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DAS HARTGEKOCHTE EI

 

 

 

Havanna, Januar

 

 

Tartarin von Tarascon hätte bei seiner Ankunft in Havanna kaum mehr Aufsehen erregt als Jos Vater, als dieser aus dem Zollbereich kam. Von Kopf bis Fuß als Forschungsreisender der Camel Trophy gekleidet, das Gesicht vollständig von einem weißen Hemingway-Bart verborgen, zog er an einer gigantischen Hoyo, die er in Orly gekauft hatte.

»Mir ist noch nie aufgefallen, dass deine Augen so blau sind, Papa!«

»Normal, Junge, du hast mir nie in die Augen geschaut. Und außerdem lässt der Bart den Blick intensiver wirken.«

Chabert, der Kulturattache, näherte sich dem Alten.

»Willkommen in Havanna! Ich hoffe, Sie werden einen fruchtbaren Kulturaufenthalt haben.«

»Das ist nicht nur ein Aufenthalt, junger Mann!«, entgegnete der Alte und drückte Chabert lange die Hand, als handele es sich bei ihm um einen Staatsminister. »Ich habe die Absicht, den Rest meines Lebens in Kuba zu verbringen!«

»Sie beginnen Ihre Vorstellungsreihe am Samstag, im Melia-Theater. Alle erwarten Sie. Die Regierung wird vollzählig erscheinen, mit Ausnahme von Fidel, der sich derzeit etwas müde fühlt. Der Saal verfügt über eine Klimaanlage, was hier selten ist. Wenn der Strom nicht ausfällt, wird es sicher ein Erfolg!«

»Wollen Sie damit sagen, dass es von der Klimaanlage abhängt, ob es ein Erfolg wird?«, fragte der Alte verärgert.

»Nein, aber sie trägt dazu bei. Für morgen haben wir zu Ihren Ehren eine Pressekonferenz organisiert. Na ja, von Pressekonferenz zu reden ist ein kleiner Euphemismus, Presse gibt er hier ja eigentlich nicht, außer der Granma, der offiziellen Zeitung. Aber mit ein paar Statisten, Studenten von der Uni und zwei, drei Kritikern wird die Illusion perfekt sein!«

 

––– ¤ –––

 

Wie Chabert angekündigt hatte, kam die gesamte Regierung zur Premiere des Alten. Im Parkett bildeten sie ein olivgrünes Viereck. Der Saal war voll, gefüllt mit einem aufmerksamen und artigen Publikum.

»Die Klimaanlage, ganz sicher«, brummte der Alte hinter den Kulissen.

»Aber nein, Papa!«, beruhigte ihn Jo, »sie kommen wegen Prévert.«

Der Alte machte sich vor Angst fast in die Hose. Es war Ewigkeiten her, dass er das letzte Mal allein auf einer Bühne gestanden hatte. Kein anderer da, auf den man die Verantwortung abwälzen könnte. Er musste sich also anstrengen.

»Los, Papa, du bist dran! Sie haben das Licht gedämpft.«

Der Alte zwang sich, mit sicherem Schritt auf die Bühne zu gehen. Er setzte sich auf den Hocker vor eine provisorisch zusammengezimmerte Bar, nahm ein hartgekochtes Ei aus einem Eierständer und warf es in die Luft.

 

»Schrecklich

kracht ein hartes Ei das man auf der Theke zerschlägt

schreckliches Krachen

wenn es einen hungrigen Mann erregt.«

 

Das erste Mal, dass er diese Vorstellung gegeben hatte, war vor dreißig Jahren gewesen, im Quartier Latin. Damals war er dünn gewesen und hatte langes Haar gehabt. Und er hatte Prévert voller Leidenschaft, voller Feuer rezitiert. Er hatte daran geglaubt.

Dort hatte er auch Jos Mutter kennengelernt. Eine blonde junge Frau im Hippielook. Er hatte seine Vorstellung mit dem Klassiker geschlossen:

 

»Ungeheuer und rot

Erscheint die Wintersonne

Über dem Grand Palais

Und verschwindet

Gleich ihr wird mein Herz verschwinden

Und all mein Blut wird

Dich suchen gehen

Mein Liebes

Mein Schönes

Und wird dich finden

Dort wo du bist.«

 

Und er hatte der blonden jungen Frau die Rose zugeworfen. Die berühmte Rose, die, zusammen mit dem hartgekochten Ei, die Requisiten des Stücks waren.

Er hatte die Rose ziellos ins Publikum geworfen, doch sie hatte es für Absicht gehalten und war zu ihm hinter die Bühne gekommen.

An diesem Abend in Havanna, in diesem großen amerikanischen Kino der fünfziger Jahre, das aussah, wie mit Erdbeer- und Vanillecreme dekoriert, in diesem Theater vor diesen tausend wohlwollenden Zuschauern, beschloss der Alte, die Rose nicht ziellos zu werfen. Um also »Barbara« zu rezitieren, stieg er in den Saal hinunter und bahnte sich einen Weg durch das Parkett. Aber es war schwierig, eine Wahl zu treffen, so viele hübsche Mädchen gab es.

Noch dazu musste er gleichzeitig seinen Text aufsagen. Er durfte nicht die Konzentration verlieren. Doch es kam, wie es kommen musste. Der Alte verlor den Faden. Es folgte ein langes, peinliches Schweigen: das berühmte Blackout.

Verwirrt begann der Alte, den Rückzug anzutreten, zurück zur Bar, wo ein rettendes Textheft auf ihn wartete, als er auf einmal eine sanfte Stimme vernahm, die aus der ersten Reihe im Parkett herüberdrang und ihm zuflüsterte:

 

»Erinnre jenes Tages dich

Vergiss ihn nicht

Ein Mann der unter einem Torweg stand

Rief dich beim Namen

Barbara«

 

Es war eine sehr einfach gekleidete, junge schwarze Frau.

Der Alte hatte sich nun mit großer theatralischer Geste vor sie gekniet und war fortgefahren:

 

»Rief dich beim Namen

Barbara

Und du liefst im Regen

Auf ihn zu.«

 

Dann hatte er erneut geschwiegen, um die junge Frau fortfahren zu lassen.

So beschlossen sie das Gedicht im Duo.

Sie:

 

»Triefend heiter hübsch verwegen«

 

Er:

 

»Daran denke Barbara

Und sei mir nicht böse wenn ich du zu dir sage«

 

Sie:

 

»Zu allen die ich liebe sag ich du Selbst wenn ich sie nur einmal sah«

 

Er:

»Zu allen die sich lieben sag ich du Selbst wenn ich sie nicht kenne«

 

Entzückt über dieses unerwartete Duo, applaudierte das Publikum bereits stürmisch, noch bevor die beiden das Gedicht beendet hatten.

»Danke, Madame!«, sagte der Alte und verneigte sich galant. »Wie ich sehe, kennt man hier Prévert besser als ich selbst!« Und unter den Zurufen aus der Menge stieg er wieder auf die Bühne.

Und so kam es, dass der Alte nach den Worten

 

»Und all mein Blut wird

Dich suchen gehen

Mein Liebes

Mein Schönes

Und wird dich finden

Dort wo du bist.«

 

der jungen Frau die Rose zuwarf.