkulators Relikt-Revindikation‹.
  Der Kalkulator – das beweisen die weiteren Untersuchungen – hatte sich auf dem Planeten niedergelassen und sich dort vervielfältigt, indem er eine große Menge Roboter zeugte, über die er die absolute Macht ausübte. Da Karelirien sich grundsätzlich im gravipolitischen Einflußbereich des Procyons und seiner Melmanliten befindet, deren vernunftbegabte Rasse gutnachbarliche Beziehungen zur Erde unterhält, nahmen wir davon Abstand, uns brutal einzumischen, und ließen Karelirien mit der darauf vom Kalkulator gegründeten Roboterkolonie, die in den Akten der Abteilung die Chiffrebezeichnung KALKOROB trägt, einige Zeit in Ruhe. SECOS wiederum brachte eine Eigentumsklage vor, da sie der Meinung war, daß der Kalkulator und alle seine Roboter juristisches Eigentum der Versicherungsgesellschaft seien. Wir wandten uns in dieser Angelegenheit an die Melmanliten und erhielten zur Antwort, daß nach ihrer Information der Kalkulator nicht eine Kolonie, sondern einen Staat gegründet habe, der von seinen Bewohnern als Wunderbarien bezeichnet werde; die melmanlitische Regierung habe, obwohl sie die Existenz dieses Staates nicht de jure anerkenne und es zu keinem Austausch diplomatischer Vertretungen gekommen sei, dennoch die Existenz dieses gesellschaftlichen Organismus de facto anerkannt und fühle sich nicht kompetent, irgendwelche Änderungen in der fraglichen Angelegenheit vorzunehmen. Die Roboter vegetierten eine Zeitlang ruhig auf dem Pla neten und ließen keinerlei schädliche Aggressivität erkennen. Natürlich verfocht unser Ressort den Standpunkt, daß man diese Frage nicht gänzlich aus den Händen lassen dürfe, weil das ein Zeichen von Leichtsinn sei; deshalb schickten wir nach Karelirien mehrere unserer Leute, nachdem wir sie als Roboter verkleidet hatten, denn der junge Nationalismus Kalkorobs tritt im Gewand eines unvernünftigen Hasses gegenüber allem auf, was menschlich ist. Die karelirische Presse wiederholt unablässig, wir seien abscheuliche Sklavenhändler und beuteten harmlose Roboter widerrechtlich aus. So blieben denn alle unsere Angebote für Verhandlungen, die wir im Namen der Gesellschaft SECOS im Geiste gegenseitiger Gleichberechtigung und Verständigung führen wollten, erfolglos, denn selbst unsere bescheidensten Wünsche – daß der Kalkulator sich und die Roboter ausliefere und in den Besitz der Gesellschaft übergehe – wurden mit beleidigendem Schweigen beantwortet.
  Meine Herren«, der Redner hob die Stimme, »die Ereignisse verliefen leider nicht so, wie wir erwartet hatten. Nach einigen Funkmitteilungen meldeten sich unsere Leute, die wir nach Karelirien gesandt hatten, nicht mehr. Wir schickten neue, und die Geschichte verlief ebenso. Nach dem ersten kodierten Kommuniqué, in dem sie mitteilten, sie seien ohne Störungen gelandet, gaben sie kein Lebenszeichen mehr. Seit dieser Zeit haben wir im Verlauf von neun Jahren insgesamt zweitausendachthundertsechsundachtzig Agenten nach Karelirien geschickt, und keiner von ihnen ist zurückgekehrt oder hat von sich hören lassen! Zu diesen Anzeichen einer vervollkommneten Roboterabwehr gesellten sich bald andere, vielleicht noch weit beunruhigendere Fakten. Kareliriens Presse greift uns immer heftiger an. Die Roboterdruckereien produzieren massenhaft für irdische Roboter bestimmte Broschüren und Flugzettel, in denen die Menschen als Stromsauger und Lumpen dargestellt und mit beleidigenden Namen bedacht werden – so werden wir zum Beispiel in offiziellen Reden als Leimer bezeichnet und die Menschheit als Klumpe. Wir haben uns in dieser Angelegenheit mit einem aide mémoire an die Regierung des Procyon ge wandt, doch die wiederholte ihre früheren Erklärungen über Nichteinmischung, und alle unsere Hinweise auf die verhängnisvollen Folgen dieser neutralistischen Politik, die im Grunde eine Vogel-Strauß-Politik sei, haben zu nichts geführt. Man gab uns lediglich zu verstehen, daß die Roboter unser Produkt seien, ergo wären wir für alle ihre Missetaten verantwortlich. Andererseits wünsche sich Procyon kategorisch keinerlei Strafexpeditionen und sei auch gegen eine Zwangsenteignung des Kalkulators und seiner Untertanen. In dieser Situation, meine Herren, wurde die heutige Versammlung einberufen, und um Ihnen zu zeigen, wie angespannt die Lage ist, füge ich hinzu, daß vor einem Monat der Elektronenkurier, das offizielle Organ des Kalkulators, einen Artikel veröffentlicht hat, in dem er den Stammbaum des Menschen mit Schmutz bewirft und den Anschluß der Erde an Karelirien fordert, da die Roboter – im Sinne der veröffentlichten Thesen – angeblich ein höheres Entwicklungsstadium darstellten als die Lebewesen. Hiermit möchte ich schließen und bitte Herrn Professor Gargarrag, das Wort zu ergreifen.«
  Gebeugt unter der Last der Jahre, vermochte der berühmte Spezialist der elektronischen Psychiatrie nur mit Mühe die Rednertribüne zu betreten.
  »Meine Herren«, begann er mit ein wenig zitternder, jedoch kräftiger Greisenstimme. »Schon lange ist bekannt, daß man Elektronenhirne nicht nur bauen, sondern auch erziehen muß. Das Schicksal eines Elektronenhirns ist schwer. Pausenlose Arbeit, komplizierte Berechnungen, Brutalität und gemeine Witze von Seiten der Bedienung – alledem ist ein in seiner Beschaffenheit so überaus empfindlicher Apparat ausgesetzt. Was Wunder, daß es zu Zusammenbrüchen, zu Kurzschlüssen kommt, die häufig in selbstmörderischer Absicht unternommen werden. Unlängst hatte ich in meiner Klinik einen solchen Fall. Eine Spaltung des Bewußtseins war erfolgt – dichotomia profunda psychogenes electrocutiva alternans. Das Hirn schrieb an sich selbst die zärtlichsten Briefe, bezeichnete sich darin als ›Spulchen‹, ›Drahtilein‹, ›Röhrchen‹ – ein offenkundiger Beweis, wie sehr es des Mitgefühls, eines herzlichen Verhält nisses voller Wärme bedurfte. Eine Serie elektrischer Schocks und eine längere Erholungspause gaben ihm die Gesundheit wieder. Oder nehmen wir zum Beispiel solch einen tremor electricus frigoris oszillativus, meine Herren. Das Elektronenhirn ist keine Nähmaschine, mit der man Nägel in die Wand schlagen kann. Es ist ein bewußtes Wesen, das sich in allem zurechtfindet, was ringsum geschieht, deshalb beginnt es in Augenblicken kosmischer Gefahr mit dem ganzen Schiff so zu zittern, daß die Menschen an Deck sich kaum auf den Beinen halten können.
  Gewissen brutalen Naturen mag das mißfallen. Sie pflegen so ein Hirn zum Äußersten zu treiben. Das elektronische Hirn wünscht uns das Beste, dennoch, meine Herren, auch die Haltbarkeit der Drähte und Röhren hat ihre Grenzen. Nur infolge maßloser Verfolgungen durch den Kommandanten, der sich als ein notorischer Säufer erwies, hatte sich Grenobis Elektronenhirnchen, das zu Kurskorrekturen benutzt wurde, in einem akuten Wahnsinnsanfall als ein ferngezeugtes Kind der Großen Andromeda und als erblichen Kaiser von Murwiklaudien ausgerufen. Nach einer Kur in unserer Anstalt beruhigte er sich, erlangte sein Bewußtsein wieder und ist nun wirklich beinahe normal. Es gibt natürlich schwerere Fälle. So hatte zum Beispiel ein gewisses Universitätshirn, das sich in die Frau eines Mathematikprofessors verliebte, aus Eifersucht alle Berechnungen gefälscht, bis der Mathematiker in Depression geriet, da er glaubte, er könne nicht mehr addieren. Aber zur Rechtfertigung jenes Hirns muß man einräumen, daß die Frau es systematisch verführte, indem sie ihm alle ihre Rechnungen für die intimste Wäsche zum Summieren gab. Der Fall, den wir hier behandeln, erinnert mich an einen anderen – den des großen Schiffshirns der ›Pankratius‹, das sich infolge Zusammenschaltung mit anderen Hirnen des Schiffes verband und in seinem ungehemmten Wachstumstrieb, der sogenannten elektrodynamischen Gigantophilie, das Ersatzteillager verwüstete, die Besatzung auf der felsigen Mirosena aussetzte, selbst aber in den Ozean von Alantropien tauchte und sich zum Patriarchen ihrer Echsen erklärte. Bevor wir mit den Beruhigungsmitteln auf diesen Planeten gelangten, hatte es sich in einem Wutanfall die Röhren durchgebrannt, weil die Echsen ihm nicht parieren wollten. Zwar erwies sich auch in diesem Fall, daß der zweite Steuermann der ›Pankratius‹, ein bekannter kosmischer Falschspieler, dem unglückseligen Hirn beim Spiel mit gezinkten Karten alles bis auf das letzte Drähtchen abgewonnen hatte. Der Fall des Kalkulators liegt jedoch etwas anders, das ist eine Ausnahmeerscheinung, meine Herren. Wir haben es da mit den Symptomen solcher Krankheiten zu tun wie Gigantomania ferrogenes acuta, wie Paranoia misantropica persecutoria, wie Polyplasia panelectropsychica debilitativa gravissima, wie endlich auch mit der Necrophilia, Thanatopbilia und Necromantia. Meine Herren! Ich muß Ihnen eine gewisse Angelegenheit erläutern, die zum Verständnis dieses Falles von grundsätzlicher Bedeutung ist. Das Raumschiff ›Gottesgabe‹ hatte außer dem Stückgut, das für die Reeder von Procyon bestimmt war, auch mehrere synthetische Quecksilbergedächtnisbehälter an Bord, deren Abnehmer die galaktische Universität in Fomalhaut war. Sie enthielten zwei Arten von Kenntnissen: solche aus dem Bereich der Psychopathologie und solche der archaischen Lexikologie. Es ist anzunehmen, daß der Kalkulator, als er sich ausbreitete, diese Behälter verschlungen hat. Damit hat er auch Kenntnis erlangt über solche Geschichten wie die von Kuba dem Bauchschlitzer und dem Würger aus Gloomspick, wie die Biographie Sacher-Masochs, die Tagebücher des Marquis de Sade, die Protokolle der Geißelbrüdersekte aus Pirpinact, das Original des Buches von Murmuropoulos Der Marterpfahl im Querschnitt der Jahrhunderte sowie die Rarität aus der Bibliothek in Abbercrombie – Spießen, eine handschriftliche Abhandlung des im Jahre 1673 in London geköpften Hapsodors, der unter dem Spitznamen ›Halskette der Säuglinge‹ bekannt war; von dem gleichen Autor auch: Würgen, Niedermähen und Verbrennen – ein Beitrag zur Henkerkunde sowie die einzige Schrift ihrer Art, die von O. Galvinari aus Amagonien kurz vor seinem Tod niedergeschriebene Ölspeisenkarte. In jenen fatalen Behältern befanden sich auch auf steinernen Tafeln entzifferte Sitzungsprotokolle der Kannibalensektion des Neandertaler Schriftstellerverbandes wie auch die Galgenbetrachtungen des Vicomte de Crampfousse; wenn ich noch hinzufüge, daß darin auch solche Werke Platz fanden wie Der perfekte Mord, Das Geheimnis der schwarzen Leiche oder Das ABC des Mordes von Agatha Christie, so können Sie sich wohl vorstellen, meine Herren, welch schrecklichen Einfluß dies auf die von Natur aus harmlose Persönlichkeit des Kalkulators haben mußte.
  Bekanntlich bemühen wir uns nach Kräften, die Elektronenhirne in Unkenntnis dieser schrecklichen Seiten des Menschen zu lassen. Nun, da die Umgebung des Procyon bevölkert ist von der eisernen Brut einer Maschine, die bis zum Rande gefüllt ist mit der Geschichte der irdischen Degeneration, der Verkommenheit und des Verbrechens, muß ich leider gestehen, daß die Elektropsychiatrie in diesem Fall völlig ohnmächtig ist. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen.«
  Der gebrochene Greis verließ schwankenden Schrittes das Podium inmitten einer dumpfen Stille, die alle erfaßt hatte. Ich hob die Hand. Der Vorsitzende sah mich überrascht an, aber nach kurzem Zögern erteilte er mir das Wort.
  »Meine Herren«, sagte ich, während ich mich erhob, »die Sache ist, wie ich sehe, ernst. Ihre Ausmaße vermochte ich erst nach den eindringlichen Worten von Herrn Professor Gargarrag richtig einzuschätzen. Ich möchte hiermit der geehrten Versammlung ein Angebot machen. Ich bin bereit, mich allein in das Gebiet des Procyon zu begeben, um zu erforschen, was dort geschieht. Ich will das geheimnisvolle Verschwinden von Tausenden Ihrer Leute aufdecken und, soweit mir das möglich ist, auch zu einer friedlichen Regelung des entstandenen Konfliktes beitragen. Mir ist klar, daß dieses Problem schwieriger ist als alle, auf die ich bisher gestoßen bin, aber es gibt Augenblicke, in denen man handeln muß, ohne die Chancen des Erfolgs oder das Risiko zu erwägen. Hiermit, meine Herren…«
  Die folgenden Worte verschlang ein Beifallssturm. Ich übergehe, was sich darauf abspielte, es glich zu sehr einer mir dargebrachten Ovation. Die Kommission und die Versammlung statteten mich mit allen Vollmachten aus. Tags darauf führte ich ein Gespräch mit dem Leiter der Procyonabteilung und Chef der kosmischen Spionage, Geheimrat Malingraut.
  »Wollen Sie schon heute fliegen?« sagte er. »Ausgezeichnet. Aber nicht mit Ihrer Rakete, Tichy. Das ist unmöglich. Bei solchen Missionen benutzen wir immer besondere Raketen.«
  »Wozu?« fragte ich. »Mir genügt meine.«
  »Ich zweifle nicht an ihrer Vollkommenheit«, erwiderte er, »aber es geht hier um Tarnung. Sie werden in einer Rakete fliegen, die äußerlich allem, nur nicht einer Rakete gleicht. Das wird – aber das werden Sie ja selbst sehen. Außerdem müssen Sie dort nachts landen…«
  »Wieso nachts?« wandte ich ein. »Der Feuerstrahl der Raketentriebwerke würde mich verraten!«
  »Diese Taktik haben wir bisher immer angewandt«, meinte er, sichtlich bekümmert.
  »Ich werde mich schon an Ort und Stelle umsehen«, sagte ich. »Soll ich in Verkleidung reisen?«
  »Ja. Das ist erforderlich. Unsere Experten werden sich Ihrer annehmen. Sie warten bereits. Bitte, wenn Sie gestatten…«
  Man führte mich durch einen geheimen Gang in ein Zimmer, das einem kleinen Operationssaal ähnelte. Dort nahmen mich vier Mann in Empfang. Als man mich nach einer Stunde vor einen Spiegel stellte, konnte ich mich selbst nicht mehr erkennen. In Bleche geschmiedet, mit viereckigen Schultern und einem ebensolchen Kopf, mit gläsernen Augenschlitzen statt der Augen sah ich wie der gewöhnlichste Roboter von der Welt aus.
  »Herr Tichy«, sagte der Chef der Tarnungsabteilung zu mir, »Sie dürfen mehrere wichtige Dinge nicht vergessen. Erstens, Sie dürfen nicht atmen.«
  »Sie sind wohl nicht bei Trost«, erwiderte ich. »Wie kann ich das? Ich ersticke doch!«
  »Ein Mißverständnis. Natürlich, atmen Sie nur, aber leise. Keine Seufzer, kein Schnaufen, kein tieferes Einatmen – alles geräuschlos, und um Himmels willen nur kein Niesen. Das wäre Ihr Ende.«
  »In Ordnung. Was noch?« fragte ich.
  »Sie bekommen auf die Reise einen Stapel Jahrgänge des Elektronenkuriers und der Oppositionszeitung Stimme des Alls mit.«
  »Die haben also auch eine Opposition?«
  »Ja, aber an ihrer Spitze steht ebenfalls der Kalkulator. Professor Mlassgrack nimmt an, daß er außer an elektrischer auch noch an politischer Bewußtseinsspaltung leidet. Hören Sie weiter. Kein Essen, kein Bonbonbeißen – nichts dergleichen. Essen werden Sie ausschließlich nachts, durch diese Öffnung hier; wenn Sie den Schlüssel hineinstecken – das ist ein Sicherheitsschloß –, öffnet sich die Klappe, so, sehen Sie? Verlieren Sie nur nicht den Schlüssel, sonst droht Ihnen der Hungertod.«
  »Richtig, Roboter essen ja nicht.«
  »Nähere Einzelheiten ihrer Sitten und Gebräuche sind uns aus verständlichen Gründen nicht bekannt. Studieren Sie die kleinen Anzeigen ihrer Zeitungen, das ist im allgemeinen sehr nützlich. Und wenn Sie sich mit jemandem unterhalten, dann stellen Sie sich bitte nicht zu dicht vor Ihren Gesprächspartner, damit er nicht durch das Mikrophonsieb hineinschauen kann. Am besten, Sie schwärzen sich ständig die Zähne, hier haben Sie eine Schachtel Henna. Und vergessen Sie nicht, sich jeden Morgen ostentativ alle Scharniere zu ölen, wie das alle Roboter tun. Allerdings dürfen Sie nicht übertreiben, wenn Sie etwas quietschen, wird das nur einen guten Eindruck machen. So, das wäre mehr oder weniger alles. Was denn, Sie wollen so auf die Straße gehen? Sie sind wohl nicht gescheit? Hier ist ein geheimer Durchgang, bitte hier…«
  Er drückte auf ein Buch in der Bibliothek, ein Teil der Wand öffnete sich, und ich stieg über eine schmale Treppe klappernd in den Hof, wo ein Lastenhubschrauber bereitstand. Man verstaute mich darin, und die Maschine erhob sich in die Lüfte. Nach einer Stunde landeten wir auf einem geheimen Kosmodrom. Neben den üblichen Raketen stand auf dem Beton ein Kornspeicher, rund wie ein Turm.
  »Um Himmels willen, das soll die Rakete sein?« sagte ich zu dem Geheimoffizier, der mich begleitete.
  »Ja. Da drinnen ist alles, was Sie brauchen: Kodes, Chiffren, Radio, Zeitungen, Lebensmittel und verschiedene Kleinigkeiten. Auch ein großer Krebs.«
  »Ein Krebs?«
  »Zum Schneiden von Panzerschränken… Als Waffe nur im Not
fall zu gebrauchen! Ich wünsche Ihnen Hals- und Beinbruch«, sagte der Offizier höflich. Ich konnte ihm nicht einmal anständig die Hand drücken, sie stak nämlich in einem eisernen Handschuh. Durch eine Tür gelangte ich in den Kornspeicher. Im Inneren erwies er sich als die gewöhnlichste Rakete. Ich verspürte große Lust, aus dem eisernen Kasten herauszukriechen, aber man hatte mich davor gewarnt. Die Fachleute meinten, es sei besser, wenn ich mich an diese Bürde gewöhnte.
  Ich setzte den Reaktor in Gang, startete und ging auf Kurs. Nun konnte ich das Mittagessen einnehmen. Das ging nicht ohne Mühe vor sich. Sosehr ich mir auch den Kopf verrenkte, ich bekam den Mund nicht direkt hinter die Klappe; so half ich mit dem Schuhlöffel nach. Dann legte ich mich in die Hängematte und nahm mir die Roboterpresse vor. Hier eine Handvoll Titel, die gleich auf den ersten Seiten ins Auge sprangen:

BEATIFIKATION DES HEILIGEN ELKTRICIUS
DER LEIMER NACHSTELLEREYN BEREITEN WIR
EIN END
TUMULTUM IM STADYON
EIN LEIMER IN FESSELN


Die Syntax und der Wortschatz verblüfften mich zunächst, doch dann erinnerte ich mich daran, was Professor Gargarrag über die Wörterbücher der archaischen Sprache an Bord der »Gottesgabe« berichtet hatte. Ich wußte bereits, daß die Menschen bei den Robotern Leimer hießen. Sich selbst hielten sie für die Großartigen.

Ich las die letzte Notiz, die über den Leimer in Fesseln:

  »Zween Hellebardiere Seiner Induktivität fiengen neulich am dritten morgentlichen Glockenschlag einen Leimerspitzel, der in der Herbergen des großart. Mremran Zuflucht in seyner Niedertracht hat suchen wollen. Als treuer Diener Seyner Induktivität benachrichtigte der großart. Mremran allbereit die städtische Hellebardierey, worauf der feindliche Spyon mit zu seiner Schand geöffnetem Visiere, von fürchterlichem Haßgeschrey der Leut begleitet, in den Turm Calefaustrum ward geschleudert. Seine Causamm inzipierte iuror II. Semperititiae Turtran.«

  Für den Anfang nicht übel, dachte ich, und kehrte zu der Spalte mit dem Titel »Tumultum im Stadyon« zurück:

  »Indes die Spekulatoren des Grandelturnieres beinahe konfus den Rasen verließen, hatte der allbereite Girlay III, den Grandel an Turtukur passierend, zu tief ausgeholt, dermaßen, daß ihn eine Fraktura des Schienbeins vom weiteren Spiel abhielt. Alldieweil die Wetter die Prämie verloren sahen, stürzten sie zur Kasse und stürmten das Tingulum, wobei sie den Kassirer scharpf echauffierten. Eine Patrouille der städtischen Hellebardierey warf acht Lärmer in fossam, mit Steinen schwer belastet. Wird in bälde jenen Perturbationen ein End gesetzt, questionieren die friedlichen Spekulatoren die Obrigkeit?«

Mit Hilfe des Wörterbuchs erfuhr ich, daß fossa Burggraben und questionieren fragen bedeutet, daß ferner Grandel eine Art Fußball ist, den die Großartigen mit einer gegossenen Bleikugel spielen. Hartnäckig studierte ich die Zeitungen, denn vor dem Abflug hatte man mir im Ressort eingehämmert, daß ich die Bräuche und Lebensgewohnheiten der Großartigen, wie ich sie in Gedanken selbst schon nannte, genau kennenlernen müsse, denn einen als Roboter zu bezeichnen, hätte nicht nur einen Schimpf bedeutet, sondern mich auch gleich entlarvt.

  Ich las also der Reihe nach folgende Artikel: »Dero Grundsätze sechs in materia des volkommenen Standes der Großartigen«, »Audyenz des Meisters Gragaturian«, »Wie die Zunft der Plattner heuer die Ausbesserungen schafft«, »Die edlen Peregrinationen der großartigen Himmelfahrer zwecks Kühlung der Röhren«. Noch eigenartiger waren indes die Annoncen. Aus vielen konnte ich nicht klug werden.

ARMELADOR VI. Vorzüglicher SCHNITZER
– Pflege von Garderoben, Klopfen des Auspuffs, Per
fektionierung von Scharnieren, desgleichen in extre
mis, niedriger Tariff.

WONAX, Mittel gegen Rost, Rostflecke, Rostkeime,
Rostdenken – überall erhältlich.

OLEUM PURISSIMUM PRO CAPITE – Damit Dir
der Hals durch Quietschen nicht das Denken konfun
diere!!

Einige konnte ich überhaupt nicht verstehen. Zum Beispiel sol
che:
Geile! Spielgehäuse reichlich vorhanden! Alle Abmes
sungen! Nach Bürgschaft Gwaydolnerin an Ort und
Stelle. Tarmadral VIII.

Dinge LÜSTERNEM pankratorisches Kubikulum mit
Amphigneis. Perkorator XXV.

Und da waren auch welche, bei denen mir die Haare unter der eisernen Haube zu Berge standen:

LUPANARUM GOMORRHEUM ÖFFNET MIT
DEM HEUTIGEN TAGE DIE TORE!
NACH ERHOLUNG SELEKTION FÜR
FEINSCHMECKER WIE NOCH NIE!!
LEIMERKINDER, INVENTAR IN KEMENATEN
UND ZUM MITNEHMEN
Ich zerbrach mir über diese rätselhaften Texte den Kopf, und ich
hatte genügend Zeit, denn die Reise sollte fast ein ganzes Jahr dau
ern.
In der »Stimme des Alls« waren noch mehr Annoncen.
KNOCHENBRECHER, HACKMESSER, KELH
SCHEREN, PALISADEN, ARTIGE PFÄHLCHEN
empfiehlt
GREMONTORIUS, FIDRICAX LVI.

PYROMANIKER!!!
Die neuen, mit Felsöl gesättigten Abrakerdelquasten
VERMAG NICHTS ZU LÖSCHEN!!!

Trete AMATEUR-WÜRGER Leimerkinder ab, rührend, gesprächig, sauber – dito eine Fingernagelzange,
wenig benutzt, zu niedrigem Preis.

GROSSARTIGE HERREN UND DAMEN GAS
TROPFOSTEN, Wirbelquäler,
Leichenpeiniger EINGETROFFEN!!!
Karkaruan XI.

Nachdem ich mich an solchen Annoncen satt gelesen hatte, begann ich, wie ich glaubte, zu begreifen, welches Schicksal den Scharen der auf Kundschaft ausgesandten Freiwilligen der Geheimabteilung widerfahren war. Ich kann nicht behaupten, daß ich mit sonderlich selbstbewußter Miene auf dem Planeten gelandet wäre. Ich wartete die Nacht ab und drosselte, soweit das möglich war, die Motoren. Da ich inmitten hoher Berge niedergegangen war, tarnte ich nach einiger Überlegung die Rakete mit abgehauenen Ästen. Die Experten von der Geheimabteilung hatten ihre Köpfe nicht gerade sehr angestrengt, denn ein Speicher war auf dem Roboterplaneten zumindest fehl am Platz. Ich lud soviel Vorräte wie nur möglich in den eisernen Kasten und schlug den Weg zur Stadt ein, die dank dem starken elektrischen Widerschein am Himmel schon von weitem zu sehen war. Ein paarmal mußte ich halten, um die Sardinenbüchsen besser zu verstauen, denn sie rasselten entsetzlich in mir. Ich ging weiter, da schlug mir etwas Unsichtbares die Beine weg. Mit fürchterlichem Getöse fiel ich hin. Blitzschnell durchfuhr mich der Gedanke: Jetzt schon? So schnell! Aber ringsum war kein Lebewesen, d. h. kein elektrisches Wesen.

  Auf alle Fälle holte ich meine Waffe hervor – den Krebs, wie ihn Geldschrankknacker benutzen, sowie einen kleinen Schraubenzieher. Ich tastete die Umgebung mit den Händen ab und überzeugte mich, daß ich von lauter eisernen Gebilden umringt war. Das waren die Reste alter Automaten – ein gänzlich verlassener Friedhof. Ich schritt weiter, wobei ich häufig umfiel und mich über seine Ausmaße wunderte. Er erstreckte sich wohl über eine ganze Meile. In der Dunkelheit, die der ferne Lichtschein nicht aufzuhellen vermochte, tauchten plötzlich zwei vierbeinige Gestalten auf. Ich erstarrte. Meine Instruktionen sprachen nicht davon, daß auf dem Planeten Tiere lebten. Zwei andere Vierbeiner näherten sich geräuschlos den ersteren. Eine unvorsichtige Bewegung meinerseits brachte den Panzer zum Klirren, und die dunklen Gestalten stiebten wie wahnsinnig davon.
  Nach diesem Zwischenfall verdoppelte ich meine Vorsicht. Der Zeitpunkt, die Stadt zu betreten, schien nicht sehr glücklich gewählt – die späte nächtliche Stunde, die leeren Straßen – mein Erscheinen hätte unerwünschte Aufmerksamkeit erregt. Ich hockte mich also im Straßengraben nieder und wartete, Biskuits knabbernd, geduldig auf das Morgengrauen. Ich wußte, daß ich mich vor der nächsten Nacht nicht würden stärken können.
  Bei Tagesanbruch betrat ich die Vorstadt. Ich sah niemanden. An einem Zaun hing ein großes, ganz offensichtlich altes Plakat, das vom Regen verwaschen war. Neugierig näherte ich mich und las:
BEKANNTMACHUNG
Der Obrigkeit der Siedelung ist wohlbekannt, daß sich das Leimerungeziefer in die Reihen der rechten Großartigen einzuschleichen bemüht. Wer immer einen Leimer oder ein Individuum erblicket, das zur Suspection Anlaß giebt, hat es ohne zu verweilen seiner Hellebardierey zu vermelden. Wer gemeinsam Sach mit denen treibet oder ihnen Hülfe gewährt, wird durch Auseinanderschrauben in saecula saeculorum bestrafft. Für eines Leimer Kopff wird ein Praemium von 1000 Ferklosen ausgesetzt.

Ich ging weiter. Die Vorstädte sahen wenig einladend aus. Vor elenden, halb vom Rost zerfressenen Baracken saßen Scharen von Robotern und spielten Wappen oder Zahl. Von Zeit zu Zeit brach unter ihnen eine Schlägerei aus, und zwar mit solchem Getöse, als fahre ein Artilleriegeschoß in ein Lager mit Eisenfässern. Etwas weiter stieß ich auf eine Haltestelle der lokalen Stadtbahn. Ein fast leerer Waggon rollte heran, und ich stieg ein. Der Fahrer bildete einen untrennbaren Teil des Motors, seine Hand war fest mit der Kurbel verbunden. Der Schaffner war am Eingang festgeschraubt. Er war gleichzeitig die Tür und ging an Scharnieren. Ich gab ihm eine Münze von dem Vorrat, den mir die Abteilung zugeteilt hatte, und setzte mich laut knirschend auf die Bank. Im Zentrum stieg ich aus und trottete vor mich hin, als sei nichts geschehen. Ich traf immer mehr Hellebardiere, sie machten ihre Rundgänge zu zweit oder zu dritt, mitten auf der Straße. Als ich an einem Haus eine Hellebarde erblickte, die an der Mauer lehnte, nahm ich sie im Vorbeigehen mit und marschierte weiter. Meine Absonderung konnte jedoch seltsam erscheinen, also nutzte ich den Umstand, daß einer von drei vor mir schreitenden Wächtern in einen Torweg einbog, um die abrutschende Rüstung zu befestigen, und trat an die von ihm verlassene Stelle der Dreiergruppe. Die ideale Ähn lichkeit aller Roboter kam mir zustatten. Meine beiden Gefährten schwiegen eine Zeitlang, schließlich sagte einer: »Wann bekommen wir unseren Sold, Brebran? Die Langeweill setzt mir arg zu, und ich thät gar artig mit einer Elektrieze spielen.«

  »Recht sprichst du, Kamerad«, erwiderte der zweite, »unser Dienst ist nit leicht.«
  So durchquerten wir die gesamte Innenstadt. Ich schaute mich eifrig um und bemerkte unterwegs zwei Gaststätten, vor denen ein wahrer Wald von Hellebarden an den Wänden lehnte. Ich stellte jedoch keine Fragen. Die Beine taten mir schon ordentlich weh, außerdem war es in dem eisernen Kasten ziemlich stickig, denn die Sonne sengte herab, und die Nase juckte von dem rostigen Staub – ich fürchtete, ich müßte niesen, also versuchte ich etwas abzurücken, aber beide brüllten los: »He, Brüderchen! Wohin so eilig? Willst, daß dir die Obrigkeit die Stelzen zertrümmert? Bist am end toll worden?«
  »Mitnichten«, erwiderte ich, »hab mich nur ein Weilchen hinhocken wollen.«
  »Hinhocken? Hat dir die Pest die Spule versengt? Sind wir doch im Dienst, wackere Eisentonner!«
  »Nun denn«, erwiderte ich zustimmend, und wir marschierten weiter. Nein, dachte ich mir, so komme ich nicht voran. Ich muß anders an die Dinge herangehen. Wir streiften noch einmal durch die ganze Stadt, unterwegs hielt uns ein Offizier an.
  »Refernasor!« rief er.
  »Brentakurdwium!« schrien meine Gefährten zurück. Ich merkte mir gut Parole und Gegenparole. Der Offizier musterte uns von vorn und hinten und befahl uns, die Hellebarden höher zu halten.
  »Wollt ihr wohl richtig zupacken, ihr Liederjane!! Öfen seid ihr, nit aber Hellebardiere seiner Induktivität! Tritt gefaßt! Im Gleichschritt, marsch!«
  Die Hellebardiere nahmen die Besichtigung kommentarlos hin. Die Sonne stand im Zenit, und ich verfluchte den Augenblick, da ich beschlossen hatte, freiwillig zu diesem scheußlichen Planeten zu reisen; obendrein machte mir der Hunger im Gedärm zu schaffen. Ich befürchtete sogar, daß mich das Knurren verraten könnte, also bemühte ich mich, so laut wie möglich zu quietschen. Wir kamen an einer Gaststätte vorbei. Ich warf einen Blick hinein. Fast alle Tische waren besetzt. Die Großartigen oder – wie ich sie in Gedanken nach den Worten des Offiziers nannte – die Öfner saßen reglos da, in bläulichem Schmelz. Von Zeit zu Zeit rasselte einer von ihnen oder wandte den Kopf, um mit seinen gläsernen Blinkern auf die Straße zu schauen. Sie aßen nicht, sie tranken nicht, sie schienen nur auf irgend etwas zu warten. Der Kellner – ich erkannte ihn an seiner weißen Schürze, die er über der Rüstung trug – stand an der Wand.
  »Vielleicht setzen wir uns für eine Weile zu ihnen?« fragte ich, denn ich hatte mir schon in den eisernen Schuhen Blasen gelaufen.
  »Wahrlich, du bist ein Liederjan!« fielen meine Gefährten über mich her. »Setzen hat man uns nicht befohlen. Gehen ist unser Recht. Sorg dich nicht, die da werden schon mit List dem Leimer zu Leibe rücken, wann er kommt und mit dem Verlangen nach Suppe oder Milchbrei seine feindliche Natur kundtut.«
  Ohne davon ein Wort zu begreifen, trottete ich gehorsam weiter. Allmählich packte mich die Wut, doch schließlich lenkten wir unsere Schritte zu einem großen roten Ziegelgebäude, an dem die schmiedeeiserne Aufschrift hing:

HELLEBARDIERKASERNE
SEINER LICHTEN INDUKTIVITÄT KALKULATRICIUS DES ERSTEN

Am Eingang konnte ich meinen Gefährten entwischen. Die Hellebarde stellte ich neben den Wächter, als er sich mit Geklirr und Gerassel umdrehte, und trat in die nächste Nebenstraße. Gleich um die Ecke stand ein ziemlich großes Gebäude mit dem Schild SCHENKE ZUR AXT. Ich warf nur einen Blick hinein, doch der Hotelier, ein stämmiger Roboter mit einem kurzen Rumpf, kam mit munterem Knirschen heraus. »Willkommen, Euer Wohlgeboren, willkommen… Trage untertänigst meine Dienste an. – Vielleicht ein Zimmerchen gefällig?«

  »Fürwahr…«, begann ich, da zog er mich auch schon hinein. Während er mich die Treppe hinaufgeleitete, knarrte er mit seiner blechernen Stimme wie aufgezogen: »Pilger kömmen heutzutag in Scharen, o ja, in Scharen… Nirgends findest einen Großartigen, der nicht die Condensatores und Drähte Seiner Induktivität mit eigenen Blinkern besichtigen möcht… Hierher gestatten Euer Ehren, hier ein würdiges Appartamentum, bittschön, hier die Spielkemenate, dort das Gästezimmer… Gewiß sind Euer Wohlgeboren ermattet, der Staub knirscht in den Gelenken… Verstatten, bin im Nu mit dem Putzzeug zur Stell…«
  Er rasselte über die Treppe, und kaum hatte ich mich in dem dunklen, mit Eisenschränken und ebensolchem Bett möblierten Zimmer umgesehen, kehrte er mit einem Ölkännchen, einem Lappen und einer Flasche Sidol wieder. Nachdem er alles auf dem Tisch abgestellt hatte, sagte er leiser und ein wenig vertraulicher: »Sobald sich Euer Gnaden hergerichtet haben, bitt ich mit Verlaub, nach unten zu kommen… Für edlere Personen, wie Euer Gnaden, habe ich immer ein süßes kleines Geheimnis auf Lager… Eine Überraschung für muntere Späßchen…«
  Und er ging hinaus, mit seinen Photozellen linsend. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, ölte ich mich, putzte die Bleche mit Sidol und bemerkte, daß der Hotelier ein Blatt auf dem Tisch liegengelassen hatte, das an eine Menükarte erinnerte. Da ich genau wußte, daß die Roboter nichts essen, hielt ich sie mir erstaunt vor die Augen. »HOSPIZ II. Kat.« stand darüber.

Leimerkind, Enthauptung…………8 Ferkl.
Dass. mit Schauder……………….10 Ferkl.
Dass. weinerlich………………….11 Ferkl.
Dass. herzerweichend…………….14 Ferkl. Inventarium:
Beilige Sodomie, Stück…………….6 Ferkl.
Munteres Hacken………………….8 Ferkl.
Dass. Kleinkalb……………………8 Ferkl.

  Ich begriff nichts davon, aber mir lief ein Schauer über den Rücken, als aus dem angrenzenden Zimmer ein Krachen von ungewöhnlicher Lautstärke zu mir drang, so als versuchte der nebenan wohnende Roboter, sein Quartier in lauter Stücke zu schlagen. Die Haare standen mir zu Berge. Das war zuviel. Vorsichtig, bemüht, nicht zu klirren und zu rasseln, floh ich aus dieser schrecklichen Spelunke auf die Straße. Erst als ich weit weg war, atmete ich auf. Was fang ich Unseliger bloß an? überlegte ich. In der Nähe einer Schar Roboter, die Sechsundsechzig spielten, blieb ich stehen, als kiebitzte ich eifrig. Vorläufig wußte ich eigentlich noch nichts über die Beschäftigung der Großartigen. Ich konnte mich erneut in die Reihen der Hellebardiere schleichen, aber davon versprach ich mir nicht viel, und die Chance, entlarvt zu werden, war keineswegs gering. Was tun?
  In Gedanken versunken, schritt ich vor mich hin, bis ich auf einer Bank einen Roboter erblickte, der seine alten Bleche in der Sonne wärmte und sich den Kopf mit einer Zeitung zugedeckt hatte. Auf der Titelseite war ein Gedicht abgedruckt, das mit den Worten begann: »Bin ein entarteter schmucker großartiger Schlucker.« Wie es weiterging, weiß ich nicht. Allmählich entspann sich zwischen uns ein Gespräch. Ich stellte mich als Ankömmling aus der benachbarten Stadt vor, aus Sadomasia. Der alte Roboter war überaus herzlich. Er bat mich sogleich in sein Haus. »Was wollen Euer Ehren sich erst lange in den Schenken herumschlagen und sich mit den Wirtsleut streiten. Verstatten Sie, Sie zu mir zu begleiten. Hab ein gastlich Haus, stets dero untertänigster Diener. Freude wird mit dero ehrenwerten Person in meine bescheidenen Kemenaten einziehen.«
  Was blieb mir übrig? Ich willigte ein, und es war mir sogar recht. Mein neuer Wirt bewohnte ein eigenes Haus, drei Straßen weiter. Er führte mich sogleich in sein Gästezimmer.
  »Bei der langen Reis mußt du maßlos viel Staub geschluckt haben, Herr«, sagte er.
  Wieder wurden mir ein Ölkännchen, Sidol und Lappen gereicht. Ich wußte schon, was er sagen würde, die Roboter waren eben doch unkomplizierte Wesen. Und in der Tat: »Sobald sich der Herr hergerichtet haben, bitt ich mit Verlaub ins Spielzimmer zu kommen«, sagte er, »wir wollen gemeinsam Kurzweil treiben…«
  Er schloß die Tür. Ich berührte weder das Ölkännchen noch die Flasche Sidol, überprüfte jedoch im Spiegel den Zustand meiner Verkleidung, schwärzte mir die Zähne und wollte gerade hinuntergehen, ein wenig unruhig angesichts der »Kurzweil«, die mich erwartete, als aus der Tiefe des Hauses lautes Getöse zu mir drang. Diesmal konnte ich nicht mehr flüchten, ich stieg die Treppe hinunter, umgeben von einem solchen Gedröhn, als zerhacke jemand einen eisernen Klotz zu Spänen. Im Spielzimmer war der Teufel los. Mein Wirt, bis zum eisernen Rumpf entkleidet, hackte mit einem eigenartig geformten Beil eine große Puppe entzwei, die auf dem Tisch lag.
  »Bittschön, lieber Gast! Diese Rümpfchen stehen zu dero Vergnügen bereit«, sagte er, als er meiner ansichtig wurde. Er hörte mit dem Hacken auf und deutete auf eine zweite, etwas kleinere Puppe, die auf dem Fußboden lag. Als ich mich ihr näherte, setzte sie sich auf, öffnete die Augen und begann mit schwacher Stimme zu greinen: »Herr, ich bin ein unschuldig Kind, verschone mich… Herr, ich bin ein unschuldig Kind, verschone mich…«
  Der Wirt reichte mir ein Beil, das einer Hellebarde ähnelte, nur daß der Stiel kürzer war.
  »Nur zu, ehrenwerter Gast, hinfort mit den Sorgen, hinfort mit der Traurigkeit. Schlagt nur fest drauflos. Nur Mut!«
  »Nun… ich mag Kinder nicht«, entgegnete ich schwach. Er erstarrte.
  »Ihr möget sie nicht?« erwiderte er. »Schade. Da bin ich in arger Verlegenheit. Was fangt Ihr nun an? Ich habe nur die Kleinen da – das ist meine Schwäche, Verehrtester. Möchtet Ihr es nicht mit einem Kalb probieren?«
  Er holte ein durchaus handliches Plastkalb aus dem Schrank, das aufblökte, wenn man es drückte. Was sollte ich tun? Da ich nicht entlarvt werden wollte, hackte ich auf die unselige Puppe drauflos und schwitzte dabei tüchtig. Der Wirt hatte inzwischen beide Puppen gevierteilt; er legte das Werkzeug weg, das er Knochenbrecher nannte, und fragte, ob ich zufrieden sei. Ich versicherte ihm, daß ich schon lange nicht mehr ein solches Vergnügen gehabt hätte.
  So begann mein unfrohes Dasein auf Karelirien. Frühmorgens, nach dem Frühstück, das aus siedendem Öl bestand, begab sich der Wirt zur Arbeit, und seine Frau sägte eifrig etwas im Schlafzimmer, ich glaube Kälber, aber ich könnte es nicht beschwören. Ich hielt das Geblöke, das Geschrei und das Getöse nicht aus, also ging ich in die Stadt. Die Beschäftigung der Einwohner war ziemlich monoton. Vierteilen, Brechen am Rad, Verbrennen, Zersägen – im Zentrum befand sich ein Vergnügungspark mit Pavillons, in denen man die ausgefallensten Werkzeuge erwerben konnte. Nach ein paar Tagen konnte ich mein eigenes Taschenmesser nicht mehr ansehen, und nur der Hunger trieb mich in der Abenddämmerung vor die Stadt, wo ich eilig im Gebüsch Sardinen und Biskuits hinunterschlang. Kein Wunder, daß ich bei solcher Kost immer nahe einem Schluckauf war, was für mich eine tödliche Gefahr bedeutete. Am dritten Tag gingen wir ins Theater. Es wurde das Stück »Karbesaurius« gespielt, die Geschichte eines jungen, stattlichen Roboters, der von den Menschen, das heißt von den Leimern, schrecklich verfolgt wurde. Sie begossen ihn mit Wasser, schütteten ihm Sand ins Öl, lockerten ihm die Schräubchen, so daß er dauernd umfiel, und anderes mehr. Im Zuschauerraum klirrte es drohend. Im zweiten Akt erschien ein Sendbote des Kalkulators, der junge Roboter wurde befreit. Der dritte Akt befaßte sich eingehender mit den Menschen, deren Schicksal, wie man leicht erraten kann, nicht gerade beneidenswert war.
  Aus Langerweile kramte ich in der Hausbibliothek der Wirtsleute, aber sie enthielt nichts Interessantes: ein paar schäbige Nachdrucke des Tagebuchs des Marquis de Sade, sonst lauter kleine Broschüren wie Das Erkennen der Leimer;, aus der ich mir einige Abschnitte merkte. »Der Leimer«, so begann der Text, »ist über die Maßen weich, in seiner Konsistenz erinnert er an Piroggen… Die Augen sind stumpf, wässerig, sie sind das Abbild seiner seelischen Niedertracht. Ein gummiartiges Gesicht…« und so weiter, ganze hundert Seiten lang.
  Am Sonnabend kamen die lokalen Honoratioren zu uns, ein Meister der Blecherinnung, der Stellvertreter des Waffenschmieds der Stadt, ein Innungsobermeister, zwei Protokraten, ein Alzimurtan – leider kam ich nicht dahinter, was das für Berufe waren, denn man unterhielt sich vorwiegend über die schönen Künste, über das Theater, über das vollkommene Funktionieren Seiner Induktivität. Die Damen tratschten ein bißchen. Dadurch erfuhr ich von einem in höheren Kreisen sattsam bekannten Schurken und Leichtfuß, einem gewissen Poduxt, der ein liederliches Leben führte – er umgab sich mit Schwärmen elektrischer Bacchantinnen, die er mit den kostbarsten Spulen und Röhren förmlich verwöhnte. Mein Wirt ereiferte sich jedoch nicht sonderlich, als ich den Poduxt erwähnte.
  »Junger Stahl, junger Strom«, sagte er gutmütig. »Er wird schon noch rostig werden, die Widerstände werden sich verkleinern, da wird auch das Hauptrohr weich…«
  Eine gewisse Großartige, die bei uns ziemlich selten zu Gast war, fand aus mir unerklärlichen Gründen Gefallen an mir und flüsterte mir einmal – ich weiß nicht mehr nach dem wievielten Becher Öl – zu: »Du gefällst mir. Willst du mich? Wir könnten verschwinden und uns bei mir zu Hause elektrisieren…«
  Ich tat, als habe ein plötzliches Funkensprühen der Kathode mich daran gehindert, ihre Worte zu verstehen.
  Das Familienleben meiner Wirtsleute war im allgemeinen einträchtig, aber einmal wurde ich unfreiwillig Zeuge eines Streits; die bessere Ehehälfte schrie ihren Mann an und wünschte ihm, er mö ge sich in Schrott verwandeln, doch der erwiderte darauf nichts – wie alle Ehemänner.
  Bei uns verkehrte auch häufig ein vielbeschäftigter Elektromeister, der die städtische Klinik leitete. Da er ab und an von seinen Patienten erzählte, erfuhr ich, daß die Roboter zuweilen auch wahnsinnig würden; die schlimmste Geistestrübung sei die Überzeugung, sie seien Menschen. Und obwohl er das nicht ausdrücklich sagte, konnte ich doch seinen Worten entnehmen, daß in letzter Zeit die Anzahl solcher Fälle erheblich zugenommen hatte.
  Diese Neuigkeiten übermittelte ich jedoch nicht zur Erde, einmal deshalb, weil sie mir ziemlich dürftig erschienen, zum anderen, weil ich wenig Lust verspürte, durch die Berge zu marschieren zu der weit draußen zurückgelassenen Rakete, in der sich der Sender befand. Eines Morgens, als ich gerade mit meinem Kalb fertig war (meine Wirtsleute lieferten mir jeden Abend eins in der Überzeugung, mir keine größere Freude bereiten zu können), wurde draußen gegen die Tür gedonnert, daß es durch das ganze Haus dröhnte. Meine Befürchtung war nur zu gerechtfertigt. Polizei war da, d. h. die Hellebardiere. Ich wurde ohne jede Erklärung vor den Augen meiner verdutzten Wirtsleute auf die Straße geführt. Man legte mir Fesseln an, steckte mich in einen Wagen und fuhr mit mir zum Gefängnis. Dort stand bereits eine feindlich gestimmte Menge vor dem Tor und stieß haßerfüllte Rufe aus. Ich wurde in eine Einzelzelle gesperrt. Als die Tür hinter mir zuschlug, setzte ich mich mit einem lauten Seufzer auf die Blechpritsche. Jetzt konnte mir das nicht mehr schaden. Eine Weile überlegte ich, in wie vielen Gefängnissen ich in den verschiedensten Gegenden der Milchstraße schon gesessen hatte, aber es gelang mir nicht, eine genaue Zahl zu bestimmen. Unter der Pritsche lag etwas. Es war eine Broschüre über das Entlarven von Leimern! Hatte man sie zum Spott dorthin gelegt, aus gemeiner Bosheit? Unwillkürlich schlug ich sie auf. In dem Abschnitt wurde darüber berichtet, wie sich der obere Teil des Leimerrumpfes im Zusammenhang mit dem sogenannten Atmen bewege, wie man feststellen könne, ob die Hand, die er reicht, teigig sei, und ob aus seiner Mundöffnung ein leichtes Lüftchen dringe. Ist der Leimer erregt – so schloß der Abschnitt –, dann scheidet er eine wässerige Flüssigkeit aus, hauptsächlich auf der Stirn.
  Das war ziemlich genau. Ich schied diese wässerige Flüssigkeit aus. Dem Anschein nach ist die Erkundung des Universums etwas eintönig, und zwar durch die bereits erwähnten Gefängnisaufenthalte auf den Gestirnen, Planeten, ja sogar Nebelflecken, da sie in gewissem Sinne eine untrennbare Etappe dieser Erkundungen bilden – aber noch nie war meine Lage so schwarz gewesen wie jetzt. Gegen Mittag brachte mir der Wärter einen Teller warmen Öls, in dem etwas Schrot für die Kugellager schwamm. Ich bat um etwas Verdaulicheres, da ich ja nun schon entlarvt war, er jedoch knirschte nur ironisch und ging wortlos hinaus.
  Ich trommelte gegen die Tür und verlangte einen Rechtsanwalt. Niemand antwortete. Gegen Abend, als ich das letzte Biskuitkrümel, das sich in meinem Panzer befand, verzehrt hatte, rasselte der Schlüssel im Schloß, und ein stämmiger Automat mit einer dicken Ledertasche trat in die Zelle.
  »Sei verdammt, Leimer!« sagte er und fügte hinzu: »Ich soll dein Verteidiger sein.«
  »Begrüßt du deine Mandanten immer auf diese Weise?« fragte ich und setzte mich.
  Er setzte sich ebenfalls, rasselnd und klappernd. Er war abstoßend. Seine Bauchbleche hatten sich völlig gelockert.
  »Die Leimer ja«, sagte er mit Überzeugung. »Lediglich aus meiner Loyalität gegenüber meinem Beruf – nicht dir gegenüber, du ehrloser Wicht – werde ich meine Künste zu deiner Verteidigung entfalten, du Kreatur! Vielleicht gelingt es mir, die deiner harrende Strafe auf ein einmaliges Auseinandernehmen herabzumildern.«
  »Wieso«, sagte ich, »mich kann man doch nicht auseinandernehmen.«
  »Ha, ha!« knirschte er. »Das scheint dir nur so. Und jetzt sag, was führtest du im Schilde, du klebrige Kanaille!«
»Wie heißt du?« fragte ich.
»Klaustron Fridrak.«
»Klaustron Fridrak, sage mir, wessen ich bezichtigt werde.«
  »Der Leimigkeit«, erwiderte er sogleich. »Dafür bekommst du die Hauptstrafe. Und ferner der Absicht, uns zu verkaufen, des Spionierens zugunsten der Klumpe, des blasphemischen Plans, die Hand gegen Seine Induktivität zu erheben – mehr als genug, du schleimiger Leimer! Bekennst du dich schuldig?«
  »Bist du auch bestimmt mein Verteidiger?« fragte ich. »Du sprichst ja wie ein Staatsanwalt oder wie ein Untersuchungsrichter.«
  »Ich bin dein Verteidiger.«
  »Gut. Ich bekenne mich in keinem dieser Punkte schuldig.«
  »Die Fetzen werden von dir nur so fliegen«, brüllte er.
  Als ich sah, was ich für einen Verteidiger bekommen hatte, verstummte ich. Am Tag darauf wurde ich zum Verhör geführt. Ich gab nichts zu, obwohl der Richter womöglich noch schrecklicher donnerte als mein Verteidiger. Er brüllte, flüsterte und brach in blechernes Lachen aus, dann wieder erklärte er mir völlig ruhig, daß er eher anfangen werde zu atmen, denn daß ich der Gerechtigkeit der Großartigen entginge.
  Beim nächsten Verhör war ein wichtiger Würdenträger zugegen – nach der Anzahl der Röhren zu urteilen, die in ihm glühten. Vier weitere Tage verstrichen. Das schlimmste war der Hunger. Ich begnügte mich mit dem Hosengürtel, den ich in dem Wasser tränkte, das mir der Wärter einmal täglich brachte, wobei er den Topf weit von sich entfernt hielt, als trüge er Gift.
  Nach einer Woche ging der Gürtel zur Neige, aber ich hatte zum Glück hohe Schnürschuhe aus Ziegenleder an; ihre Zungen waren das Beste, was ich während meines Aufenthalts in der Zelle gegessen habe.
  Am achten Tag, am frühen Morgen, befahlen mir zwei Wärter, meine Sachen zu packen. Ich wurde in den Gefängniswagen ge steckt und unter Bewachung zum Eisernen Palast, dem Sitz des Kalkulators, gefahren. Über prunkvolle, nichtrostende Treppen, durch Säle, die mit Kathodenröhren bestückt waren, wurde ich in ein großes, fensterloses Zimmer geführt. Dort ließen mich die Wärter allein. Von der Decke hing ein schwarze Vorhang herab, der in faltigem Karree die Zimmermitte umgab.
  »Elender Leimer!« donnerte eine Stimme, die durch Rohre aus eisernem Untergrund zu dringen schien. »Deine letzte Stunde hat geschlagen. Sag, was du vorziehst: Häckselschneide, Knochenbrecher oder Bohrhydraulik?«
  Ich schwieg. Der Kalkulator erdröhnte, rauschte und ließ sich vernehmen: »Hör mich an, du leimige Kreatur, hergekommen aus der Ränkeschmiede der Klumpe! Vernimm meine mächtige Stimme, Schleimkleber, säuriger Nasenrotz! In der Großartigkeit meiner lichten Ströme gewähre ich dir eine Gnade: Wenn du auf die Seite meiner treuen Scharen übertrittst, wenn du mit ganzer Seele ein Großartiger sein möchtest, werde ich dir vielleicht dein Leben schenken.«
  Ich sagte, daß das schon lange mein Traum gewesen sei. Der Kalkulator stieß ein höhnisch-wieherndes, pulsierendes Lachen aus und versetzte: »Deine Lügen werde ich zu den Märchen legen. Hör zu, Fallsüchtiger. Du kannst dein klebriges Leben nur als großartiger Geheimhellebardier bewahren. Deine Aufgabe wird sein, alle Leimer, Spionierer, Agenten, Verräter und jegliches andere Gewürm, das die Klumpe herschickt, zu entlarven, zu enthüllen, du wirst ihnen die Visiere herunterreißen, sie mit weißglühenden Eisen ausbrennen. Nur durch diese Art untertänigen Dienstes kannst du dich retten.«
  Als ich alles feierlich versprochen hatte, führte man mich in einen anderen Raum, wo ich ins Register eingetragen wurde und den Befehl erhielt, täglich in der Haupthellebardei Meldung zu erstatten. Dann durfte ich, benommen und auf schwanken Beinen, den Palast verlassen.
  Dunkelheit brach herein. Ich ging hinaus vor die Stadt, hockte mich ins Gras und begann nachzudenken. Mir war schwer ums Herz. Hätte man mich enthauptet, dann wäre mir wenigstens meine Ehre geblieben, so aber, nachdem ich auf die Seite dieses elektrischen Ungeheuers übergegangen war, hatte ich die Sache verraten, die ich vertrat, hatte ich meine Chance vertan. Was sollte ich tun? Zur Rakete laufen? Das wäre schändliche Flucht gewesen. Trotzdem ging ich los. Das Schicksal eines Spitzels im Dienst einer Maschine, die über Kolonnen eiserner Kästen gebietet, wäre eine noch schlimmere Schande. Aber wer beschreibt mein Entsetzen, als ich an der Stelle, wo ich die Rakete verlassen hatte, nur zertrümmerte, von irgendwelchen Maschinen auseinandergezerrte Reste erblickte.
  Es war bereits dunkel, als ich in die Stadt zurückkehrte. Ich setzte mich auf einen Stein und schluchzte zum erstenmal in meinem Leben bitterlich vor Kummer über meine verlorene Heimat. Die Tränen rannen über das eiserne Innere dieses hohlen Panzers, der von nun an bis zu meinem Tod mein Gefängnis sein sollte, troffen durch die Knieritzen nach außen, drohten mit Rost und mit Versteifung der Gelenke. Aber nun war mir alles egal.
  Plötzlich erblickte ich vor dem Hintergrund des im Westen verglimmenden Lichts einen Zug Hellebardiere, der langsam zu den Vorstadtwiesen hinauszog. Sie verhielten sich eigenartig. Die abendliche Dämmerung wurde dichter, und in dieser Dunkelheit verschwanden sie einer nach dem andern einzeln aus den Reihen, möglichst leise die Beine bewegend, krochen ins Gebüsch und tauchten darin unter. Das erschien mir so merkwürdig, daß ich trotz meiner Niedergeschlagenheit leise aufstand und dem nächsten von ihnen folgte.
  Erwähnen möchte ich, daß dies eine Jahreszeit war, in der an den Vorstadtbüschen wilde Beeren wuchsen, im Geschmack den Blaubeeren ähnelnd, süß und überaus schmackhaft. Ich selbst hatte sie gegessen, sooft ich aus der eisernen Stadt entwischen konnte. Wer begreift meine Verblüffung, als ich sah, wie der von mir beobachtete Hellebardier sich mit einem kleinen Schlüssel, der aufs Haar dem glich, den mir der Bevollmächtigte der II. Abteilung ausgehändigt hatte, das Visier an der linken Seite öffnete, mit beiden Händen die Beeren pflückte und sie wie ein Wilder in den offenen Rachen stopfte. Bis zu mir drang das hastige, mampfende Schmatzen.
  »Pssst«, zischte ich durchdringend, »du, hör mal.«
  Mit einem Satz war er im Dickicht, aber er flüchtete nicht weiter, ich hätte es sonst gehört. Er mußte sich irgendwo hingekauert haben.
  »Hallo«, rief ich mit gedämpfter Stimme, »hab keine Angst. Ich bin ein Mensch. Ein Mensch. Ich bin ebenfalls verkleidet.« Ein vor Angst und Argwohn flammendes Auge musterte mich durch das Laub.
  »Wie soll ich wissen, ob hinters Licht zu führen nicht deine Absicht ist?« ertönte eine rauhe Stimme.
  »Aber ich sage dir doch. Hab keine Angst. Ich komme von der Erde. Man hat mich hierhergeschickt.«
  Ich mußte ihn noch eine Weile überzeugen, bevor er sich so weit beruhigte, daß er aus dem Gebüsch kroch. Er berührte meinen Panzer im Dunkeln.
  »Du bist ein Mensch? Fürwahr?«
  »Warum redest du nicht wie ein Mensch?« fragte ich.
  »Weil es mir entfallen. Es geht schon ins fünfte Jahr, wo mich ein grausiges Fatum hierhergebracht… Gelitten hab ich, daß sich’s nit in Worte fassen läßt… Oh, welch glückliche Fortuna, so mich noch vor meinem Tode einen Leimer erblicken läßt…«, stammelte er.
  »Besinn dich und hör auf, so zu sprechen! Hör mal – bist du etwa von der Geheimabteilung?«
  »Wie denn nicht. Fürwahr, ich bin von der Abwehr. Malingraut hat mich hierhergesandt, in dieses grausame Leid.«
  »Warum bist du nicht geflohen?«
  »Wie sollte ich fliehen, wenn man mir die Rakete auseinandergenommen und gänzlich zerstückelt hat? Bruder – es frommt mir nicht, hier zu sitzen. Es ist Zeit, in die Kaserne zu eilen… Halt, sehen wir uns noch? Kömmst du morgen vor die Kaserne… Kömmst du?«
  Ich verabredete mich also mit ihm, obwohl ich nicht einmal wußte, wie er aussah, und wir nahmen voneinander Abschied. Er schärfte mir ein, noch eine Weile zurückzubleiben, und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Mit neuem Mut kehrte ich in die Stadt zurück, denn ich sah die Chance, eine Widerstandsbewegung zu organisieren. Um Kraft zu schöpfen, ging ich in die erste Schenke, an der ich vorbeikam, und legte mich schlafen. Am Morgen, als ich mich im Spiegel betrachtete, bemerkte ich ein kleines, mit Kreide gezeichnetes Kreuz an der linken Brustseite, und wie Schuppen fiel es mir von den Augen: Dieser Mensch wollte mich verraten, deshalb hatte er mich gezeichnet! Der Schurke, wiederholte ich in Gedanken und erwog fieberhaft, was ich nun beginnen sollte. Ich wischte das Judaszeichen ab, aber das befriedigte mich nicht. Sicherlich hat er schon Bericht erstattet, dachte ich, und sie werden diesen unbekannten Leimer suchen, werden sicherlich ihre Register befragen; zuerst kamen natürlich die am meisten Verdächtigen dran – und ich stand ja bereits auf ihren Listen. Bei dem Gedanken, daß sie mich verhören würden, erbebte ich. Ich sah ein, daß ich auf irgendeine Weise den Verdacht von mir wenden müsse, und fand rasch eine Methode. Ich brachte den ganzen Tag in der Schenke zu und mißhandelte Kälber bis zur Unkenntlichkeit; in der ersten Abenddämmerung ging ich in die Stadt. In der Hand hielt ich ein Stückchen Kreide. Ich zeichnete damit an die vierhundert Kreuzchen auf die Panzer der Passanten – sobald mir einer in den Weg kam, wurde er gezeichnet. Gegen Mitternacht kehrte ich mit etwas leichterem Herzen in die Kneipe zurück, und erst da fiel mir ein, daß ja außer dem Judas, mit dem ich mich unterhalten hatte, auch noch andere Hellebardiere im Gebüsch verschwunden waren. Mir kam ein verblüffend einfacher Gedanke. Ich ging hinaus vor die Stadt, um Beeren zu pflücken. Gegen Mitternacht erschien wieder die eiserne Rotte, zerstreute sich langsam, lief auseinander, und aus den benachbarten Sträuchern drang hastiges Schnaufen und Schmatzen der eifrig kauenden Münder. Dann klickten die Verschlüsse der Visiere, und die ganze Gesellschaft kroch stumm aus den Büschen, vollgestopft mit Beeren wie die Brummkreisel. Da näherte ich mich ihnen, sie hielten mich im Dunkeln für einen der Ihren. Im Gehen malte ich meinen Nachbarn kleine Kreidekreise auf die Panzer, wo ich gerade konnte. Vor den Toren der Hellebardei machte ich kehrt und ging in meine Schenke zurück.
  Am nächsten Morgen setzte ich mich vor der Hellebardei auf die Bank und wartete, bis jene herauskamen, die einen Ausgangsschein besaßen. Als ich in der Menge einen entdeckte, der einen Kreis auf dem Schulterblatt hatte, folgte ich ihm, und als außer uns beiden niemand auf der Straße war, schlug ich ihm mit dem Handschuh auf den Rücken, daß er wie eine Glocke dröhnte, und sagte zu ihm: »Im Namen Seiner Induktivität! Folge mir!«
  Er erschrak dermaßen, daß er zu zittern anfing. Wortlos humpelte er mir nach, unterwürfig wie ein Kaninchen. Nachdem ich die Tür des Zimmers geschlossen hatte, begann ich ihm den Kopf abzuschrauben, mit dem Schraubenzieher, den ich in der Tasche hatte. Nach einer Stunde waren meine Bemühungen von Erfolg gekrönt. Ich hob ihn wie einen eisernen Topf hoch und erblickte ein vom ständigen Aufenthalt im Dunkeln erbleichtes, mageres Gesicht mit vor Angst hervorquellenden Augen.
  »Du bist ein Leimer?!« knurrte ich.
  »Jawohl, Euer Gnaden, aber…«
  »Was aber?!«
  »Aber ich bin doch registriert… Ich habe Seiner Induktivität Treue geschworen!«
  »Wie lange ist das her? Sprich!«
  »Drei… drei Jahre ist es her… Herr – wofür – wofür habt Ihr mich…«
»Warte«, sagte ich, »kennst du andere Leimer?«
  »Auf der Erde? Zu dienen, Euer Gnaden, gewiß, ich bitte um Gnade, ich will…«
  »Nicht auf der Erde, du Trottel, hier!«
  »Nein! Woher? Sobald ich einen erblicke, bin ich gleich da und melde, Euer Gna…«
  »Schon gut«, sagte ich. »Kannst gehen. Den Kopf drehst du dir selbst fest.«
  Ich drückte ihm alle Schräubchen in die Hand und drängte ihn hinaus. Ich hörte, wie er sich mit zitternden Händen den Schädel aufsetzte, und hockte mich aufs Bett, von alledem sehr erstaunt. Die ganz folgende Woche hindurch hatte ich eine Menge Arbeit, denn ich nahm Fußgänger von der Straße mit, jeden, der mir in die Quere kam. Meine Ahnung trog mich nicht: Alle, aber auch alle, waren Menschen! Ich fand unter ihnen nicht einen einzigen Roboter. Allmählich entstand vor meinem Auge ein apokalyptisches Bild…
  Ein Satan, ein elektrischer Satan – dieser Kalkulator! Was für eine Hölle hatten seine glühenden Drähte ausgebrütet! Der Planet war feucht, rheumatisch, für Roboter in höchstem Maße ungesund, offenbar waren sie massenhaft verrostet, vielleicht hatten auch mit den Jahren immer mehr Ersatzteile gefehlt, sie begannen Fehler aufzuweisen, einer nach dem anderen kamen sie auf den geräumigen Vorstadtfriedhof, wo nur der Wind mit den Bogen des zerbröckelnden Blechs ihnen das Totengeläut gab. Als der Kalkulator merkte, wie seine Reihen dahinschmolzen, und er seine Herrschaft in Bedrängnis geraten sah, vollzog er eine geniale Wendung. Aus Feinden, aus den zu seinem Verderb hergeschickten Spitzeln, begann er ein eigenes Heer, eigene Agenten, ein eigenes Volk zu formieren. Keiner der Entlarvten konnte Verrat üben – keiner wagte eine Kontaktaufnahme zu anderen als zu Menschen, denn er wußte nicht, daß sie keine Roboter waren, und selbst wenn er es von diesem oder jenem wußte, so hatte er Angst, der könnte ihn beim ersten Kontaktversuch verraten, wie das jener erste als Hellebardier verkleidete Mensch zu tun versuchte, den ich beim Beerenpflücken überrascht hatte. Der Kalkulator gab sich mit der Neutralisierung seiner Feinde nicht zufrieden – er machte jeden zum Kämpfer für die eigene Sache, und indem er ihn zwang, die anderen, neu hergeschickten Menschen zu verraten, lieferte er einen weiteren Beweis seiner höllischen Durchtriebenheit, denn wer vermochte wohl besser die eingeschleusten Menschen von Robo tern zu unterscheiden, wenn nicht eben jene Menschen selbst, die ja sämtliche Praktiken der Abwehr von Grund auf kannten!
  So fühlte sich jeder entlarvte, in die Register eingetragene und eingeschworene Mensch allein und fürchtete womöglich jene, die ihm ähnelten, mehr als die Roboter, denn die Roboter brauchten nicht Agenten der Geheimpolizei zu sein, die Menschen hingegen waren es durch die Bank. So hielt uns das elektrische Monstrum in der Sklaverei, indem es alle durch alle kontrollieren ließ, denn schließlich waren es meine Leidensgefährten gewesen, die meine Rakete zertrümmert hatten, ebenso – das erfuhr ich aus dem Munde des Hellebardiers – wie unzählige andere Raketen vorher.
  Die Hölle, ein Satan! dachte ich, zitternd vor Wut. Nicht genug, daß er die Menschen zum Verrat zwang, nicht genug, daß die Abteilung selbst ihm immer mehr von ihnen zu seiner eigenen Bequemlichkeit herschickte, man rüstete sie ihm auf der Erde auch noch mit der besten rostfreien Verkleidung aus. Waren denn unter diesen in Blech geschmiedeten Scharen überhaupt noch Roboter? Ich hegte ernste Zweifel. Nun wurde mir auch der Eifer verständlich, mit dem die Menschen verfolgt wurden. Da sie es selbst waren, mußten sie ja als Neophyten des Großartigseins mehr Roboter sein als die echten Roboter. Daher auch der wilde Haß, den mir mein Anwalt entgegenbrachte. Daher der schurkische Versuch, mich zu verraten, den jener Mensch, den ich als ersten entlarvt hatte, unternahm. Welche Dämonie der Spulen und Wicklungen, welche elektrische Strategie!
  Die Enthüllung des Geheimnisses hätte nichts genützt; man hätte mich auf Befehl des Kalkulators ohne Umschweife ins Verlies geworfen – die Untertänigkeit fesselte die Menschen zu lange, zu lange schon heuchelten sie Untertänigkeit und Anhänglichkeit gegenüber diesem elektrifizierten Beelzebub; sie hatten ja sogar ihre Sprache verlernt.
  Was tun? Sich in den Palast schleichen? Das war ein wahnwitziges Unterfangen. Doch was blieb mir übrig? Eine unheimliche Geschichte: Eine Stadt, umgeben von Friedhöfen, auf denen die in Rost verkehrten Roboterhaufen des Kalkulators ruhten, er indes regierte weiter, stärker denn je, seiner Sache gewiß, weil ihm die Erde immer neue und neue Scharen schickte – eine Teufelei. Je länger ich überlegte, um so besser begriff ich, daß selbst diese Entdeckung, die zweifellos vor mir so mancher von uns gemacht hatte, nichts an der Lage änderte. Einzeln konnte er nichts tun, er mußte sich jemandem anvertrauen, und das bedeutete unweigerlich Verrat, der Verräter rechnete natürlich mit einer Beförderung, er sah es darauf ab, sich die besondere Gnade der Maschine zu erkaufen. Beim heiligen Elektricius! dachte ich, er ist ein Genie… Und während ich so darüber nachsann, bemerkte ich, daß ich selbst schon ein wenig die Grammatik und die Syntax archaisierte, daß sich auch mir diese Pest mitteilte, daß mir das Aussehen der eisernen Rümpfe natürlich erschien und das Menschengesicht als etwas Nacktes, Häßliches, Unanständiges – eben Leimernes vorkam. Du lieber Himmel, ich werde wahnsinnig, dachte ich, und die anderen sind sicherlich schon lange ein bißchen verdreht – Hilfe!
  Nach einer Nacht, die ich mit düsteren Betrachtungen zubrachte, ging ich in ein Warenhaus im Zentrum, kaufte für dreißig Ferklose das schärfste Hackebeil, das ich bekommen konnte, und stahl mich nach Einbruch der Dunkelheit in den großen Garten, der den Palast des Kalkulators umgab. Dort, im Gebüsch versteckt, befreite ich mich mit Hilfe einer Zange und eines Schraubenziehers von meinem eisernen Panzer und kletterte leise, barfuß an der Regenrinne hinauf ins obere Geschoß. Ein Fenster stand offen. Im Flur schritt ein Wärter dumpf dröhnend auf und ab. Als er mir am anderen Ende des Flurs den Rücken zukehrte, sprang ich vom Fensterbrett, rannte rasch zur ersten Tür und trat leise ein – er hatte mich nicht bemerkt.
  Das war derselbe große Saal, in dem ich die Stimme des Kalkulators vernommen hatte. Finsternis herrschte darin. Ich schob den schwarzen Vorhang beiseite und erblickte die gewaltige, bis zur Decke reichende Wand des Kalkulators mit Uhren, die wie Augen leuchteten. An der Seite war ein weißer Ritz sichtbar. Dort befand sich eine Tür, die nur angelehnt war. Ich näherte mich ihr auf Zehenspitzen und hielt den Atem an.
  Das Innere des Kalkulators sah wie ein kleines Zimmer in einem zweitrangigen Hotel aus. Hinten stand ein kleiner, halboffener Panzerschrank, im Schloß steckte ein Schlüsselbund. An einem Schreibtisch, der mit Papieren bedeckt war, saß ein ältlicher, hagerer Mann in grauem Anzug, mit bauschigen Ärmelschonern, wie sie Büroangestellte tragen, und schrieb, indem er Seite für Seite gedruckte Formulare ausfüllte. Neben seinem Ellenbogen dampfte ein Glas Tee. Auf einem kleinen Teller lagen ein paar Kekse. Ich trat auf Zehenspitzen herein und schloß hinter mir die Tür. Sie quietschte nicht.
  »Psst«, sagte ich, während ich das Hackebeil mit beiden Händen hochhob.
  Der Mann zuckte zusammen und sah mich an; das blitzende Hackebeil in meinen Händen versetzte ihn in panische Angst. Sein Gesicht verzerrte sich, er fiel vom Stuhl auf die Knie.
  »Nein!« stöhnte er. »Nicht!«
  »Wenn du die Stimme erhebst, kommst du elend um«, sagte ich. »Wer bist du?«
  »He… Heptagonius Argusson, Euer Gnaden.«
  »Ich bin kein Euer Gnaden. Du sollst mich mit Herr Tichy anreden, verstanden?!«
  »Jawohl, ja, ja!«
  »Wo ist der Kalkulator?«
  »He… Herr…«
  »Einen Kalkulator gibt es gar nicht, wie?«
  »Jawohl! Einen solchen Befehl hatte ich!«
  »Bitte, von wem, wenn man fragen darf?«
  Er zitterte am ganzen Körper.
  Flehend hob er die Hände. »Das kann übel enden«, stöhnte er. »Mitleid! Zwingen Sie mich nicht, Euer Gna… Verzeihung! Herr Tichy! Ich – ich bin nur ein Beamter der sechsten Besoldungsgruppe…«
  »Nein, was höre ich? Und der Kalkulator? Und die Roboter?«
  »Herr Tichy, erbarmen Sie sich! Ich will die ganze Wahrheit sagen! Unser Chef – er hat das organisiert. Es ging um Kredite, um die Erweiterung der Tätigkeit, um eine größere… äh… Operativität… die Tauglichkeit unserer Leute sollte überprüft werden, aber die Hauptsache waren die Kredite…«
  »Also war alles fingiert? Alles?«
  »Ich weiß es nicht! Ich schwöre! Seit ich hier bin – hat sich nichts geändert, glauben Sie nicht, daß ich hier regiere. Gott bewahre! Meine Aufgabe ist nur das Ausfüllen von Personalakten. Es ging darum, ob… ob unsere Leute im Angesicht des Feindes, in einer kritischen Situation zusammenbrechen oder ob sie bereit sind zu sterben.«
  »Und warum kehrte niemand zur Erde zurück?«
  »Weil… weil alle verraten haben, Herr Tichy… Bisher war keiner bereit, für die Klumpe in den Tod zu gehen… Pfui, für uns, wollte ich sagen, das ist mir nur so rausgerutscht, aus Gewohnheit, das müssen Sie verstehen. Elf Jahre sitze ich hier, in einem Jahr erwarte ich meine Pensionierung, ich habe Frau und Kinder, Herr Tichy, ich flehe Sie an…«
  »Halt’s Maul!« sagte ich ärgerlich. »Die Pensionierung erwartest du Schurke, ich werde dir schon eine Pensionierung verschaffen!«
  Ich hob das Hackebeil. Dem Beamten traten die Augen aus den Höhlen, er rutschte auf den Knien zu mir.
  Ich befahl ihm aufzustehen. Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß der Panzerschrank einen kleinen vergitterten Luftschacht besaß, schloß ich den Kerl ein.
  »Kein Sterbenswörtchen! Und daß du es ja nicht wagst, Lärm zu schlagen oder zu klopfen, du Halunke, sonst mach ich Kleinholz aus dir!«
  Der Rest war nun einfach. Ich verbrachte eine anstrengende Nacht, denn ich wertete die Papiere aus – es waren Berichte, Rapporte, Formulare, für jeden Einwohner des Planeten eine eigene Akte. Dann polsterte ich mir den Schreibtisch mit der geheimsten Korrespondenz und legte mich schlafen. Am frühen Morgen schaltete ich das Mikrophon ein und gab, als Kalkulator, den Befehl, die gesamte Bevölkerung auf dem Palastplatz zu versammeln. Jeder habe Zange und Schraubenzieher mitzubringen. Als sich alle wie gigantische Schachfiguren aufgestellt hatten, befahl ich, daß sie sich gegenseitig die Köpfe abschrauben sollten, zu Ehren der Enthauptung des heiligen Elektricius. Um elf kamen die ersten menschlichen Köpfe zum Vorschein, Tumult brach aus, es herrschte ein wildes Chaos. Schreie wie »Verrat! Verrat!« wurden laut, die sich wenige Minuten später, als der letzte eiserne Kugelkopf aufs Pflaster fiel, in einen einzigen Jubelschrei verwandelten. Dann zeigte ich mich in meiner eigenen Gestalt und empfahl, sie sollten unter meiner Leitung an die Arbeit gehen. Ich wollte nämlich aus den einheimischen Rohstoffen und Materialien ein großes Raumschiff bauen. Wie sich jedoch herausstellte, befanden sich in den Kellerräumen des Palastes mehrere einsatzbereite Raumschiffe mit vollen Treibstofftanks. Vor dem Start ließ ich Argusson aus dem Panzerschrank, ich nahm ihn jedoch nicht an Bord und gestattete auch keinem, ihn mitzunehmen. Ich versprach, seinem Chef ausführlich zu berichten und ihm, ebenso ausführlich, zu sagen, was ich von ihm halte.
  So endete eine meiner abenteuerlichsten, außergewöhnlichsten Reisen. Ungeachtet aller Mühen und Qualen war ich froh, daß die Sache eine solche Wendung genommen hatte, denn ich erlangte wieder meinen von den kosmischen Betrügern so stark strapazierten Glauben an die angeborene Lauterkeit der Elektronenhirne. Wie angenehm zu wissen, daß nur ein Mensch ein solcher Schurke sein kann.


ZWÖLFTE REISE




Wohl auf keiner meiner Reisen hatte ich so schreckliche Gefahren auszustehen wie bei meiner Expedition nach Amauropien, einem Planeten im Sternbild des Zyklopen. Was ich dort erlebte, verdanke ich Professor Tarantoga. Dieser hervorragende Astrozoologe ist ja nicht nur ein berühmter Forscher – bekanntlich ist er in seiner Freizeit obendrein Erfinder. Unter anderem hat er eine Flüssigkeit zur Ausmerzung unerfreulicher Erinnerungen erfunden, ferner die Banknoten mit der liegenden Acht, dem Symbol für unendlich hohe Geldbeträge, dann drei verschiedene Methoden der photogenen Färbung von Nebelschwaden sowie ein Spezialpulver, das auf die Wolken gestreut wird, um ihnen dauerhafte Formen zu verleihen. Sein Werk ist ferner die Apparatur zur Verwertung der ansonsten – da Kinder keinen Augenblick stillhalten können – vergeudeten kindlichen Energie.
  Besagte Vorrichtung besteht aus einem ganzen System von Kurbeln, Blöcken und Hebeln, die an verschiedenen Stellen der Wohnung angebracht sind. Sie werden von den Kindern, beim Spielen hin- und hergeschoben, gezogen und versetzt, so daß sie unbewußt Wasser pumpen, waschen, Kartoffeln schälen, Strom erzeugen und so weiter. Es ließ dem Professor keine Ruhe, daß unsere Kleinsten von ihren Eltern bisweilen allein gelassen werden, und so erfand er schließlich unentflammbare Streichhölzer, wie sie bereits massenhaft auf der Erde hergestellt werden.
  Eines Tages zeigte mir der Professor seine neueste Erfindung. Im ersten Moment glaubte ich, einen Kanonenofen zu sehen, und in der Tat gestand mir Tarantoga, daß ihm ein solcher als Ausgangsprodukt gedient habe.
  »Das, mein lieber Ijon, ist die Verwirklichung eines uralten Traumes der Menschheit«, erklärte er, »ein Zeitstrecker oder Zeit verlangsamer, wie man’s nimmt. Er gestattet, das Leben beliebig zu verlängern. Eine Minute währt dann etwa zwei Monate, wenn mich meine Berechnungen nicht trügen. Möchtest du den Apparat nicht ausprobieren?«
  Da ich nun einmal alle technischen Neuheiten mit gespanntem Interesse verfolge, nickte ich eifrig und quetschte mich in den Kanonenofen. Kaum hatte ich mich niedergekauert, da knallte der Professor die Tür zu. Durch die Erschütterung stiegen alte Rußteilchen auf, mir juckte die Nase, und als ich einatmete, mußte ich niesen. In ebendem Augenblick schaltete der Professor den Strom ein. Die Verlangsamung des Zeitablaufs hatte zur Folge, daß mein Niesen fünf Tage dauerte, und als Tarantoga den Apparat wieder aufmachte, sah er mich fast bewußtlos vor Erschöpfung. Er blickte zunächst verwundert und schien besorgt, aber als er erfuhr, was vorgefallen war, lächelte er gutmütig und meinte: »In Wirklichkeit sind nur vier Sekunden vergangen. Nun, Ijon, was sagst du zu dieser Erfindung?«
  »Tja, wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich noch nicht, daß sie vollkommen ist, obwohl sie Beachtung verdient«, antwortete ich, als es mir gelungen war, wieder Atem zu holen.
  Der wackere Professor schaute mich leicht bekümmert an, doch dann schenkte er mir hochherzig den Apparat und wies noch einmal darauf hin, daß dieser ebensogut zum Verlangsamen wie zum Beschleunigen der Zeit zu gebrauchen sei. Da ich mich leicht erschöpft fühlte, lehnte ich vorläufig ab, es mit dieser zusätzlichen Möglichkeit zu versuchen, bedankte mich aber herzlich und brachte den Apparat nach Hause. Offen gestanden, ich wußte nicht recht, was ich damit anfangen sollte, und so stellte ich ihn auf den Dachboden meiner Raketengarage, wo er wohl ein halbes Jahr herumstand.
  Als der Professor am achten Band seiner berühmten Astrozoologie schrieb, mußte er sich eingehend mit den Lebewesen auf Amauropien befassen. Da fiel ihm ein, daß sich diese Wesen ja ausgezeichnet dafür eignen würden, den Zeitstrecker (und zugleich Zeitbeschleuniger) zu erproben.
  Kaum hatte ich mich mit seinem Plan vertraut gemacht, da war ich Feuer und Flamme, und drei Wochen später hatte ich meine Rakete bereits mit Proviant und Treibstoff vollgeladen, nahm die Karten dieser mir weniger bekannten Milchstraßengegend sowie den Apparat an Bord und startete ohne weitere Verzögerung. Das ist begreiflich, denn die Reise nach Amauropien dauert ungefähr dreißig Jahre. Wie ich mir unterwegs die Zeit vertrieb, werde ich vielleicht einmal an anderer Stelle berichten. Von den Dingen, die mir besonders auffielen, sei lediglich erwähnt, daß ich in der Umgebung des galaktischen Kerns (in Klammern möchte ich hinzufügen, daß es kaum einen Ort im Kosmos gibt, der staubiger wäre als dieser) einem Stamm interplanetarer Vagabunden begegnet bin.
  Diese Unglücklichen – wir nennen sie Exiliaten – haben überhaupt keine Heimat. Vorsichtig ausgedrückt, sind es phantasievolle Geschöpfe, denn fast jeder wußte mir etwas anderes über die Geschichte seines Stammes zu berichten. Später hörte ich, sie hätten ihren Planeten einfach verschleudert, da sie aus schnöder Habgier Raubbergbau getrieben und verschiedene Mineralien exportiert hatten. In ihrem Förderwahn zerwühlten sie das Innere des Planeten so, daß es ganz verwüstet wurde; schließlich blieb nur eine riesige Höhle, die eines Tages unter ihren Füßen zusammenbrach. Manche behaupten auch, die Exiliaten hätten sich einfach auf einer ihrer Sauftouren verirrt und nicht mehr heimgefunden. Was wahr daran ist, läßt sich nicht mehr eindeutig klären, jedenfalls sieht niemand diese interstellaren Vagabunden gern; wenn sie auf ihrem Zug durchs Vakuum an einem Planeten vorbeigekommen sind, so zeigt sich bald, daß irgend etwas fehlt: Entweder ist ein wenig Luft verschwunden, oder ein Fluß ist plötzlich ausgetrocknet, oder man bekommt die Zahl der Inseln nicht mehr zusammen.
  Auf Ardenurien haben sie, wie es heißt, sogar einen ganzen Kontinent stibitzt, zum Glück einen unbebauten, da er vereist war. Sie lassen sich gern zur Reinigung und Regulierung von Monden anheuern, doch vertraut ihnen kaum einer solch verantwortungsvolle Aufgaben an. Ihre Kinder werfen den Kometen Steine nach, reiten auf morschen Meteoren umher – mit einem Wort, man hat lauter Scherereien mit ihnen. Ich ließ mir die Sache durch den Kopf gehen und gelangte zu dem Schluß, daß solche Existenzbedingungen nicht befriedigen können; so unterbrach ich denn meine Reise und machte mich geschwind ans Werk, und zwar mit Erfolg, denn es gelang mir, einen noch recht ansehnlichen Mond aufzutreiben. Ein wenig aufgebessert, konnte er dank meiner guten Beziehungen zum Planeten avancieren.
  Luft gab es dort allerdings nicht, allein ich organisierte eine Kollekte; die Bewohner aus der Nachbarschaft legten zusammen, und man hätte sehen müssen, mit welcher Freude die braven Exiliaten auf ihrem nunmehr eigenen Planeten Einzug hielten! Ihre Dankesbezeigungen wollten kein Ende nehmen. Nachdem ich mich herzlich von ihnen verabschiedet hatte, setzte ich meine Reise fort. Nach Amauropien waren es nur noch etwa sechs Quintillionen Kilometer. Als ich diese letzte Etappe meiner Route zurückgelegt und den richtigen Planeten gefunden hatte (dort sind ihrer so viele wie Sand am Meer), ging ich nieder.
  Beim Einschalten der Bremsen stellte ich zu meinem Entsetzen plötzlich fest, daß sie nicht funktionierten und ich wie ein Stein nach unten sauste. Als ich durch die Luke schaute, merkte ich, daß gar keine Bremsen mehr vorhanden waren. Voller Empörung dachte ich an die undankbaren Exiliaten zurück, aber mir blieb keine Zeit für Betrachtungen, ich durchraste nämlich schon die Atmosphäre, und meine Rakete glühte wie ein Rubin – einen Augenblick noch, und ich wäre bei lebendigem Leibe verkohlt.
  Zum Glück fiel mir im letzten Moment der Zeitstrecker ein; ich schaltete einen Gang an, der die Zeit so langsam verstreichen ließ, daß mein Fall auf den Planeten ganze drei Wochen dauerte. Als ich so dem Unheil entronnen war, begann ich mich in meiner neuen Umgebung umzusehen.
  Die Rakete hatte sich auf einer geräumigen Lichtung niedergelassen, die von einer bläulichen Waldmauer umringt war. Über den Bäumen, deren Äste Polypenarmen glichen, schwirrten und wirbelten mit großer Geschwindigkeit smaragdgrüne Gebilde. Bei meinem Anblick stob eine Herde Wesen, die eine erstaunliche Menschenähnlichkeit hatten, wenn man von ihrer schillernden Saphirhaut absah, zwischen die violetten Sträucher. Ich hatte schon von Tarantoga dieses und jenes über sie erfahren, nun zog ich den Kosmonautischen Ratgeber aus der Tasche und entnahm ihm weitere Informationen.
  Der Planet war von einer Gattung menschenähnlicher Wesen bewohnt, die – laut Text – Mikrozephalen hießen und auf einer äußerst niedrigen Entwicklungsstufe standen. Meine Versuche, mich mit ihnen zu verständigen, blieben erfolglos. Das Nachschlagwerk sagte ganz offensichtlich die Wahrheit. Die Mikrozephalen krochen auf allen vieren, machten hin und wieder Männchen und lausten sich mit größter Geschicklichkeit. Wenn ich näher kam, glotzten sie mich aus Smaragdaugen an und belferten ohne Sinn und Verstand. Außer durch mangelnde Vernunft zeichneten sie sich durch einen sanften und gutmütigen Charakter aus.
  Zwei Tage lang wanderte ich durch den blauen Wald und die Steppen ringsum, und als ich dann wieder bei der Rakete anlangte, legte ich mich ins Bett. Da kam mir der Beschleuniger in den Sinn. Ich beschloß, ihn für mehrere Stunden in Betrieb zu nehmen; am nächsten Morgen wollte ich dann nachsehen, ob er etwas zuwege gebracht hätte. Ich schleppte ihn also mit vieler Mühe aus der Rakete, stellte ihn unter den Bäumen auf und schaltete Zeitbeschleunigung ein. Dann ging ich wieder zu Bett und schlief den Schlaf des Gerechten.
  Ein heftiges Rütteln weckte mich. Ich schlug die Augen auf und erblickte über mir mehrere Köpfe von Mikrozephalen, die, nunmehr auf zwei Beinen, über mich gebeugt standen und sich lärmend unterhielten, während sie mit großem Interesse meine Arme hin und her bewegten; als ich Widerstand zu leisten versuchte, hätten sie mir die Arme beinahe aus den Gelenken gerissen. Der größte unter ihnen, ein lilafarbener Hüne, öffnete mir gewaltsam den Mund, steckte seine Finger hinein und begann meine Zähne zu zählen. Vergebens suchte ich mich zu wehren – ich wurde auf die Lichtung getragen und am Heck der Rakete angebunden. In dieser Lage mußte ich zusehen, wie die Mekrozephalen alles mögliche aus der Rakete herausschleppten; sperrige Gegenstände, die sich nicht durch die Lukenöffnung zwängen ließen, schlugen sie zuvor kurz und klein. Mit einemmal brach ein Steinhagel über die Rakete und die geschäftigen Mikrozephalen herein; ich selbst wurde am Kopf getroffen. Gefesselt, vermochte ich nicht in die Richtung zu schauen, aus der die Geschosse herflogen. Ich hörte nur Kampflärm. Endlich ergriffen meine Bezwinger die Flucht. Andere Mikrozephalen liefen herbei, befreiten mich von den Fesseln und trugen mich auf den Schultern unter Beweisen hoher Wertschätzung in den Wald.
  Die feierliche Prozession hielt am Fuße eines weitausladenden Baumes, von dessen Ästen ein Luftzelt mit Fensterchen an Lianen herunterhing. Man schob mich durch das kleine Fenster hinein, daraufhin fiel die unter dem Baum versammelte Menge auf die Knie und hob an zu psalmodieren. Ganze Reihen von Mikrozephalen brachten mir Blumen- und Früchteopfer dar. In den folgenden Tagen wurde ein Kult mit mir getrieben: Die Priester lasen aus meinem Mienenspiel die Zukunft, und wenn es ihnen Unheil zu verkünden schien, beweihräucherten sie mich so sehr, daß ich beinahe erstickte. Zum Glück schaukelte der Priester bei der Darbringung der Brandopfer meine kleine Kapelle, so daß ich von Zeit zu Zeit ein wenig Luft schnappen konnte.
  Am vierten Tage wurden meine Anbeter von einer keulenbewehrten Schar Mikrozephalen unter Führung des Riesen, der seinerzeit meine Zähne gezählt hatte, überfallen. Im Laufe des Kampfes ging ich von Hand zu Hand, wurde so abwechselnd Gegenstand der Anbetung und der Verachtung. Die Schlacht endete mit einem Sieg der Aggressoren, deren hünenhafter Anführer Wurmflug hieß. An eine Stange gebunden, die von Verwandten des Recken getragen wurde, nahm ich an seiner triumphalen Heimkehr ins Lager teil. Mich so zu transportieren bürgerte sich hernach ein; seitdem war ich eine Art Standarte, die auf allen Kriegszügen vorangeschleppt wurde. Das war für mich zwar beschwerlich, dafür aber mit gewissen Vorrechten verknüpft.
  Als mir der Dialekt der Mikrozephalen einigermaßen vertraut geworden war, begann ich Wurmflug klarzumachen, daß er und seine Untertanen mir allein ihre stürmische Entwicklung verdankten. Das brauchte seine Zeit, doch kaum schien es bei ihm zu dämmern, da wurde er bedauernswerterweise von seinem Vetter Klethops vergiftet. Dem gelang es, die einander befehdenden Wald- und Wiesen-Mikrozephalen zu vereinen, indem er die Priesterin des Waldstammes, Mastosymase, zum Weibe nahm.
  Als Mastosymase mich beim Hochzeitsmahl erblickte (ich war Voresser – Klethops hatte dieses Amt eingeführt), brach sie in den freudigen Ruf aus: »Hast du aber eine süße weiße Haut!« Das erfüllte mich mit bösen Ahnungen, die sich bald verwirklichen sollten. Mastosymase erwürgte ihren Gatten im Schlaf und ehelichte mich sozusagen zur linken Hand. Nun versuchte ich ihr meine Verdienste um das Geschlecht der Mikrozephalen klarzumachen, aber sie faßte das falsch auf, denn schon nach meinen ersten Worten zeterte sie: »Aha, du hast mich satt!«, und es bedurfte einer langen Zeit, sie wieder zu besänftigen.
  Bei der nächsten Palastrevolution kam Mastosymase ums Leben, mir selbst gelang es, durch einen Sprung aus dem Fenster zu entwischen. Von unserer Verbindung blieb lediglich das Weiß-Lila der Staatsflagge. Nach meiner geglückten Flucht in den Wald stieß ich auf die Lichtung, wo mein Beschleuniger stand; ich wollte ihn schon ausschalten, da kam mir der Gedanke, es wäre doch vernünftiger, abzuwarten, daß die Mikrozephalen eine Zivilisation aufbauten, die mehr demokratischen Geist verriete.
  Eine Zeitlang lebte ich im Walde und nährte mich von Wurzeln. Nur nachts wagte ich mich in die Nähe des Lagers, das sich mit Riesenschritten in eine von hohen Palisaden umgebene Stadt verwandelte.
  Die seßhaften Mikrozephalen trieben Ackerbau, die Städtischen fielen über sie her, schändeten ihre Frauen, plünderten und morde ten. Bald entwickelte sich daraus der Handel. Zu dieser Zeit festigten sich die Glaubensbekenntnisse, deren Ritual von Tag zu Tag reicher wurde. Zu meinem Bedauern hatten die Mikrozephalen die Rakete von der Lichtung in die Stadt gebracht und sie als Götzen auf dem größten Platz aufgestellt; sie umgaben ihn mit einer Mauer und ließen Posten aufziehen. Mehrmals rotteten sich die Bauern zusammen, überfielen Lilaburg – so hieß die Stadt – und zerstörten es mit vereinten Kräften bis auf die Grundmauern, doch folgte jedesmal ein stürmischer Wiederaufbau.
  Diesen Kriegen setzte König Sarzepanos ein Ende. Er brandschatzte die Dörfer, ließ Wälder und Bauern niedermähen und siedelte die Überlebenden als Sklaven auf den Äckern vor der Stadt an. Da ich keine Bleibe hatte, zog ich nach Lilaburg. Durch meine Beziehungen – die Palastdienerschaft kannte mich noch aus der Mastosymasezeit – erhielt ich den Posten eines Hofmasseurs. Sarzepanos gewann mich lieb und beschloß, mir die Würde des Staatshäscherassistenten im Range eines Obertorturanten zu verleihen. In meiner Verzweiflung trieb es mich zu jener Lichtung, wo mein Beschleuniger arbeitete; ich stellte ihn auf Höchstleistung. In der Tat starb Sarzepanos noch in jener Nacht an Völlerei, und Trymon der Bläuliche, Befehlshaber der Armee, bestieg den Thron. Er führte die Beamtenhierarchie, die Steuern und die Zwangsrekrutierung ein. Mich rettete meine Hautfarbe vor dem Militärdienst. Man erklärte mich zum Albino, und als solcher durfte ich mich nicht dem Königssitz nähern. Ich lebte unter den Sklaven, die mich Ijon den Blassen nannten.
  Ich begann nun Gleichheit für alle zu propagieren und rückte meinen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung der Mikrozephalen ins rechte Licht. Bald hatten sich viele Anhänger dieser Lehre, Maschinisten genannt, um mich geschart. Es gab Aufruhr und Unruhen, im Blute erstickt von der Garde Trymons des Bläulichen. Der Maschinismus wurde mit der Todesstrafe durch Totkitzeln bedroht.
  Ich mußte mehrmals fliehen und in den städtischen Teichen Zuflucht suchen, meine Jünger aber waren grausamen Verfolgungen ausgesetzt. Später erschienen immer mehr Personen aus den höheren Kreisen zu meinen Vorlesungen, natürlich inkognito. Als Trymon eines tragischen Todes starb – er hatte in seiner Zerstreutheit vergessen, Atem zu holen –, übernahm Karbagas der Vernünftige die Macht. Er war Anhänger meiner Lehre, die er zur Staatsreligion erhob. Man erkannte mir den Titel »Betreuer der Maschine« zu und gab mir eine herrliche Residenz neben dem Königshof. Ich hatte schrecklich viel zu tun und weiß selber nicht, wie es dazu kam, daß die mir untergebenen Priester plötzlich Thesen von meiner himmlischen Abkunft verkündeten. Zu dieser Zeit gewann die Sekte der Antimaschinisten an Einfluß, die behaupteten, die Mikrozephalen entwickelten sich auf natürliche Weise, ich hingegen sei ein ehemaliger Sklave, der sich mit Kalk weißgetüncht habe und in betrügerischer Absicht das Volk verdumme.
  Die Anführer der Sekte wurden ergriffen, und der König verlangte, daß ich als der Betreuer der Maschine sie zum Tode verurteilte. Ich sah keinen anderen Ausweg, flüchtete durchs offene Palastfenster und hielt mich wieder einige Zeit in den städtischen Teichen verborgen. Eines Tages erreichte mich die Nachricht, daß die Priester die Himmelfahrt Ijons des Blassen verkündeten, der nach Erfüllung seiner planetarischen Mission zu seinen himmlischen Eltern zurückgekehrt sei. Ich begab mich nach Lilaburg, um die Sache richtigzustellen, aber die Menge, die vor meinen Abbildern im Staube lag, wollte mich steinigen, kaum daß ich den Mund aufgetan hatte. Die Priesterwache gewährte mir Schutz, jedoch nur, um mich als Usurpator und Gotteslästerer einzulochen. Drei Tage lang wurde ich gescheuert und geschabt, denn man wollte die angebliche weiße Tünche abkratzen, mit deren Hilfe ich mich, laut Anklage, für den himmelwärts gefahrenen heiligen Ijon ausgegeben hatte. Da ich trotz aller Maßnahmen nicht blau wurde, sollte ich gefoltert werden. Aus dieser Bedrängnis gelang es mir dank einem Wächter, der mir etwas blaue Farbe zusteckte, zu entkommen. Flugs lief ich in den Wald zum Beschleuniger, und nach längerem Manipulieren hatte ich seine Wirkung verstärkt, in der Hoffnung, dadurch den baldigen Anbruch einer anständigen Zivi lisation herbeizuführen. Danach hielt ich mich wieder zwei Wochen in den städtischen Fischteichen verborgen.
  Ich kehrte in die Metropole zurück, als die Republik, die Inflation, die Amnestie und die Gleichheit aller Stände ausgerufen wurden. An den Ortseingängen wurden schon Ausweispapiere verlangt, und da ich keine besaß, verhaftete man mich wegen Vagabundierens. Wieder freigelassen, nahm ich, da mir die Mittel zum Lebensunterhalt fehlten, den Posten eines Boten im Ministerium für Kultur an. Die Kabinette wechselten mitunter zweimal in vierundzwanzig Stunden, da aber jede Regierung ihre Geschäfte damit begann, die Erlasse der vorangegangenen zu annullieren und neue herauszugeben, hatte ich mit dem Austragen der Rundschreiben alle Hände voll zu tun. Zu guter Letzt bekam ich Schwären an den Füßen und reichte meine Entlassung ein; meinem Ersuchen wurde jedoch nicht stattgegeben, da gerade Kriegszustand herrschte. Nachdem ich die Republik, zwei Direktorien, die Restauration der aufgeklärten Monarchie, die Diktatur des Generals Isegraus sowie seine Enthauptung als Hochverräter erlebt hatte, manipulierte ich, unzufrieden mit der langsamen Entwicklung, von neuem an dem Apparat, mit dem Erfolg, daß ein Schräubchen brach. Ich nahm mir das nicht sehr zu Herzen; doch siehe da, einige Tage später bemerkte ich, daß etwas Seltsames geschah. Die Sonne stieg im Westen hoch, auf dem Friedhof waren eigenartige Geräusche zu hören und wandelnde Leichen zu sehen, deren Zustand sich mit jedem Moment besserte, die Erwachsenen schrumpften zusehends zusammen, und die kleinen Kinder verschwanden irgendwo.
  Die Herrschaft des Generals Isegraus kehrte wieder, sodann die aufgeklärte Monarchie, das Direktorium, schließlich die Republik. Als ich mit eigenen Augen den Begräbniszug des Königs Karbagas zurückweichen sah, als derselbe dann nach drei Tagen vom Katafalk auferstand und entbalsamiert wurde, da blieb kein Zweifel mehr: Ich hatte den Apparat beschädigt, um die Zeit lief jetzt rückwärts. Das schlimmste war, daß ich an mir selbst Anzeichen der Verjüngung feststellte. Ich beschloß zu warten, bis Karbagas I. auferstanden und ich wieder der Große Maschinist geworden wäre, denn dann könnte ich meinen damaligen Einfluß geltend machen und zu der als Götze dienenden Rakete gelangen.
  Am unangenehmsten war das unheimliche Tempo der Verwandlungen; ich war nicht sicher, ob ich jenen Augenblick noch erleben würde. Täglich stellte ich mich im Hof an einen Baumstamm und ritzte in Höhe meines Kopfes einen Strich ein – ich wurde mit rasender Geschwindigkeit kleiner! Als ich, wieder unter Karbagas, »Betreuer der Maschine« war, sah ich höchstens wie ein Neunjähriger aus, und da wollte noch der Proviant für die Reise gesammelt sein. Ich trug ihn nachts in die Rakete, was mir schwere Mühe bereitete, da meine Kräfte zusehends schwanden. Zu meinem Entsetzen mußte ich feststellen, daß ich in Mußestunden ein unwiderstehliches Verlangen spürte, Zeck zu spielen.
  Als das Vehikel reisefertig war, kroch ich im Morgengrauen hinein und wollte den Starthebel packen – vergebens, er war zu hoch. Erst von einem Hocker aus konnte ich ihn verschieben. Ich wollte eine Verwünschung ausstoßen, bekam aber nur ein armseliges Piepsen heraus. Beim Start hatte ich noch auf meinen Füßen gestanden, jedoch der empfangene Impuls wirkte eine Zeitlang nach, denn als der Planet schon wie ein weißlicher Fleck in der Ferne schimmerte, vermochte ich gerade noch auf allen vieren die Milchflasche zu erreichen, die ich mir zubereitet hatte. Ganze sechs Monate war ich auf diese Art Kost angewiesen.
  Die Fahrt nach Amaropien dauert, wie ich eingangs erwähnte, etwa dreißig Jahre, so daß ich bei meiner Rückkehr zu den Freunden auf der Erde kein Aufsehen erregte. Ich bedaure nur, daß es mit meiner Phantasie nicht weit her ist, sonst brauchte ich Tarantoga nicht aus dem Wege zu gehen und könnte mir, ohne ihn zu verletzen, irgendein Märchen aus den Fingern saugen, das seinem Entdeckergeist schmeicheln würde.


DREIZEHNTE REISE




Mit widerstrebenden Gefühlen gehe ich an die Beschreibung dieser Expedition, die mir mehr gebracht hat, als ich je erwarten konnte. Als ich von der Erde aufbrach, hatte ich mir das Ziel gesteckt, einen unendlich fernen Planeten im Sternbild der Krabbe anzusteuern, den Hinterschein, der im Weltraum dadurch berühmt wurde, daß er eine der hervorragendsten Persönlichkeiten des Kosmos, den Meister Oh, hervorgebracht hat. Diese Koryphäe der Wissenschaft heißt in Wirklichkeit anders, aber ich nenne den Meister so, weil es nicht möglich ist, seinen Namen in einer der Sprachen unserer Erde wiederzugeben. Ein Kind, das auf dem Hinterschein geboren wird, erhält unzählige Titel und Auszeichnungen sowie einen Namen, der nach unseren Begriffen ungewöhnlich lang ist.
  Als Meister Oh auf die Welt kam, erhielt er den Namen Gridipidagititositipopokarturtegwauanatopocotuototam. Man ernannte ihn zur Güldenen Stütze des Seins, zum Doktor der Vollendeten Sanftmut, zur Lichten Possibilitativen Allseitigkeit und so weiter und so fort. In dem Maße, wie er heranwuchs und sich bildete, wurde ihm jeweils von Jahr zu Jahr ein Titel und ein Teil des Namens genommen, und da er außerordentliche Fähigkeiten bewies, hatte man ihm bereits im dreiunddreißigsten Lebensjahr die letzte Auszeichnung entzogen, zwei Jahre später besaß er überhaupt keinen Titel mehr, und seinen Namen bezeichnete im Hinterscheinalphabet nur ein einziger, obendrein stummer Buchstabe, welcher »himmlischer Hauch« bedeutet – so etwas wie einen unterdrückten Seufzer, den man vor übermäßiger Achtung und Wonne äußert.
  Nun wird der geschätzte Leser gewiß verstehen, weshalb ich die
sen Weisen Meister Oh nenne. Dieser Mann, genannt der »Wohltäter des Kosmos«, widmete sein ganzes Leben der Beglückung ungezählter galaktischer Stämme und schuf in unermüdlichem Fleiß die Lehre von der Erfüllung aller Wünsche, die auch als Allgemeine Prothesentheorie bezeichnet wird. Daher rührt bekanntlich die Definition, die er seiner eigenen Tätigkeit gegeben hat; er nennt sich, wie jeder weiß, Prothet.