Z W A N Z I G
Es war erschreckend einfach, Fossil aus der Stasis zu holen.
Binnen kürzester Zeit war Leon in das Überwachungspro-
gramm eingedrungen und hatte herausgefunden, wie man den riesigen Zylinder abließ. Dem digitalen Zähler zufolge, der auf dem Bildschirm erschien, würde es nur knappe fünf Minuten dauern, nachdem der Befehl eingegeben worden war.
Mann, jeder, der hier arbeitet, hätte das tun können, jeder-zeit. Für so eine paranoide Firma geht Umbrella ganz schöne Risiken ein...
„Hey. sieh dir das an", sagte John. Leon wandte sich von dem kleinen Computer ab und musterte das Ungeheuer aufmerksam. Selbst nachdem er die Hölle von Raccoon überlebt hatte, nachdem er gegen Zombies und Mammutspinnen und
sogar gegen einen Riesenalligator gekämpft hatte, war dies doch das seltsamste Wesen, das er je gesehen hatte.
John stand vor der gegenüberliegenden Wand und schaute
zu einem laminierten Bild empor. Als Leon näher kam, sah er, dass es sich um eine Karte des Planeten handelte; jeder Bereich war ordentlich gekennzeichnet. Die Testeinrichtung hatte einen sehr einfachen Grundriss, im Wesentlichen bestand sie aus einem riesigen Korridor, der um die vier Phasen he-rumlief; die meisten Räume und Büros lagen in Seitengängen, die vom Hauptkorridor abzweigten.
John tippte auf ein kleines, östlich gelegenes Rechteck, direkt gegenüber dem Wartungsaufzug. „Hier steht ,Tcst-Konlrollraum'", sagte er. „Liegt auf dem Weg hinaus."
„Du glaubst, Reston hat sich dort verschanzt?", fragte Leon.
John hob die Schultern. „Wenn er uns im Testprogramm
beobachtet hat, dann muss er dort gewesen sein was mich
interessiert, ist, ob er vielleicht sein kleines schwarzes Buch liegen ließ ..."
„Kann nicht schaden, nachzusehen", meinte Leon. „Es dauert ungefähr fünf Minuten, bis die Röhre leer ist, wir hätten also ausreichend Zeit - vorausgesetzt, der Fahrstuhl macht uns keinen Strich durch die Rechnung."
John drehte sich um und fasste Fossil ins Auge. Das Ungeheuer schlief immer noch in seinem Gel-Bad. „Du glaubst, das Ding wacht tatsächlich auf?"
Leon nickte. Die Statusdaten, die in dem simplen Überwa-
chungsprogramm aufgelistet waren, schienen alle zu stim-
men. Herzfrequenz und Respiration ließen auf Tiefschlaf
schließen. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass Fossil
nicht aufwachen würde, wenn das warme Nährbad vollständig abgelassen war.
Und wahrscheinlich erwacht erfrierend, stinksauer und ...
verdammt hungrig!
„Ja", sagte er. „Und glaub mir, wir sollten nicht mehr hier sein, wenn es so weit ist."
John lächelte leicht. Es war nicht sein übliches Grinsen, aber immerhin ein Lächeln. „Dann lass uns gehen", sagte er leise.
Leon kehrte zum Computer zurück, badete im blassroten
Licht der Stasisröhre. Fossil schwamm friedvoll darin, ein schlafender Riese. Eine Monstrosität, erschaffen von monströsen Menschen, und ein sinnloses Dasein fristend an einem Ort. der für den Tod gebaut worden war.
Mach sie alle fertig.', dachte Leon und drückte die „Enter"-
Taste.
Der Timer begann zu laufen - sie hatten genau fünf Minuten.
David nahm an, dass sie es wahrscheinlich mit Reston zu tun hatten, auch wenn er sich dessen nicht sicher sein konnte. Er überlegte fieberhaft, wie er Rebecca aus der Gewalt dieses Mannes befreien konnte, doch als sich der Verrückte im blauen Anzug rückwärts der Tür näherte, wurde David klar, dass er nichts, absolut gar nichts tun konnte.
Noch nicht jedenfals.
..Haut einfach ab! Lasst mich in Frieden!", rief der mutmaß-
liche Reston. und dann war er verschwunden. Genau wie Rebecca. Der apathische Ausdruck, mit dem sie ihre Freunde die ganze Zeit angesehen hatte, bevor sich die Tür hinter ihr schloss, entsetzte David zutiefst.
„Was sollen wir tun?"
Er sah Ciaire an, bemerkte die Nervosität und die Furcht in ihrem Gesicht und zwang sich, tief ein- und langsam wieder auszuatmen. Wenn sie in Panik verfielen, würden sie gar
nichts verrichten können. Schlimmer noch ...
... es könnte Rebeccas Tod bedeuten!
„Wir müssen vor allem Ruhe bewahren", sagte er, obwohl er sich selbst alles andere als ruhig und besonnen fühlte. „Wir kennen den Grundriss dieser Anlage nicht, wir können keinen Bogen schlagen, um uns ihm von hinten zu nähern ... Also müssen wir uns an seine Fersen heften."
..Aber er..."
„Ich weiß, was er gesagt hat", unterbrach David. „Aber im Moment gibt es keine Alternative. Wir warten, bis sie in sicherer Entfernung sind dann folgen wir ihnen und suchen
nach einer Möglichkeit."
Und hoffen, dass er nicht so labil ist, wie er aussieht.
„Ciaire - wir können uns nicht erlauben, irgendein Ge-
räusch zu verursachen. Vielleicht wäre es besser, wenn du hier bleiben würdest..."
Ciaire schüttelte den Kopf, in ihren grauen Augen lag ein Ausdruck von großer Entschlossenheit. „Ich kann das", sagte sie in festem und klarem Ton, in dem nicht der geringste Selbstzweifel schwang. Und obwohl sie keine spezielle Ausbildung genossen hatte, war längst der Beweis von ihr erbracht worden, dass sie schnell und zuverlässig war.
David nickte, und sie gingen zur Tür, um zu warten. Zwei Minuten, es sei denn, wir hören, wie sie hinausgehen. Wir müssen die Tür einen Spalt weit aufmachen, damit wir Geräusche auffangen können ...
Er zwang sich zu einem weiteren tiefen Atemzug und ver-
fluchte sich dafür, zugelassen zu haben, dass Rebecca sie be-gleitete. Sie war erschöpft und verletzt, sie würde nicht im Stande sein, sich zu wehren, wenn Reston beschloss. den Arm noch etwas fester um ihren Hals zu legen.
Verdammt, halte durch, Rebecca. Wir sind in deiner Nähe, und wir können notfalls die ganze Nacht darauf warten, dass er einen Fehler begeht, dass wir unsere Chance bekommen!
Also warteten sie wie besprochen. David betete, dass dieser Kerl Rebecca nichts antun würde, und er schwor, dass er ihm die Leber bei lebendigem Leib herausschneiden und sie ihn verspeisen lassen würde, wenn er es doch tat.
Sic suchten nach dem Aufzug, rannten den grauen Gang zwar nicht entlang, aber ließen sich auch nicht übermäßig Zeit. Die Cafeteria war leer, und eine kurze Durchsuchung der Schlaf-räume ließ John zu der befriedigenden Erkenntnis gelangen, dass die Männer verschwunden waren. Es gab deutliche Hinweise darauf, dass sie ihre Sachen in aller Eile gepackt und sich dann abgesetzt hatten.
Hoffentlich ist wenigstens Reston noch hier...
Während sie den Hauptkorridor in nördlicher Richtung entlang liefen, beschloss John, Mr. Blue niederzuschlagen, falls er sich noch im Kontrollraum aulhielt. Ein Hieb gegen die Schläfe würde reichen, und wenn er nicht wieder aufwachte, bevor Fossil herumzustreifen begann ... nun ja, dann war es eben Pech.
Sic passierten eine schmale Abzweigung, die den Kontrollraum mit dem Hauptgang verband beide keuchend und beide
in dem Bewusstsein, dass sie einen funktionierenden Aufzug tausendmal dringender brauchten als eine Gelegenheit, sich mit Reston zu beschäftigen. Wie Leon schon gesagt hatte: Wenn der große Showdown im Planeten begann, war es besser, nicht mehr hier zu sein.
Die Öffnung in der Wand und das Lämpchen über dem „In
Betrieb"-Symbol genügten, um John wie ein Kind grinsen zu lassen. Erleichterung überflutete ihn wie eine kühle Woge.
Mit ihrem Entschluss. Fossil freizulassen, bevor sie ihren Fluchtweg gesichert hatten, waren sie ein hohes Risiko eingegangen.
Leon drückte den Rutknopf und wirkte ebenso erleichtert.
„Zwei oder zweieinhalb Minuten", sagte er, und John nickte.
„Nur ein kurzer Blick", sagte er und kehrte zu dem schmalen Durchgang auf der anderen Seite des Ganges zurück.
Leon besaß keine Munition mehr, aber John hatte noch ein paar Schuss in seiner M-16, Für den Fall, dass Reston irgendetwas Dummes tun würde.
Sie eilten zur Tür am Ende des Ganges und fanden sie un-
vcrschlossen. John ging zuerst hindurch, ließ die Mündung des Gewehrs durch den dahinter liegenden, großen Raum
schweifen, dann pfiff er ehrfürchtig angesichts der Einrichtung.
„Heilige Scheiße!", sagte er leise.
Vor einer nur aus Bildschirmen bestehenden Wand reihte
sich schwarzer Ledersessel an Ledersessel. Dazu dunkclroter, weicher Tcppich; eine silberglänzende Konsole, schlank und hypermodern; dahinter ein Tisch, wie aus weißem Marmor
gefertigt.
Wenigstens müssen wir nicht in irgendwelchem Gerumpel herumstöbern!
Es gab nur einen Kaffeebecher und einen chromfarbenen
Flachmann auf der Konsole. Keine Papiere, kein Bürokram, keine persönlichen Gegenstände, keine Bücher, in denen Ge-heimcodes festgehalten waren ...
„Ich denke, wir sollten verschwinden", sagte Leon. „Ich habe keine Uhr und würde mich nur ungern um ein paar Minuten verschätzen."
„Okay. Lass uns ..."
Auf einem der Wandmonitore bewegte sich etwas, in der
Mitte der zweiten Reihe von oben. John trat näher an den Bildschirm heran und fragte sich, wer zum Teufel das sein konnte. Die Arbeiter haben sich verdrückt und trotzdem sind da zwei Leute. Kann eigentlich nicht sein.
„Verdammt!", fluchte John und spürte, wie sein Magen nach unten sackte - ein Übelkeit erregender Ruck, der kein Ende zu nehmen schien. Sein entsetzter Blick klebte an der Monitorscheibe.
Reston mit einer Schusswaffe. Er zerrte Rebecca durch
irgendeinen Gang, seinen Arm immer noch um ihren Hals ge-schlungen. Rebeccas Füße schleiften halb über den Boden, ihre Arme hingen schlaff herab.
„Clairc!""
John wandte den Blick ab und sah Leon auf einen anderen
Monitor starren, wo David und Ciaire zu sehen waren, be-
waffnet. Sie gingen einen anderen dieser eintönigen Korrido-re entlang.
„Können wir die Röhre wieder auffüllen?", schnappte John, dessen Eingeweide immer noch schlingernde Bewegungen zu
vollführen schien. Beim Anblick ihrer Freunde verspürte er mehr Angst als in der ganzen zurückliegenden Nacht.
Dieser elende Bastard hat Becca!
„Ich weiß nicht", sagte Leon, „wir können es versuchen, aber auf jeden Fall müssen wir sofort los."
John trat von der Wand zurück und suchte die Bildschirme nach einer Darstellung des Laborbercichs ab. Die Erschöpfung fiel von ihm ab, als frisches Adrenalin in seinen Kreislauf pumpte.
Da! Ein dunkler Raum, ein einzelnes Licht in der Ecke, das auf die Röhre gerichtet war. auf das sich bewegende, um sich schlagende Ding darin.
Binnen Sekunden wühlten sich triefende Hände durch die
klare Materie, zerrissen, zertrümmerten sie, und dann stieg ein muskelstrotzendes, bleiches Reptilienbein hervor.
Zu spät.
Fossil war frei.
EINUNDZWANZIG
Die Kreatur ein Tyrant der Serie RcH la, besser bekannt als Fossil - wurde allein von ihrem Instinkt getrieben, und sie hatte nur eines im Sinn: Fressen. Ihr ganzes Handeln wurde von diesem Urdrang beherrscht. Wenn sich etwas zwischen Fossil und seinem Futter befand, zerstörte er es. Wenn etwas angriff und ihn am Fressen zu hindern versuchte, tötete Fossil es. Er kannte keinen Fortpflanzungstrieb, denn Fossil war ein Unikat.
Fossil erwachte hungrig. Er witterte Nahrung, fing elektri-sche Ladungen auf, die in der Luft schwirrten. Gerüche, entfernte Wärme - und zerstörte das Ding, das ihn festhielt. Die Umgebung war Fossil nicht vertraut, aber das war nicht von Belang - es gab Futter, und er hatte Hunger.
Mit seinen drei Metern Körpergröße und einem Gewicht
von rund fünihundert Kilo, hielt ihn die Barriere, die zwischen ihm und dem Futter stand, nicht lange auf. Dahinter befand sich eine weitere Wand und dahinter noch eine und das tief gehende Wahrnehmen und der Geruch des Futters waren sehr nahe, so nahe, dass Fossil von etwas überwältigt wurde, das Für seine Begriffe einer Emotion am nächsten kam: Er wolte - ein Drang, der über Hunger hinaus ging, eine machtvolle Erweiterung seines Instinkts, die ihn zu noch schnellerer Bewegung antrieb. Fossil fraß nahezu alles, aber lebendes Futter weckte in ihm stets das Wollen.
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Die letzte Wand, die ihn vom Futter fernhielt, war dicker und härter als alle vorherigen, aber nicht dick und hart genug, um Fossil dauerhaft stoppen zu können. Er wühlte sich durch die Schichten des Materials und gelangte an einen seltsamen Ort, wo es nichts Organisches gab, außer dem sich bewegen-den, kreischenden Futter.
Das Futter rannte auf ihn zu. war schwer zu sehen, roch aber sehr stark. Das Futter hob eine Klaue und schlug nach Fossil, schrie in seiner Lust auf Angriff und Töten. Fossil erkannte das anhand des Geruchs. Innerhalb von Sekunden war Fossil von Futter umringt und wieder wolte er. Die Tiere, die ihm Futter waren, heulten und schrien, tanzten und hüpften, und Fossil griff zu und schnappte sich das. das ihm am nächsten war.
Das Futter hatte scharfe Krallen, doch Fossils Haut war
dick. Fossil biss ins Futter, riss einen großen Batzen aus dem sich windenden Körper und war zufrieden. Sein Daseins-zweck war erfüllt, so lange er kaute und schluckte, heißes Blut in seinen Rachen rann, heißes Fleisch zwischen seinen Zähnen zerrissen wurde.
Die anderen Futtertiere griffen weiter an und machten Fossil das Fressen leicht. In kurzer Zeit fraß Fossil alle Futtertiere, und sein Metabolismus verwertete das Futter fast ebenso schnell und gab Fossil die Kraft, immer mehr Futter zu suchen. Es war ein extrem simpler Prozess, und er setzte sich so lange fort, wie Fossil wach war.
Als er mit dem dunklen, höhlenartigen Raum, der das
schreiende Futter beherbergt hatte, fertig war, leckte sich Fossil das Blut von den Fingern, öffnete seine Sinne und suchte nach dem nächsten Mahl. Binnen Sekunden wusste er, dass es mehr gab, dass es lebte und sich ganz in seiner Nähe befand.
Fossil wollte. Fossil hatte Hunger.