D R E I Z E H N
Zehn Minuten nach dem Angriff erkannte Leon, dass Cole
ganz offenbar nicht mehr in der Verfassung war, sie zu fuhren.
Der Umbrclla-Arbeiter taumelte, hielt die Richtung, in die sie mussten, nur noch grob - und selbst das mehr zufällig als ge-zielt.
Und das, nachdem wir wissen, dass sie auch vom Boden aus angreifen können ...Verdammt, John und ich müssen nicht beide den Himmel im Auge behalten!
„Henry, warum lässt du nicht mich ein paar Minuten lang
die Führung übernehmen?", fragte Leon und warf dabei einen Blick nach hinten zu John. John nickte. Er machte selbst keinen sonderlich guten Findruck, wirkte extrem angespannt.
Sein Blick zuckte wie rasend mal hierhin, mal dorthin, während seine Hände die M-16 umklammert hielten.
Vielleicht denkt er an die anderen. Daran, dass sie „abserviert" worden sein könnten.
„Ja, okay, das wäre okay", nickte Cole. Seine Erleichterung war nicht zu übersehen. Er fuhr sich durch das braune verschwitzte Haar und beeilte sich, hinter Leon zu gelangen.
John bildete noch immer das Schlusslicht.
Leon war nervös, aber er hatte nicht annähernd so viel
Angst wie zuvor, jedenfalls nicht um sich und seine Begleiter.
Die Vögel, diese Daks. waren unangenehm und gefährlich.
aber es bedeutete eine Erleichterung, sie gesehen zu haben -
sie waren nicht so schrecklich, wie seine Vorstellungskraft ihn nach jenen ersten grausigen Schreien glauben gemacht hatte.
Monster, die der Kopf gebar, waren stets schlimmer als die Wirklichkeit, und die Daks waren nicht sehr robust. So lange er und John Acht gaben, sollte es zu schaffen sein.
Sie bewegten sich in südliche Richtung, also korrigierte Leon den Kurs wieder, so weit es nötig war. Er meinte, erste Blicke auf die gegenüberliegende Wand werfen zu können.
Die Anlage machte jede Orientierung schwer. Die Bäume
standen nicht allzu nah beieinander, aber so verstreut, dass der Wald dicht schien, wenn man ihn mit Blicken zu durchdringen versuchte. Die dicke Bodenabdeckung - sie bestand aus irgendeinem Kunststoff - gab unter dem Körpergewicht nicht nach, aber das Material wies Schrägen und Steigungen auf, die es noch schwieriger gestalteten, ein Gefühl für die Größe des Raumes zu entwickeln.
Das ist verrückt, so maßlos übertrieben - so ganz und gar Umbrella.
Es war wie die riesige Laboranlage unter Raccoon, kom-
plett mit eigener Gießerei und privater U-Bahn - unglaublich, wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Und von den Ex-S.T.A.R. S.-Angehörigen wusste er, dass es an der Küste von Maine eine abgeschiedene Bucht gab, die von einem Team aus Virus-Zombies bewacht wurde, sowie eine
„verlassene" Villa im Wald, das Spencer-Anwesen. Es war mit Geheimnissen, Schlüsseln, Codes und Durchgängen nur so
überfrachtet, erinnerte an die Kulisse eines Agentenfilms, von dem nie jemand geglaubt hätte, sie könne auch in realer Ausführung existieren.
Und jetzt das - simulierte Umwelten unter den kahlen Salzebenen von Utah. Wie hatte Reston diesen Ort genannt? Den Planeten. Es war eine extravagante, dekadente, unmoralische Verschwendung, einfach absurd und lächerlich, nur dass ...
... nur dass wir darin festsitzen, und Gott allein weiß, was uns als Nächstes hier blüht!
Leon ging weiter und versuchte, nicht daran zu denken, was Ciaire und die anderen gerade durchmachen mochten. Reston hatte offensichtlich angenommen, der Rest des Teams sei geschnappt worden. Aber er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, wie einfallsreich Ciaire und Rebecca waren und was David für ein genialer Stratege war. Sie alle waren Umbrella schon einmal entkommen, und es gab keinen Grund zu glauben, dass sie es nicht erneut schaffen könnten.
Leon war so damit beschäftigt, sich selbst aufzumuntern, dass er die Lichtung erst bemerkte, bis sie praktisch davor standen, kaum fünf Meter davon entfernt. Er blieb stehen, dachte an den letzten Angriff - und schalt sich dafür, nicht aufgepasst zu haben.
,Xasst uns umkehren und außen herum gehen", sagte er -
und dann hörte er das Schlagen von Flügeln und wusste. dass es schon zu spät war. Aus den Schatten über der offenen Flä-
che lösten sich zwei, drei der Vögel von Sitzstangen und rauschten auf die runde Lichtung herab.
Scheiße!
Eines der Tiere begann zu kreischen, und dann waren ande-re da, über ihnen, versteckt in den unmöglichen Bäumen, und sie stimmten in den Gesang ein, eine ohrenbetäubende, entsetzliche Kakofonie aus Lärm, der wie mit Nadeln in die Ohren stach. Leon wich zurück. John war plötzlich neben ihm und richtete sein Gewehr auf die freie Fläche voraus.
Das erste Wesen flog auf die Bäume zu und drehte sich seitwärts, als wollte es zwischen ihnen hindurchfliegen. In letzter Sekunde zog es hoch, so schnell, dass sie keinen Schuss anbringen konnten. Als die Kreatur nach oben segelte, entdeckte Leon zwei weitere am Boden, die ihre sehnigen Leiber aufge-falteten Schwingen vorwärts zogen.
Der Lärm! Er tat weh, war so schrill und schrecklich wie tausend schreiende Säuglinge, und Leon spürte mehr, als dass er sah, wie die Neunmillimeter Kugeln ausspie. Der schwere Stahl bäumte sich in seiner Hand auf. Die Vögel verstummten, als dem. der am nächsten war. eine Kugel durch den gebogenen Hals fuhr. Ein fransiges Loch entstand unmittelbar über seiner schmalen Brust, Fetzen graubrauner Haut erblühten daraus wie eine dunkle Blume. Dünnes Blut sprudelte aus der Wunde, doch das zweite Wesen kletterte bereits über den zuckenden Leib hinweg, unbeirrbar in seiner Angriffslust.
Leon zielte und ...
„Hey, Hey, ach du Scheiße!"
Coles hysterischer Aufschrei lenkte Leon ab. Er verriss den Schuss nach links und verfehlte. John eröffnete das Feuer auf den zweiten Dak. Die ratternde Salve zerfetzte das Tier. Leon kreiselte herum und sah Cole nach hinten stolpern. Ein weiterer dieser fiesen Vögel jagte auf ihn zu.
Wie ist der an uns vorbei gekommen?
Leon zielte. Der Dak war keine anderthalb Meter mehr von Cole entfernt, und gerade als Leon abdrückte, fegte eine weitere Kreatur direkt von oben herab. Auf die kurze Distanz durchschlug das Geschoss die Brust des Vogels und trat durch ein faustgroßes Loch am Rücken wieder aus. Der Dak war tot, noch bevor er zusammengekrümmt zu Boden ging. Der andere tat einen machtvollen Flügelschlag. Die Spitzen der gewaltigen Schwingen streiften über den Boden - dann flog er davon.
„Henry, hinter mich!", rief Leon und blickte nach oben, wo er einen weiteren Dak von einer Reihe von Sitzstangen direkt über ihnen herunterstoßen sah. Das Tier legte seine Flügel an und hielt geradewegs auf ihn zu.
Er brauchte Hilfe. „John ...!"
Nur ein paar Fuß vom Boden entfernt breitete der herabjagende Vogel seine ledrigen Flügel aus und setzte in einer überraschend eleganten Landung auf. Er wandte sich Leon zu und torkelte vorwärts. Hinter Leon prasselten die Kugeln -
und verklangen plötzlich. Er hörte John fluchen, hörte, wie die M-16 zu Boden polterte.
Der vor Leon befindliche Dak öffnete seinen langen Schnabel und kreischte - ein wütender, hungriger Laut. Auf seinen gebogenen Flügeln glitt das Tier so schnell vorwärts, wie Leon zurückweichen konnte. Die Kreatur wand sich hin und her, und Leon hatte nicht genug Munition, um sie verschwen-den zu können. Er musste einen sicheren Schuss anbringen.
Er...
Da sprang das Biest! Ein grotesker, plötzlicher Hüpfer. der die Distanz auf Fußlänge verringerte. Mit einem weiteren schrillen Kreischen stieß das Geschöpf seinen Kopf nach vorne, der offene Schnabel schloss sich um Leons Knöchel.
Selbst durch das dicke Stiefelleder spürte er die nagelartigen Zähne, spürte er die Kraft in den Kiefern, doch ehe er schie-
ßen konnte, war John zur Stelle. Er stampfte auf den schlan-genartigen Hals des Daks, zielte mit seiner Pistole ...
Das Geschoss durchschlug das Rückgrat des Tieres. In seinem glatten Rücken explodierte ein Wirbel. Bleiche Kno-
chensplitter und wässriges Blut spritzten hervor. Der Dak ließ Leons Knöchel los, und obwohl sein Hals immer noch zuckte, lag sein Körper nun still, blutüberströmt, aber reglos.
Wie viele - wie viele mögen noch übrig sein?
„Komm schon!", rief John. Er nahm das Gewehr auf und wandte sich zur Flucht. „Zur Tür, wir müssen zur Tür!"
Sie rannten. Über die Lichtung, Cole dicht hinter ihnen, verfolgt von Flügelschlagen, und über ihnen schrie eine weitere schrille Stimme.
Zurück zwischen die Bäume, in den leblosen Wald. Sie stolperten über Äste und wichen den knorrigen Plastikstämmen aus.
Die Wand ...Da ist die Wand!
Und da war die Tür, eine breite Metallluke mit einem Riegel, der rechts unten angebracht war ...
... und Leon hörte, nicht weit davon entfernt, das gellende Kreischen in seinen Ohren und spürte den Windstoß über seinen Nacken fahren ...
Seine Beine gaben nach, er sank zu Boden und fühlte jähen Schmerz, als etwas ein Büschel seines Haarschopfs packte und es ihm aus der Haut des Hinterkopfes riss.
„Pass auf!", schrie Leon, als er aufschaute und den riesigen Vogel auf John, der die Tür fast schon erreicht hatte, zuschie-
ßen sah, Cole daneben.
John drehte sich um, ohne zu straucheln. F.r hob die Pistole und drückte ab - ein Volltreffer. Der Dak fiel, als bestünde er aus Blei, sein winziges Gehirn hatte sich mit einem Mal verflüssigt.
Cole hantierte an der Tür, John zielte immer noch über Leons Kopf hinweg, und Leon hörte ein weiteres Kreischen wie vor Zorn, irgendwo hinter sich ...
Die Tür glitt auf. Leon rannte. John gab ihm Deckung, während er hinter Cole her taumelte, aus dem kühlen, dunklen Wald hinein in blendende Hitze. John war direkt hinter ihnen, schlug die Luke zu ...
... und dann lag Phase zwei vor ihnen.
Rebecca rannte, außer Atem, erschöpft und ohne stehen bleiben, ohne sich ausruhen zu können. David und Clairc rannten mit ihr, stützten sie, aber sie spürte trotzdem, dass jeder einzelne Schritt all ihrer Willenskraft bedurfte. Ihre Muskeln wollten nicht länger kooperieren. Sic war verwirrt, ihr Glcich-gewichtssinn gestört, in ihren Ohren hatte sich ein stetes Klingeln eingenistet. Sie war verletzt, und sie wusste nicht, wie schlimm - nur, dass sie angeschossen worden war, dass sie sich irgendwann den Kopf gestoßen hatte und dass sie nicht stehen bleiben konnten, bis sie ein beträchtliches Stück von der Anlage entfernt waren.
Es war dunkel, zu dunkel, um zu sehen, wie der Boden verlief, und es war kalt. Jeder Atemzug stach wie ein Dolch aus Eis in ihre Kehlen, ihre Lungen. Rebcccas war völlig durcheinander; sie wusste, dass sie eine Gehirnfunktionsstörung erlitten hatte, war aber nicht sicher, welcher Art. Während sie dahin torkelte, wurde sie von den verschiedenen Möglichkeiten und deren Konsequenzen heimgesucht. Sie verging fast vor Sorge. Mit der Kugel selbst verhielt es sich einfacher - der heiße, pochende Schmerz verriet ihr, wo sie saß. Es tat
schrecklich weh, aber sie glaubte nicht, dass es sich um eine Fraktur handelte, und es floss auch kein Blut aus der Wunde.
Andere Dinge bereiteten ihr mehr Sorge.
Schuss durch den linken Gesäßmuskel, steckt im Ischium fest, so ein Glück aber auch ... Schock oder Gehirnerschütterung? Gehirnerschütterung oder Schock?
Sie musste stehen bleiben, ihren Puls fühlen, ihre Ohren auf Blut hin untersuchen ... oder auf CSF, was etwas war, woran sie nicht einmal denken wollte. Selbst in ihrem verwirrten Zustand wusste sie, dass blutende Cerebrospinalflüssigkeit so ziemlich die schlimmste Folge eines Schlages gegen den Kopf war.
Nach, wie ihr vorkam, sehr langer Zeit und mehr Rich-
tungswechseln als sie zählen konnte, wurde David langsamer, bedeutete Ciaire, ebenfalls ihr Tempo zu drosseln und Rebecca auf dem Boden abzusetzen.
„Auf die Seite!", keuchte Rebecca. „Die Kugel sitzt links."
Vorsichtig betteten David und Ciaire sie auf den kalten, flachen Erdboden, beide keuchend und um Atem ringend, und
Rebecca war noch nie so froh gewesen, sich hinlegen zu können. Als David sie umdrehte, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf den schwarzen Himmel: Die Sterne waren fantastisch, klar und eisig hoben sie sich gegen den tiefschwarzen Ozean des Alls ab ...
„Taschenlampe", sagte sie, als ihr abermals bewusst wurde, in welch merkwürdige Bahnen ihre Gedanken abdrifteten.
„Muss nachsehen."
„Sind wir weit genug weg'?", fragte Ciaire, und es dauerte einen Moment, bis Rebecca begriff, dass sie mit David
sprach.
O Scheiße, das ist nicht gut...
„Ich denke schon. Und wir sehen ja, wenn sie kommen", erwiderte David und schaltete seine Taschenlampe ein. Der
Strahl traf ein paar Zentimeter vor Rebeccas Gesicht auf den Boden.
„Rebecca, was können wir tun?", fragte er. Sie hörte die Sorge in seiner Stimme, und dafür liebte sie ihn. Sie waren wie eine Familie, seit der Bucht schon; David war ein guter Freund und ein guter Mensch.
..Rebecca?" Diesmal klang er furchtsam.
„Ja. entschuldige", sagte sie und fragte sich, wie sie ihnen erklären sollte, was sie spürte, was mit ihr los war. Sie entschied, dass es am besten sein würde, einfach mit Reden an-zufangen und es sie herausfinden zu lassen.
„Schaut euch mein Ohr an", sagte sie. „Sucht nach Blut oder einer klaren Flüssigkeit. Ich glaube, ich habe eine Gehirnerschütterung. Ich scheine meine Gedanken nicht in den
Griff zu bekommen. Das andere Ohr auch. Ich wurde ange-
schossen, und ich denke, die Kugel steckt im Ischium. Im Becken. Zum (ilück. Sollte nicht allzu sehr bluten. Ich kann die Wunde desinfizieren und verbinden, wenn ihr mir meine Tasche gebt. Da ist Verbandsmull drin, und das taugt, aber die Kugel könnte mein Rückgrat in Mitleidenschaft gezogen haben oder tiefer und durch meine Oberschenkelarterie gegangen sein. Viel Blut wäre ein schlechtes Zeichen, erst recht, da ich als einziger Sanitäter auch der Patient bin ..."
Während sie sprach, ließ David das Licht über ihr Ge-
sicht streifen, dann hob er ihren Kopf sanft an und sah auf der anderen Seite nach, bevor er ihn in seinen Schoss bettete. Seine Beine waren warm, die Muskeln zuckten von den Strapa-
zen.
„Da ist ein bisschen Blut in deinem linken Ohr", sagte er.
„Clairc, nimm bitte Rebeccas Tasche. Rebecca, du brauchst nicht mehr zu reden, wir versorgen dich schon. Versuch dich auszuruhen, wenn du kannst."
Kein CSF. dem Himmel sei Dank!
Rebecca wollte die Augen schließen, schlafen, aber vor-
her musste sie ihnen alles sagen. „Die Gehirnerschütterung scheint nur leicht zu sein, das erklärt die Verdrängung, den Tinnitus, meinen mangelnden Gleichgcwichtssinn - dauert
vielleicht nur ein paar Stunden, vielleicht aber auch ein paar Wochen. Dürfte nicht allzu schlimm sein, aber ich sollte mich nicht bewegen. Bettruhe. Fühl meinen Puls, an meiner Schlä-
fe. Wenn du ihn nicht findest, könnte ich unter Schock stehen
-Wärme, Beine hoch ..."
Sic holte Luft und stellte fest, dass die Dunkelheit nicht mehr nur da draußen war. Sie war müde, sehr, sehr müde, und eine Art neblige Schwärze schränkte ihr Blickfeld ein.
Das ist alles, habe ihn alles gesagt...
John. Leon.
„John und Leon", sagte Rebecca, darüber entsetzt, dass sie die beiden auch nur einen Moment lang vergessen hatte.
Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich kann laufen, ich bin okay, wir müssen zurück ..."
David berührte sie kaum, doch irgendwie gelangte ihr Kopf wieder auf seinen Schoß zurück. Dann zog Ciaire Rebeccas Hemd hinten hoch, drückte gegen ihre Hüfte - und schickte neue Schmerzwogen durch ihren Körper. Rebecca drückte die Augen zu, versuchte, tief ein- und auszuatmen, versuchte, überhaupt zu atmen.
„Wir werden zurückgehen", sagte David, und seine Stimme schien von weit her zu kommen, vom Rand eines Brunnen-schachts, in den Rebecca hineinstürzte. „Aber wir müssen warten, bis der Hubschrauber verschwindet, vorausgesetzt, das tut er überhaupt - und du brauchst Zeit, um dich zu erholen ..."
Wenn er noch etwas sagte, hörte Rebecca es schon nicht
mehr. Sic schlief ein und träumte, dass sie ein Kind war, das im kalten, kalten Schnee spielte.
Vor ihnen lag die Wüste.
Es waren keine Tiere zu sehen, sie mussten sich auf der anderen Seite der Düne befinden. Aber Cole meinte zu wissen, welche Geschöpfe zu Phase zwei gehörten. Noch bevor John und Leon auch nur einen Schritt machen konnten und bevor das Klingeln aufhörte, das die schrecklichen Schreie der Daks in Coles Ohren verursacht hatten, plapperte er schon drauflos.
„Wüste! Phase zwei ist eine Wüste, also müssen hier die
Skorps sein! Skorpione verstehen Sic?"
John zog ein gebogenes Magazin aus seiner Hüfttasche und blinzelte mürrisch in das künstliche Sonnenlicht, das von oben herab brannte. Es mussten an die 40 Grad Celsius in dem Raum herrschen, und inmitten der weißen Wände und
der gleißenden Helligkeit fühlte es sich noch viel heißer an.
Leon ließ den Blick über den funkelnden Sand vor ihnen
schweifen, dann wandte er sich an Cole, mit einem Ausdruck, als hätte er gerade etwas Saures zerkaut.
„Wunderbar. Das ist einfach großartig. .Skorps"? Skorps und Daks ... was gibt's sonst noch hier unten. Henry, können Sie sich daran erinnern?"
Für eine einzige Sekunde setzte Coles Verstand aus. Er
nickte, zermarterte sich das Gehirn. Der Schweiß, der seinen ganzen Körper bedeckt hatte, war in der knochentrockenen Hitze bereits verdunstet.
„Nun - das sind ... das sind Spitznamen: Daks. Skorps ...
Jäger! Jäger und Spuckcr! Die Trainer hatten all diese Spitznamen ..."
..Süß! Wie Schnuffi oder Purzelchen", unterbrach John und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Und wo
sind diese Viecher?"
Alle drei schauten sich in Phase zwei um, schauten auf die gewaltige Sanddüne, die sich in der Mitte des Raumes auftürmte und unter dem riesigen Netz aus Höhenlampen unter der Decke glitzerte. Sie war acht bis zwölf Meter hoch und ver-wehrte ihnen die Sicht auf die Südwand sowie auf die Tür in der dort befindlichen rechten Ecke. Sonst gab es nichts zu sehen.
Cole schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts. Die Skorps waren sonst wo. und sie mussten die glänzende, sengende
Sanddünc überwinden, um zum Ausgang zu gelangen.
„Was stellten die anderen Phasen dar? Gebirge und Stadt?
Haben Sie sie je gesehen?", fragte Leon.
„Drei ist wie ein ... wie sagt man noch gleich ... Chasma, auf einem Gipfel. Wie eine Gebirgsschlucht, so ungefähr, sehr felsig. Und Vier ist eine Stadt - ein paar Blocks einer Stadt jedenfalls. Ich musste die Videoanschlüsse in allen Phasen überprüfen, als ich herkam."
John schaute nach oben und in die Runde, die Augen wegen des harten Lichts zusammengekniffen. „Ach ja, richtig, Video
... Wissen Sie noch, wo sie sind? Die Kameras?"
Warum will er das wissen? Cole zeigte nach links, auf das kleine gläserne Auge, das in gut drei Metern Höhe in die wei-
ße Wand eingelassen war. „Hier gibt es fünf davon - das ist die Nächste..."
Mit einem breiten Grinsen hob John beide Hände und
streckte die Mittelfinger in die Kamera. „Leck mich, Rest-on!", sagte er laut, und Cole entschied, dass er John mochte, sehr sogar. Leon auch, klar, und das nicht nur, weil die beiden seine einzige Chance waren, hier herauszukommen. Was auch immer ihr Motiv sein mochte, sie standen offensichtlich auf der richtigen Seite. Und die Tatsache, dass sie in einer Lage wie dieser noch Witze machen konnten ...
,/Haben wir einen Plan?", fragte Leon, den Blick immer noch auf die Wand aus gelbweißem Sand gerichtet.
„Wir gehen da lang", sagte John und zeigte nach rechts,
„und dann wird geklettert. Wenn wir etwas sehen, erschießen wir es."
„Genial, John. Kannst du das aufschreiben? Weißt du,
ich..."
Leon brach mitten im Sprechen ab, und dann hörte Cole es auch. Ein klapperndes Geräusch. Ein Geräusch, als würden Krallen auf hohles Holz trommeln - dasselbe Geräusch, das ihm aufgefallen war, als er vergangene Woche eine der Kameras repariert hatte.
Ein Geräusch wie von Klauen, die sich öffnen und schlie-
ßen. Wie klickende Mandibeln ...
„Skorps ...", sagte John leise. „Sollen Skorpione nicht nachtaktiv sein?"
„Wir haben es hier mit Umbrella zu tun, schon vergessen?", entgegnete Leon. „Du hast zwei Granaten, ich hab eine ..."
John nickte, dann sagte er: „Weißt du, wie man mit einer Halbautomatik umgeht?"
Der große Soldat behielt die Düne im Auge, deshalb
brauchte Cole einen Moment, bis er merkte, dass John mit ihm sprach.
„Oh. Ja. Ich hab noch nie eine benutzt, aber ich war mit meinem Bruder ein paar Mal auf dem Schießstand, vor sechs oder sieben Jahren ..." Er sprach genau so leise, wie die anderen beiden es taten, und lauschte diesem seltsamen Geräusch.
John sah ihn direkt an, so als versuche er, Cole besser einzuschätzen - dann nickte er und zog eine schwer aussehende Pistole aus seinem Hüftholster. Mit dem Griff voran reichte er sie Cole.
„Das ist eine Neunmillimeter, fasst achtzehn Schuss. Ich hab noch mehr Clips, falls sie dir ausgehen. Du kennst alle Si-cherheitsregeln für den Umgang mit Waffen? Richte sie auf niemanden, wenn du nicht vorhast, ihn umzubringen, schieß nicht auf mich oder Leon - all diesen Kram eben?"
Cole nickte und nahm die Waffe entgegen. Sie war schwer -
und obwohl er immer noch mehr Angst hatte als je zuvor in seinem vierunddreißigj ährigen Leben, vermittelte ihm das massive Gewicht der Waffe in den Händen doch ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung. Er klaubte aus seinem Ge-dächtnis zusammen, was ihm sein kleiner Bruder über Sicherheitsregeln beigebracht hatte, und rummelte an der Pistole herum, um nachzusehen, ob sie geladen war. bevor er den Blick wieder auf John richtete.
„Danke", sagte Cole und meinte es auch genau so, wie er es sagte. Er hatte diese beiden Männer in eine Falle gelockt, und sie gaben ihm eine Waffe - gaben ihm eine Chance.
„Schon gut. Ist ja nur. damit wir neben unseren eigenen Är sehen nicht auch noch auf deinen aufpassen müssen", sagte John; auf seinen Lippen lag ein schwaches Lächeln. „Kommt!
Raus hier!"
John an der Spitze und Leon hinter Cole, so setzten sie sich in Bewegung. Richtung Osten. Sie bewegten sich langsam
durch die eintönige Umgebung. Der Sand war richtiger Sand: er verlagerte sich unter ihren Füßen, und zusammen mit der sengenden Hitze bescherte er ihnen ein Gefühl wie bei einem Marsch durch eine reale Wüste.
Sie hatten erst ein kurzes Stück zurückgelegt, als Leon stehen blieb.
„Thermounterwäschc". brummte er und schob seine Pistole ins 1 lolster. bevor er sein schwarzes Swcatshirt über den Kopf streifte und es sich um die Hüften schlang. Darunter trug er ein dickes weißes Hemd. „Konnte ja nicht ahnen, dass wir in der Sahara landen würden ..."
Sie hörten es alle. Nur einen Augenblick bevor sie es sahen
- bevor sie sie sahen, drei von ihnen, die sich auf dem Kamm der Düne aufreihten. Winzige Rinnsale aus Sand rieselten unter ihren vielen Beinen hervor, jedes so dick und kräftig wie ein abgesägter Bascballschläger. Sie hatten Krallen, riesige Greifklauen, die schmal und schwarz und an der Innenseite gezackt waren, und lange, in Segmente gegliederte Leiber, die in Schwänzen ausliefen, die nach oben und über ihre Rücken gebogen und an der Spitze mit Stacheln besetzt waren. Fiese, tropfende Stacheln, ein jeder mindestens dreißig Zentimeter lang.
Die drei sandfarbenen Kreaturen - jede anderthalb bis zwei Meter lang und etwa einen Meter hoch - begannen zu klappern. Die schmalen, spitzen, stoßzahnähnlichen Auswüchse unter den runden Arachnidenaugen schlugen gegeneinander
und erzeugten dieses seltsame rhythmische Klicken, das die Männer zuvor schon gehört hatten ...
... und dann glitten die drei Ungetüme zu ihnen herab. Perfekt ausbalanciert flitzten sie mühelos über den sich bewegen-den Sand.
Und auf dem Kamm der Düne tauchten drei weitere von ih-
nen auf.