Kapitel 11

 

Es dauerte eine ganze Woche bis Griff Tommy wiedersah. Er stand als Türsteher am Eingang zum Stone Bone und Tommy sah diesmal selbst wie ein Patient aus.

Griff war direkt aus dem Krankenhaus, wo er Dante beim auschecken geholfen hatte, zur Bar gekommen. Dante hatte wegen einer Gehirnerschütterung und der Tatsache, dass er genäht werden musste, drei Tage zur Beobachtung bleiben müssen; er war zwar in der ersten Nacht bereits wieder aufgewacht, wegen einer Schwellung im Gehirn hatten sie ihn jedoch dabehalten. Griff hatte ihn regelmäßig besucht, natürlich mit Zeitschriften und Süßkram im Gepäck, allerdings mehr für sein eigenes Seelenheil als Dantes. Da ihm absolut nichts einfiel, das nicht völlig verrückt klang, sagte er gar nichts.

Dante schien sowohl für die Stille als auch für die Gesellschaft dankbar gewesen zu sein. Heute durfte er schließlich nach Hause.

Heute Abend hatte Griff im Bone Dienst bis zwei Uhr nachts, danach würde er sich um seine Wäsche kümmern müssen. Außerdem wollte er im Supermarkt vorbeigehen, um ein paar Sachen für Dantes Kühlschrank zu besorgen. Er hoffte auf einen ruhigen Donnerstag Abend, damit er vielleicht früher Feierabend machen konnte. Dann könnte er am nächsten Morgen rechtzeitig aufstehen, um –

„Muir, ich bin's.“ Tommy war bereits hackedicht, als er allein an der Tür auftauchte. Griff musste zweimal hinsehen, bevor er ihn erkannte, danach überschlug sich sein Magen beinahe.

Thomas Dobsky Jr. sah fürchterlich aus. Seine blutunterlaufenen Augen blickten ins Leere und seine Kleidung sah aus, als habe er darin geschlafen. Über seinem linken Auge war eine tiefe Platzwunde, deutlich tiefer als nur ein Kratzer. Sie sah klebrig genug aus, dass man auf die Idee kommen konnte, dass sie in einer weiteren Prügelei erneut aufgeplatzt war. Einer der Knöpfe seiner Jeans war geöffnet. Himmel. Hatte er etwa mehr Hinterhof-Sex gehabt und das so nah an seinem Zuhause?

Zerfetztes Bärenjunges.

Griff verdrängte den Gedanken und beugte sich zu dem kleinen Sanitäter hinüber.

„Tommy, du siehst nicht wirklich gut aus.“

Tommy lehnte sich gegen den Türgriff, die Hitze, die sein Körper ausstrahlte war für Griff spürbar. Sein Atem war warm und stank nach Whiskey. „'sch muss inner halbn Stunne daheim sein. Saggt mein Frau.“ Er wedelte betrunken mit einem Finger vor Griff herum und sein Knie stieß an Griff, versehentlich oder auch nicht.

Griff machte einen Schritt zurück. „Solltest du tun. Nimm 'ne Mütze voll Schlaf bevor deine Schicht losgeht.“

„Fick. Disch.“ Tommy schob sich hinter ihm vorbei, in die Menge Richtung Bar.

Super.

Donnerstags abends war es im Bone eher ruhig. Ein paar jüngere Typen in Anzügen hatten sich auf ein Feierabendbier getroffen, bevor sie sich auf den Weg nach Hause nach Cobble Hill und Carroll Gardens machten. Ein paar andere uniformierte Angestellte der Stadt waren auch schon eingetroffen: drei Cops, die gerade keinen Dienst hatten und Watson, aus ihrer Feuerwache. Tommys Situation war die einzige, die erhöhte Aufmerksamkeit benötigte, aber Griff konnte seinen Posten nicht verlassen, um sich darum zu kümmern. Außerdem musste er heute Abend noch nach Dante sehen.

Die gesamte nächste Stunde versuchte Griff ein Auge auf Tommy zu haben, welcher keinerlei Anstalten machte nach Hause zu gehen. Der untersetzte Mistkerl stolperte von Tisch zu Tisch, prostete Fremden zu und mischte sich in Unterhaltungen ein. Zweimal machte der Barkeeper den Eindruck, als wolle er Griff das Zeichen geben ihn rauszuwerfen, allerdings kam es nie.

Gegen neun durchsuchte Griff mit den Augen den Raum nach dem kleinen Sanitäter, konnte ihn jedoch nicht finden. Oh verdammt. Der Zweifel nagte penetrant an ihm. Tommy war doch sicherlich nicht dumm genug...

Griff gab dem Manager ein Zeichen, kurz für ihn zu übernehmen. „Muss mal pinkeln.“

Auf dem Weg zum Klo fiel sein Blick auf Tommy, der sich in das kleine Separee im hinteren Teil der Bar gequetscht hatte, an einem Glas mit dunklem Bier nippte und der Person zunickte die neben ihm saß. Er erkannte den rasierten Kopf und den Anzug.

Es war Alek.

Er erzählte lächelnd eine Geschichte und gestikulierte mit seinen langen Fingern; an Tommys Lächeln war sein Alkoholpegel abzulesen, und seine Augen sahen aus, als sei er an mehr interessiert, als daran sich nur zu unterhalten.

Himmel, Arsch und Wolkenbruch.

Griff betete, dass keiner von beiden dumm genug sein würde, irgendetwas im Stone Bone anzufangen. Alek würde nichts sagen, oder? Oder war er gerade dabei, Tommy für die HotHead Website anzuwerben? Oh Gott!

Schlimmer noch: Was wenn sie sich tatsächlich gerade gegenseitig klar machten? Wenn Tommy darauf stand, von fremden Typen in Manhattan brutal gevögelt zu werden, war das eine Sache – aber hier?

Nee. Alek würde nichts tun, was ihn oder Dante in die Scheiße reiten würde. Hölle nochmal, Griff hatte Alek so ziemlich genau da, wo er jetzt stand, auch zum ersten Mal getroffen. Der Russe wusste, wie man etwas cool und diskret durchzog. Und Tommy würde es sich wohl kaum da besorgen lassen, wo man ihn erwischen konnte, richtig?

Wenn Griff nicht bestimmte Dinge über die beiden gewusst hätte, hätte er sicher kein zweites Mal hingesehen.

So wie die Sache stand, zählte er bis drei, um sich zu sammeln. Die beiden sahen viel zu entspannt miteinander aus. Er sah sich um, um zu checken, ob es noch jemand bemerkt haben könnte. Hier drinnen waren die beiden vielleicht wirklich nur zwei Kumpel, die bei einem Glas Bier  über belanglosen Mist reden wollten. Keine große Sache. Jepp.

Er setzte sich in Bewegung und schob sich auf dem Weg zu ihnen durch die Menge. Ihm blieben lediglich ein paar Minuten zur Schadensminimierung, bis er wieder zu seiner Tür musste. Er setzte sich auf die Bank ihnen gegenüber.

„Big Griff!“ Tommy war deutlich betrunkener und freundlicher. Sein Mund sah entspannt und glücklich aus. Er krähte, „Ey, Mann, setzzzdich!“ Als ob Griff genau das nicht gerade eben getan hätte.

„Mr. Muir.“ Alek lächelte und nickte zum Gruß. „Ich habe Sie gar nicht gesehen, als ich gekommen bin. Thomas und ich unterhalten uns gerade über den Feuerwehrdienst.“

„Oh?“ Griff starrte Alek an und schüttelte ruckartig seinen Kopf. Was zum Henker suchst du hier, Schmierlappen? Er wusste es genau.

„Nur ein bisschen Small Talk.“ Alek schüttelte seinen Kopf als Antwort auf die unausgesprochene Frage und senkte seinen Blick.

Tommy lehnte sich auf seiner Bank zurück und streckte die Arme weit genug aus, dass einer hinter Alek landete. Nichts Ungewöhnliches wenn man nicht danach suchte. „'sch hab gerade Mr...“

„Vaklanov.“ Alek sprach ruhig in seinem kantigen Akzent. „Alek Vaklanov.“

Tommy grunzte. „Jepp, genau. 'sch hab ihm vonner Feuerwache erzählt. Bester verfluchter Job der Welt, beschissene Bessahlung. Aber wir sind wie Brüder, richtig?“ Der Blick den er Griff zuwarf, war der eines getretenen Hundes. „Jeder steht hier für jeden ein.“

Alek stand auf, wollte allerdings lediglich zur Bar. Unter Griffs Blick verlagerte er unruhig sein Gewicht. „Drinks?“

„Ich arbeite.“ Griff grollte ihn herausfordernd an. Reiz mich nicht.

Alek lehnte sich nach vorne, um etwas zu Tommy zu sagen, der mit feuchten Lippen auf den verschrammten Tisch vor sich starrte. Tommy nickte und wischte sich grob über die Nase. Alek richtete sich auf und machte sich auf den Weg zur Bar.

Sobald er halbwegs aus dem Weg war, klopfte Griff auf den Tisch um Tommys Aufmerksamkeit zu bekommen. „Hey, Dobsky! Ich dachte, du wirst zu Hause erwartet.“

„Ich bin zu Hause.“ Tommy drehte sich betrunken zur Seite, um Aleks Hintern besser sehen zu können. Er leckte sich über die Lippen und wandte sich wieder Griff zu. „Ich mein, ich bin auf m Weg... yieh- ha.“ Er kicherte.

Verfluchte Scheiße.

„Hey! Hey!“ Griff schnipste mit seinen riesigen Fingern und senkte den Ton zu dem, was Dante seine Barbarenstimme nannte. „Über was auch immer du gerade nachdenkst, lass es verflucht nochmal. Dobsky, hörst du mir zu?“ Würde er richtig deutlich werden müssen?

Tommy drehte sich zurück zum Tisch und wühlte nach etwas in seiner Hosentasche. Er zog eine zerknitterte Visitenkarte hervor und hielt sie sich dicht unter die blutunterlaufenen Augen.

Griff musste sich praktisch auf seine Finger setzen, um sie ihm nicht aus der Hand zu reißen. War das Aleks Telefonnummer? Oder die HotHead-Karte? Sowohl das Eine als auch das Andere wäre eine Katastrophe. Er musste Dobsky hier herausbekommen, ohne eine Szene zu machen oder durchsickern zu lassen, dass er wusste, was hier vor sich ging.

Der Sanitäter kaute konzentriert an seinen Lippen und stieß die zerknitterte Karte immer wieder mit seinen stummeligen Fingern an. Seine Augen wanderten zu Alek, der inzwischen an der Bar stand.

„Dobsky, bring mich nicht dazu deinen Hintern vor die Tür zu setzen. Du bist, verflucht nochmal, am Ende. Geh nach Hause zu deiner Frau, bevor du hier noch umkippst.“

Tommy drehte sich zu Griff und runzelte die Stirn. Er wusste noch immer nicht, dass Griff Bescheid wusste, was definitiv ein Vorteil war. Hatte Alek bereits ein Angebot gemacht?

„Hör mir genau zu.“ Griff beugte sich zu ihm hinüber. „Ich versuche,  dir hier einen Gefallen zu tun.“

Tommy schnaufte und verschüttete etwas aus seinem Bierglas. Für einen Moment sah es so aus, als würden seinen goldenen Augen zu weinen beginnen; dann verschwand der glasige Blick wieder. Er erhob sich von seiner Bank, um Griff besser in die Augen sehen zu können und pikste dem größeren Mann auf die Brust, um seine betrunkene Wut zu unterstreichen. „Du... kannst... einen... Scheiß... helfen.“ Er hickste und setzte sich ruckartig zurück auf die Bank.

„Mach locker, du Depp.“ Griff warf verstohlene Blicke um sich, um sicherzugehen, dass niemand dem untersetzten Betrunkenen und dem rothaarigen Riesen, der sich mit ihm unterhielt, seine Beachtung schenkte. Er brummte vor sich hin. „Bevor ich dich in eine Kiste packe und dich mit der verfluchten Post nach Hause schicke, lass mich dir ein Taxi rufen.“

Tommy lächelte und zwinkerte, die Wut bereits wieder vergessen. Ein weiteres langsames Blinzeln, so als zwinkerte er mit beiden Augen. Er dachte über das Angebot nach und schluckte einen Rülpser hinunter. „Nein danke, Kumpel. Ich bin okay. Du bist riesig, hm?“ Sein Blick wanderte über Griffs Brust und seine Schultern.

Perfekt. Die Methode der physischen Einschüchterung flog ihm um die Ohren, und ließ den perversen, kleinen Mistkerl geil werden. Er hatte vergessen, dass Mobbing Tommy heiß machte.

„Na los, Tommy.“ Griff dachte darüber nach, ob es weise wäre, um den Tisch zu gehen, ihn auf seine Füße zu ziehen und ihn dann nach draußen in die kalte Luft zu zerren, bewegte sich jedoch nicht. Er blickte zu der Tür, an der er eigentlich stehen sollte. Die Zeit lief.

Da saßen sie nun an diesem Tisch und versuchten Worte für sehr unterschiedliche Dinge zu finden, die sie sich sagen wollten.

Bevor Tommy anfangen konnte irgendwelche Wahrheiten von sich zu geben, hustete Griff und unterbrach so den Moment der Anspannung. „Hey Mann, nichts ist so schlimm.“

Wir beide wissen, dass das eine verfluchte Lüge ist.

„Griffin, ich glaube, ich will mich scheiden lassen.“ Tommys Stimme brach bei seinen Worten. „Leute lassen sich nun mal scheiden.“

Oh scheiße. „Wovon redest du?“

„'s ist fürchterlich, Mann.“ Tommy rieb sich über sein Gesicht. „Ich weiß nich, mit wem ich drüber red'n kann.“

Das macht aus uns schon zwei, Arschloch. Griff dachte darüber nach wie dicht er schon einmal davor war, Tommy alles zu erzählen und – Gott sei Dank – entschieden hatte, die Klappe zu halten.

An der Bar nahm Alek gerade vorsichtig seine Bestellung in die Hände. Griff sah, wie eine Frau mittleren Alters versuchte, mit ihm zu flirten. Mit absolut null Erfolg. Falsche Adresse.

Tommy ließ sein Glas auf dem Kondenswasser auf dem Tisch hin und her rutschen. „Griff, du biss wirklich ein guter Kerl, richtig? Bodenständig. Ähm, hassu jemals drüber nachgedacht...?“

Als Griff ihm zusah wie er sich wand, wurde ihm klar, dass Tommy versuchte den verrückten  Mut eines Betrunkenen aufzubringen, um etwas Fürchterliches zu beichten. Tommy wollte ihm alles erzählen und Griff um einen Rat fragen, den er ihm nicht würde geben können.

„Ich mein, du biss gebaut wie ein Kühlschrank. Ich mein, du und Anastagio seid verflucht nochmal Männer. Wie Brüder. Hm. Niemand belästigt euch. Falls ich was bräuchte...“ Tommy hatte an seiner Angst zu knabbern, als er versuchte die Worte herauszubringen und Griff ließ ihn; er hatte seine eigene, „Weil wir beide, ähm, Kerle sind.“

Das Phantombild des rauen Hinterhof-Ficks hing zwischen ihnen in der Luft, schwebte und gewann an Materie als Tommy redete.

Von ihnen beiden wusste nur Griff, dass sie an das gleiche dachten: die aufgeschürfte Haut, die Schwänze hart wie Beton, die haarigen Oberkörper, Bartstoppeln, die aneinander rieben, buchstäbliche, feuchte Erregung. Die grunzende, angestrengte, schwitzende, stöhnende Hitze zwischen zwei Männern, die das gleiche wollten und keine Angst davor hatten, es sich zu nehmen.

Nicht ich; ich hab eine Scheißangst.

Tommy holte tief Luft. „Wir alle haben Bedürfnisse. Was heißt, dass wir auch echte Schweine sein können.“ Er hielt ein Lachen zurück.

Griff schloss seine Augen und wartete darauf, dass die Axt fiel. Hier im Stone Bone -  und beinahe hoffte er darauf.

Tommy fand schließlich die Worte, sein Blick war intensiv. „Was ich versuche zu sagen ist, hast du dich jemals gefragt wie es ist …?“

Einen Mann zu küssen.

Deinen Freund zu vögeln.

Schwul zu sein.

Griff biss die Zähne zusammen und hielt den Atem an, als er die Augen öffnete und darauf wartete, dass die Worte ausgesprochen wurden.

Tommy sah auf, völlig fertig, nahm einen tiefen Atemzug, um seine Frage zu ste –

Und einfach so, stand Alek wieder vor ihnen und stieß mit seinem Schritt gegen den Tisch. „Und da bin ich wieder, Gentlemen.“

Eine Welle von Erleichterung und Schuld spülte über Griff hinweg, als das Phantom des Sex zwischen Männern verpuffte, bevor Tommy ihm eine Gestalt geben konnte.

Alek stellte eine Tasse Kaffee auf den zerschlissenen Tisch und genau vor Tommys Nase.

„Tom?“ Griff stellte die Frage, von der er wusste, dass er keine Antwort auf sie erhalten würde. „Was, Mann? Wie was ist...?“

„Vergiss es.“ Tommy verstummte, als er seine kurzen Finger um die Tasse schloss.

Alek setzte sich neben den verwirrten Sanitäter und nickte Griff zu – Zeit zu gehen. Sie kamen zu einer stillen Übereinkunft, während Tommy versuchte herauszufinden, wie sein fürchterliches Geständnis zum Teufel gegangen war und warum er eine Tasse Kaffee im Bone schlürfte.

„Ich muss wieder nach vorne.“ Griff erhob sich aus dem Separee und nickte dem angepisst aussehenden Manager an der Tür zu. „Trink aus, Dobski. Letzte Runde. Geh nach Hause zu deiner Familie.“ Als er die letzten Worte aussprach, ruhte sein Blick auf Alek.

Alek nickte mit seinem Kopf Richtung Tür. Er verstand Griff genau, sowohl den Befehl, als auch die Drohung. „Wenn er den Boden der Tasse sehen kann, setze ich unseren Freund in ein Taxi. Versprochen, Mr. Muir.“

Armer Tommy.

Auf dem Weg zurück zu seinem Posten an der Tür, wünschte sich Griffin, er wüsste, wen er um Rat fragen könnte.

 

 

Am nächsten Morgen verließ Griff das Haus seines Vaters, ohne etwas gegessen zu haben. Es war ihm ernst, noch vor den Weihnachtsfeiertagen ausziehen zu wollen und der Columbus Day lag bereits hinter ihnen.

Loretta Anastagio hatte ein paar Termine vereinbart, um sich mit ihm einige Mietobjekte anzusehen. Er wusste, was er wollte – nichts Ausgefallenes, lediglich eine Wohnung, die er sich mit den Jobs, die er bereits hatte, würde leisten können und die nah genug an seinem täglichen Leben war, so dass er nicht den halben Tag damit zubringen würde, zu pendeln.

Er wollte etwas Sauberes in der Nähe seiner beider Familien und nah genug, dass er die Feuerwache mit dem Auto oder der U-Bahn innerhalb von dreißig Minuten erreichen konnte. Sie versuchte ihn dazu zu bringen etwas spezifischer zu werden, aber mehr war ihm nicht wichtig und die Regeln waren einfach: keine Mitbewohner, egal wie nett; keine Ateliers, egal wie gemütlich; nichts auf Staten Island, egal wie billig.

Einfach, oder? Offensichtlich nicht. Loretta versuchte selbst über diese Kriterien zu verhandeln, aber er blieb hartnäckig. Griff wusste genau, mit was er tagtäglich zurechtkommen konnte.

Seufzend machte sie beunruhigende Vorhersagen über überhöhte Mieten, dabei hatte Griff sie gerade erst auf eine Wohnung angesetzt. Immobilien in New York waren schon immer ein ähnlich brisantes Thema wie ein radioaktives Haifischbecken. Griff wollte lediglich um seine Optionen wissen.

Zögernd stimmte sie zu, sich umzusehen, sobald sie Nicole in der Vorschule abgeliefert hatte. Er würde Loretta dort treffen und sie auch wieder pünktlich zur Mittagszeit dort abliefern, damit sie ihre Tochter wieder einsammeln konnte.

Auf dem Weg zur Schule sah Griff auf sein Handy. Nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Alek, der ihn wissen lassen wollte, dass er Tommy, wie beauftragt, in ein Taxi gesetzt hatte. Übersetzung: „Ich habe deinen betrunkenen Freund gestern Abend nicht mit meinem großen russischen Penis in den Arsch gefickt.“

Griff fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, Tommy genug Angst einzujagen, dass er Alek komplett meiden würde.

Er dachte darüber nach, bei Tommy anzurufen, um sicherzugehen, dass er auch wirklich sicher zu Hause angekommen war, entschied sich jedoch dagegen. Sie waren nicht wirklich Freunde und es klang so, als wäre die Lage im Dobsky Haushalt ohnehin schon angespannt. Das letzte, was Griff wollte war, eine ohnehin schon unangenehme Situation dadurch zu verschlimmern, dass er seine Nase hineinsteckte.

Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß.

Nachdem er sich vor den bunt bemalten Fenstern einen Parkplatz gesucht hatte, sah er sich nach Loretta um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Griff sah hinunter auf sein Handy. Hatte er vergessen nach Textnachrichten zu sehen? Nein. Nichts von Loretta.

„Morgen!“ ein warmer Bariton grüßte ihn von der anderen Straßenseite. Dante schlenderte mit einem Becher Kaffee und einer, mit Butterflecken übersäten Papiertüte, in einer Hand und einem Kindersitz in der anderen, in seine Richtung. Ein Minivan wurde langsamer, um ihn die Straße überqueren zu lassen. „Hab dir 'ne Aprikosentasche mitgebracht.“

Nach seinem Unfall wurde Dante mit einer leichten Gehirnerschütterung entlassen. Es war erst eine Woche her, seit er sich seinen Schädel gespalten hatte und beinahe lebendig verbrannt wäre. Er sah attraktiver aus, als je zuvor. Offensichtlich standen ihm Beinahe-Tot-Erfahrungen.

Griff neigte seinen Kopf und sah verwirrt drein. „Ich sollte hier deine Schwester treffen.“

„Und ich bin nichts?“ Dante überreichte ihm seinen Kaffee.

„Nein. Ich hab nur...“ Griff nahm die Tüte entgegen. Er konnte die Aprikosenfüllung riechen und sein Magen knurrte.

„Frankie hat sie zu ihrem Hochzeitstag überrascht. Er ist gestern Abend aus dem Irak eingeflogen und sie hat mich angerufen, um als eine Kinderauffangstation- und Wohnungszuhälter-Kombination einzuspringen.“

Griff nickte sein Dankeschön und blinzelte in die Morgensonne. Zwischen ihnen schien es keine Verlegenheit zu geben. Ich hab dich vermisst, D.

Dante grinste zurück, als hätte er Griffs Gedanken gelesen und stimme ihm zu. „Ich wusste, dass du Hunger haben würdest.“

„Cool.“ Griff drehte sich zu seinem Wagen um. „Willst du fahren, während ich esse?“

„Jepp. Ich will, dass du dir die Dreckslöcher mit vollem Magen ansiehst. Dann hast du was zum Hochwürgen.“

Griff hatte leider keine Hand frei, um seinem lächelnden Freund einen Klaps zu verpassen, aber es war der Gedanke, der zählte. Außerdem schien es ein wenig arg unfair, jemandem mit einer Gehirnerschütterung eine zu langen. Er nahm stattdessen einen Schluck seines starken Kaffees. „Wie geht’s deinem Schädel?“

„So hart wie immer.“ Griff zuckte zusammen, als Dante sich an seinen Kopf wie an eine Tür klopfte. „Was los?“

Griffs Augen traten bei der gleichgültigen Einstellung seines besten Freundes beinahe hervor. „Ähm. Es ist nicht mal 'ne Woche her? Du bist krank geschrieben. Du erinnerst dich?“

„Ach was. Ich bin bereit für alles, was du vorhast.“ Er verdrehte die Augen und schlug sich auf die Brust.

„Dante, mal im Ernst. Dich hat's beinahe bei lebendigem Leib gegrillt. Dir hat's den Schädel gespalten.“

„Mach dir keine Sorgen, G. Du hast mich schon gerettet. Ich werd schon nicht als Gemüse enden.“

Griff stieß den Atem in einer Wolke des Unglaubens aus. „Himmel. Du hast bereits als Scheißgemüse geendet. Als Keimling.“

„Deinen Keimling hab ich genau hier, Muir.“ Dante griff sich in den Schritt und kaute an seiner dunkelroten Lippe. „Wir können nicht alle Mammutbäume sein. Und du bist vielleicht kein Fan, aber mein Keimling hier wird häufig gepflanzt.“ Er folgte Griff zu dessen Wagen. „Schlüssel?“ Ohne Vorwarnung trat Dante dicht an Griff heran, schob seine Hand in dessen Hosentasche und wühlte hier, mitten auf der Straße, darin herum.

„Argh!“ Griff erstarrte neben der Beifahrertür.

Dante kicherte leise. „Da ist ja mein roter Kopf.“

Griff hielt den Atem an, als Dante mit seiner Hand gegen die Seite seiner leichten Ausbeulung strich. Er versuchte sich daran zu erinnern, dass sie nur zwei Freunde waren, die hier herumalberten. Er sog zischend Luft ein, „Jepp. Ich könnte... du musst nicht unbedingt Unterwasserschatzsuche in meiner verfluchten Hose spielen.“

„Sollte mich vermutlich vor dem Zitteraal in Acht nehmen.“ Dante schloss seine Finger um den Schlüsselring, zwinkerte und zog seine Faust wieder heraus.

Klimper – Klimper

Griff nahm einen Schluck Kaffee und sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand sie gesehen hatte. Der Bürgersteig um sie herum war leer. Beinahe war es ihm egal.

Hm. Ich schätze Pornos sind eine Art Heilmittel gegen Komplexe.

Dante öffnete Griffs Tür, damit er einsteigen konnte und schloss sie anschließend fest. Er joggte um den Wagen herum und sprang auf den Fahrersitz. „Ich kann's nicht glauben, dass du mich deinen verdammten Truck fahren lässt.“

„Ich wollte schon immer einen schmierigen Italiener als Chauffeur.“ Griff biss ein großes Stück aus seinem Aprikosenplunder und kaute zufrieden.

Dante lachte und zog ein Stück gefaltetes Papier aus seiner hinteren Hosentasche, um ihm Lorettas Liste zu überreichen: sein Fluchtplan. Er war warm von Dantes Körper und dadurch, dass er an Dantes Hintern gepresst lag, etwas gebogen. „Wohin zuerst, Mr. Muir?“

Griff kaute einen Moment und ließ die verknitterten Seiten ein wenig abkühlen, bevor er sie auseinander faltete.

Dante saß auf glühenden Kohlen. „Such dir ein Loch aus. Irgendeines.“

Griff überflog die Seiten. Loretta hatte sie sinnvoll nach Vierteln geordnet. „Hm. Der erste Stopp sieht nach Sunset Park aus.“

Dante nickte, warf einen Blick in den Rückspiegel und ordnete sich in den Stadtverkehr ein.

 

 

Griffin wusste nicht, was er erwartet hatte, aber er hatte keine Ahnung, dass New Yorker bereit waren in so widerlichen Behausungen zu leben. Für einige von ihnen wäre die Straße ein Schritt nach oben gewesen.

Sie alle waren unmöglich, jedes einzelne Apartment das Loretta herausgesucht hatte – und nicht nur ein wenig, sondern in geradezu biblischen Ausmaßen. Es war geradezu beunruhigend, was Brooklyn einem uniformierten Junggesellen, der auf der Suche nach einer Bude war, zu bieten hatte. Letztendlich verstand Griff, was Loretta versucht hatte ihm schonend beizubringen.

Okay, das war nicht völlig fair. Einige der Wohnungen waren tatsächlich recht schön, dafür aber völlig unrealistisch. Selbst mit seinem Gehalt vom FDNY, dem Türsteherjob im Stone Bone und den Aufträgen auf dem Bau am Wochenende, hätte Griff sechzig Stunden täglich arbeiten müssen, um die Miete zahlen zu können. Vom Bezahlen des Stroms ganz zu schweigen.

Die Wohnungen, die er sich hätte leisten können - alle drei -  waren geradezu mittelalterlich, sowohl optisch als auch was die Ausstattung betraf.

Option eins war im sechsten Stock, natürlich ohne Aufzug und hatte tatsächlich Müllberge auf den endlos scheinenden Stufen und Hundehaufen auf den Zwischengeschossen. Auf dem Flur schrie sich ein Paar auf französisch an, zumindest klang es so. Ein Kleinkind wanderte allein und in Windeln und barfuß durch die Gegend. Nein, danke.

Eine Wohnung hatte nicht einmal Wände oder eine Toilette. Lediglich ein einsames Rohr ragte aus dem unfertigen Betonboden in der Mitte eines leeren Zimmers. „Zwei Wochenenden und so gut wie neu!“ hatte der potentielle Vermieter verkündet. „Sie können sich aussuchen, was sie in welchem Zimmer installieren wollen und sich die Ausstattung ebenfalls selbst aussuchen.“ Er zeigte auf das ein Meter große Fenster, dass sich oben an einer Wand befand. „Und ein toller Ausblick!“

Die dritte Wohnung stellte sich als halblegales Zwei-Zimmer-Apartment heraus. Es war von ein paar gerissenen Cousins ohne Genehmigung über eine Pizzeria gebaut worden. Sie hatten erklärt, dass die Familie nicht wirklich wusste wem das Haus gehörte, also musste die Miete wöchentlich und in bar bezahlt werden. Als Bonus könne Griff so viel Pizza haben wie er essen konnte, außerdem könnten sie für ihn Wetten in der illegalen Straßenlotterie ihres Vaters platzieren. Oben fand Dante eine Ratte von der Größe eines Opossums, tot in einer Ecke des nach Pepperoniwurst stinkenden Schlafzimmers liegen. Die verlegenen Cousins erklärten, dass sie unten im Flur Rattengift ausgelegt hatten und die Viecher darum hier oben waren: „Sozusagen auf Urlaub.“

Dante kriegte sich auf dem Weg zurück zum Truck vor Lachen nicht mehr ein und schlug Griff auf den Rücken, um auch ihn zum Lachen zu bewegen.

Sobald sie wieder unterwegs waren, sagte Griff kein einziges Wort mehr. Er faltete lediglich Lorettas Seiten, die noch immer in die Form von Dantes Hintern gerollt waren, auf und wieder zu.

Dante fuhr zurück zur Vorschule, um Nicole einzusammeln.

„Sorry.“ Griff fühlte sich wie ein Idiot, dafür, dass er Dante hier durch die Gegend schleppte.

„Na komm schon! Für was? Ich wollte helfen.“

„Es macht dir nichts aus hier herumzufahren?“

„Was glaubst du denn? Nein! Ich hasse es, verdammt nochmal, G.“ Dante drehte sich zu Griff und verzog sein attraktives Gesicht zu seinem Dorfdeppen-Ausdruck: Augen verdreht, Zunge ausgestreckt. „Ich will, dass du bei mir einziehst, Mann.“

„Nee. Ich weiß das zu würdigen, aber ich brauche eine eigene Wohnung. Ich bin ein Erwachsener.“ Griff drehte sich, um aus dem Beifahrerfenster zu sehen. Er wollte die Bitte in Dantes tiefem Blick nicht sehen.

„Denk nach. Ich hab all diese Zimmer.“

„Ohne verfluchte Wände oder Türen!“ Griff lachte und blickte zu seinem besten Freund hinüber.

„Genau! Wir könnten das Geld zusammenlegen. Die Hälfte der Kosten. Ich könnte die regelmäßige Miete gebrauchen und du könntest ein paar der Rechnungen dadurch abarbeiten, dass du mir beim Renovieren hilfst. Wir wären beide besser dran und du weißt es. Sogar meine Eltern denken das.“

„Das haben sie gesagt?“

„Griffin, sie haben es vorgeschlagen.“ Dante nahm seine Augen von der Straße, um ihn mit einem Blick festzunageln. Er runzelte die Stirn. „Sie wissen wie viel du arbeitest. Sie wissen wie es bei deinem Dad ist. Und sie machen sich um uns beide Sorgen.“

Griff versuchte seine Besorgnis in Worte zu fassen, die keine Grenzen überschritten und trotzdem dankbar für das Angebot klangen. „Dante, ich denke nicht, dass ich jemals mit jemandem zusammenwohnen sollte. Ich bin eine Nervensäge. Ich arbeite zu unmöglichen Zeiten. Ich schnarche.“ Und ich hole mir jede Nacht einen runter, während ich dir im Netz zusehe.

Dante kaufte ihm das nicht ab. „Ja, du Trottel, und ich bin ein arroganter Idiot. Ich besitze und benutze mehr Drogerieprodukte als eine Tussi. Ich kann einen Luftangriff verschlafen und ich habe den selben beschissenen Dienstplan wie du. Nur für den Fall, dass dir das entgangen ist. Warum bist du so völlig gegen mich?“ Er legte eine Hand auf Griffs riesiges Bein und tätschelte ihn.

Warum – warum – warum? Das frage ich mich.

Griff trug einen wahren Kampf aus, in dem Bestreben seinen Oberschenkel nicht anzuspannen, nicht zu reagieren. Er blickte hinunter auf die Hand und dann auf die Straße vor ihnen. Er schluckte. „ Es liegt nicht an dir. Ich liebe dein Haus, du weißt das. Auch da rumzuhängen. Hölle, ich hab sogar geholfen, aus dem kaputten Haufen etwas zu machen. Es – ich will dich nicht einengen.“

„Tust du nicht! Wie solltest du mich einengen?! Ich frage dich!“ Dantes Frust darüber, hier mit einem Irren völlig logische Schlussfolgerungen durchgehen zu müssen, schlug sich in seiner Stimme nieder.

Griff nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Luft wieder aus. „Ich will dir nur nicht noch mehr Druck machen, als du ohnehin schon hast.“

Dante drückte Griffs Bein und tätschelte es – guter Hund – bevor er beide Hände zurück ans Lenkrad legte. „Okay, okay. Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich dort haben möchte. Ich wünsche mir nur, dass du darüber nachdenkst.“

„Ich weiß.“ Griff nickte. Auf seinem Oberschenkel konnte er noch immer Dantes Handabdruck spüren. „Mache ich. Habe ich schon.“ Ich denke täglich dreiundzwanzig Stunden lang darüber nach, was auch der Grund dafür ist, dass es eine beschissene Idee ist.

Dante fuhr auf einen Parkplatz einen Block von Nicoles Schule entfernt. Er stellte den Motor ab und gab die Schlüssel zurück.

Griff nahm sie entgegen und drehte sich zu Dante. „Tut mir leid, dass ich dir deinen Freitag versaut hab. Du solltest im Bett liegen.“

„Er war nicht versaut. Himmel.“

Kleine Leute mischten sich mit ihren Müttern vor den pastellfarbenen Buchstaben, die auf das Gebäude gepinselt waren.

Dante zeigte mit dem Finger und begann aus dem Truck zu steigen. „Da ist sie ja.“

Griff überraschte sich selbst, als er sich fragen hörte, „Kann ich mitkommen und Hallo sagen?“

„Sicher! Klar. Sie wird sich freuen.“ Dante wartete darauf, dass Griff den Wagen abschloss und die Schlüssel einsteckte.

Unter einem Gemälde eines Stapels Kürbisse, hielt sich Nicole am Rockzipfel einer jungen Lehrerin fest und zeigte auf die beiden als sie sich näherten. Die Lehrerin beugte sich herunter, damit sie Nicole verstehen konnte.

Dante sprach leise aus seinem blutroten Mund. „Ich sollte es vielleicht erwähnen, nur damit du's weißt: sie nennt dich Monster.“

„Monster?“ Griff schüttelte den Kopf, als er die Straße überquerte. „Ich frage mich, woher sie das wohl hat?“

„Keine Ahnung.“ Dante sah zur Seite und versagte vollständig, bei dem Versuch, unschuldig dreinzublicken. „Du bist riesig und griesgrämig und feuerrot.“

„Ich werde versuchen, auf keine Zwerge zu treten.“ Griff lächelte und stieß ihn mit der Schulter hart genug an, dass er stolperte.

„Hey!“ Dante stieß ein entrüstetes Lachen aus. „Ich bin verdammt gebrechlich! Ich befinde mich gerade erst auf dem Weg der Besserung.“

„Scheinst mir so schlecht wie neu.“

Die zwei Feuerwehrmänner suchten sich ihren Weg durch die Massen von winzigen Schülern, um ihre eigene zu finden.

Nicole beobachtete ihre Ankunft mit einer Art geduldiger Skepsis, so als warte sie darauf, dass Griff auf ein Gebäude trat. Griff fühlte sich wie Godzilla.

„Na los, Krümel.“ Dante hob seine Nichte auf den Arm und bedankte sich bei der Lehrerin dafür, dass sie mit ihr gewartet hatte.

Nicole verdrehte ihre kleinen Augen wegen der Ungerechtigkeit wie ein Kind behandelt zu werden. „Onkel Dante.“

„Und Monster“, murmelte Griff, nachdem sie sich wieder auf den Weg zum Auto gemacht hatten.

Dante und Nicole lachten, bis auch er einstimmte.

 

 

Irgendwann gegen zwei Uhr nachmittags wurde Griff klar, dass er und Dante gute Eltern abgeben würden –zusammen. Seltsamerweise war es Nicole, die ihre schwierige Situation bemerkte.

Nachdem die beiden Männer Nicole in der Schule abgeholt hatten, waren sie zu Ferdinandos gefahren, einem altmodischen, sizilianischen Restaurant. Nachdem sie eine Ladung Reisbällchen bestellt und verputzt hatten, teilten sich Dante und Nicole ein Mittagessen. Griffs bestelltes Schweinefleisch war so zart, dass es kaum das Messer berührte.

Griff bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. Dantes sanfter Blick, den er ihm zuwarf um sich dafür zu bedanken, ließ ihn sich wünschen, eine Million Mittagessen zu kaufen. Für Fremde.

Auch wenn er wusste, dass es in Wirklichkeit nicht so einfach war, Kinder großzuziehen, genoss Griff die Gelegenheit mit seinem besten Freund herumzublödeln und für eine kurze Zeit den Dad zu spielen. Keine Sirenen, keine Barschlägereien, keine Renovierungsarbeiten. Nur sie drei, wie sie durch Cobble Hill wanderten und hin und wieder Pausen in Bäckereien einlegten. Und falls ein geheimer Teil von ihm so tat, als wären sie ein männliches Paar, das einen Nachmittag mit ihrer gemeinsamen Tochter verbrachte, versuchte er nicht zu genau darüber nachzudenken. Dante hatte seiner Schwester versprochen, dass er Nicole um drei daheim abliefern würde.

Nachdem sie Ferdinandos verlassen hatten, stellte Dante sicher, dass Nicole ordentlich verpackt war und wickelte einen alten, gestrickten Schal um seinen eigenen schlanken Hals. Er schob seine Hände in die Taschen und als er Richtung Himmel blinzelte, machte er den Eindruck, als sei ihm etwas peinlich. „Ähm. Ich würde gerne bei der Bank vorbeischauen. Ich hab jetzt, so um die Zeit, einen Termin. Beim Finanzplaner.“

Griff war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. „Bei wem? An einem Freitag?“ Er war so überrascht, dass er aufgehört hatte weiterzulaufen.

Dante schien es nicht zu bemerken und steuerte den Bürgersteig an, wobei er etwas über einen sicheren Plan und exakte Zahlen in seinem Kopf erzählte.

Ich werd verrückt. Er hat auf mich gehört.

Nicole kam letztendlich wieder zurück, legte ihre Hand in Griffs und zog; er war so geschockt, dass er andernfalls wahrscheinlich bis Sonnenuntergang dort gestanden hätte.

„Bank“, half Nicole mit einem Rollen ihrer Augen, die gerade so eben über dem Kragen ihres roten Mantels sichtbar waren, aus. Sie wusste, dass sie hier zu dem großen, dämlichen Monster sprach, also redete sie langsam und sorgfältig. „Er möchte gehen.“

Dante bemerkte schließlich, dass er allein unterwegs war und hielt an, um sich umzusehen. Der Wind blies eine schwarze Strähne über seine klar  geschnittenen Gesichtszüge. Sein weißes Lächeln strahlte. Er öffnete seine Hände, als wollte er fragen „Was ist los mit dir?“, während Nicole das große Monster zurück zu ihrem Onkel schleifte.

Als sie ihn beinahe eingeholt hatten, war Griff schließlich in der Lage etwas zu sagen. „Du hast mir zugehört.“

„Ich höre immer zu, G.“ Und auf diese Note nahm Dante Nicoles andere Hand und die drei machten sich auf den Weg zur Bank – auf, den Zauberer zu sehen.

 

 

Es stellte sich heraus, dass Dantes Bank in Brooklyn buchstäblich ein Palast war: gekachelte Wände, gewölbte Decken, Marmorboden. Das gesamte Erdgeschoss war eine beeindruckende Nachbildung eines Italien während der Renaissance.

„Wow“, brachte Griff gerade noch heraus. „Ich schätze deine Bank ist besser dran als meine.“

Dante lachte. „Jepp. Nein. Es ist eine Nachbildung von irgendeinem Haus in Florenz. Italiener, hm? Irgendeine Familie hat es vor etwa hundert Jahren nachbauen lassen.“ Seine Augen durchsuchten die Schreibtische nach jemand bestimmten.

Unten, auf Höhe ihrer Knie, war Nicole sorgsam darauf bedacht, auf ihrem Weg nach drinnen nur auf die cremefarbenen Fließen zu treten. Der Raum hatte den gleichen gedämpften Hall wie eine Kirche.

„Mr. Anastagio?“ Eine männliche Stimme schallte von den Wänden und Decken und brachte einige Leute dazu sich umzudrehen.

Dante und Griff wandten sich um, um einen steif aussehenden Herrn in seinen Vierzigern zu sehen, der an einem niedrigen Schreibtisch auf halbem Weg durch den Raum saß und eine Hand zum Gruß erhoben hatte.

„Das hier sollte schnell vorbei sein.“ Dante hatte einen kurzen, stummen Austausch mit Griff, um sicherzustellen, dass es für ihn okay war, in Nicoles Händen gelassen zu werden.

Griff nickte. „Ich schätze, sie könnte Spaß haben, das Teil hier für einen späteren Bankraub auszuspionieren.“

„Danke.“ Er hockte sich auf Nicoles Höhe hinunter. „Sei nett zu Monster.“

Griff ließ sich von Nicole durch den Raum ziehen, eine cremefarbene Fliese nach der anderen.

Zehn Minuten wurden zu dreißig und Nicole hatte langsam genug von dem beeindruckenden Bau. Als sie verkündete, dass ihre Beine müde wurden, suchten sie sich einen Sitzplatz und pflanzten sich hin. Dante sprach noch immer zu dem Kerl im Anzug.

War etwas nicht in Ordnung? Griff verlagerte unruhig und rastlos sein Gewicht. Er wollte wissen, was so verdammt lange dauerte, aber er würde keineswegs in das Gespräch hereinplatzen.

Griff sah zu Nicole hinüber, die auf der anderen Seite der Bank neben einem halbleeren Tetra Pack mit Orangensaft saß.

Die Kleine schien bester Laune zu sein; sie dachte sich ausführliche Lebensgeschichten über die Leute aus, die in den beiden Schlangen anstanden und teilte ihre Diagnosen mit Monster. Seltsam. Sie durchsuchte mit ihren Augen den Raum nach einer weiteren verfluchten Seele, die dringend einen spannenden Lebenslauf benötigte.

„Tut mir leid, Süße. Ist dir langweilig?“

Nicole legte den Kopf schief und sah verwirrt aus. „Warum ist mir langweilig?“

„All diese Erwachsenen-Sachen. Er dachte nicht, dass es so lange dauern würde.“

„Ist dir langweilig?“ Nicole sah aus, als sei es ihr ernst. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als sei sie eine Onkologin, die sich Sorgen machte Griff könne Krebs haben.

„Ähm, nein. Ist es nicht. Ich mache gerne Sachen mit dir und deinem Onkel.“

„Ist ihm langweilig?“ Sie drehte sich um, um Dante nach Krebs zu untersuchen.

Im Moment saß ihr Onkel gerade ungefähr sieben Meter von ihnen entfernt vor einem glänzenden Schreibtisch. Seine Stirn lag in Falten und er nickte, während der steife Kreditbeauftragte irgendetwas Mitfühlendes von sich gab und ein Blatt Papier hochhielt. Er hatte unbewusst seine Locken so lange mit den Fingern bearbeitet, bis sie zu allen Seiten von seinem Kopf abstanden. Ein klares Anzeichen dafür, dass er versuchte sich zusammenzureißen und kläglich scheiterte.

Griff versuchte zu lauschen, aber seltsamerweise machte der hallende Raum genau das unmöglich. Jegliche Konversation wurde von dem reflektierten Gemurmel des Raums geschluckt.

Und wieder hatte Griff die verrückte Fantasie, dass sie beide ein Paar wären und gemeinsam zur Bank gingen. Dass er neben Dante sitzen könnte, ganz so wie ein Ehemann es tun würde, während der Banker ihnen ihre Möglichkeiten offenbarte. Er könnte Dantes Hand halten, so dass er sich nicht die Haare raufen würde. Er hasste es zusehen zu müssen, wie Dante da drüben in seinem größten Alptraum allein feststeckte: jemandem ruhig zuhören zu müssen, der ihm sein Haus nehmen konnte.

Bitte, lass ihn das bekommen, was er braucht.

Dann, ganz so, als könnte er ihre Blicke spüren, drehte er sich um, sah Griff direkt in die Augen und sein Lächeln ließ sein ganzes Gesicht leuchten. Er zeigte auf seine Uhr und hielt eine Hand hoch. Fünf Minuten. Seine schwarzen Augen ruhten auf Griff, als er ihm ein langsames, süßes Zwinkern schenkte – danke – und sein Blick richtete sich wieder auf den Kreditsachbearbeiter.

Griff wurde sich wieder bewusst, wo er hier saß und realisierte, dass das selbe strahlende Lächeln sich auf sein eigenes Gesicht geschlichen hatte. Und auch, dass die kleine Frau Doktor näher zu ihm gerückt war, um ihrem großen Monster etwas zu erklären.

„Hm-hm. Er langweilt sich nicht.“ Nicole gab die Diagnose für ihren anderen Patienten ab. „Er vermisst dich nur.“ Sie tätschelte seine gewaltige Schulter mit ihrer winzigen Hand – patsch-patsch – bevor sie zu ihrer Seite der Bank zurückrutschte. Frau Doktor wandte sich wieder ihrer Tätigkeit zu, die anderen Erwachsenen unter den achteckigen Oberlichtern interessanter zu machen, als sie waren.

Griff schluckte um einen Kloß im Hals und blickte auf den gefliesten Boden. Sie meinte damit nur, dass Dante Spaß daran hatte, mit ihnen herumzualbern. Aus irgendeinem bescheuerten Grund brannten seine Augen und er fühlte sich benommen.

Fang bloß nicht an zu heulen, Arschloch.

Griff nahm einen tiefen Atemzug, stieß ihn wieder aus und verschloss die Traurigkeit wieder tief in sein Inneres, bevor sie würde ausbrechen können. Wie hätte er das erklären sollen? Er warf Nicole einen Blick zu. Vermutlich müsste er das gar nicht; sie würde es für ihn erklären.

Ganz plötzlich und mit unglaublicher Klarheit, konnte Griff sich vorstellen, wie ihr Sohn sein würde. Seiner und Dantes. Er würde Dantes Humor und sein Aussehen haben, Griffs Größe und sein Herz und er hätte vor nichts auf der ganzen, verdammten Welt Angst. Er würde stark und fürsorglich und albern und gütig sein – die Sorte Kind auf die andere Eltern neidisch wären, ein Junge, der ein Gewinner wäre und Berge besteigen würde. Griff konnte sich sein kleines, starkes, lächelndes Gesicht genau vorstellen, ganz so, als säße ihr Sohn neben ihm und Nicole unterhielt sich mit ihm, statt mit sich selbst. Griff japste beinahe nach Luft bei der süßen Vorstellung einer Familie, die er niemals würde haben dürfen.

Und dann sah er auf Dantes Schuhe. Er blickte auf und fand Dante, der vor ihm stand und ein wenig grau im Gesicht wirkte. Ihr imaginärer Sohn löste sich neben ihm in Rauch auf. „Bei dir alles okay?“

„Tschuldigung, Leute.“ Dantes Stimme war rau. „Er war mies gelaunt.“

Griff fragte Dantes Augen eine stille Frage.

Dante schüttelte seinen Kopf. Es war schlecht gelaufen.

„Du brauchst eine Olive“, kündigte Nicole an. Frau Doktor war anscheinend wieder im Dienst. „Mama sagt Oliven –“

„ – können alles heilen.“ Dante und Griff sprachen gleichzeitig und begannen zu lachen.

„Jepp, Krümel.“ Dante nickte ihr zu. „Sie hat das von Nonna gelernt. Ich glaube, du könntest Recht haben.“

Sie hatten noch genug Zeit, um bei Sahadi vorbeizuschauen und ein paar Sorten Oliven auszusuchen, bevor sie Nicole zu ihren Eltern zurück brachten; inzwischen brauchten auch sie vermutlich eine Diagnose ihrer Tochter.

Als die drei sich auf den Weg die Clinton entlang Richtung Atlantic Avenue und dem Geschäft machten, neigte Griff seinen Kopf zu Dante und flüsterte ihm zu. „Was auch immer es ist, wir kriegen das geregelt.“

„Ich denke nicht, dass du – was noch fehlte, meine ich. Ich denke nicht, dass du kannst.“

Griffs Herz zog sich zusammen und die Worte kamen lauter aus seinem Mund, als er beabsichtigt hatte. „Halt die Klappe.“

„Das ist unhöflich!“ Nicole versuchte offensichtlich herauszufinden, wie sie damit enden konnte, diese beiden Dummköpfe zu babysitten.

„Sorry. Du hast Recht.“ Dann murmelte Griff wieder Dante zu. „Dante Anastagio, ich werde dir helfen und auch dann, wenn ich dazu jeden einzelnen Knochen in deinem Körper brechen muss. Bitte.“

Dante sah unangenehm berührt aus und blickte auf die Kleine hinunter. „Es wird damit enden, dass du mich hasst. Oh Gott.“

Deutlich wahrscheinlicher, dass du mich hassen wirst. Griff stieß ihn an, was ihn zum Stolpern brachte. „Hör auf damit.“

Dante lachte nicht. „Ich bin so ein Idiot.“

Was hatte die Bank gesagt?

Nicole hatte angehalten und tat so, als sei sie an einem Schaufenster voller Orchideen interessiert. Wie kam ein Kind darauf, so etwas zu tun? Vermutlich der Einfluss ihrer exzentrischen Mom.

Griff trat ein paar Schritte zur Seite und starrte geradewegs in die besorgten Augen seines besten Freundes. „D, es ist mir egal, was es ist; es ist mir egal, was ich tun muss. Du entscheidest. Okay? Ich versprech's dir. Wir werden den gesamten Betrag besorgen. Rechtzeitig.“

Bitte bleib bei mir. Unser Sohn war so nahe, so unglaublich nahe neben mir.

„Okay.“ Dante sah erschöpft aus. Seine Augen schienen eingesunken, ihr Leuchten erloschen. „Griff, du lässt mich dich in diesen Mist mit hineinziehen.“

Scheiße. Als hätte jemand einen Schalter betätigt, waren sie plötzlich keine Familie mehr. Klick! Sie waren nur noch zwei Vollidioten, die für einen Verwandten, der sie gerade brauchte, das Kind hüteten. Dante war nur noch ein Hitzkopf, der dabei war, sein Haus zu verlieren. Griffs verbotene Gefühle und ihr imaginärer Sohn waren nicht mehr als das.

Ich werde alles tun. Du musst mich nur fragen.

Griff seufzte und sah zu Nicole. Sie betrieb klassisches Kleinkinder-Lauschen, indem sie ihre Augen starr nach vorne gerichtet und ihre Ohren weit geöffnet hatte – ein Staubsauger für Klatsch. Wenn sie nicht vorsichtig waren, würde bald der ganze Anastagio-Clan wissen, dass Dante tief in der Scheiße steckte und Griff irgendwie mit drin hing.

Dante nahm wieder Nicoles Hand. „Na los, Krümel. Lass uns ein paar Oliven für deinen Dad besorgen.“