Jens im Glück
Um Jens war immer ein großes Geheimnis gewesen: das Pfeifen. Warum pfiff der Mann nur ununterbrochen? Lebensfreude? Harmlose Marotte? Zwangshandlung? In den Jahren zwischen zwanzig und dreißig hatte er sich unter enormen Druck gesetzt: Frau, Haus, Beruf, Mucke und was weiß ich noch. Mucken, mucken, mucken, sparen, sparen sparen, Frau suchen, suchen, suchen, und der Beruf war schließlich auch nicht ohne. Jens wurde zum Oberinspektor befördert, und er zutzelte sich im Kreisamt Lüneburg richtiggehend fest. Nie im Leben würde er sich aus diesem Paradies wieder vertreiben lassen! Das Kreisamt war das Größte.
«Wo arbeitest du denn?»
«Natürlich beim Kreis!»
Das geheime Zeichen der Zugehörigkeit zum Kreisamt war, dass die Mitarbeiter mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildeten und sich dabei wissend zuzwinkerten. Von Karnickelzüchtern bis Satanisten haben schließlich alle ihre geheimen Erkennungsmerkmale, warum nicht auch die Mitarbeiter des Kreisamtes Lüneburg? Möglicherweise müssen sich die höherrangigen Mitarbeiter (Amtmann aufwärts) auch einen Kreis auf den Rücken oder die Oberarme tätowieren lassen. Das wäre dann natürlich schon nicht mehr so harmlos!
Doch die Uhr tickte weiter. Geld fürs Haus war mittlerweile angespart, aber die passende Frau immer noch nicht in Sicht. Jens ließ sich jedoch durch nichts beirren. Als ich ihn kennen lernte, war er Anfang zwanzig und irgendwie schon erwachsen, so fest in seinem Koordinatensystem verankert, dass es für ihn nie eine wirkliche Irritation gegeben hatte. Drogenexperimente, Schlägereien, abenteuerliche Reisen in heiße Länder mit riesigen Insekten, in den Bus kacken oder schmutziger Sex in verdreckten Discotoiletten: Das war für ihn nicht drin! Beneidenswert. Nur die Daddelei in der Spielhalle hatte er sich gegönnt, aber mit der war ja schon lange Schluss. Auch im Winsener Dorfleben hatte er seinen Platz gefunden. In Tippgemeinschaft, Fußballverein und THW war er beliebt als ebenso zuverlässiges wie geselliges Mitglied. Fleiß, Ausdauer und der unerschütterliche Glaube an sich selbst wurden schließlich belohnt. Ein Jahr vor seinem dreißigsten Geburtstag lernte er Marion kennen. Wie er beim O (Kreis) beschäftigt, jedoch im mittleren Dienst. Das passte! Und Jens schaffte es sogar, noch vor seinem dreißigsten Geburtstag unter der Haube zu sein. Er hatte es sich ja so fest vorgenommen. Aber knapp wurde es! Nur wenige Wochen vor seinem Wiegenfest wurde in einem edlen Landgasthof in großem Stil geheiratet. Die Hochzeitsfeier fiel in den heißen Teil der Bauphase. Als fast genau neun Monate später der kleine Sebastian zur Welt kam, lebte das Ehepaar schon längst in den eigenen vier Wänden. Der Stammhalter entwickelte sich genau so, wie der Vater es sich gewünscht hatte. Jens wurde unaufhaltsam dicker und nahm, vielleicht auch durch die blonden Haare und den nahezu unsichtbaren Schnauzbart, der an die Fühler einer Biene erinnerte, etwas sympathisch Insektenhaftes an. Ein liebes Honigbienchen, das emsig Nektar sammelt. Jetzt, wo alles in trockenen Tüchern ist, pfeift er nur noch selten. Ein richtiger Party- und Gelegenheitspfeifer ist er geworden! Allenfalls, wenn ein freudiges Ereignis ansteht oder ihm etwas besonders gut gelungen ist, schürzt er noch hin und wieder die Lippen.