14
SANTERÍA
Havanna, November
Er erreichte Havanna in einem Zustand totaler Euphorie, überglücklich, wieder da zu sein.
Und als er später über den Malecón fuhr, schrie Jo im Chor mit Mingus, der aus dem Ghettoblaster auf dem Rücksitz plärrte, seine Freude heraus:
»Oh my lordl
I wanna eat that chicken!
Eat that chicken!
Eat that chiiii — cken!«
Er hielt nicht einmal bei sich zu Hause an, sondern raste auf direktem Weg zu Nieve.
Im Hof spielte die kleine Reglita mit leeren Coladosen. Als sie das Dreirad erblickte, strahlten ihre Augen.
»Mira Niña, mi amor, lo que te trajé!«
»Es Yoyo, es Yoyo!«
So nannte sie Jo, der fand, dass Yoyo sehr gut zu ihm passte, da er immerzu kam und ging.
»Mima! Es Yoyo!«
Ohne einen Unterschied zu machen, nannte sie ihre Mutter und ihre Großmutter beim selben Namen, »Mima«, einer Koseform von Mama.
»Dónde está mama?«, fragte Jo und hielt die Kleine dabei auf dem Dreirad fest, damit sie nicht herunterplumpste.
»No está, Jo!«, antwortete ihm Nieves Mutter, die aus ihrer schäbigen Behausung trat.
Sie hatte es mit trauriger Stimme gesagt. Aber sie lächelte dennoch, als sie das Dreirad erblickte.
»Y dónde está?«, fragte Jo, während er seinen Koffer gleich im Hof auspackte und, als er die Mutter sah, hinzufügte: »Mira Mamita todo lo que te trajé para Navidad, whisky, chocolate, pâte, perfume! Mamita, vamos a hacer la fiesta!«
Aber die Alte hatte die Geschenke nicht einmal angesehen.
Sie hatte sich Jo langsam genähert, sich vor ihm hingekniet, sein Gesicht in die Hände genommen, ihn mit Tränen in den Augen angesehen und ihm, beinahe in einem Kuss, so nahe waren ihre Lippen beieinander, zugeflüstert: »Está muerta Jo!« – »Sie ist tot!«
––– ¤ –––
Zwei Tage zuvor war Régis gekommen, um die Geschenke ihres Bruders aus Miami zu bringen. Er hatte Nieve mit der Kleinen im Patio vorgefunden.
Als er ihr verkündet hatte, dass Jo nach Paris geflogen war, hatte sich in Nieves Gesicht für einen Moment Panik breitgemacht.
Aber er hatte dem keine große Beachtung geschenkt, denn er war in Eile gewesen.
Dennoch hatte er genug Zeit gehabt, einen Mann zu bemerken, der, die Kleine auf dem Schoß, im Patio auf dem Mäuerchen saß.
»Das war Reglitas Vater«, erklärte Mamita, während sie Jo, der kraftlos im Hof sitzen geblieben war, einen Whisky brachte.
»Ein Schurke! Ein guajiro aus Oriente. Er hat sich aus dem Staub gemacht, noch bevor die Kleine geboren wurde, hat nie wieder von sich hören lassen, ist sie nie besuchen gekommen. Ich weiß nicht, welcher Scheißkerl ihm erzählt hat, dass Nieve mit einem Ausländer verlobt ist. Jedenfalls hat er angefangen, im Viertel rumzuschnüffeln. Und dann, eines Abends, das war vor zwei Tagen, stand er auf einmal vor der Tür.
Nieve hat zu ihm gesagt, dass er verschwinden soll. Aber er hat sie erpresst, er hat die Kleine gestreichelt und ihr gedroht, dass er die Vaterschaft anerkennen würde, um zu verhindern, dass sie nach Europa gehen könne. Er wollte einfach nur Geld, das ist offensichtlich.
Aber Nieve hat nicht nachgegeben und dann ist er gegangen.
Am nächsten Tag kam er wieder. Also hat Nieve ihm vorgeschlagen, einen Rum trinken zu gehen. Sie dachte, es wäre falsch gewesen, sich am Abend vorher so aggressiv verhalten zu haben, immerhin ist er ja der Vater der Kleinen.
Nach zwei Stunden kam sie wieder und bat mich, ihr Zöpfe einzuflechten. Ich habe nicht gewagt, ihr Fragen zu stellen.
Sie ist an dem Abend nicht nach Hause gekommen. Ein Mädchen aus unserem Viertel hat mir erzählt, dass sie sie mit einem Ausländer gesehen hätte, in der Casa de la Música.
Der Ausländer war offenbar fasziniert von Nieve. Sie haben stundenlang miteinander getanzt.
Gestern Morgen kamen die Bullen und haben mir mitgeteilt, dass man sie unter einem Baum gefunden hat, auf dem Platz an der Ecke 42. und 25. Straße. Sie ist erwürgt worden. Sie konnten nicht sagen, ob sie vergewaltigt worden ist. Mit einem blöden Grinsen haben sie mir gesagt, dass man das bei Nutten nie wissen könne. Auf jeden Fall hatte sie viel Alkohol im Blut. Anscheinend war es ihnen scheißegal, dass sie nicht den geringsten Hinweis auf ihren Mörder hatten. Ich habe ihnen auch nichts von dem guajiro erzählt, was hätte das gebracht, sie ist ja ohnehin tot!«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Jo und stürzte seinen dritten Whisky runter.
»Im Leichenschauhaus.«
»Wir fahren hin, Mamita! Lass die Kleine bei der Nachbarin.«
––– ¤ –––
Da die Besuchszeit vorbei war, musste er dem Wächter zehn Dollar zahlen, damit er Nieves Schublade öffnete.
»Diese Schweine!«, flüsterte Mamita weinend, »sie lassen sich sogar die Toten bezahlen!«
In ihrer Eisenkiste schien Nieve zu schlafen. Ihre Zöpfe waren ordentlich geflochten, ihr Kleid unversehrt. Einen Kampf hatte es nicht gegeben, so viel war sicher.
»Wie viel kostet es, sie anständig bestatten zu lassen, irgendwo, wo die Kleine sie später besuchen kann?«
»Wir sind illegal hier, Jo! Ansonsten wäre es gratis.«
»Man muss hundert Dollar rechnen, für eine provisorische Genehmigung auf dem Cristobal Colon«, sagte der Wächter. »Ich kann das für Sie arrangieren, kommen Sie morgen früh wieder.«
Als er die Schublade schließen wollte, hielt die Alte ihn zurück.
»Soll ich ihr nicht ihre Zöpfe aufmachen, bevor sie bestattet wird?«
»Gern, Mamita, tu das. Das fände ich schön.«
Zärtlich hatte die Alte Nieves Zöpfe aufgemacht und lange ihr Gesicht gestreichelt.
Ohne die Zöpfe wirkte Nieve noch kindlicher, afrikanischer. Als Mamita fertig war, legte Jo seine Lippen auf die Stirn der Toten. Ihr Kopf war eiskalt, wie Leichen nun einmal sind, im Leichenschauhaus. Für einen Moment klebten Jos Lippen an der eisigen Haut, dann, als ob sie noch lebte, waren Wassertropfen über ihre Stirn geperlt und hatten sich mit Jos Tränen vermischt, die über ihre Nase in die Mundwinkel liefen.
»Leb wohl, meine kleine afrikanische Königin! Leb wohl, meine kleine Nieve! Bitte verzeih mir!«, flüsterte Jo, als der Leichenträger die schwere Schublade wieder schloss.
Mamita nahm seine Hand und zog ihn auf die Straße.
Jo brachte sie nach Hause und gab ihr die hundert Dollar.
»Ich komme morgen Abend wieder.«
»Nein, geh nicht weg!«, flehte Mamita. »Trink noch einen Whisky, Jo, ich hab das Gefühl, dass ich dich nie mehr wiedersehe.«
Sie stiegen in den ersten Stock hinauf, wo sich das einzige Zimmer befand. Ein Loch, das auf eine Gemeinschaftsgalerie hinausging. Jo hatte dieses Zimmer nie betreten. Er hatte immer vor der Tür auf Nieve gewartet.
Mamita schob den Cousin hinaus, der auf die Kleine aufgepasst hatte.
»Setz dich, Jo. Diese drei Stühle hier hat Nieve gleich am Tag nach eurer ersten Begegnung gekauft. Jeden Tag hat sie etwas gekauft. Es ist sehr eng hier, aber sie wollte, dass es komfortabel ist. Soll ich dir den Fernseher anmachen? Der Fernseher ist auch von dir, Jo, aus der zweiten Woche.«
»Nein, danke, Mamita, lass den Fernseher aus, gib mir nur ein Glas.«
»Nimm die Flasche und bedien dich. Schließlich ist es deine Flasche. Ich kümmere mich inzwischen um die Heiligen, damit sie für meine Kleine sorgen.«
In einer Ecke des Zimmers, auf einem wackligen Regal, bemerkte Jo einen Santería-Altar.
»Fast alles, was du hier siehst, Jo, kommt von dir«, sagte Mamita und begoss den Altar mit Wasser. Dann zündete sie eine Kerze an. Nun konnte Jo alle Kultgegenstände deutlich sehen.
»Sieh dir die kleine Whiskyflasche an, die hast du eines Abends vom Flughafen mitgebracht.«
Jo erkannte die Miniflasche, eine von denen, die an Bord der A.O.M.-Maschinen serviert wurden.
»Und die Zigarre, das ist die, die du auf der Treppe im Patio hast liegen lassen, an dem Abend, als du auf Nieve gewartet hast, um mit ihr ins Capri zu gehen. Der Honig ist für die Liebe. Die Krawatte, damit du bei deiner Arbeit glücklich bist, sie hat sie dir geklaut.« Mamita brach in Gelächter aus. »Du hast es gar nicht gemerkt, hm? Die Socken, damit du immer weiter gehst, immer hübsch geradeaus, und damit du tust, was du tun musst.«
Mamita lachte und weinte zugleich, als sie die verschiedenen Gegenstände aufzählte, die ihren erbärmlichen Altar bildeten. Ein Altar zu Jos Ehren, nach seinem Bilde.
»Wir legen die Zöpfe neben die Socken. Mit der Rückseite nach vorn, damit es so aussieht, als wäre das Gesicht dahinter, der Wand zugedreht. So kann man sich bei Kerzenschein und wenn man einen sitzen hat, vorstellen, dass sie schläft, und man kann ganz leise mit ihr reden, nicht, Jo?«
»Ja, Mamita, so machen wir es«, erwiderte Jo, während er seine Flasche leerte. Auf einer Matratze zu seinen Füßen schlief das Kind.
––– ¤ –––
Als die Flasche leer war, erhob Jo sich schwankend.
»Kommst du mich wieder besuchen, Jo? Kommst du die Kleine besuchen?«
Mamita redete wie ein Kind, mit zarter Stimme.
»Natürlich komme ich wieder, Mamita! Und Weihnachten feiern wir, du wirst sehen.«
Sie begann erneut zu weinen.
»Es wird nicht mehr so sein wie vorher, Jo! Ich hab ihr so gern Zöpfe eingeflochten, bevor sie zu dir in die Calle Neptuno ging. Weißt du, wenn sie am nächsten Tag zurückkam, erzählte sie mir alles! Sie sagte: Gestern hat Jo mich auf die Nase geküsst, er hat mir den Kopf gestreichelt, er hat mich von hinten genommen. Meine Nievita hat mir alles erzählt. Und ich bin richtig ins Träumen geraten, sie war so glücklich! Sie hat dich so sehr geliebt! Was soll ich jetzt tun?«
»Du wirst es machen wie ich, Mamita, du wirst leben. Für die Kleine.«
Die Alte nahm seine Hand und küsste sie, lange, wie sie als Kind in Santiago die Hand ihres Vaters geküsst hatte.
»Ich hab dich gern, Jo, du wirkst nicht wie ein Ausländer.«
––– ¤ –––
Als er über den Malecón zurückkehrte, fuhr Jo an hundert Jineteras vorbei.
Alle zehn Meter zeichnete sich in der Gischt — denn die Wellen schlugen hoch an jenem Abend – im Lichtkegel seiner Scheinwerfer die Silhouette einer Frau mit herausgestrecktem Po ab, die mit den Armen ruderte, und hundertmal schien ihm, als würde er hinter seinem Tränenschleier Nieve sehen.