D R E I U N D Z W A N Z I G

Gottverdammt, wir sind nicht schnell genug!

In einer Wolke aus Staub und Geröll, aus zerborstenem

Beton und Verputz prallte Fossil wie eine Höllenvision dem Fahrstuhl gegenüber in den Gang. Seine Schnauze und seine Hände waren rot; grelle Farbspritzer glänzten auf seiner kränklich weißen Haut; sein riesenhafter, unmöglicher Körper füllte den Korridor in seiner Breite und Höhe komplett aus.

„Clip!", schrie Leon, ohne den Blick von dem Ungeheuer zu nehmen, das immer noch gut dreißig Meter von ihnen entfernt war und doch nicht annähernd weit genug. Er zog seine leere H&K und warf den Munitionsclip aus und bemerkte kaum, dass es Ciaire war, die ihm einen neuen reichte.

Fossil machte einen Schritt auf sie zu ...

... und David löste die M-16 aus. Die Salve dröhnte durch den langen Gang.

Fossil machte den nächsten riesigen Schritt nach vorne, als Leon den frischen Clip einrasten ließ. Plötzlich war John neben ihm und schnappte sich eines von Davids Gewehrmagazinen. Clairc befand sich auf der anderen Seite neben David.

Sie alle nahmen die Kreatur ins Visier.

Leon zielte auf das rechte Auge des Monsters und drückte ab. Das Brüllen seiner Neunmillimeter ging im Lärm der anderen Entladungen unter. Sie schössen alle last gleichzeitig.

Bamm-Bamm-Bamm ...!

Die einzelnen Detonationen vermischten sich zu einem oh-

renbetäubenden Crescendo. Fossil neigte den Kopf zur Seite, als hätte etwas seine Neugier geweckt. Dann tat einen weiteren Schritt hinein in das ihm entgegenschlagende Bleigewitter.

Jiückzug\", rief David, und Leon wich einen Schritt nach hinten, entsetzt darüber, dass an Fossil keine Verletzungen sichtbar wurden. Wenn sie ihm überhaupt Schmerzen zufügten, dann vermochte Leon es nicht zu sehen. Aber mehr

mehr konnten sie nicht tun. Er versuchte noch einmal, das Auge zu treffen ...

... und hörte, wie Ciaire etwas schrie. Er warf ihr einen Blick zu, sah, wie sie eine Granate hervorholte und David reichte.

„Los, los, los!", rief David. John packte Leons Arm, und sie machten kehrt, rannten los. Ciaire blieb dichtauf, und Leon betete, dass die Distanz groß genug war, um nicht den Split-tern zu entrinnen.

Clairc rannte, von Entsetzen und mit dem Gedanken getrieben, dass sie noch nie auch nur etwas Vergleichbares gesehen hatte. Ein blutverschmierter, fischbäuchiger Albtraum, ein geschwungenes Grinsen aus tückisch scharfen Zähnen und Hän-de, deren viel zu lange Finger rot besudelt waren.

Was ist das? Wie kann so etwas existieren?

„Granate!", schrie David, und Ciaire stieß sich vom Boden ab, als versuchte sie zu fliegen und sah in dieser einen Sekunde, in der sie in der Luft hing, Rebeccas blasses, erschöpftes Gesicht. Das Mädchen kauerte immer noch dreißig Meter entfernt an der hinteren Wand ...

Da kam die Druckwelle der Explosion. Ein warmer Körper

prallte gegen Claires Rücken. John befand sich zu ihrer Rechten. Dann schlugen sie alle zu Boden. Ciaire versuchte, den heftigen Sturz mit der Schulter abzufangen, landete stattdessen aber hart auf ihrem Arm.

Ah, verdammt!

David hatte sich über sie geworfen, entweder absichtlich oder von der Druckwelle erfasst, und als sie sich aufsetzte und zu ihm umdrehte, verzerrte er das Gesicht vor Schmerz zu einer Grimasse. Sie sah zwei, drei dunkle Metallstücke aus seinem Rücken ragen. Sie pinnten den schwarzen Stoff buch-stäblich an seiner Haut fest. Clairc streckte die Hand aus, um ihm zu helfen ...

... und sah, dass das Monster immer noch stand. Es strich sich mit den Händen über Brust und Bauch, über die schwarzen Flecken, die die Splittergranate hinterlassen hatte. Ein paar Scherben waren in sein Fleisch eingedrungen, aber die Art und Weise, wie es einen weiteren Schritt auf sie zu machte, sprach eher dafür, dass es völlig unversehrt war. Das Ungeheuer öffnete sein Maul mit dem kräftigen Echsengebiss und enthüllte Reste von Fleisch unbekannter Herkunft, die zwischen den gezackten Zähnen hingen. Lautlos machte es einen weiteren Schritt vorwärts, grinste sein Kannibalenlächeln, und Clairc bildete sich ein, das blutige Fleisch in seinem Atemstrom riechen zu können - oder was immer in seinen

Eingeweiden ruhte und dort vor sich hin rottete ...

REISS DICH ZUSAMMEN.'

Sie kämpfte sich auf die Beine, ignorierte den Schmerz in ihrem Arm und langte hinunter, um Davids ausgestreckte

Hand zu ergreifen und ihn hochzuziehen. Als auch er zum

Stehen kam, nahm sie mit ihrer Ncunmillimeter Maß und er-

öffnete erneut das Feuer. Sie wusste, dass es nicht reichen würde - aber sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun können.

Vier verletzte Stellen, alle im oberen Bereich seines Rückens, alle brennend vor Schmerz. Fauchend stieß David die Luft zwischen den Zähnen hervor, entschied, dass der Schmerz er-träglich war, und schob jeden Gedanken daran bis auf weiteres beiseite. Das absonderliche Monstrum war noch nicht be-siegt. Es mochte langsamer geworden sein, aber es hielt nicht inne, und sie konnten ihm nicht mehr entgegenhalten als das, was sie bereits getan hatten.

Fliehen wir müssen fliehen!

Noch während Davids Hirn den Gedanken formte, öffnete

er den Mund. Er rief John. Leon und Ciaire seine Befehle zu, während sie dabei waren, ihre Waffen leer zu schießen. Waffen, deren Kugeln so nutzlos waren wie die vergeudete Granate.

„John, kümmere dich um Rebecca! Rückzug! Wir können

es nicht aufhalten!"

John verschwand. Leon und Ciaire wichen nach hinten und

schössen ohne Untcrlass, genau wie er selbst es tat - auf die unwahrscheinliche Chance hin, dass sie vielleicht doch noch Schaden anrichten konnten, dass eine ihrer Kugeln eine Stelle traf, die verletzbar war.

„David, wir könnten es durch den Testbereich versuchen -

verstärkter Stahl!", rief John. David war nicht sicher, wovon er sprach, aber er verstand „verstärkter Stahl". Das mutierte Tier würde sich davon vermutlich nicht stoppen lassen, aber vielleicht würde es lange genug davon aufgehalten werden, um es ihnen zu ermöglichen, sich zu sammeln und einen neuen Plan auszuarbeiten.

„Geht klar!", rief David und das Monster machte zwei, drei Schritte auf sie zu, offenbar nicht länger an einer zögerlichen Annäherung interessiert. Bei gleichbleibendem Tempo würde es sie in wenigen Sekunden erreicht haben.

„Laut! hinter John her!", schrie er und verschaffte Leon und Ciaire für einen Moment Deckung, ehe er sich umdrehte und ihnen hinterher rannte.

Stahl, verstärkter Stahl - die Worte wurden zum Mantra, das im Rennen durch seine Gedanken kreiste. Ciaire und

Leon bogen um die Ecke. Die Betonwand wischte an ihm vorbei, und sein Blick fand Rebecca und John in dem Raum am Gangende. Der Raum, in den der Verrückte gegangen war.

„David drück die Knöpfe - schließ die Tür!", rief John.

David entdeckte die Steuerung, die kleinen Lichter über den runden Knöpfen und hielt, immer noch in vollem Lauf, darauf zu.

Ciaire und Leon waren jetzt drinnen. David streckte den

Arm aus, hieb mit der Hand auf den größten Knopf der Kon-trolltalcl und hoffte, dass er den sich den Richtigen ausgesucht hatte ...

Dann war er durch, kurz bevor eine Metallplatte hinter ihm durch die Luft sauste, so nah. dass er den Luftstrom im Nacken spüren konnte.

Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um den schwe-

ren, weißen Leib des Mischwesens gegen die Tür krachen zu sehen. Die Brust der Kreatur prallte gegen das dicke, gewölb-te Fenster, das in das massive Metall eingelassen war. Die Tür erzitterte in ihrer Führung, und David erkannte, dass sie nicht lange standhalten würde.

Du musst aber halten nur noch einen Augenblick

Er drehte sich um. Leon stand vor der kleineren Luke, die in die Südwand eingelassen war. In seinen Augen waberte das Entsetzen, alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, die zitternde I land lag um den Türhcbcl.

„Abgesperrt", sagte er tonlos, und wieder krachte das Tier draußen gegen das sich wölbende Metall.

Während Reston überlegte, wie er in den Zwinger gelangen sollte, wurde der Lärm lauter. Der Pferch lag etwa vier Meter über dem Boden, ein offenes Loch in der Wand, und es gab keine Leiter. Der nächste Baum stand gut zwei Meter entfernt und kam damit nicht als Hilfe in Frage - aber der einzige andere Weg, der aus der Testzone herausführte, war der, auf dem er hereingekommen war, und er wagte sich nicht wieder auf den Hauptgang hinaus. Er hatte sich schon fast dazu entschlossen gehabt, auf den Baum zu klettern und den Sprung zu wagen, als fürchterlicher Krach aus Phase zwei zu ihm vor-gedrungen war.

Reston ging auf die Verbindungstür zu, weil trotz seiner Furcht die Neugier siegte. Die Phasen waren schallisoliert.

Ein Lärm wie dieser konnte nur von einer Bombe herrühren -

oder von einem Abbruchtrupp ...

... und das heißt: Bomben. Sie haben also doch Sprengsätze gelegt, diese Schweine.

Reston wartete einen Augenblick an der Tür, hörte jedoch nichts mehr. Der einzelne Dak stieß irgendwo auf der anderen Seite des Raumes einen Schrei aus. Die Kampflust war ihm offenbar mit dem Tod seiner Arlgenossen abhanden gekommen. Das Tier hatte nicht versucht, ihn anzugreifen.

Sprengsätze...

Phase zwei lag direkt hinter dem Kontrollraum, dazwischen gab es eine Doppelwand, was bedeuten musste, dass die Rene-gaten das Kontrollzentrum in die Luft gejagt hatten, den wichtigsten - und teuersten - Raum im Planeten. Sie hätten sich kein besseres Ziel aussuchen können. Durch die Zerstö-

rung des Kontrollraums war die Einrichtung praktisch wertlos geworden.

Aber vielleicht haben sie mir damit einen anderen Fluchtweg geöffnet...

Reston wollte nicht darauf wetten, dass die barbarischen Söldner endgültig verschwunden waren und die Ruinen des

Planeten hinter sich gelassen hatten.

Aber wenn dem so ist...

Dann könnte er vielleicht hier wegkommen. Vielleicht einfach abhauen - nicht nur den Planeten, sondern White Umbrella hinter sich lassen! Er war ziemlich sicher, dass Jackson ihn für das. was passiert war. umbringen würde ... aber nicht, wenn es Reston gelang, unterzutauchen.

Ein paar Hunderttausend Jür Hawkinson, eine Reise an einen sicheren Ort...

Es konnte klappen, wenn er es zeitlich richtig abstimmte, wenn er seinen Namen und seine Identität änderte und weit, weit weg ging. Es würde klappen.

Er nickte sich selbst zu, öffnete die Tür, die nach Zwei führ-te, einen Spaltbreit. Er wusste nicht wirklich, was ihn erwartete, und so überraschte es ihn doch, die riesigen, klaffenden Löcher in zwei Wänden und Trümmer aus Beton, Holz und

Stahl zu sehen. Jedes der unregelmäßigen Löcher maß min-

destens drei Meter im Durchmesser und an die sieben Meter in der Höhe. Er sah nirgendwo Rauch, ging aber davon aus, dass die Saboteure irgendeine Hightech-Mixtur verwendet

hatten, etwas von der Art, auf die solcher Abschaum immer Zugriff zu haben schien.

Die Hitze war immer noch enorm, und die Lampen brann-

ten zu ihm herab. Sekundenlang stand er nur da und lauschte.

Aber er hörte nichts, was auf die Anwesenheit derer hingewiesen hätte, die hinter der Zerstörung steckten. Dennoch konnte es sich um eine Falle handeln ...

Reston schüttelte den Kopf, amüsiert über seine eigene Pa-ranoia. Jetzt, da er beschlossen hatte, frei zu sein und die Trümmer seines Lebens hinter sich zu lassen, schwebte er in einer Art Hochstimmung. All die neuen Möglichkeiten, die sich für ihn ergaben ... vielleicht war sogar eine regelrechte Wiedergeburt möglich ...

Nein, sie waren verschwunden, hatten ihre Mission, die

Verwüstung des Planelen, erfüllt!

Reston schritt über den heißen Sand, stieg über verstreut liegende Reste von Skorps hinweg und kletterte schließlich die Düne hinauf, um in das gesprengte Loch zu spähen.

Mein Gott, die haben wirklich ganze Arbeit geleistet!

Die Zerstörung war beinahe vollkommen, die gähnende

Öffnung lag in etwa dort, wo sich die Monitorwand befunden hatte. Dicke Glasscherben, Draht- und Schaltungsstücke, ein schwacher Ozongeruch - mehr war von dem genial ausgeklü-

gelten Videoüberwachungssystem nicht übrig geblieben. Vier der Ledersessel hatte es aus ihren verschraubten Halterungen gerissen, der einzigartige Marmortisch war in zwei Teile zerbrochen, und in der Nordost-Ecke des Raumes klaffte, von Schutt umgeben, ein weiteres riesiges, ausgefranstes Loch.

Und durch dieses Loch ...

Reston konnte den Fahrstuhl von seiner Position aus sogar schon sehen. Den funktionierenden, betriebsbereiten Fahrstuhl. Das Licht brannte, die Plattform wartete nur auf ihn.

War es eine Falle? Es schien zu schön, um wahr sein zu können - doch dann hörte er ein fernes Pochen, irgendwo aus der Nähe des Zellenblocks, und er glaubte das Glück nun tatsächlich endlich auf seiner Seite. Die Angestellten waren fort. Das Geräusch konnte nur von dem verdammten Ex-S.TA.R.S.-

Team verursacht werden. Aber es war weit genug entfernt, sodass er den halben Weg zur Oberfläche schaffen konnte, bevor sie hier eintrafen.

Reston grinste, selbst erstaunt, dass es so enden würde - es schien irgendwie so enttäuschend, so profan ...

Beschwere ich mich etwa? Nein, kein es ist keine Beschwer-de. So etwas käme mir nie über die Lippen!

Reston stieg durch das Loch. Er bewegte sich vorsichtig, um sich nicht an den Glasresten zu verletzen.

Der Kampf mit den Futtertieren hatte ihn hungrig gemacht und die Sehnsucht nach Fressen geschürt. Dass ihm eine

Wand den Weg verbaute, machte Fossil nur noch gieriger.

Fressen war seine Bestimmung. Er hämmerte gegen das mas-

sive Hindernis, spürte, wie das Material nachgab, an Wider-standskraft verlor...

... und obwohl es nicht mehr viel brauchte, um zu den Tieren durchzubrechen, dies einen Hunger stillen konnten, fing Fossil plötzlich die Witterung von neuem Futter auf. Sie kam aus der Richtung, die er gekommen war - Futter, offen und ungeschützt, nichts lag zwischen ihm und Fossil...

Nach dem Fressen würde er hierher zurückkommen. Fossil

wandte sich ab und eilte davon, hungrig und gierig, entschlossen anzukommen, bevor das Futter fliehen konnte.

Nachdem Fossil sich umgedreht hatte und davongerannt war, fing John an, gegen die Stahltür zu treten, weil er in der Über-windung dieses Hindernisses die einzige Chance sah, die ihnen noch geblieben war. Durch die unvorstellbaren Hiebe, mit denen das Monster die Tür drangsaliert hatte, hing die Metallplatte bereits halb aus den Führungsschienen.

Ciaire und Leon unterstützten John. Binnen Sekunden hat-

ten sie die Tür weit genug aus ihrer Führung gewuchtet, dass sie zu Boden fiel - und weitere Sekunden später rannten sie bereits in Richtung Aufzug. David trug Rebecca, und niemand sprach ein Wort. Fossil würde zurückkommen, das wussten

alle, und gegen ihn hatten sie nicht den Hauch einer Chance.

..NEIN.' NEIN.' NEIN.'"

Irgendwo schrie ein Mann, und als John um die Ecke bog.

sah er, dass es Reston war. Er sah ihn den langen Gang hinun-terrennen, verfolgt von Fossil, der rasch aulholte.

Sie stürmten weiter. John fragte sich, wie lange das Monster wohl brauchen würde, um einen ganzen Menschen zu ver-schlingen. Und als sie den Fahrstuhl erreichten, durch die Tür sprangen und Leon das Tor herunterzog, hörten sie. wie das jammervolle Schreien zu unmenschlicher Stärke anschwoll

um im nächsten Moment jäh abzubrechen. Schmatzende Ge-

räusche lösten Restons Gebrüll ab.

Der Aufzug fuhr nach oben.