1992

Alle anderen ja, ich nein

Ich hatte eigentlich noch nie eine richtige Freundin gehabt. Manchmal wurden im Fernsehen besorgniserregende Berichte über Männer gezeigt, die schon seit fünfzehn Jahren oder länger keine Frau mehr gehabt hatten, Tendenz: Das wird wohl nie mehr was. Wie machten das eigentlich die anderen? Fein raus war der indische Schriftsteller Salman Rushdie, dessen vom greisen Ayatollah Khomeini angeordnete Exekution jetzt auch schon eine ganze Weile auf sich warten ließ. Norbert und ich fragten uns oft, wie es dem ach so armen Rushdie gelang, immer wieder die allergeilsten Topgirls abzuziehen. Regelmäßig wurden Fotos des bärtigen Autors publiziert, auf denen er mit stets wechselnden atemberaubenden Schönheiten abgelichtet war, die jeweils als seine neue Lebenspartnerin vorgestellt wurden. Der Fluch des Khomeini: Die ganzen geilen Weiber dieser Welt hatten sich offenbar verabredet, dem Todgeweihten in seinem Versteck die letzten Lebensmonate zu versüßen. Da wären wir auch gerne mal verflucht worden!

Meine amourösen Abenteuer ließen sich an einer Hand abzählen, und sie hatten meist nicht gut geendet, wie die peinliche Geschichte mit Frauke Dausel. Ich hatte Frauke bei einer christlichen Jugendfreizeit kennen gelernt. Sie war damals vierzehn und ich siebzehn. Am letzten Abend haben wir rumgeknutscht. Bei der nächsten Freizeit war sie wieder mit dabei, und diesmal durfte ich ihr schon unter die Bluse fassen, und das Jahr darauf standen neben Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weide und wie ein Zuhaus auch Pettingstudien auf dem Programm. Zu meinem Leidwesen fanden sexuelle Abenteuer ausschließlich auf christlichen Jugendfreizeiten statt. Während der ganzen übrigen Zeit (elfeinhalb Monate im Jahr) war Schmalhans Küchenmeister. Ein Segen, diese Freizeiten! Brutstätten der Fleischeslust. Die Schlimmsten waren die Diakone. Am liebsten unternahmen diese zweiten Männer der Gemeinde zärtliche Studien am blutjungen Objekt. Oft habe ich die Böcke bei ihren von langer Hand geplanten Sexfeldzügen heimlich beobachtet. Die bevorzugten Opfer waren Mädchen, eben dem Konfirmandenalter entwachsen, die sich im Jugendchor oder sonst wie in der Gemeinde engagierten. Außer über Glaubensfragen quatschte der Diakon mit ihnen über Schule, Eltern, aber auch Markenklamotten und coole Musik. Hatte das Mädchen erst einmal Vertrauen gefasst, setzten scheinbar zufällige Berührungen, väterliche Ratschläge mit tiefer Brummbärstimme und lange Blicke in der Kirche ein. Küsschen statt Morgenandacht, fummeln statt singen, grapschen statt beten, das war der geile Katechismus. Alle diese Bumsböcke, die ich im Laufe der Jahre kennen lernte, waren selbstverständlich verheiratet und hatten mehrere Kinder, was sie aber nicht davon abhielt, so viel minderjährige Schutzbefohlene wie möglich in die Geheimnisse der körperlichen Liebe einzuweihen. Das ist die Wahrheit!

Nachdem sich das mit Frauke über die Jahre immer mehr zugespitzt hatte, kam es endlich zu einer privaten Verabredung: das erste Tête-à-tête außerhalb von Morgengebet und Abendandacht. Wir saßen also eines Sommersonntagnachmittags in meinem unfassbar heißen Zimmer unter dem Dachboden, und uns beiden war klar, dass es heute passieren würde. Ich trank ein Bockbier nach dem anderen. Bockbier passte natürlich sehr gut. Frauke hatte ich eine Flasche des damaligen Modegetränks Pernod besorgt und sogar an Eiswürfel gedacht. Alles lief nach Plan, und kurze Zeit später begannen wir, uns zu küssen und auszuziehen. Die Sache war in Bewegung geraten, nichts schien uns mehr aufhalten zu können! Als ich dann jedoch mit entblößtem Oberkörper auf dem Bett saß, musterte sie mich eine Spur zu lange und sagte dann: «Du bist ja vielleicht weiß

«Findest du?» Mir fiel überhaupt nichts ein.

«Das gibt’s ja nicht. Gehst du denn nie in die Sonne? Das ist ja schon peinlich

Gott, wie schrecklich. Wie kann man so etwas nur sagen. Emotional verroht, die dumme Kuh. Frauke kam aus einem sozial schwachen Umfeld und war es gewohnt, die Dinge immer direkt auszusprechen. Menschen zutiefst verletzen und sich mit Ich bin eben bloß ehrlich herausreden, das hatte ich gern. Na ja, Augen zu und durch. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und schraubte weiter an ihr herum. Widerwillig machte sie mit, und schließlich begannen wir doch noch damit. Nach wenigen Minuten hörte sie jedoch auf, sich zu bewegen.

«Du, hallo!»

«Ja?»

«Wart mal eben.»

«Wieso?»

«Wir müssen jetzt aufhören.»

«Hä, wieso das denn?»

«Ich muss um sieben wieder zu Hause sein.»

Frauke wohnte noch bei ihrer Mutter. Sie zog sich schnell an und verschwand. Tschüs dann – Ja, mach’s gut. Ich bin vor Verzweiflung fast ohnmächtig geworden. Sie rief nie wieder an, und ich habe mich auch nicht bei ihr gemeldet. Ein Fitzelchen Stolz hatte ich schließlich auch noch in meinem bleichen Körper. Ich habe sie viele Jahre später noch zweimal in der Talksendung Jörg Pilawa wieder gesehen. Der Einblendung entnahm ich, dass sie jetzt Heilpraktikerin war. An das Thema kann ich mich nicht mehr erinnern, auf jeden Fall hat sie irgendwas in dem Sinne gesagt, dass sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wolle, und schon gar nicht von den Männern. Das wusste ich ja nun schon. Das andere Mal saß sie im Publikum. Sie meldete sich zu Wort, um unter den wohlwollenden Blicken des Talkmasters eine Frau zur Räson zu bringen, die ihrer Meinung nach einfach nur stinkend faul war und nicht arbeiten wollte. Ihre Meinung kam beim Publikum gut an.

Na ja, Schnee von gestern. Die einzige aktuelle Option war Busenmaike, die ich regelmäßig anrief, um sie bei Laune zu halten. Ich scheute aber ein Treffen und lebte die Begegnung lieber in meiner Phantasie aus. Doch irgendwann schlug sie vor, mich an einem der kommenden Wochenenden zu besuchen. Dakonnte ich natürlich schlecht nein sagen. Ich putzte das Zwergenhäuschen heraus und holte Maike vom Harburger Bahnhof ab. Sie machte ihrem Namen alle Ehre, ihr Busen schien nochmal ein Stück größer geworden zu sein. Auch sonst schien sie etwas zugelegt zu haben, besonders im Gesicht. Ich hatte irgendwas zu essen vorbereitet, das war’s dann aber auch schon mit Vorleistungen. Noch nicht mal zu einem Gläschen Imiglikos beim Griechen habe ich sie eingeladen. So saßen wir auf dem Sofa und tranken, sie wenig, ich viel, wie es sich gehört. Es dauerte ewig, in die richtige Stimmung zu kommen. Verstohlen blickte ich ab und an zu ihr hinüber. Sie hatte wirklich einen mächtigen Busen, und mich beschlich zwischendurch immer wieder große Mutlosigkeit. Doch Maike wusste, was sie wollte, und saß es einfach aus. Gegen vier Uhr morgens war ich endlich so weit. Nach fahrigem Genestel auf der Wohnzimmercouch ging es ab nach oben. Maike sah nackt noch einmal ganz anders aus, als ich mir das vorgestellt hatte. Halb Mensch, halb Busen. Das war eindeutig zu viel. Ich kam da einfach nicht gegen an, betrunken hin, betrunken her. Ich schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken, mir fiel aber nur die Bemerkung ein, die Niels einmal anlässlich der bevorstehenden Hochzeit einer gemeinsamen Bekannten geäußert hatte. Sowohl sie als auch ihr zukünftiger Mann waren ausgesprochene Ladenhüter. O-Ton Niels: «Ich kann nicht verstehen, wie sich zwei derart hässliche Menschen gegenseitig geil finden können.» Ich fand diese Bemerkung damals menschenverachtend, gleichzeitig hatte sie sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jetzt war mal wieder der passende Anlass, daran zu denken. Es ging jedenfalls gar nichts. Dabei wollte ich doch unbedingt mal wieder eine Erfahrung machen, von der ich Jahre würde zehren können. Maike wirkte auch unzufrieden, sagte aber nichts. Wir taten beide, als würden wir schlafen, aber in Wahrheit habe ich kein Auge zugetan. Gegen Mittag brachte ich sie zum Bahnhof. Schweigend warteten wir auf ihren Zug. Wir wussten, dass wir uns nie wieder sehen würden.

 

Ich fand die Bezeichnung Starrer für mich angemessen. Starrer verfolgen mit gierigen Augen alles Weibliche. Sie empfinden jede halbwegs attraktive Frau gleichzeitig als Provokation und als Demütigung. Der Starrer erfreut sich nicht am Anblick eines schönen Mädchens, sondern bekommt sofort Depressionen, denn er weiß, dass er sie niemals besitzen wird. Starrer lächeln niemals, sie haben nichts zu lachen. Ihnen fehlt neben Charme auch jede Leichtigkeit, daher sind sie vollkommen unfähig zu flirten. Wenn sie, was sehr selten vorkommt, von einer Frau angeschaut werden, schauen sie sofort weg. Zum einen fühlen sie sich ertappt, da sie die ganze Zeit über nur schweinische Gedanken haben, zum anderen können sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass irgendeine Frau sich für sie interessiert. Starrer stehen auf der alleruntersten Stufe der sexuellen Hierarchie, sie sind das ausgemusterte Subproletariat. Der Selektionsdruck gerade in urbanen Gegenden wird immer höher. Alternde Starrer hoffen inständig, dass die libidinöse Umklammerung irgendwann ein wenig nachlässt. Doch die Libido ist erbarmungslos. Auch unzählige junge, noch nicht mal besonders hässliche Männer gehören zum sexuellen Bodensatz. Man kann manchmal gar nicht genau sagen, warum der eine Starrer wird, der andere jedoch freie Auswahl hat. Fein herausgeputzt und gut duftend setzen sich die Starrer immer wieder dem unmenschlichen Amüsierdruck des Nachtlebens aus, nur um vollkommen vereinsamt nach Hause zu kommen. Starrer sind verflucht, verdammt zum ewigen Starren.

Ich habe damals ein Gedicht darüber geschrieben. Es trägt den Titel Stupor.

«Dein Blick saugt sich fest

An der nicht enden wollenden Parade der Körperteile.

Stundenlang lädst du dich auf.

Irgendwann schleichst du keuchend davon,

Zurück in deine verklebte, dunkle Wohnung.

Schwitzende Hände fangen sofort an zu pumpen,

Dein Spargel schreit nach Erlösung, stich ihn heraus, stich ihn heraus!

Doch du kannst melken und melken und melken;

Du legst den Sumpf niemals trocken.

 

Von ranzigem Sud verschmierte Hände zittern vor unstillbarer Gier,

Kochendes, blutendes Verlangen tötet jeden Gedanken.

Wund gelegen blökst du wie ein sterbendes Tier.

Du kannst deinen Blick nicht mehr wenden von deinem zerfetzten Johannes.

 

Psychotisches Erwachen in ranziger Bettstatt,

Vom sauren Nachtschweiß getränkt.

Fassungslos schaust du herunter

Auf deine blau gekeulten Beutel.

Deine hässlichen Augen brennen,

Du hast dir aus Versehen ins Gesicht gespritzt.

Spastisches Zucken im Stupor, du flehst in höchster Not:

Wenn nur endlich jemand käme, dir die Arme zu brechen!

 

Ganz am Ende liegst du da,

Mit gebrochenem Becken,

Und versuchst mit letzter Kraft,

Dich am Gips zu reiben.

Festgeklebt am eigenen Schmand

Zuckst du noch ein, zwei Tage,

Bis die Masse endlich hart wird und verkrustet.

Dann kommen bald schon die Männer und hauen die Placken ab mit großen Stöcken.»

Eines schönen Tages hatte ich es bis zum späten Nachmittag bereits auf eine beachtliche Zahl von Entsaftungen gebracht, als das Telefon klingelte. Ich war gerade wieder fertig geworden und ging mit noch offenen Hosen zum Telefonapparat.

«Strunk, guten Tag.»

«Na, hat’s Spaß gemacht?»

«Hä, was ist? Wer ist denn da überhaupt?»

«Wenn ich richtig mitgezählt habe, war das heute schon das dritte Mal. Hast du noch gar keine Schwielen an den Händen?»

«Jetzt reicht’s aber. Was wollen Sie überhaupt?»

«Den ganzen Tag melken. Du bist vielleicht ’ne arme Sau.»

Ich kannte die Stimme nicht und starrte erschrocken durchs Wohnzimmerfenster. Der Typ konnte überall und nirgends sitzen, wie ein Scharfschütze in Politthrillern. Ich zog mir die Hosen hoch.

«Mann, du bist vielleicht ’ne arme Sau.»

Ich legte auf und zog in panischer Hast die Vorhänge zu. Sie blieben ab sofort und für immer geschlossen.