Die Jungschützenkönigin

Im September spielten Tiffanys zum zweiten Mal auf dem Garlstorfer Schützenfest. Wie immer schaute ich mir von der Bühne das bunte Treiben auf der Tanzfläche an. Mittendrin und nie dabei! Achachach. Ich war ein stummer Diener, hinter einer Mauer von Blasinstrumenten versteckt, zum ewigen Tröten verdammt. Die jungen, strahlenden Dorfschönheiten ließen sich über die Tanzfläche karriolen und hinterher von schneidigen Jungbauern in die Sektbar einladen. Nie würdigten sie mich auch nur eines Blickes. Sehnsüchtig schaute ich die Elfen an. Ich hoffte, dass vielleicht doch mal eine zurückguckte, nur gucken, und besonders hübsch brauchte sie auch nicht zu sein. Aber selbst das schien zu viel verlangt.

Dann passierte es! Nicht irgendeine, nein, die Winsener Jungschützenkönigin nahm mich ins Visier! Sie saß mit einer Freundin auf der harten Zeltbank und trank Rotwein. Verstohlen schaute ich zu ihr hinüber. Plötzlich lächelte sie. Sie lächelte nicht irgendwie oder blickte durch mich hindurch, nein, ich war gemeint! Noch ahnte ich nicht, dass sie amtierende Jungschützenkönigin war. Nachdem das ungefähr eine Stunde so gegangen und ich vor Aufregung fast gestorben war, nahm ich schließlich all meinen Mut zusammen. Als ihre Freundin gerade zur Toilette war, taperte ich zu ihr hin.

«Hallo, ich bin Heinz, kann ich dich zu einem Getränk einladen?»

«Nein danke, ich hab noch. Aber setz dich doch.»

Ich setzte mich in fast allen Pausen zu ihr und erfuhr, dass sie Susanne hieß, 24 Jahre alt war und beim Finanzamt arbeitete. Sie hatte einen leichten Silberblick, und ihre Figur, die sie mit einem schwarzen Schlabberkleid kaschierte, machte einen schwammigen Eindruck. Vielleicht hatte ich eine Chance. Abgesehen davon, dass ich sowieso keine großen Ansprüche stellen durfte, war Aussehen auch egal. Dass sich überhaupt ein Mädchen für mich interessierte, hatte etwas Erhabenes und würde die Trendwende einläuten! Denn in Wahrheit war ich ein Star. Auf der nächsten Veranstaltung bereits würde ich im Muscle-Shirt spielen und mir einen Indianerkopfschmuck aufsetzen, wie der martialisch aussehende Saxophonist von Tina Turner. Vielleicht könnte ich mir dazu noch einen Sackschutz aus rotem Nubukleder umschnallen. Das Saxophon galt im Koordinatensystem unserer einfältigen Stammklientel als tolles Instrument. In den letzten Jahren hatten immer häufiger auch Schlagerstars wie Howard «Howie» Carpendale ein Saxophonsolo in ihren Schrott eingebaut, um die Titel irgendwie anspruchsvoller wirken zu lassen. Und in der Werbung hatte insbesondere das Altsaxophon einen Siegeszug ohnegleichen angetreten. Eine Haarshampoo-Spot ohne aufdringliches Getröte war Mitte der Achtziger undenkbar.

«Ach, Musiker bist du! Was spielst du denn?»

«Saxophon.»

«Echt, Saxophon? Saxophon ist so ein tolles Instrument.»

Ein tolles Instrument! Das kam so sicher wie das Amen in der Kirche. Ätzend. Natürlich wurde das Saxophon nur von Leuten toll gefunden, die dieses eigentliche ehrenwerte Blasinstrument aus eben genau den säuischen Zusammenhängen Werbemusik, Schlager oder dem Tina-Turner-, Rod-Steward- oder Bruce-Springsteen-Dreck kannten. Es sind oft schon Kleinigkeiten, die Menschen als Idioten ausweisen. Neben BMW Roadster fahren, am Schlagermove teilnehmen oder fortwährend im Endeffekt sagen ist Das Saxophon ist ein ganz tolles Instrument der zuverlässigste Indikator.

In diesem Klima glaubte ich meinem Sexinstrument jetzt endlich auch bei Tiffanys zum verdienten Status verhelfen zu können. Es war doch nicht möglich, dass allgemein gültige Trends für eine Tanzband nicht galten! Spielte ich etwa schlechter Saxophon als die untalentierten Solisten von Westernhagen oder Grönemeyer? Iwo, kein Stück! Und die Liebe von Susannchen ebnete mir den Weg. Die Kollegen waren neidisch wie sonst was und zogen mich gehörig auf.

«Heinzer heut auf Freiersfüßen.»

«Guck mal an, Heinzer geht in die Offensive.»

«Heinzer, Heinzer, das traut man dir ja gar nicht zu.»

«Na, Heinzer, schön ein’ wegstecken heute?»

Widerliche Typen. Nicht die kleinste Freude gönnten sie mir. Egal, ich war beschwingt und nutzte die Gelegenheit zu einer Albernheit: Ich schlug den Kollegen vor, uns nach Begriffen aus der Welt der Fliegerei umzubenennen. Wir könnten uns ab sofort z. B. Boarding Time nennen. Oder Departure. Oder Check in. Wenn sich nun alle Tanzbands aus dem Landkreis Harburg nach Fachbegriffen aus der Fliegerei benennen würden! Polterhochzeit mit dem Trio Cockpit oder Tanztee mit dem Entertainer Autopilot. Ich spann den Faden weiter. Flightcoupon. Die Kollegen hörten schon nicht mehr hin. Gate 99. Der ideale Name für ein Duo. Destination = Sechsmannkapelle mit Bläser und Sängerin. Aber auch Namen von Fluggesellschaften kämen infrage: Condor oder Air Acapulco.

«Heinzer kann man heute nicht ernst nehmen; die Hormone!»

«Den kannst du knicken. Lass ihn mal labern, der ist auf dem Lovetrip.»

Mir war’s egal, ich hatte einen Lauf. Amore, amore, amore!

Susanne wartete auf mich bis zum Schluss, und ich fasste mir ein Herz.

«Sag mal, wollen wir uns nicht mal treffen?»

«Klar. Wann denn?»

«Vielleicht nächsten Mittwoch oder Donnerstag. Ich lad dich zum Essen ein.»

«Mittwoch kann ich auch. Holst du mich ab?»

«Klar. Um acht?»

«Sieben wär mir lieber.»

Die Spiegeleier schmeckten mir in dieser Nacht besonders gut, haha. Dreißig Eier, dreißig Eier verputzten wir nach jeder Mucke. Eier, Eier, Eier!

Susanne lebte in einer Zweizimmerneubauwohnung am Stadtrand von Winsen. Bereits im Flur erwartete mich eine Parade freundlich grüßender Diddlmausfiguren. In der Mitte ihrer schwarzen Wohnzimmerschrankwand ragte ein CD-Ständer, der geformt war wie das Empire State Building. Im Hintergrund lief Phil Collins. Ich musste zur Toilette. An der Tür klebten Umsonstpostkarten mit witzigen Sprüchen und Lebensweisheiten. Zum Beispiel Man muss die Welt nicht unbedingt verstehen, aber man muss versuchen, sich darin zurechtfinden. Falsches Deutsch! Sich darin zurechtzufinden! Hat das denn niemand lektoriert? Andere Lebensweisheit: Es gibt Menschen, die sind wie das Meer. Ihre Freundschaft ist wie ein schöner Platz am Strand. Herrje! Mein Leben war ja schon ziemlich trist, aber anders trist. Meine Tristesse war mir lieber.

Susanne schlug vor, zum Italiener zu gehen. Wir fuhren ins Restaurant Bella Italia, das genau so war, wie man sich das Bella Italia in Winsen vorstellt. Wir aßen eine Nudelplatte für zwei Personen, was in Wahrheit fast schon zu intim war, denn die gute und vertraute Stimmung vom Garlstorfer Schützenfest ließ sich nicht wiederherstellen. Susanne vermittelte in Schlabberpulli, Bundfaltenstoffhose und ausgelatschten schwarzen Schuhen auch nicht gerade den Eindruck, als sei sie auf ein Sexabenteuer aus. Überhaupt keine Mühe hatte sie sich gegeben. Typisch Finanzamt. Es gelang mir nicht, dem Gespräch eine prickelnde Wende zu geben, und Alkohol zum Katalysieren stand mir ja leider auch nicht zur Verfügung. Dabei wäre das heute dringend nötig gewesen. Ich pichelte also mein damaliges Lieblingsersatzgetränk Spezi (Cola und Brause gemischt) und Susannchen (ich nannte sie im Geist bereits Susannchen) ein Viertel Lambrusco (ich find’s gut, wenn der Wein schön süß ist). Aber nur ein Viertel. Rätselhaft. Mir war es völlig unverständlich, wie man sich über zwei Stunden an einer lächerlichen Pfütze Rotwein hochziehen konnte. Alkohol trinkt man wegen der Wirkung. Ich war strukturell immer Wirkungstrinker gewesen; Susannchen hingegen entpuppte sich als langweilige Genusstrinkerin. Ein weiterer Hinweis darauf, dass wir uns wesensfremd waren. Das merkte sie wohl auch. Der Abend zog sich, und gegen zehn wollte sie los. Mein privates Schützenfest hatte ich mir aber dann doch anders vorgestellt. Ich musste mich beim Rausgehen beherrschen, um nicht mit beiden Händen ihren schwabbeligen Körper abzugrapschen. Noch nicht mal eine Finanzamtssachbearbeiterin mit dicken Oberarmen und Silberblick wollte was von mir! Das war wie beim russischen Roulette danebenschießen. Wie viel Demütigungen kann ein einzelner Mensch eigentlich ertragen?! Wie ein geprügelter Hund musste ich nach Hause fahren. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte ich vorher noch, sie vor ihrer Wohnung zu küssen. Wenigstens den heißen Atem der Jungschützenkönigin als erotische Impression speichern. Doch Susannchen ließ keine Milde walten. O-Ton: «Das lassen wir mal besser.» Aufmunternd blickte sie mich an und gab mir kameradschaftlich die Hand. «Also tschüs dann. War ein schöner Abend.»

Ich sagte gar nichts. Von wegen schöner Abend, ach ja, das fand ich auch. Ein ätzender Drecksabend war es gewesen. «Ja, tschüs.»

Sie stiefelte schwerfällig in ihre Wohnung. Dicke Waden hatte sie, das sah ich erst jetzt. Richtig dicke Haxen! Mit 24 schon so dicke Haxen. Wie das wohl in zehn Jahren aussehen würde. Das mochte ich mir gar nicht vorstellen. Ich beschloss, das Thema Frauen für unbestimmte Zeit ruhen zu lassen, und tuckerte in meinem Japanporsche nach Hause.