Sechs

Karen Driver war eine hoch aufgeschossene, schlaksige Frau Anfang dreißig mit kurzem blonden Haar und ernstem, geschäftsmäßigem Auftreten. Ihr kleines Haus war makellos aufgeräumt und beinahe antiseptisch sauber. Die Kleidung, die sie für Rebecca herausgesucht hatte, war zweckmäßig und perfekt zusammengefaltet: ein dunkelgrünes T-Shirt und eine dazu passende gestärkte Hose, schwarze Baumwollsocken und Unterwäsche. Selbst das Badezimmer schien Karens Persönlichkeit widerzuspiegeln - an den weißen Wänden reihten sich Regale, jedes seinem Zweck entsprechend ordentlich eingeräumt.

Von wegen Forensik-Wissenschaftlerin, das ist eine pathologische Ordnungsfanatikerini Rebecca empfand sofort Schuldbewusstsein ob dieses Gedankens. Karen war durchaus hilfsbereit gewesen, auf eine brüske Art sogar fast freundlich. Vielleicht verabscheute sie einfach nur jegliche Form von Unordnung.

Rebecca saß auf dem Toilettenrand und krempelte die zu langen Hosenbeine über die Knöchel. Sie war erleichtert, aus ihren alten Klamotten heraus zu sein, und fühlte sich überraschend klar nach einer Nacht, die sie hatte durchschlafen können. Am Flughafen hatte David ein Auto gemietet, und in den frühen Morgenstunden hatten sie ein billiges Motelgefunden, wo sie in ihre getrennten Zimmer geschwankt waren. Rebecca war zu müde gewesen, um mehr zu tun, als nur ihre Schuhe auszuziehen und ins Bett zu kriechen. Sie war um kurz vor zehn erwacht, hatte geduscht und dann nervös gewartet, bis David an ihre Tür klopfte …

Rebecca hörte, wie die Haustür aufging und wieder geschlossen wurde. Neue Stimmen erklangen im Wohnzimmer. Sie schlüpfte in ihre Tennisschuhe, schnürte sie hastig zu und spürte, wie ihre Unruhe sprunghaft noch um ein paar Grade stieg. Das Team war versammelt. Jetzt wurde es allmählich ernst, und obwohl sie seit dem Aufwachen an kaum etwas anderes gedacht hatte, traf sie diese Erkenntnis doch wie ein Schock. Der Überraschungsangriff auf Barrys Haus schien in einem anderen Leben stattgefunden zu haben, obwohl er doch nur wenige Stunden zurücklag.

Und in ein paar Stunden wird alles vorbei sein. Dennoch, das, was dazwischen liegt, macht mir Sorgen. David und sein Team waren nicht in der Spencer-Villa, sie haben weder die Hunde gesehen, noch die Schlangen, die abnormen Kreaturen in den Tunneln oder den Tyranten.

Im Aufstehen schüttelte Rebecca die Bilder ab, klaubte ihre schmutzigen Kleider zusammen und stopfte sie in die leere Tasche, die sie während des Fluges bei sich getragen hatte. Es gab keine Hinweise darauf, dass es in der Caliban-Cove-Einrichtung genauso aussehen würde - und sich darüber den Kopf zu zermartern, würde nicht das Geringste daran ändern.

Vor dem Spiegel hielt sie inne und studierte die angespannten Züge der jungen Frau, die ihr daraus entgegenblickte - dann öffnete sie die Tür. Sie ging in Richtung des Wohnzimmers, durchquerte die blitzsaubere Küche und bog um eine Ecke in die Diele. Dort hörte sie Davids angenehme Stimme; offenbar fasste er die Geschehnisse der vergangenen Nacht zusammen.

»… sagte, er würde gleich heute früh ein paar der anderen anrufen. Ein anderer aus dem Team hat eine Kontaktperson beim FBI, die uns als Mittelsmann dienen könnte und über die wir mit etwas Glück eine Untersuchung einleiten können, sobald wir über ausreichende Beweise verfügen. Sie warten auf unsere Nachricht, sobald wir den heutigen Einsatz abgeschlossen haben …«

Er brach ab, als Rebecca das Zimmer betrat und sich alle Augen auf sie richteten. Karen hatte ein paar zusätzliche Stühle aufgeboten und saß auf einem davon, gleich neben einem niedrigen Couchtisch mit Glasplatte. Auf dem Sofa hatten zwei Männer Platz genommen, ihnen gegenüber stand David. Er lächelte ihr zu, während die beiden Männer aufstanden und vortraten, um sich mit ihr bekannt machen zu lassen.

»Rebecca, das ist Steve Lopez. Steve ist unser örtliches Computergenie und bester Scharfschütze …«

Steve gab ihr die Hand und grinste ein unbekümmertes Lächeln, das perfekt zu seinen jungenhaften Zügen passte. Seine Zähne schimmerten weiß im scharfen Kontrast zu seinem naturdunklen Teint. Er hatte dunkle, wache Augen und schwarzes Haar und überragte Rebecca nur um ein paar Zentimeter.

Er ist auch nicht viel älter…

Sein Blick war freundlich und direkt, und sie ertappte sich trotz der Umstände dabei, dass sie sich wünschte, ihre Haare wenigstens kurz gebürstet zu haben, bevor sie aus dem Bad ging. Kurzum, er war ein heißer Typ.

»… und das ist John Andrews, unser Kommunikationsspezialist und Kundschafter.«

Johns Haut war von tiefem Mahagonibraun, und wenn er auch keinen Bart trug, erinnerte er Rebecca doch an Barry. Er war von wuchtiger Statur, über einsachtzig groß und muskelbepackt. Er grinste sie strahlend an, und seine Zähne lächelten blendend weiß.

»Das ist Rebecca Chambers, Biochemikerin und Medizinerin der S.T.A.R.S.-Abteilung Raccoon City«, sagte David.

Immer noch lächelnd, ließ John ihre Hand los. »Biochemikerin? Donnerwetter, wie alt bist du?«

Rebecca lächelte zurück und entdeckte ein humorvolles Funkeln in seinen Augen. »Achtzehn … drei Viertel.«

Während John sich setzte, lachte er - ein tiefes, kehliges Glucksen. Er blickte zu Steve, dann wieder zu ihr.

»Dann nimmst du dich besser vor Lopez in Acht«, sagte er und senkte seine Stimme zu einer augenzwinkernden Warnung: »Er ist gerade einundzwanzig geworden. Und Junggeselle.«

»Hör schon auf, knurrte Steve. Röte stieg ihm in die Wangen. Er sah Rebecca an und schüttelte den Kopf.

»Nimm’s John nicht übel. Er glaubt, er hätte Sinn für Humor, und das lässt er sich einfach nicht ausreden.«

»Deine Mutter hält mich für ein witziges Kerlchen«, konterte John, doch ehe Steve etwas erwidern konnte, hob David die Hand.

»Das reicht«, unterbrach er sanft. »Uns bleiben nur ein paar Stunden zur Vorbereitung, wenn wir die Sache heute noch angehen wollen. Lasst uns anfangen, einverstanden?«

Das Geplänkel zwischen Steve und John war Rebecca eine willkommene Ablenkung von ihrer Anspannung gewesen; dadurch fühlte sie sich dem Team bereits irgendwie zugehörig -aber sie war auch froh, den ernsten, aufmerksamen Ausdruck auf den Gesichtern aller zu sehen, als sie ihr Augenmerk wieder auf David lenkten, der Trents Informationen hervorzog und auf den Tisch legte. Es war gut zu wissen, dass sie alle Profis waren …

Aber tut das etwas zur Sache?, flüsterte es in ihren Gedanken. Die Mitglieder von Raccoon-S.T.A.R.S. waren ebenfalls Profis. Und auch wenn wir wissen, was für eine Art von Forschung Umbrella betrieben hat -macht das einen Unterschied? Was, wenn das Virus mutiert und immer noch ansteckend ist? Was, wenn es in der Einrichtung von Wesen wie dem Tyranten wimmelt… oder noch Schlimmerem?

Rebecca hatte keine Antworten für die beharrliche Flüsterstimme parat. Stattdessen konzentrierte sie sich auf David und mahnte sich im Stillen, dass ihre Bedenken der Aufgabe nicht im Wege stehen durften. Und dass ihr zweiter Einsatz nicht auch schon ihr letzter sein sollte.

Weil Rebecca dabei war, begann David das Briefing so, wie er es in Anwesenheit eines vollkommen neu gebildeten Teams getan hätte. Sie war klug und besaß bereits Erfahrung mit einer Umbrella-Einrichtung, deshalb wollte er ihr die Chance einräumen, ihre Meinung zu jedem Punkt zu äußern.

»Unser Ziel ist es, in die Einrichtung einzudringen, Beweise über Umbrella und deren Forschung zu sammeln und möglichst ohne Schwierigkeiten wieder zu verschwinden. Ich werde jeden Schritt sorgfältig durchgehen, und wenn jemand Fragen oder Vorschläge zur Vorgehensweise hat - ganz egal, wie unwichtig sie ihm selbst auch vorkommen mögen -, möchte ich sie hören. Sind wir uns da einig?«

Nicken in der Runde. David fuhr fort, zufrieden, dass dieser Punkt geklärt war.

»Wir haben bereits über ein paar Möglichkeiten gesprochen, was passiert sein könnte, und ihr habt alle die Artikel gelesen. Ich gehe davon aus, dass wir es auch hier mit einer Art Unfall zu tun haben. Umbrella hat sich viel Mühe gegeben, das Problem Raccoon City zu vertuschen, und wenn man auch mutmaßen könnte, dass sie Fischer, die auf ihr Territorium gelangt sind, entfuhrt oder umgebracht haben, scheint es doch unwahrscheinlich, dass sie eine solche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.«

»Warum hat Umbrella niemanden reingeschickt, um die Sache zu bereinigen?«, warf John eine erste Frage ein.

David schüttelte den Kopf. »Wer sagt, dass sie das nicht getan haben? Möglicherweise stellen wir ja fest, dass sie bereits sämtliche Beweismittel aus der Einrichtung entfernt haben -in diesem Fall schließen wir uns mit der Raccoon-Truppe und unseren eigenen Kontaktleuten kurz und fangen von vorne an.«

Abermals nickten die Versammelten. David hielt sich nicht damit auf, das Offensichtliche zu verdeutlichen - dass das Virus nämlich immer noch ansteckend sein könnte, das wussten sie alle -, trotzdem wollte er, dass Rebecca diesen Aspekt im Rahmen des Briefings noch gesondert ansprach.

David sah auf die vor sich liegende Karte und seufzte innerlich, bevor er zum nächsten Punkt überleitete.

»Sprechen wir über die Art, wie wir uns Zugang verschaffen werden«, sagte er. »Wenn dies ein offener Angriff wäre, könnten wir mit einem Helikopter rein oder einfach über den Zaun klettern. Aber wenn sich noch Leute in der Einrichtung aufhalten und wir einen Alarm auslösen, wäre das Ganze vorbei, ehe es überhaupt begonnen hätte. Da wir nicht riskieren wollen, entdeckt zu werden, besteht unsere beste Chance darin, von der Bucht aus zu kommen. Wir können eines der Schlauchboote von der Tanker-Operation im letzten Jahr benutzen …«

Karen warf mit gerunzelter Stirn ein: »Ist der Pier denn nicht gesichert?«

David legte seinen Finger auf die Karte, direkt unter die gezahnte Linie des Zaunes am Südrand des Geländes. »Ehrlich gesagt rate ich nicht dazu, den Pier überhaupt zu benutzen. Wenn wir hier anlegen, hinter dem Pier -«, er fuhr mit dem Finger nach oben, entlang der Linie der Bucht, »- können wir uns einen Überblick über das gesamte Gelände verschaffen und das Schlauchboot in einer der Höhlen unter dem Leuchtturm verstecken. Demzufolge, was ich gelesen habe, gibt es einen natürlichen Aufstieg vom Fuß der Klippe zum Leuchtturm. Sollte der Weg blockiert worden sein, machen wir kehrt und überlegen uns eine alternative Route.«

»Wird das Schlauchboot nicht auffallen, wenn jemand von denen draußen aufpasst?«, fragte Rebecca.

David schüttelte den Kopf. Die S.T.A.R.S.-Abteilung Exeter hatte die Boote im vergangenen Sommer benutzt, um sich einem Öltanker zu nähern, der von Terroristen entführt worden war, mit der Drohung, das Öl abzulassen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Es war ein Nachteinsatz gewesen.

»Das Schlauchboot ist schwarz und mit einem Unterwassermotor ausgerüstet. Wenn wir nach Einbruch der Dämmerung aufbrechen, sind wir so gut wie unsichtbar. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir, sollte die Einrichtung gefährlich aussehen, die Aktion abbrechen und auf später verschieben können.«

David wartete, während seine Leute sich das eben Gehörte durch den Kopf gehen ließen; er wollte sie nicht drängen. Sein Team bestand aus guten Soldaten, aber das hier war eine Freiwilligenaktion. Wenn jemand ernstliche Zweifel hatte, war es besser, jetzt darüber zu reden. Abgesehen davon war er für Alternativvorschläge offen.

Sein Blick fiel auf Rebeccas junges Gesicht. In ihren wachen braunen Augen las er jenen festen Willen, der eine gute S.T.A.R.S.-Mitarbeiterin auszeichnete. Sorgsam wog sie seinen Plan ab. Er fing an, sie zu mögen, nicht nur weil sie der Mission von Nutzen war. Sie hatte eine Art von sachlicher Offenheit, die ihn ansprach, vor allem nachdem ihn seine eigenen Emotionen unlängst derart durcheinander gebracht hatten. Sie schien sich recht wohl zu fühlen in ihrer Haut …

David schob die Gedanken beiseite, als er sich bewusst wurde, unter wie viel Stress er gestanden hatte, wie müde er immer noch war - und darunter musste seine Konzentrationsfähigkeit zwangsläufig leiden.

Reiß dich zusammen, Mann. Das ist jetzt nicht der richtige Moment, in Gedanken abzuschweifen.

»Zu den Details«, fuhr er fort. »Wenn wir drin sind, bewegen wir uns im Zickzacklauf über das Gelände und halten uns immer in den Schatten. John übernimmt die Spitze. Mit Karen als Rückendeckung sucht er das Gelände nach dem Labor ab und hält Ausschau nach Hinweisen auf das, was passiert ist. Steve und Rebecca folgen, ich bilde das Schlusslicht. Wenn wir das Labor gefunden haben, gehen wir gemeinsam rein. Rebecca weiß, wonach wir suchen müssen, und wenn sie ein Computersystem haben, das noch läuft, kann Steve sich die Dateien vorknöpfen. Wir anderen übernehmen die Absicherung. Sobald wir die Informationen haben, ziehen wir auf dem gleichen Weg wieder ab.«

Er nahm den Text in die Hand, den ihm Trent gegeben hatte, und tippte darauf. »Eine von Rebeccas Teamkolleginnen hatte bereits mit Mister Trent zu tun. Sie glaubt, dass das hier von Bedeutung sein könnte für das, was wir finden werden. Deshalb möchte ich, dass ihr es euch alle noch einmal anseht, bevor es losgeht. Es könnte wichtig sein.«

»Dann können wir ihm also vertrauen?«, fragte Karen. »Dieser Trent ist okay?«

David furchte die Stirn. Er war sich unschlüssig, was er darauf antworten sollte. »Es sieht aus, als stehe er, aus welchem Grund auch immer, in dieser Angelegenheit auf unserer Seite, ja«, sagte er langsam. »Und Rebecca identifizierte einen der Namen auf der Liste als den eines Mannes, der schon vorher mit Viren gearbeitet hat. Die Informationen scheinen zuverlässig zu sein.« Das war keine direkte Antwort, aber sie musste genügen.

»Irgendeine Vorstellung, wie groß die Gefahr ist, dass wir uns dieses Virus einfangen?«, fragte Steve leise.

David neigte den Kopf in Rebeccas Richtung. »Wenn du uns einen kleinen Einblick geben könntest in das, was wir unter Umständen zu Gesicht bekommen werden - ein paar Backgroundinfos vielleicht …«

Sie nickte und wandte sich an den Rest des Teams. »Ich kann euch nicht exakt sagen, womit wir es zu tun haben. Nachdem der Fall dem Team entzogen wurde, hatte ich keinen Zugriff mehr auf die Gewebe-und Speichelproben und konnte deshalb auch keinerlei Tests durchführen. Aber in Anbetracht der Auswirkungen ist es ziemlich offensichtlich, dass das T-Virus ein Mutagen ist, das die Chromosomenstruktur seines Wirtes auf zellularer Ebene verändert. Es ist ein Interspezies-Infekt, der Pflanzen, Säugetiere, Vögel, Reptilien, kurzum alles infizieren kann. In manchen Wesen löst er ungeheuere Wachstumsschübe aus, in allen gewalttätiges Verhalten. Einigen der Berichte zufolge, die wir im Spencer-Anwesen fanden, beeinflusst das Virus die Hirnchemie, zumindest bei Menschen. Es führt zu einer Art schizophrener Psychose durch extrem hohe D2-Rezeptoren-Werte. Außerdem hemmt es den Schmerz. Die menschlichen Opfer, auf die wir stießen, reagierten kaum auf Schusswunden, und obwohl sie körperlich verwesten, schienen sie dies nicht zu spüren …«

Die junge Chemikerin hielt inne, vielleicht überwältig von der Erinnerung. Plötzlich sah sie viel älter aus, als sie es an Jahren tatsächlich war. »Der Viren-Ausbruch auf dem Anwesen schien über die Luft erfolgt zu sein, aber ich glaube nicht, dass es sich dabei um die beabsichtigte oder bevorzugte Form handelt. Die Wissenschaftler haben es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Rahmen genetischer Experimente injiziert. Und da sich keiner von uns ansteckte und es sich nicht ausbreitete, denke ich nicht, dass wir befürchten müssen, es einzuatmen. -Wovor wir uns allerdings hüten müssen, ist der Kontakt mit einem Wirt, und damit meine ich jeglichen Kontakt, das kann ich nicht ausdrücklich genug betonen - dieses Ding ist unglaublich virulent, wenn es sich erst einmal im Blutkreislauf befindet, und selbst ein einziger Blutstropfen eines Wirtes könnte Abermillionen von Viruspartikeln enthalten. Wir bräuchten eine vollausgerüstete Hot Suite und einen ausgebildeten Biohazard-Virologen, um die Replikationsstrategie genau zu ermitteln. Aber direkter Kontakt jedweder Art sollte unter allen Umständen vermieden werden. Wenn wir Glück haben, sind sie inzwischen gestorben … oder wenigstens soweit zerfallen, dass sie sich nicht mehr bewegen können - die menschlichen Virusträger jedenfalls.«

Einen Moment lang herrschte drückendes Schweigen, als sie sich alle die Bedeutung dessen vergegenwärtigten, was Rebecca ihnen gerade mitgeteilt hatte. David konnte sehen, dass sie erschüttert waren, und nahm sich davon nicht ganz aus. Es war ein Unterschied, ob man nur wusste, dass das Virus giftig war, oder im Detail hörte, welche Eigenheiten es besaß.

Mein Gott, was haben sich diese Leute nur gedacht? Wie konnten sie sich selbst noch ertragen, nachdem sie die unterschiedlichsten Lebensformen mit so etwas infiziert hatten?

Im Fahrwasser dieses Gedankens kam ihm ein anderer: Wie würde er das Leben noch ertragen, wenn sich jemand aus seinem Team mit diesem Virus ansteckte? Er hatte schon zuvor Einsätze geführt, bei denen Leute unter seinem Befehl verletzt worden waren - und zweimal, noch bevor er Captain ge- ‘ worden war, hatte er auch an Operationen teilgenommen, bei denen S.T.A.R.S. ums Leben gekommen waren. Aber ein Team eigenmächtig auf ein Terrain zu führen, wo es von einer lautlosen, schrecklichen Seuche infiziert oder durch die Krallen irgendeines unmenschlichen Monsters sterben konnte …

das ginge dann auf meine Kappe. Das ist keine genehmigte Mission, die Verantwortung liegt allein bei mir. Kann ich das wirklich von ihnen verlangen?

»Tja, klingt nach ‘nem ziemlichen Scheißjob«, meinte John schließlich. »Und wenn wir rechtzeitig dort sein wollen, machen wir uns jetzt besser auf die Socken.« Er lächelte David für seine Verhältnisse ungewöhnlich verhalten zu, aber es war ein Lächeln. »Du kennst mich, ich steh auf einen guten Kampf. Und irgendjemand muss diese Arschlöcher schließlich dran hindern, dieses Zeug zu verbreiten, stimmt’s?«

Steve und Karen nickten einhellig und wirkten dabei so gefasst und entschlossen wie John. Und obwohl sie wusste, worauf sie stoßen würden, hatte Rebecca ihre Entscheidung bereits in Raccoon gefällt. David wurde plötzlich von den Gefühlen, die er seiner Mannschaft entgegenbrachte, überwältigt - von einer seltsamen, unbehaglichen Mischung aus Stolz, Angst und Wärme, von der er nicht so recht wusste, was er damit anfangen sollte.

Nach ein paar Sekunden verunsicherten Schweigens nickte er knapp und blickte auf seine Uhr. Sie würden ein paar Stunden brauchen, um zum Ausgangspunkt zu gelangen.

»Stimmt«, sagte er. »Wir gehen am besten zum Lager und Im Fahrwasser dieses Gedankens kam ihm ein anderer: Wie würde er das Leben noch ertragen, wenn sich jemand aus seinem Team mit diesem Virus ansteckte? Er hatte schon zuvor Einsätze geführt, bei denen Leute unter seinem Befehl verletzt worden waren - und zweimal, noch bevor er Captain ge- ‘ worden war, hatte er auch an Operationen teilgenommen, bei denen S.T.A.R.S. ums Leben gekommen waren. Aber ein Team eigenmächtig auf ein Terrain zu führen, wo es von einer lautlosen, schrecklichen Seuche infiziert oder durch die Krallen irgendeines unmenschlichen Monsters sterben konnte …

das ginge dann auf meine Kappe. Das ist keine genehmigte Mission, die Verantwortung liegt allein bei mir. Kann ich das wirklich von ihnen verlangen?

»Tja, klingt nach ‘nem ziemlichen Scheißjob«, meinte John schließlich. »Und wenn wir rechtzeitig dort sein wollen, machen wir uns jetzt besser auf die Socken.« Er lächelte David für seine Verhältnisse ungewöhnlich verhalten zu, aber es war ein Lächeln. »Du kennst mich, ich steh auf einen guten Kampf. Und irgendjemand muss diese Arschlöcher schließlich dran hindern, dieses Zeug zu verbreiten, stimmt’s?«

Steve und Karen nickten einhellig und wirkten dabei so gefasst und entschlossen wie John. Und obwohl sie wusste, worauf sie stoßen würden, hatte Rebecca ihre Entscheidung bereits in Raccoon gefällt. David wurde plötzlich von den Gefühlen, die er seiner Mannschaft entgegenbrachte, überwältigt - von einer seltsamen, unbehaglichen Mischung aus Stolz, Angst und Wärme, von der er nicht so recht wusste, was er damit anfangen sollte.

Nach ein paar Sekunden verunsicherten Schweigens nickte er knapp und blickte auf seine Uhr. Sie würden ein paar Stunden brauchen, um zum Ausgangspunkt zu gelangen.

»Stimmt«, sagte er. »Wir gehen am besten zum Lager und besorgen uns die Ausrüstung. Den Rest können wir unterwegs besprechen.«

Als sie aufstanden, um zu gehen, rief David sich in Erinnerung, dass sie das Ganze taten, weil es notwendig war, und dass sich jeder von ihnen aus freien Stücken entschlossen hatte, an dieser gefährlichen Operation teilzunehmen. Sie kannten nun alle die Risiken. Dennoch war ihm auch klar, dass, falls irgendetwas schief gehen sollte, dieses Wissen nur schwachen Trost in sich bergen würde.

Karen saß im Fond des Caravans und munitionierte Magazine auf. Die Worte der mysteriösen Nachricht beschäftigten wieder und wieder ihr Denken, während sie mit dem Daumen Neunmillimeterpatronen in die Magazine drückte.

Ammons Nachricht erhalten blaue Reihe Antwort eingeben für Schlüssel Buchstaben und Zahlen umgekehrt Zeit Regenbogen nicht zählen blau fiir Zugriff…

Sie legte ein volles Magazin zu den anderen und wischte sich geistesabwesend die ölverschmierten Finger an der Hose ab, ehe sie nach dem nächsten griff. Eine willkommene Brise wehte durch den stickigen Van, nach Salz und sommerwarmem Meer duftend. Sie hatten die Straße südlich der Bucht verlassen und keine Viertelmeile vom Ufer entfernt eine freie Stelle gefunden, wo sie sich einrichten konnten. Draußen ging die Sonne unter und warf lange Schatten über den staubigen Boden. Das nicht allzu ferne Geräusch sanfter Wellen, die gegen die Küste leckten, war beruhigend und bildete die Hintergrundkulisse für die leisen Stimmen ihrer Kollegen. Steve und David bereiteten das Schlauchboot vor. John überprüfte den Motor. Und Rebecca stellte ein Medi-Pack aus den wohl sie sich mit nur einer Handfeuerwaffe und einer Halogen-Taschenlampe als Ausrüstung fühlen würde.

Gib ‘s ruhig zu. Du machst dir Sorgen wegen dieser Sache, und das tust du, seit David zum ersten Mal davon gesprochen hat. Die Fakten sind chaotisch, die Teile passen nicht zueinander, wie sie es eigentlich sollten.

Es war pure Ironie, dass die Gründe, die sie dazu antrieben, dieses Geheimnis zu lösen, identisch mit denen waren, die ihr soviel Unbehagen bereiteten: Trent … die scheinbare Fusion von S.T.A.R.S. mit Umbrella … die Möglichkeit eines Biohazard-Zwischenfalls in ihrem Heimatstaat … Wer alles war bestochen worden? Was war in Caliban Cove passiert? Was würden sie hier aufdecken? Was bedeutete das Gedicht?

Zu wenig Fakten. Noch jedenfalls.

Karen war immer stolz auf ihren Mangel an Fantasie gewesen, auf ihre Fähigkeit, die Wahrheit aufgrund empirischer Beweise herauszufinden, statt sich auf wüste, nicht fundierte Intuition zu stützen. Auf ihrem Gebiet war das der Schlüssel zum Erfolg, und obwohl sie sich bewusst war, dass sie bisweilen allzu nüchtern - mitunter sogar kalt - wirkte, akzeptierte sie sich doch völlig und genoss die Art von innerer Ruhe, die sie aus der Kenntnis sämtlicher Fakten zog. Ob es um die Untersuchung von Blutspuren ging oder die Bestimmung des Eintrittswinkels einer Kugel bei einer Schussverletzung - Karen gewann durch das Lösen von Rätseln eine tiefe Befriedigung. Nicht nur das Warum interessierte sie, mindestens ebenso auch das Wie. Die unbeantworteten Fragen über Caliban Cove waren ein Affront gegen ihre Denkweise. Sie gingen ihr gegen den Strich, störten ihren Realitätssinn - und sie wusste, dass sie keine Ruhe finden würde, bis alle Fragen eine Antwort gefunden hatten.

Mit den Waffen war sie fertig. Sie sollte jetzt noch einmal die Einsatzgürtel überprüfen - sie hatte an jedem Gürtel sämtliche Laschen und Taschen bereits zweimal geprüft -und sicherstellen, dass alles an Ort und Stelle und einsatzbereit war. Anschließend würde sie David fragen, ob sie noch etwas tun konnte …

Karen zögerte. Sie spürte warmen Schweiß ihren Rücken hinabrinnen. Durch die offene Hecktür war niemand zu sehen. Mit einem plötzlichen Anflug von etwas wie Schuldgefühl fasste sie in ihre Westentasche und zog ihr Geheimnis hervor. Das vertraute Gewicht in der Hand vermittelte ihr ein angenehmes Gefühl.

Mein Gott, wenn die Jungs das wüssten. Damit würden sie mich bis ans Ende aller Tage aufziehen.

Ihr Vater hatte es ihr gegeben, ein Überbleibsel seines Einsatzes im zweiten Weltkrieg und eines der wenigen Dinge, die Karen als Andenken an ihn besaß - eine altertümliche Splittergranate, Ananas genannt, wegen der kreuzschraffierten Ummantelung. Diese Granate bei sich zu tragen, war eine ihrer wenigen nicht von ihrem Praxissinn bestimmten Eigenheiten, eine, derentwegen sie sich ein bisschen albern vorkam. Sie hatte hart daran gearbeitet, als penible Rationalistin zu gelten, als intelligente Frau, die nicht zu emotionalen Sentimentalitäten neigte - und in vielerlei Hinsicht entsprach sie ihrem angestrebten Idealbild auch tatsächlich. Doch diese Granate war ihre »Hasenpfote«, und Karen ging nie ohne diesen Talisman auf eine Mission. Außerdem hatte sie sich halbwegs davon überzeugt, dass die Granate sich eines Tages vielleicht als nützlich erweisen könnte …

Ja, ja, red dir das nur ein. S.T.A.R.S. verfügt über digitalisierte Splittergranaten mit Timern, sogar Blendgranaten mit Computerchips. Den Zündring dieses Relikts könnte man wahrscheinlich nicht mal mehr mit einer Zange abziehen -»Karen, brauchst du Hilfe?«

Erschrocken sah Karen auf und direkt in Rebeccas offenes, junges Gesicht. Die junge Frau hatte sich ins Heck des Vans gebeugt. Ihr aufmerksamer Blick fiel auf die Granate, und ihre Augen leuchteten in plötzlicher Neugier auf.

»Ich dachte, wir nehmen keine Sprengwaffen mit … Hey, ist das eine Ananas-Granate? Ich hab noch nie eine gesehen. Ist sie scharf?«

Karen sah sich rasch um, weil sie fürchtete, dass jemand mitgehört haben könnte - dann lächelte sie der jungen Biochemikerin verunsichert zu, peinlich berührt von ihrer eigenen Verlegenheit.

Um Himmelswillen, es ist ja nicht so, als hätte sie mich beim Masturbieren erwischt. Sie kennt mich nicht, warum also sollte es sie kümmern, ob ich abergläubisch bin?

»Psst! Sonst hören uns die anderen. Komm mal her«, sagte Karen, und Rebecca kletterte gehorsam in den Van. Auf ihrem Gesicht erschien ein verschwörerisches kleines Lächeln. Fast gegen ihren Willen war Karen froh, dass die junge Biochemikerin sie ertappt hatte. In den sieben Jahren, die sie nun schon bei S.T.A.R.S. war, hatte es nie jemand herausgefunden. Außerdem hatte sie sofort Gefallen an dem Mädchen gefunden.

»Es ist eine ›Ananas‹, und wir nehmen eigentlich wirklich keine Sprengkörper mit. Du darfst es niemandem sagen, okay? Ich trage das Ding als Glücksbringer bei mir.«

Rebecca hob die Augenbrauen. »Eine scharfe Granate ist dein Glücksbringer?«

Karen nickte und schaute das Mädchen ernst an. »Ja, und wenn John oder Steve es herausfänden, würden sie sich darüber kranklachen. Ich weiß, es ist albern, aber das ist eine Art Geheimnis …«

»Ich finde es nicht albern. Meine Freundin Jill hat eine Glücksmütze …«, Rebecca fasste nach oben und berührte ihr Stirnband, ein zusammengebundenes rotes Halstuch unter Ponyfransen, »… und ich trag das hier praktisch schon seit ein paar Wochen. Ich hatte es um, als wir in die Spencer-Villa eingedrungen sind.«

Ihr junges Gesicht verdüsterte sich leicht, doch dann lächelte sie wieder und sah Karen aus hellbraunen Augen unverwandt und aufrichtig an. »Ich sage keinem ein Wort.«

Karen entschied, dass sie Rebecca definitiv mochte. Sie verstaute die Granate wieder in ihrer Weste und nickte dem Mädchen zu. »Das weiß ich zu schätzen. Ist draußen alles bereit?«

Feine Linien nervöser Anspannung erschienen auf Rebeccas Gesicht. »Ja, so ziemlich. John will die Headsets noch mal testen, aber davon abgesehen ist alles erledigt.«

Karen nickte abermals. Sie wünschte, sie hätte etwas sagen können, um die Furcht des Mädchens zu mildern. Doch es gab nichts zu sagen. Rebecca hatte schon vorher mit Umbrella zu tun gehabt, und jedes Wort von Karen würde nur schal klingen oder sogar herablassend. Sie war ja selbst ein klein wenig nervös - es gehörte dazu. Doch Angst verspürte sie selten, kam gut damit zurecht. Wie bei den meisten Einsätzen war das vorherrschende Gefühl ihre Ungeduld, eine Art Hunger nach Wahrheitsfindung.

»Geh schon vor und teil die Waffen aus. Ich nehm den Rest«, sagte Karen schließlich. Immerhin konnte sie das Mädchen beschäftigen.

Rebecca half ihr, die Ausrüstung auszuladen, während die Sonne am bedeckten Sommerhimmel tiefer sank. Der Wind, der vom Wasser her kam, wurde kühler, und über dem Atlantik schimmerten blass die ersten Sterne.

Als die Dämmerung herankroch, bewegten sie sich in be-drückendem Schweigen zum Ufer hinunter, luden ihre Waffen, streckten sich und schauten hinaus auf das dunkle Wasser mit seinen Wirbeln und Strudeln, das sein ganz eigenes Geheimnis verbarg.

Als das letzte Tageslicht hinter den Horizont schwand, waren sie so bereit wie nur irgend möglich. John und David schleppten das Schlauchboot zum Wasser, während Karen eine schwarze Strickmütze aufsetzte und die Ausbeulung in ihrer Weste tätschelte, um das Glück zu beschwören. Gleichzeitig versuchte sie sich einzureden, dass sie es nicht brauchen würde.

Die Wahrheit hielt sich noch bedeckt. Es war an der Zeit, herauszufinden, was hier wirklich vorging.