Das weiße Hemd
Das Ehepaar Schlüter gehörte zu den wohlhabendsten Bürgern Lüneburgs und gedachte seine Silberhochzeit in entsprechend großem Stil zu feiern. Das Fest fand selbstverständlich im ersten Haus am Platze statt; alles, was in Lüneburg Rang und Namen hatte, war eingeladen. Gurki hatte immer noch keinen Rang und Namen und durfte daher lediglich zum Tanz aufspielen. Natürlich wurden von der Band absolut untadeliges Verhalten, Spielfreude und perfektes Aussehen erwartet. Ich wurde von meinen Kollegen – nicht zum ersten Mal – aufgefordert, doch zur Abwechslung mal mit einer sich in einwandfreiem Zustand befindenden Garderobe zu erscheinen. Sie meinten es diesmal offenbar wirklich ernst, und ich ließ den weißen Smoking spezialreinigen. Als ich dann am Samstag meinen Kleidersack packte, stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, meine Hemden mit aus der Reinigung abzuholen. Ohneinohneinohnein! Im Kleiderschrank hing nichts, noch nicht einmal ein normales weißes Hemd ohne Vatermörderkragen. In meiner Verzweiflung durchwühlte ich die Schmutzwäsche und fand dort ein Hemd, das als solches allerdings kaum noch erkennbar war. Völlig zerknittert, der Kragen innen fettig-schwarz und außen nikotingelb. Zwei Knöpfe fehlten, doch das Schlimmste war ein riesiger Blutfleck auf der linken Manschette. Ich hielt den Putzlappen gegen das Licht und bekam einen Schweißausbruch. Eine Katastrophe. Die Kollegen würden mich wie eine Katze ersäufen. 300 geladene Gäste! Fips Asmussen als Stargast! Verzweifelt versuchte ich, wenigstens den Kragen notdürftig zu säubern, doch der Schmutz hatte sich bereits derart tief in den Stoff gefressen, dass alle Mühe vergebens war. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als es auf einen Bügel zu hängen und sorgfältig hinter dem zum Glück strahlend weißen Anzug zu verstecken. Als ich ankam, rückten die Kollegen gerade die bescheuerte Paulchen-Panther-Jalousie zurecht. Das Bühnenbild sollte heute perfekt sein!
«Moin Heinzer, wo geiht?»
«Och, ganz gut so weit.»
«Nun guck sich einer Heinzer an. Er hat sich tatsächlich rasiert. Noch ist Deutschland nicht verloren!»
Nach dem Soundcheck kam der entscheidende Moment.
«So, meine Herren, um achtzehn Uhr ist Spielbeginn, umziehen.»
Ich hatte mir auf der Fahrt eine feine Taktik zurechtgelegt, wie ich eventuell doch noch heil davonkommen konnte. Mein Plan war, unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, auf die Bühne zu gehen. Ich würde mich irgendwo verstecken und so lange warten, bis die Kollegen in voller Montur die Garderobe verließen. Dann huschhusch zurück und mich unbeobachtet umziehen. Den blutverschmierten Ärmel würde ich einfach in das Sakko stopfen, scheiß auf die Manschettenknöpfe, und in den Pausen müsste ich mich eben sofort in einen schlecht ausgeleuchteten Winkel der Bühne verziehen. Das Sakko dürfte ich natürlich keinesfalls ausziehen! Später, wenn die Feier dann in Gang wäre und die Leute alle einen im Tee hätten, würde eh keiner mehr so genau hingucken.
Als ich dann jedoch die Garderobe betrat, fiel mir das Herz in die Hose. Die Umkleidekabine war mit gleißendem Neonlicht ausgeleuchtet und voll verspiegelt. Das würde schwierig werden. So frickelte ich erst mal endlos an meinen Schuhen herum. Immer wieder öffnete ich die Schleife, um sie erneut zuzubinden.
«Na, Heinzer, weißt nicht mehr, wie Schuheschnüren geht?»
Ich reagierte nicht auf so dumme Bemerkungen. Sorgsam zog ich den Gürtel enger. Das Hemd hing perfekt versteckt hinter dem Sakko.
«Ach, Scheiße.»
«Was ist denn?»
«Ich hab noch was auf der Bühne vergessen. Komm gleich wieder.»
Versteckt in der Toilette rechts neben der Garderobe, wartete ich darauf, dass die Kollegen endlich zur Bühne gingen. Sie kamen aber nicht. Eine endlose Zeit verging. Sie kamen einfach nicht. Dann ging plötzlich die Tür auf, und Norberts großer, viereckiger Kopf erschien. Er sagte mit Grabesstimme ins Nichts hinein: «Heinz, kommst du mal bitte!»
Was sollte denn das? Ich war doch gar nicht da. Außerdem hatte er Heinz gesagt. Nicht Heinzer. Au weia. Benommen taperte ich in die Garderobe zurück. Gurki hielt das Hemd gegen das Neonlicht, die anderen standen um ihn herum. In der grellen Beleuchtung wirkte der Lappen noch schwärzer als zu Hause. Außerdem roch er schlecht, was mir noch gar nicht aufgefallen war.
«Unfassbar.»
«Ich glaub das jetzt nicht.»
«So was hab ich ja überhaupt noch nicht gesehen.»
Gurki, die Drecksau, hatte tatsächlich Lunte gerochen und meinen Kleidersack durchwühlt. Triumphierend blickte er mich an: «Das müsste mal gebügelt werden.»
Ich hielt lieber den Mund. Jeder Versuch, mich rauszureden, hätte sie nur noch rasender gemacht. Norbert und Jens übten sich in Schadensbegrenzung. Sie eilten auf die Bühne und stellten mein Mikro in eine dunkle Ecke. Ich war der Affenmensch, den niemand zu Gesicht bekommen durfte.
Die ersten beiden Stunden liefen dennoch wie geschmiert. Ich blieb brav in meiner Ecke stehen und trank nichts, um nicht aufs Klo zu müssen. 22 Uhr, Tatatata, großer Tusch, Ansage Gurki: «Jaaaaaa, liebe Freunde …» Der Auftritt von Stargast Fips Asmussen stand bevor. Das norddeutsche Humorurgestein war wie immer im nigelnagelneuen Jaguar vorgefahren und würde eine grandiose halbe Stunde abliefern. Ich glaube, dass es schwer ist, einen souveräneren Menschen zu finden als Fips Asmussen. Ihn kann gar nichts mehr erschüttern. Fips ist Witzeerzähler, und das seit dreißig Jahren. Keine Standup-Comedy, kein Kabarett, keine Politsatire, nein, Witze, und zwar einen nach dem anderen! Wie jeder Amerikaner einmal Elvis gesehen haben sollte, müsste eigentlich jeder Deutsche einmal Fips Asmussen live erlebt haben. Wir räumten die Bühne für den Auftritt des Giganten, der mittlerweile ungefähr zwanzig Millionen Witzekassetten verkauft hat. Und da kam er schon, Fips Asmussen. Das war Timing! Ich huschte, so schnell ich konnte, an ihm vorbei, doch plötzlich griff er nach meinem Arm! Ich wäre fast gestorben, denn was jetzt kommen würde, ahnte ich:
«Ach, guck an, der Herr Musikus, nicht so eilig. Bist du auf der Arbeit oder bist du auf der Flucht? Was sehen meine entzündeten Augen denn da: Kann es sein, dass dein Hemd nicht ganz sauber ist? Zieh doch mal das Sakko aus!»
Ich ziehe wie hypnotisiert das Sakko aus.
«O là là, bitte einmal das Saallicht an, und ich darf das Ehepaar Schlüter zu mir bitten. Das dürfte Sie interessieren …»
Ehepaar Schlüter kommt gespannt auf uns zu. Herr Schlüter trägt einen tiefschwarzen Smoking und unglaublich blank gewienerte Schuhe. Der Scheitel ist wie mit dem Messer gezogen, alles einfach perfekt. Frau Schlüter ist aufwendig frisiert. Sie hat sich extra für diesen Tag ein Modellkleid schneidern lassen und trägt dazu passenden, edlen Schmuck. Beide duften extrem gut, und Herr Schlüter hat sich sogar unter den Achseln rasiert, obwohl er ein Mann ist. Sie kommen näher und riechen bereits aus fünf Metern Entfernung das Dreckshemd. Fips Asmussen deutet triumphierend auf den blutverschmierten Ärmel und tritt einen halben Schritt zurück. Er freut sich schon. Das Ehepaar Schlüter schaut fassungslos abwechselnd in mein Gesicht und auf das Hemd. Frau Schlüter beginnt leise zu weinen, dann sackt sie mit einem Mal ohnmächtig in sich zusammen. Herr Schlüter holt mit aller Kraft aus und streckt mich mit einem einzigen Faustschlag nieder.
Es kam natürlich ganz anders. Fips Asmussen zu mir: «Sag mal, warst du gerade beim Friseur?»
«Äh, wieso, ja, so lange ist es noch nicht her.»
Der große Fips Asmussen: «Den Prozess gewinnst du!»
Ein Einstand nach Maß. Da hatte er die Lacher natürlich gleich auf seiner Seite. Na ja, dann entließ der Witzegott auch mich in die Gaststube. Gurki war immer noch auf 180.
«Das war knapp. Jetzt kannst du nur noch beten, dass niemandem das auffällt. Aber so einfach kommst du diesmal nicht davon.»
Ich hatte den Bogen eindeutig überspannt.
Die Stimmung blieb in der nächsten Zeit merklich kühl, und die Zahl der Viermannjobs nahm deutlich zu.
«Wie, nur zwei Jobs im Dezember? Letztes Jahr hatten wir doch sechs!»
«Tja, Heinzer, die Leute haben nicht mehr so viel Geld. Du weißt doch, wo zuerst gespart wird: am Essen und an der Musik. Da nehmen die lieber nur vier. Vor allen Dingen, wenn sich herumspricht, dass der fünfte Mann keinen Bock hat und immer mit den letzten Pennerklamotten aufläuft.»
Fertig machen wollte Gurki mich! Beim nächsten Bandabend ging meine Demontage weiter: Auf Vorschlag von Jens wurde beschlossen, die Fünfmannjobs zwischen Marek und mir aufzuteilen. Ich sollte die rustikalen Mucken machen und Marek die gediegenen. Das war der Anfang vom Ende.