Kapitel 2
Sie waren schon ihr ganzes Leben lang Freunde.
Nee, das war 'ne verdammte Lüge.
Griff wusste seit der Junior High, wer Dante war. Aber Paulie war der Grund dafür, dass sie Kumpel geworden waren. Paulie war Dantes älterer Bruder und, genau wie Griff, Lineman für das lokale Schul-Footballteam. In der Tat, hatten Paulie und Griff bereits das gesamte dritte, und einen Monat des letzten Highschooljahres zusammen gespielt, bevor Dante mehr als nur der nervige, kleine Bruder seines Freundes wurde. Diese Tatsache schien aus heutiger Sicht verrückt.
Aber was schien jetzt nicht verrückt?
Paulie Anastagio war eins von sechs Kindern einer verrückten italienischen Familie, die in einem braunen Sandsteinhaus mit zusammengestückelter Einrichtung in Cobble Hill lebten. Mrs. Anastagios Großvater hatte es noch vor der großen Depression gekauft. Das Haus saß auf der Grenze zwischen Drecksloch-Brooklyn und Brooklyn-kriegt-seinen-Scheiß-endlich-auf-die-Reihe. Griff lebte mit seinem Dad zwei Blocks weiter, auf der miesen Seite.
Griff und Paulie hatten sich im Baseballcamp im Spätsommer kennen gelernt und hingen während des Junior-Jahres, aufgrund des Footballs viel miteinander rum. Nichts Weltbewegendes: ein paar Doubledates, ein paar gemeinsam gerauchte Joints und ein paar besoffene Ausflüge im Auto von irgendjemandes Freundin nach Jersey rüber.
Griffs Vater war der Meinung, dass Football reine Zeitverschwendung war und Schule einzig dazu diente, sich auf Kosten der Stadt einen runterzuholen. Wo lag der Sinn der Schule, wenn man ohnehin wusste, man würde als Polizist oder Feuerwehrmann enden? Bis er Paulie getroffen hatte, war Griff, mehr oder weniger, der gleichen Meinung. In der High School, hatte er sich in seiner letzten Reihe dabei besondere Mühe gegeben.
Paulie war einer von den Typen, die exakt das waren, was sie zu sein vorgaben: ehrlich, unkompliziert und absolut geradeheraus. Für ihn war es selbstverständlich. Bei einer Körpergröße von 1,75m und einem Gewicht von 100kg, war Paulie wie ein Güterzug, egal ob auf dem Feld oder ausserhalb.
Beim ersten Footballspiel hatte Griff hören können wie der gesamte Anastagio-Clan seinen Freund anfeuerte. Go Skyhawks! Diese große, dunkelhäutige Famiglia schrie und klatschte in den Rängen – schwarze Augen und schwarzer Humor. Die Anastagio-Geschwister schubsten sich und machten sich übereinander lustig, bis Mrs. Anastagio einem eins über den Hinterkopf gab.
Als die Skyhawks gewonnen hatten und das Team sich gegenseitig auf die Ausrüstung schlug und die Menge jubelte, war Griff so neidisch auf seinen Freund und dessen Familie, dass er Paulie kaum in die Augen sehen konnte.
Es spielte keine Rolle. Nachdem sie sich geduscht und umgezogen hatten, hatte Paulie ihn einfach am Nacken gepackt und Griff fand sich zusammengequetscht auf dem Rücksitz eines Lincolns, mit Loretta Anastagio über seinen Beinen, wieder – lachend und unterwegs zu Pizza und Cola. Bis der Abend vorbei war, hatte die ganze Familie ihn praktisch verdaut wie eine laute, glückliche Amöbe... und das war's dann.
Ziemlich bald aß Griff grundsätzlich bei den Anastagios, half Mr. A mit der Dachrinne, fuhr gemeinsam mit den Brüdern auf Partys oder zum Strand und futterte aus ihrem irren, überladenen Kühlschrank. Zum guten Schluss konnte er aufhören sich die imaginäre Familie zu wünschen, nach der er sich immer gesehnt hatte – sie hatte ihn gekidnappt.
Griffs Dad schien es, so oder so, egal zu sein. Als Brandermittler konnte er zu jeder Zeit zu Untersuchungen gerufen werden und überließ Griff im Wesentlichen sich selbst, kalten Sandwiches und Limo. Griffs Mom war gestorben als er neun war, somit mussten die Muir-Männer sehen wie sie klar kamen.
Die Anastagios schmissen Geburtstagspartys für ihn. In den Ferien vor dem letzten Schuljahr, nahmen sie ihn für eine Woche mit zum Lake George, zu ihrem jährlichen Nicht-Angel-Urlaub. Und als Griff sich eines Abends beim Basketball spielen den Arm gebrochen hatte, war es Mrs. Anastagio, die ihn ins Krankenhaus brachte. Er und Paulie passten auf die jüngeren auf und mussten ihre großen Klappen ertragen. Griff lernte von Mr. Anastagio was es bedeutete, ein Mann zu sein, nicht von seinem eigenen Vater.
Jedes Foto aus seinem Senior-Jahr, zeigte Griff mit einem Lächeln – mit einer dicken Matte feuerroten Haares und Schultern wie ein Kühlschrank, stand er groß und blass und schüchtern, umringt von seinen halb adoptierten, sizilianischen Geschwistern: ihre dunklen Gesichter und das ausgelassene Lachen... Jedes Foto, war wie das Lied aus der Sesamstraße: Eines dieser Dinge, ist nicht wie die anderen.
Kurz vor dem Schulabschluss hatte Paulie Veronica Nuñez geschwängert. Das glückliche Paar (plus kleinem blinden Passagier) heiratete im Juni und zog im August nach Staten Island. Statt das Feuerwehrmann-Examen zu machen wie er ursprünglich geplant hatte, hatte Paulie auf dem Bau angefangen.
In einer Art stillem Einverständnis, rutschte der nächste Bruder in der Reihe nach, um mit Griff den großen Bruder zu machen: Dante, der absolut verrückteste Anastagio – und stolz darauf. Ärger auf zwei Beinen, größer, schlanker und eingebildeter als Paulie.
Am Anfang hasste Griff ihn. Nicht hassen-hassen. Aber, als sie an einem Abend mit ein paar anderen Jungs, die mit ihnen die Ausbildung machten, in einen Stripclub gingen und Dante unverschämt wurde, haute er ihm eine rein. Dante hatte nicht aufgehört eine der Tänzerinnen, ein Mädchen das sie noch aus der Schule kannten, zu belästigen. Griff holte aus und Dante ging zu Boden. Als er sich mit seinem Piratenlächeln und einer blutigen Lippe wieder auf die Füße gerappelt hatte... schmatzte er nur einen dicken, feuchten, italienischen Kuss auf Griffs Wange. „Ist schon gut, Kumpel. Ist schon gut.“
Klick. Sie waren beste Freunde. Als hätte jemand auf einen Schalter geklickt.
Sie fanden schnell heraus, dass sie beide einen Abschluss zum Feuerwehrmann machen wollten, was eigentlich beinahe ein vorherbestimmtes Schicksal war. Sie trainierten zusammen, feierten zusammen, gingen zusammen auf Frauenjagd, kotzten zusammen... Brüder.
Sie bestanden ihre Abschlussprüfungen, Griff beim ersten Mal, Dante beim dritten. Ihre Anfängerzeit verbrachten sie Seite an Seite auf Randall Island. Danach wurde Dante in eine heruntergekommene Feuerwache versetzt, die immer kurz davor stand aus Budgetgründen geschlossen zu werden und zog nach Queens. Griff hatte mehr Glück, vermutlich wegen seines Vaters und erwischte eine Stelle bei der Engine 333/ Laddder 181 in Red Hook. Die Jungs nannten sich selbst die „Hot Hookers“ und, keine Frage, das waren und taten sie.
Bis Griff heiratete, hingen er und Dante weiterhin an den Wochenenden zusammen rum – tranken, betranken sich und teilten sich sogar ein paar Mädchen. Dante hatte immer drei oder vier oder sogar mehr Frauen am Start.
Keine Ausnahme bei den Jungs auf der Feuerwache. Jeder wusste, dass junge Feuerwehrmänner ihre Hosen nicht oben behalten konnten. Es kam mit dem Job: Vierundzwanzig Stunden Schichten, permanente, körperliche Anstrengung, Testosteron, warten auf der Wache, kochen, Gewichte heben und das Waschen des Trucks. Die Mädels waren immer Feuer und Flamme ihre Dankbarkeit auszudrücken. Und der Dienstplan lieferte genügend Entschuldigungen für einen kurzen Ausflug, Sorry Schatz, ich hatte heute 'ne Doppelschicht. Jepp, sicher: Doppel D`s schon eher, mit einem Kumpel auf einem runden Wasserbett in einem Sexhotel in Jersey. Bin Dienstag wieder daheim, Süße.
Keiner der Feuerwehrmänner war ein Kind von Traurigkeit, aber Dantes Appetit war legendär – Essen, Ficken, Spaß... jede Reihenfolge, jede Kombination. Zwei Jahre, nachdem er begonnen hatte in dem Job zu arbeiten, hatte er eine Verlobte namens Shelly, eine Freundin namens Maxine und ein paar Sexbekanntschaften - falls es zu einem stehenden Notfall kam. Und irgendwie gelang es ihm, sie alle unter einen Hut zu bekommen, ersetzte sie, wenn sie zu langweilig wurden. Manchmal schien es fast so, als hätten die Frauen kein Problem damit ihn zu teilen, so lang er beim Vögeln nur so tat, als seien sie sein Ein und Alles. Was auch immer Dante mit diesen Mädchen anstellte, sie konnten nicht genug von ihm bekommen.
Es war immer klar, dass Griff eines Tages sein Trauzeuge werden würde, aber Dantes Liebesleben stand nie lang genug still, um jemandem den Ring an den Finger zu stecken. Shelly wurde zu Lauren... dann Bethany... dann Krysta. Verlobte standen Schlange, aber niemals eine Hochzeit.
Auch wenn die Braut seinen „arroganten Arsch“ hasste, war Dante Griffs Trauzeuge bei seiner Hochzeit mit Leslie Kiernan. Dabei verbrachte der Trauzeuge den Empfang damit, es der ersten Brautjungfer auf dem Parkplatz im Jeep ihres Freundes zu besorgen.
Dante kam mit allem davon. Und aus irgendeinem Grund liebten ihn trotzdem noch alle, auch nachdem Schluss war. Auf seine Art und Weise, lebte er die Fantasien für alle seine Kumpels aus. Feuer und Frauen waren Dantes Leben. Das war es, was er war.
Dann kam der 11. September und die Türme fielen.
„10-60, wurde für das World Trade Center angefordert, 10-60, für das World Trade Center.“
Sobald die Flugzeuge eingeschlagen waren, raste jede FDNY Feuerwache zu den Twin Towers. Feuerwehrautos strömten nach Lower Manhattan und versuchten, sich durch den Wahnsinn auf den Straßen zu schlängeln. Überall Rauch. Ascheregen. Leute die sprangen. Massensterben. Straßen wadentief unter Papierfetzen begraben. Menschen, die betäubt und von Staub bedeckt umherirrten, stolperten, durch den dichten, grauen Blizzard. Schlurfende Armeen von Gehaltssklaven versuchten nach Hause zu kommen, zu einem Telefon, einfach runter von der Scheißinsel, bevor sie sank.
Um die acht Löschfahrzeuge und fünf Leiterwagen zusammen zu bekommen, die für einen Großeinsatz von Nöten waren, hatte die Zentrale Einheiten aus Brooklyn und Queens angefordert. Da sie nur über den Fluss mussten, war Griffs Löschfahrzeug eines der ersten an der Unglücksstelle gewesen. Selbst nachdem das zweite Flugzeug eingeschlagen war, rissen sich die Mannschaften noch immer ihre Ärsche auf, um Menschen in Sicherheit und die Situation unter Kontrolle zu bringen. Fünfundzwanzig Löschfahrzeuge, sechzehn Leiterwagen, vermutlich sechs komplette Abteilungen. Niemand hatte erwartet, dass die Türme tatsächlich fallen würden; eine Menge ihrer Jungs waren hinein gerannt, um Zivilisten herauszuholen.
Dann – heilige Scheiße – tat World Trade 2 genau das und dann wurde es schlimmer als alles, was sie jemals zuvor gesehen hatten.
Griff war auf Straßenlevel gewesen und hatte Wasser in die 90 Church Street gepumpt, als er ein Boom und ein merkwürdiges Gebrüll hörte. Dann schoss die schwarze Wolke durch die Straßen, auf der Jagd nach ihnen. Er versuchte der tiefschwarzen Dunkelheit davonzulaufen, während Geröll und Papier um ihn herum tobten, aber sie fing ihn ein und schleuderte ihn durch ein Glasfenster, so dass er blind durch den qualmenden Nebel zu seiner Ausrüstung kriechen musste. Null Sicht an einem sonnigen Morgen.
Der Big Apple hatte seinen Verstand verloren.
Die Führung war ausgelöscht. Hunderte vermisste Menschen. Griff half mit seiner Crew beim Suchen und Bergen in der U-Bahn Station an der Cortland Street, als er Dantes Namen über Funk hörte. Ein Notruf von Seiten des nördlichen Turms, bevor auch dieser fiel.
Ohne darüber nachzudenken, rief Griff die Anastagios an oder versuchte es zumindest. Zwei Stunden nach dem Einschlag, gab es noch immer kein Mobilfunknetz und die Telefonleitungen waren überlastet von Menschen, die Antworten wollten und von Menschen, die aus den Trümmern ihre Familien anriefen, um sich von ihnen zu verabschieden. Noch immer keine Zahl über die Toten und Verletzten, aber wo hätte darin auch der Sinn gelegen? Er versuchte seine Frau anzurufen, aber das Problem war das gleiche. Sie waren hier unten in einer Blase.
Dante hätte überall sein können. Offensichtlich konnte man näher dran noch immer Opfer hören, die gefangen unter dem Geröll um Hilfe bettelten. Die Nachrichtenstationen vermuteten den Dritten Weltkrieg. Niemand wusste bisher irgend etwas. Die Anzahl der Toten hätte bei 20.000 liegen können. Die ganze Stadt versuchte verzweifelt, eine klare Antwort zu bekommen.
Griff setzte einfach nur einen Fuß vor den anderen und versuchte ein paar Leute zu retten. Wieder und immer wieder, ließ er sich an den Augenwasser-Stationen seine mit Ruß verkrusteten Augen säubern, nur, damit er weiter suchen konnte. Er hatte gehört, dass auch andere Flugzeuge in Washington abgestürzt seien, aber der Wahrheitsgehalt war schwer auszumachen, denn Fakten gab es nur wenige. Irgendein Monster hatte ein Loch in New York geschlagen und die Hoffnung lief aus der Stadt und in den Fluss. Und hier war er nun und versuchte eine einzige, bestimmte Person in der Mitte des Chaos zu finden und fühlte sich genau so blind und dumm und nutzlos wie alle anderen. Wenn das mal kein Scheißheld war.
Griff suchte sich seinen Weg so dicht wie möglich am Pit und hielt die Augen offen. World Trade Center 2 brach am frühen Abend zusammen. In der Hoffnung, Dantes Namen von jemandem da unten noch mal zu hören, arbeitete er mit den Crews die ganze Nacht wie ein Zombie, sein Gesicht grau von der Asche. Sie würgten beim Geruch der Acetylen-Fackeln und hatten noch weitaus Schlimmeres zu ertragen. Auf der Suche nach seinem besten Freund konnte er ein paar verlorenen Seelen helfen. Tausende von Menschen suchten nach Angehörigen und Arbeitskollegen, die sich buchstäblich in Luft aufgelöst hatten.
Griff schnitt Menschen aus Autos und trug Leute zu den Rettungswagen. Er rettete einen halbverhungerten Labrador mit einem gebrochenen Bein, der Milch vom Linoleum des Schnellimbisses leckte, in dem er eingeschlossen war. Er fand eine schwangere Rechtsanwaltsgehilfin, die barfuß über den staubigen Zement schlurfte, mit verlorenen Schuhen und verlorenem Blick. Er schickte sie Richtung Brücke, so dass sie nach Hause zu ihren Kindern laufen konnte.
Niemand hatte Dante seit dem Notruf des zweiten Turmes gesehen, aber Griff hörte nicht auf zu fragen und nach dem einen Namen zu lauschen. Tag und Nacht und Tag. Siebenunddreißig Stunden ohne Schlaf und dann schnitt sich Griff, bei dem Versuch einen Briefkasten von einer Leiche in einem 1.600 $ Anzug zu wuchten, die Hand auf. Er bemerkte nicht einmal, dass er blutete, bis sich einer der Sanitäter vor ihm aufbaute und ihn anschrie.
Schock. Er war im Schockzustand.
Sie packten ihn in einen Rettungswagen und schafften ihn zu einem der Notfall-Rettungszelte, die wie kleine Wunder rund um den Ground Zero erschienen waren. Menschen, die stöhnten und wimmerten und wegen dem ganzen Staub würgten. Er war nicht in der Lage irgend etwas zu fühlen. Ein Typ in Krankenhauskleidung nähte seine Hand wieder zusammen und schickte ihn nach Hause. Stattdessen machte er sich auf den Weg durch die Hölle, um Dante zu finden.
Es kostete ihn fünf Stunden und den größten Teil seiner Zurechnungfähigkeit.
„Gehören sie zur Familie?“, die Schwester der Armee Reserve beäugte seine helle Haut und das leuchtende Haar. Ihre Augen überflogen schnell ein Clipboard. Sie blätterte um und machte ein paar Notizen.
Als die durch die weiten, hallenden Gänge des Bellevue Krankenhauses schritten, schien sich die Menge der schmutzigen Menschen, die sich auf den Liegen wanden, als hätte jemand einen Stein gehoben und schmerzhaftes Licht auf ein paar Maden gerichtet, ins Unendliche zu erstrecken. Ansammlungen schluchzender, hysterischer Familien, die das Gefühl hatten, die Welt würde jeden Moment aufhören zu existieren, versuchten verzweifelt, sich wenigstens zu verabschieden und sich ein letztes Mal sagen zu können, dass sie sich liebten.
„Bruder“, Griff wusste, dass er wie ein Irrer aussah. Seine verletzte Hand juckte.
Sie tippte auf ihre Notizen. „Er steckte in einem Treppenaufgang fest, aber er schaffte es, sich und seinen Partner rechtzeitig durch eine Lüftungsöffnung zu schieben. Verrückter Mistkerl, würd ich sagen.“
„Sie haben ja keine Vorstellung.“
Sie bogen um eine Ecke und plötzlich war die Welt wieder in Ordnung.
Dante lag zusammengerollt auf der Seite, sein schwarzes Haar staubig und die obere Hälfte seines Gesichts blau von Prellungen und kleinen Schnitten. Die Sanitäter hatten ihn aus seiner Kleidung geschnitten und das Krankenhaushemd war über seiner rußigen Hüfte zusammengerollt. Dantes Augen und Hände zuckten als er träumte. Seine geschwungenen Lippen schienen zu rot und zu dunkel, als wären sie auf das Gesicht tätowiert worden. Er hustete im Schlaf und irgendwie war es Dantes Stimme, die da hustete, erkennbar sogar vom anderen Ende des Raumes.
Griff hätte sie überall erkannt. Er war so erleichtert, dass er sich fast bepinkelt hätte, verschluckte sich fast an purer Luft, als er zu seinem besten Freund ging.
Biep-biep-biep. Der Pager der Schwester ging los und sie machte sich auf den Weg zurück in das stöhnende Meer von Liegen im großen Gang; sie sah Griff nicht einmal an und er hätte nicht bemerkt, wenn sie es getan hätte. Plötzlich gaben Griffs starke Beine nach und er ging neben dem schmalen Feldbett auf ein Knie.
Danke, Gott. Danke, Gott.
Er wünschte, Dante würde noch ein Geräusch von sich geben, irgendeines. Er lehnte sich über dessen müdes Gesicht, einfach nur, um ihn atmen zu hören, die Musik von Dantes Atem. Als er so nahe bei seinem Freund kniete, wollte er nichts sehnlicher, als sein staubiges Ohr an dessen Brust zu halten, um das wundervolle Pochen zu hören, das bedeutete, dass Dante lebte.
Du Arschloch. Musstest ein verfluchter Held sein –
Griffs Finger tasteten über Dantes Handgelenk und nahmen dessen raue Hände in seine. Plötzlich wusste er, dass New York irgendwann okay sein würde. Sie würden überleben.
Dante bewegte sich ein wenig und drückte Griffs Hand, kaum fühlbar, zurück. Dabei machte er einen dieser zufriedenen Grunzer, so, als hätte jemand in seinem Traum einen Witz gerissen und er wolle gerade mit Lachen anfangen.
Selbst Griffs rotes Haar war wie elektrisiert und sein Herz fühlte sich plötzlich zu groß und zu heiß für seine Rippen an, als es gegen seinen Brustkorb schlug.
– Plisch –
Etwas Nasses fiel auf ihre verschränkten Knöchel und ließ Asche und Schmutz verlaufen. Griff realisierte, dass er weinte - weinte - weinte, und es fühlte sich so gut an, die Tränen frei und sauber laufen zu lassen, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte wie man wieder aufhört... Das Gift spülte aus seinem Kopf, so dass es aufhören konnte zu ätzen. Er weinte verzweifelt über das gewaltige Loch, das in ihn gerissen wurde. Er zog gewaltige Atemzüge desinfizierter Luft ein, während sein rechtes Knie, mit dem letzten Rest seiner Anspannung, auf und ab wippte. Er konnte sich nicht dazu bringen aufzustehen.
Er hob seine andere Hand, um Dantes verwüstetes, schmutziges Haar aus dessen Gesicht zu streichen und erstarrte, denn wer wusste schon, welche Verletzungen ihn dort erwarten würden. Er konnte sich nicht bewegen, seine genähte, blasse Hand schwebte über Dantes dunkler Stirn, über den schwarzen, weichen Wimpern, die sanfte Schatten auf seine Wange zeichneten.
Griff beobachtete, wie sich seine verletzte Hand langsam zurückzog, gerade so, als gehöre sie einem Fremden. Würden sie ihn bleiben lassen? Er war im Schockzustand, richtig? Er hatte das Recht in einem Krankenhaus zu sein. Wenn die Ärzte ihn hier wegschaffen wollten, könnten sie sich verpissen. Er erstarrte, wie ein wilder Hund, der seine Welpen beschützte.
Dante drückte erneut seine Finger, zaghaft wie in einem Traum.
Die Erleichterung kam mit solch einer Macht, dass sie ihn aufschrecken ließ.
Mit laufender Nase benutzte er seine freie Hand, um sein Handy hervorzukramen und die Anastagios anzurufen, damit sie weinen und schreien und vor Erleichterung das Telefon herumreichen könnten. Dann erinnerte er sich, dass es noch immer kein Netz gab, dass es nur sie beide waren, hier und jetzt, und dass er niemanden nirgendwo erreichen konnte – und so erzählte er es Gott.
Die Alpträume begannen eine Woche später.
Griff war bei weitem nicht der Einzige. Es passierte vielen von ihnen nach dem 11. September. Den Jungs, die entkommen waren. Menschen, die mit ansehen mussten wie ihre Freunde, ihre Familien neben ihnen am Ground Zero verbrannt waren oder buchstäblich zerrissen wurden. Da der Job im FDNY fast schon vererbt wurde, starben Brüder zusammen, Väter und Schwiegersöhne, Onkel und Cousins.
Das Pit hatte Stücke aus Menschen gebissen. Ganze Wachen waren außer Gefecht gesetzt, gebrochene Herzen überall. Die Hälfte der Crews funktionierte nur mit Antidepressiva und Mitteln gegen Angstzustände. Auf einen Schlag gab es 343 freie Stellen und die Zahl der Kündigungen wuchs täglich. Sie alle hatten in den Abgrund geblickt und konnten nicht anders, als immer wieder hineinzuschauen. Es schien wie ein Schaufensterbummel in die Verdammnis.
Die Realität brachte die Überlebenden des FDNY um ihren Verstand, aber die Vorstellung des glorreichen Feuerwehrmannes hatte das ganze Land im Griff. Sie waren die strahlenden Helden dieses Moments. Hollywood-Größen und Rapper trugen Feuerwehr-Werbeartikel. Die Ehefrauen der Feuerwehrmänner trennten sich von ihnen, aber wen störte das schon, denn plötzlich wollte jede Frau in der Gegend ihre Dankbarkeit mit einem Blowjob ausdrücken. Diese charmanten Wahnsinnigen hatten schließlich die Hölle in einem feuerfesten Regenmantel durchschritten.
Dante erholte sich schnell, keine Narben und wenige handfeste Erinnerungen an diese Woche, geschweige denn dieses einen Tages. Aber etwas Kleines in ihm hatte sich verändert. Er war noch immer unberechenbar, aber er hielt sich immer mehr von großen Gruppen fern und hielt sich dicht an seine Freunde und Familie. Innerhalb des nächsten Jahres, hatte er sich für eine Versetzung auf Griffs Truck in Red Hook beworben. Dichter an daheim, behauptete er. Er kratzte eine Anzahlung für ein halb zerfallenes Sandsteinhaus, eine halbe Meile von seinen Eltern entfernt, zusammen.
Griffs Frau Leslie hatte nach sieben Monaten genug, aber wer konnte ihr das schon vorwerfen? Sie hatte Griffs Liebe zu seinem Job nie verstehen können. Jetzt war Griff nicht einmal mehr in der Lage, für länger als zehn Minuten zur Ruhe zu kommen. Seit den Angriffen hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen. Die Hochzeitsnacht der Lebenden Toten. Er stimmte einer einvernehmlichen Scheidung zu und sie zog zurück zu ihren Eltern nach Yonkers.
Griff war nicht in der Lage irgend etwas zu fühlen, schon gar nicht Traurigkeit. Er versuchte sie zu vermissen, war allerdings stolz darauf, dass sie versuchte ihr eigenes Leben zu retten. So viele der Jungs machten Scheidungen durch, dass es fast schon erwartet wurde. Er erzählte sich sogar selbst, es sei keine große Sache. Er war wieder Junggeselle. Jepp. Auch wenn er wusste, dass es ein Fehler war, zog er zurück zu seinem Vater, in sein einsames altes Zimmer im Keller und begann im Stone Bone als Türsteher zu arbeiten, um die Miete bezahlen zu können.
Genau wie Dante, hatte sich auch Griff verändert, auch wenn er nicht hätte sagen können, inwiefern. Er konnte kaum schlafen, auch nicht mit Tabletten und Bourbon. Und er hatte Panikattacken bezüglich der Sicherheit der Anastagios, besonders Dantes. Regelmäßig fuhr er morgens um drei Uhr an ihren Häusern vorbei, nur um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Manchmal schlief er vor der Tür im Auto und fuhr erst bei Sonnenaufgang nach Hause, nur um immer wieder und wieder sicher zu stellen, dass sie nicht plötzlich verschwanden. Dass sie es nicht planten. Dass sie alle noch immer da waren.
Wenn er die Anastagios besuchte, entschuldigte er sich, um auf die Toilette zu gehen, nur um in Wahrheit Fenster, Schlösser, Sicherungen und Feuermelder zu überprüfen. Es war wie Kekskrümel im Bett, die nagende Angst, dass er ein kleines Detail übersehen und seine adoptierte Familie sterben und ihn, gefangen im Keller des leeren Hauses seines Vaters, zurücklassen könnte.
Griff wusste, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, aber er war nicht in der Lage, sich selbst glauben zu machen, dass das Einräumen besagter Tassen den Aufwand wert wäre.
Dante sah das anders.
Der hitzköpfige, bekloppte, jähzornige, scheiß-auf-die-Regeln Dante Anastagio wurde der Fels in der Brandung für die Brooklyner Feuerwachen. Vielleicht waren es die Jahre, die Dante als Ein-Mann-Zirkus verbracht hatte, aber nichts warf ihn aus der Bahn: Kotze, Tränen, Halluzinationen... nichts. Er begann das riesige, runtergekommene Stadthaus in Cobble Hill zu restaurieren und entschied einfach, typisch Dante, seine Türen für die lebenden Opfer zu öffnen. Er verlieh Geld, das er nicht hatte. Er gab Grillpartys und besorgte Professionelle für jeden, den er kannte und für ein paar Typen, die er nicht kannte; aber niemand war so dankbar wie Griff.
Dante hatte ihn gerettet.
„Hey Goliath! Worüber grübelst du nach?“ Dantes Gesicht hatte sich vor seines, in einer Cop Bar in Staten Island, geschoben. Griff hatte seinen Kopf geschüttelt, um ihn klar zu bekommen und sich daran zu erinnern, dass Dante genau hier, vor ihm stand und ihm seinen Whiskeyatem ins Gesicht blies und er niemanden zu betrauern hatte. Noch nicht.
„Verflucht nochmal, iss was, du Depp.“ Das war Dante, wie er ihm eine riesige Portion Parmesanhühnchen, von dem er fünfzehn Pfund für die Wache gemacht hatte, auf den Teller knallte und sich weigerte, sich von der Stelle zu bewegen, bevor Griff angefangen hatte zu essen. Dante, der Witze erzählte und dabei in kreisenden Bewegungen über seinen Rücken patschte, während Griff wie ein Roboter kaute.
„Das bist du mein Freund. Auch sie will ein Stückchen vom Vanilla Gorilla.“ Dante, der an Paulies Hochzeitstagsparty dafür sorgte, dass Griff von einer rundlichen Stewardess flachgelegt wurde, wenn alles, was Griff eigentlich wollte war, auf Beerdigungen, Gedenkfeiern und in die Mitternachtsmesse zu gehen, damit er in der Öffentlichkeit weinen und sich dabei nicht wie ein Scheiß-Feigling fühlen musste. Dante würde in der Kirche auftauchen und unter seinem Anzug keine Unterwäsche tragen und Griff auf die kleinen, grünen Triebe hinweisen, die sich langsam, aus der Asche seines beschissenen Lebens, nach oben schoben.
Es wurde besser. Dante hörte nicht auf, ihn zu zwingen, ein normales Leben zu führen, bis es wieder normal wurde und er war so dankbar, dass es fast schon an Besessenheit grenzte.
Es hatte sich an Griff herangeschlichen. Er konnte noch immer nicht sagen, wann es geschehen war, nur, wann er es realisiert hatte. Dante war der beste Freund, den er in seinem Leben je hatte. Ja, sie waren zusammen aufgewachsen. Und sicher, sie waren Familie. Aber Dante war sein Mittelpunkt geworden, ein lebenswichtiges Organ, dass sein Überleben sicherte. Ganze Tage verstrichen, in denen nichts wesentlicheres geschah, als die gelegentlichen zwei Stunden, in denen Dante ihn sich wie ein menschliches Wesen fühlen ließ. Die Welt war nur eine öde, radioaktive Müllhalde, die er zwischen Dantes Weggehen und Wiederkommen überleben musste. Auch wenn sie zwei Kerle waren, fühlte sich nur der Gedanke, ihn verlieren zu können wie eine Amputation mit einer Gabel und ohne Betäubungsmittel an.
Griff hatte Panikattacken. Visionen von Dante in Überfällen, Unfällen oder Krankheiten suchten ihn heim. Er träumte von Rache, Rettungsaktionen und Heilungen, die niemals stattfanden. Er wusste, es war bizarr. Und irgendwie spürte Dante seine Panik, machte aber keine Bemerkungen darüber. Er wusste es einfach nur und stand neben ihm. Und Griff war dankbar, so dankbar wie ein Kind, das man aus einer brennenden Schule zog.
Der Rauch und der Geruch lösten sich auf und der Big Apple kam wieder zu sich. Als ein großes, verfluchtes Dankeschön, beschloss der Drecksack von Bürgermeister, ein paar der Wachen zu schließen und ältere Wagen abzuschaffen, um sein mieses Budget unter Kontrolle zu bringen. Aber langsam aber sicher schafften es die Männer des FDNY, wieder auf die Beine zu kommen.
Sogar Griff. Auch wenn er wusste, dass Dante ihn mehr auf die Beine gezogen hatte, während er selbst wie ein Zombie durch die Welt wankte. Auch, wenn er all diese fürchterlichen Gefühle für seinen Freund, einen Mann, hatte, die er nicht kontrollieren konnte. In ihrer Welt war es unmöglich, dass zwei Männer zusammen waren.
Zwei Kerle? Miese Idee.
„Zu blöd, dass wir nicht andersrum sind, du und ich“, sagte Dante eines Abends im Stone Bone, schmatzte einen harten Kuss auf Griffs Wange und tippte seine Stirn an Griffs. Griff verschluckte sich fast an seinem Guinness Extra Cold. „Denk nur an all das Geld, das wir für Alkohol und Rosen sparen würden.“
Anschließend verließ Dante die Bar mit zwei Schwestern, die ihn den größten Teil des Wochenendes gefesselt hielten. Buchstäblich... Seemannsknoten mit ihren Strümpfen. Er hatte keine Ahnung, mit welchen Fesseln er Griff zurückgelassen hatte, dem Wissen, wie schnell er die Freundschaft verkacken könnte, die ihn zusammenhielt; wie er die eine Person, die neben ihm stand, verlieren könnte. Zwei Türme, allein zusammen.
Zu schade.