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EL COMANDANTE
Er fuhr aus dem Schlaf hoch, als die Nacht hereinbrach. Zuerst wusste er nicht recht, wo er war. Als er endlich erkannte, dass er nicht in Marias kleinem Zimmer war, begann er herumzubrüllen: »Du Riesenhornochse! Du hast die Frau deines Lebens getroffen! Wahrscheinlich die einzige, die du je geliebt hast. Sie wartet auf dich! Und du, du liegst da wie ein Blödmann und hältst Siesta in einem Hotelzimmer!«
Er holte seinen Koffer aus dem Wandschrank und fing an, alles, was im Zimmer herumlag, hineinzuschmeißen.
Als er endlich hastig den Koffer schließen wollte – er hatte Zeit mit der Suche nach dem hartgekochten Ei verloren, das ihm unter das Bett gerollt war –, klingelte das Telefon.
»Papa, ich bin’s, Jo! Beweg deinen Hintern! Es ist superwichtig!«
»Das trifft sich gut, dass du mich anrufst, Sohn, ich verschwinde aus Havanna. Ich melde mich in zwei, drei Tagen bei dir. Sag die nächsten Vorstellungen ab. Sag einfach, ich hätte keine Stimme mehr.«
»Warte, Papa! Jetzt spiel nicht verrückt, das geht jetzt nicht, unten wartet ein Wagen auf dich.«
»Perfekt! Ich brauche ein Auto.«
»Nein, Papa! Du verstehst mich nicht. Es ist ein offizieller Wagen! Du wirst erwartet!«
»Wer außer Maria sollte mich erwarten?«
»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen. Na los! Beeil dich und komm runter!«
Drei Bullen in Zivil, die Knarre in der Hose, warteten in der Halle auf ihn, als er aus dem Aufzug trat.
»Was wird das denn hier?«, fragte der Alte. »Die verhaften mich!«
»Aber nein, Papa, komm, steig ein!«
Der Alte zwängte sich in den Mercedes mit getönten Scheiben.
»Jo, mein Junge, kannst du mir sagen, was dieser ganze Zirkus zu bedeuten hat?«
»Der Comandante will dich sehen.«
»Der Comandante?«
»Fidel, Papa! Höchstpersönlich! Man hat ihm von deiner Vorstellung gestern erzählt und jetzt will er dich kennenlernen.«
»Fidel?«
Der Alte fühlte sich, als hätte ihm jemand eins übergebraten: Fidel höchstpersönlich sollte ihn empfangen, ihn, den jämmerlichen Boulevardschauspieler? Selbst wenn man ihm ein Gespräch mit Jesus angekündigt hätte, hätte das nicht eine solche Wirkung gehabt. Wie durch ein Wunder sprangen alle Ampeln der Quinta Avenida auf Grün und hinter drei Motorrädern mit heulenden Sirenen sauste der Mercedes durch Havanna.
Sie brauchten kaum fünf Minuten bis nach Miramar.
Dann fuhren sie durch eine lange grüne Allee über ein von Stacheldraht umzäuntes Grundstück und hielten schließlich vor der Veranda einer großen Kolonialvilla.
Im Sturmschritt durchquerten sie das Haus und fanden sich plötzlich in einem friedlichen Garten wieder. In einem Schaukelstuhl mitten auf einer Wiese saß Fidel, umgeben von mehreren Personen, die Kaffee tranken.
»Willkommen, Poet!«, sagte Fidel, während er sich erhob. Dann drückte er Pedros zitternde Hand. »Sie müssen gestern Abend im Melia großartig gewesen sein! Man hat mir von Ihrem Duo mit der Lehrerin erzählt. Da hatte ich auf einmal Lust, Sie kennenzulernen.«
Woher wusste er, dass sie Lehrerin war? Trotz der Aufregung schoss Pedro sofort dieser Gedanke durch den Kopf. Er hätte wissen müssen, dass Fidel alles wusste.
»Ich habe getan, was ich konnte, Comandante. Diese junge Frau hat mir das Leben gerettet. Ich hatte ein Blackout, sie hat das Gedicht an meiner Stelle fortgeführt. Ich wusste nicht, dass die Kubaner Prévert so gut kennen.«
»Die Kubaner kennen jeden gut, den sie lieben. Und sie lieben jeden, der sie liebt«, erklärte Fidel. Der Alte konnte den bohrenden Blick des Comandante förmlich spüren. Offenbar hatte er gelernt, seine Gesprächspartner gleich auf den ersten Blick abzuschätzen.
Es hieß, der Comandante sei alt und müde. Doch Pedro fand ihn – ganz in Gegenteil – unglaublich jung. Natürlich nicht äußerlich. Man sah Fidel sein Alter an.
Doch er hatte etwas Schalkhaftes an sich, eine Art kindlicher Freude, es machte ihm Spaß, seine Umgebung zu überraschen und auch zu verfuhren. Fidel besaß einen unglaublichen Charme, den weder Fernsehen noch Radio rüberbringen konnten.
Man beurteilt das Alter eines Mannes oder einer Frau nach ihrer Macht der Verführung. Pedro hatte einmal gelesen, dass der Tod einen Mann oder eine Frau in der Regel — von Unfällen abgesehen – dann ereilt, wenn er oder sie jeglichen Charme, jegliche Macht der Verführung verloren hat.
Man erzählte sich, dass Fidel ein turbulentes Liebesleben gehabt habe. An jenem Abend gelangte Pedro zu der Überzeugung, dass ebendieses für den Comandante noch lange nicht vorbei war, und während er seinen Kaffee trank, fragte er sich, welche der anwesenden Frauen wohl seine Geliebte war.
Während Fidel sich wieder setzte, herrschte eine ganze Weile lang Schweigen. Dann sprach Fidel mit fester Stimme:
»Ich liebe nicht nur Prévert! Er war ein großer, kommunistischer Dichter, einer von der seltenen Sorte, die dem Kommunismus auch nach Krisen und Erschütterungen treu geblieben sind, aber ich liebe auch Frankreich und – jetzt werden Sie sicher staunen«, hier lächelte er und blickte in die Runde, um zu sehen, welche Wirkung er hervorrufen würde, »ich liebe französischen Käse. General de Gaulle sagte einmal, wie schwierig es sei, ein Volk zu regieren, das tausendzweihundert verschiedene Sorten Käse herstellt. Ich sage, dass es schwierig ist, sich nicht für Käse zu interessieren, wenn man Frankreich liebt. Ihr alter Botschafter, Jean-Raphaël Dufour, hat in Haiti Wunderbares geleistet, er hat Aristide gerettet. Er war ein aufrichtiger Freund Kubas und ich habe gern mit ihm zu Abend gegessen. Nun, jedes Mal, wenn ich zu ihm ging, gelang es ihm irgendwie, mir Käse anzubieten. Er ließ ihn sich im Diplomatenkoffer bringen. Sie können sich denken, wie der Koffer gerochen hat.«
Der Comandante lachte leise über diese alberne Erinnerung und fügte hinzu: »Sie werden sicher bemerkt haben, compañeros, dass ich der einzige große Regierende dieser Welt bin, der noch nicht seine Memoiren geschrieben hat.«
»Das stimmt, Comandante!«, rief eine Frau in Uniform. »Sie sollten Ihre Memoiren schreiben.«
Vielleicht war sie seine Geliebte. Sie war eine große Mulattin mit blauen Augen und üppigem Haar. Und so wohlgeformt, dass das undankbare olivgrüne Kostüm an ihr aussah, als hätte Yves Saint Laurent persönlich es ihr auf den Leib geschneidert.
Fidel sah sie fest an und fuhr dann fort: »Ich halte mich nicht oft mit der Vergangenheit auf. Die Zukunft finde ich viel spannender! Es gibt noch so vieles zu tun. Meine Memoiren werden andere schreiben, und ich bin sicher, dass sie jede Menge Unsinn über mich sagen werden. Aber lassen wir das. Ich habe immer gesagt: ›Sollte eines Tages jemand meine Memoiren schreiben, so soll er nicht vergessen, daran zu erinnern, dass ich französischen Käse mochte, und auch Jacques Prévert. Apropos Jacques Prévert, wie hieß dieses Gedicht noch mal? Für dich, Geliebte! Kennen Sie das?« Er kratzte sich am Bart und blickte Pedro tief in die Augen.
»Ich war auf dem Vogelmarkt
Und habe Vögel gekauft
Für dich
Geliebte«
Fidel hielt inne, beugte sich im Schaukelstuhl nach vorn und drückte Pedros Hand voller Zuneigung. »Fahren Sie fort, Poet. Sie werden es besser aufsagen können als ich.«
Und so rezitierte Pedro in jener heißen Nacht in Miramar sein erstes Gedicht vor einem der Großen der Welt.
»Ich war auf dem Blumenmarkt
Und habe Blumen gekauft
Für dich
Geliebte
Ich war auf dem Eisenmarkt
Und habe Ketten gekauft
Schwere Ketten
Für dich
Geliebte
Und dann war ich auf dem Sklavenmarkt
Und hab dich gesucht
Aber ich hab dich nicht gefunden
Geliebte.«
Das Publikum applaudierte. Pedro erhob sich und empfahl sich mit einer kindlichen Verneigung.
Der Comandante stand ebenfalls auf und drückte Pedros Hand.
»Verzeihen Sie mir, dass ich Sie habe herkommen lassen. Das war nicht nur eine Laune, wissen Sie. Ich bin keine Diva, die Künstler zu ihren Privataudienzen bittet. Aber Sie müssen wissen, dass man schon 667-mal versucht hat, mich zu töten.« Er brach in Gelächter aus. »Die müssen wirklich bescheuert sein, diese Amerikaner. Können Sie sich das vorstellen? 667-mal, und ich bin immer noch da und geh ihnen auf den Sack! Jedenfalls gehe ich nicht mehr ins Theater, meine Freunde lassen mich nicht. Danke, dass Sie gekommen sind und willkommen in Kuba!«
Die Audienz war beendet. Fidel verschwand im Haus. Alle Anwesenden erhoben sich und verließen schweigend den Garten.
Abgesehen von der jungen Frau in Uniform.
Als hätte er seine Gedanken erraten, näherte sich ihm Abel Prieto, der Kulturminister, legte ihm eine Hand auf den Arm und flüsterte: »Sie ist schön, nicht? Aber es ist nicht, wie Sie denken. Sie ist nur eine Leibwächterin.«