Fünf
Wie fast jeden Morgen seit Beginn des Experiments, saß Nicolas Griffith auf der offenen Plattform an der Spitze des Leuchtturms und sah zu, wie die Sonne über dem Meer aufging. Es war ein überwältigendes Schauspiel, von Anfang bis Ende. Erst lichteten sich die schwarzen Wellen, während sich der Himmel aufhellte, zu einem Grau, dann nahmen die schroffen Felsen, die seine Bucht säumten, langsam Form an in den gischtenden Winden, die vom offenen Meer her wehten. Und wenn der strahlende Stern über diese Seite der Welt spähte, tupften seine ersten zögerlichen Strahlen den Ozean mit Azurblau, malten den Horizont in Pastellfarben und versprachen Akzeptanz und Verständnis für alles, was sie berührten.
Es war eine Lüge, natürlich. Binnen Stunden würde der Gigant unerbittlich auf die Küste niederbrennen, auf diese Hälfte des Planeten. Seine frühmorgendliche Sanftmut war pure Täuschung - die Verschleierung des Wissens, dass der Milde, wie an jedem Sommertag, sengende Hitze folgen würde …
Aber für eine Lüge ist und bleibt es nichtsdestotrotz spektakulär. Man kann der Sonne mangelnde Selbstkenntnis nicht zum Vorwurf machen, schließlich ist sie nun einmal, was sie eben ist.
Griffith sah immer zu, bis die Sonne sich vom gekrümmten Horizont gelöst hatte, ehe er mit seinem Tagesprogramm begann. Obgleich er Gefallen fand an der Schönheit jeder schimmernden Dämmerung, war es doch die Routine, die ihn anzog - nicht die seine, sondern die des Kosmos. Jeder Sonnenaufgang war ein Faktum, das vom unvermeidlichen Fortschreiten der Zeit kündete - und eine Erinnerung daran, dass sich die Welt ewig auf ihrer galaktischen Bahn drehte, blind für die Träume der selbstherrlichen Wesen, die sich auf ihrer Oberfläche tummelten.
Wesen wie ich selbst, mit einem entscheidenden Unterschied jedoch: Ich weiß, wie viel meine Träume wert sind…
Als sich die aufgedunsene Scheibe aus der See erhob, stand Griffith auf, lehnte sich gegen das Geländer und lenkte seine Gedanken auf den vor ihm liegenden Tag. Nachdem er die Blutuntersuchungen an der Leviathan-Reihe nun endlich abgeschlossen hatte, konnte er sich eingehender mit den Doktoren befassen. Alle drei hatten gut auf die Veränderung angesprochen, und die Zellzerfallsrate war beträchtlich gesunken, seit er mit den Enzym-Injektionen begonnen hatte. Es war an der Zeit, sich auf ihr situationsbedingtes Verhalten zu konzentrieren, die letzte Phase des Experiments. Noch in dieser Woche würde er so weit sein, es über die Grenzen dieser Einrichtung hinaus auszudehnen.
Expansion. Säuberung…
Eine steife, salzige Brise fuhr ihm durch das graue Haar. Die hungrigen Schreie von Möwen mahnten ihn schließlich zur Eile. Die Trisquads mussten hereingeholt werden, ehe sich die gierigen Vögel landeinwärts bewegten. Einige der Einheiten waren schon furchtbar zugerichtet worden, und er wollte nicht noch mehr aufs Spiel setzen, bis er alles erledigt hatte. Wenn sie erst einmal ihre Augen verloren hatten, waren sie als Wächter nutzlos.
Dennoch, es ist so lange her … und es kommt niemand. Hätte Dr. Ammon Erfolg gehabt, hätten sie inzwischen jemanden geschickt. Zu dumm, wirklich. Wahrscheinlich wartet er immer noch …
Der Gedanke verursachte ihm Unbehagen, beschwor verschwommene Eindrücke von Röte und Hitze herauf, von Leichen, die hingestreckt unter der sengenden Sommersonne lagen, und später dann das Donnern von Brandungswellen im Dunkeln. Schnell verdrängte er die Bilder, rief sich in Erinnerung, dass sie der Vergangenheit angehörten. Außerdem hatte er nur getan, was nötig gewesen war.
Griffith ging wieder hinein. Während er die schmale Wendeltreppe hinabstieg, glättete er sein windzerzaustes Haar. Seine Schuhe klapperten auf den Metallstufen und riefen angenehme Echos in dem hohen Raum hervor. Die Einrichtung für sich allein zu haben, machte alles überaus angenehm, und er hatte sich angewöhnt, die kleinen Dinge zu genießen - zu essen, was und wann er wollte, seine Zeit selbst einzuteilen, die morgendlichen Besuche im Leuchtturm … Zuvor war er eingeengt gewesen, gezwungen sich an Zeitpläne zu halten, die nur entworfen zu sein schienen, um die Kreativität zu unterhöhlen. Essenszeiten, Arbeitszeiten, Ruhezeiten … Wie konnte ein Mensch unter solchen Bedingungen atmen, denken, erblühen?
Er hatte so lange gelitten, hatte in endlosen Konferenzen gesessen und dem kleingeistigen Gefasel seiner »Kollegen« zugehört, wie sie von Birkins T-Virus geschwärmt hatten. Sie hatten sich abgeplagt, die Trisquads für Umbrella zu entwickeln und waren über die Ergebnisse wahnsinnig glücklich gewesen, hatten ihren Fehlschlag mit den Ga7ern scheinbar völlig verdrängt gehabt. Zudem waren sie außer Stande gewesen, über ihre Eitelkeit hinaus auf das Gesamtwerk zu blicken …
Als ob die Trisquads etwas anderes wären als bewaffnete Leichen. Nützlich als Wächter, aber mit wenig Verstand ausgestattet. Im Grunde nicht einmal wichtig.
Obwohl Griffith versuchte, sich seine Leistungen nicht zu Kopf steigen zu lassen, gestattete er sich einen Augenblick des Stolzes, als er am Ende der Treppe anlangte und zum Ausgang schlenderte. Er hatte das T-Virus als das erkannt, was es war - eine noch unausgegorene, aber effektive Basis für etwas weit Größeres. Er hatte die Proteine isoliert, die Hülle der Nukleo-Capside neu gegliedert, um Variable in der Ansteckungsfähigkeit zuzulassen, und eine Antwort erschaffen -die Antwort auf den Fluch, zu dem die Menschheit geworden war. Eine Lösung ohne Gewalt und ohne Leid.
Lächelnd trat er durch die Tür hinaus in den kühlen Schatten des Leuchtturms, hinter sich das Tosen der sich brechenden Wogen, während er auf das Dormitorium zuging. Er hatte bereits eine über die Luft übertragbare Variante hergestellt und genug davon, um den größten Teil Nordamerikas damit zu verseuchen. Wenn sich das Virus ausbreitete, würde die Evolution ihren rechtmäßigen Lauf nehmen - die im Geiste Schwachen würden den mit reinen Instinkten unterliegen. Und wenn es vorbei war, würde die Sonne über einer völlig veränderten Welt aufgehen, die bewohnt war von friedfertigen Menschen mit starkem Charakter und Willen.
Entziehe einem Menschen die Möglichkeit, sich zu entscheiden, und sein Geist wird frei, eine leere, saubere Schiefertafel. Mit Anleitung wird er zum Schoßhündchen - so harmlos und friedlich wie eine Maus. Ohne zur reißenden Bestie. Bevölkere die Welt mit solchen Tieren, und nur die Starken überleben …
Immer noch lächelnd betrat Griffith den Aufenthaltsraum des Dormitoriums und schaltete das Licht ein. Seine Doktoren waren noch genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Mit geschlossenen Augen saßen sie am Konferenztisch. Idealer wäre es gewesen, die Tests an untrainierten Probanten durchzuführen, doch die drei Männer mussten genügen. Sie waren mit exakt der Virusart infiziert, die er freisetzen würde, und sie kamen dem am nächsten, was in wenigen Tagen aus der Welt werden würde.
Meine Schoßtierchen. Meine Kinder.
Neben dem Forschungslaboratorium war die Einrichtung der Bucht darauf ausgelegt, Bio-Waffen wie die Trisquads oder Ga7er abzurichten -aber auch darauf, zu untersuchen, ob menschliche Versuchspersonen in der Lage waren logisch vorzugehen. In den Bunkern befanden sich viele Hilfsmittel, die er dafür einsetzen konnte, angefangen von einfachen Stecktests bis hin zu komplexen Rätseln für die Kandidaten, die auf einem höheren Level funktionierten. Er bezweifelte, dass seine Doktoren in der Lage gewesen wären, auch nur die rote Testreihe zu bewältigen, doch ihre Reaktionen zu beobachten, würde ihm wertvolle Erkenntnisse liefern -insbesondere die Tests, bei denen Stress eine Rolle spielte.
Sie denken, aber sie können keine Entscheidungen treffen. Sie funktionieren, aber nicht ohne Input. Wie wird es ihnen ohne meine führende Hand ergehen?
Als Griffith auf den Tisch zuging, öffnete Dr. Athens die Augen, vielleicht um zu sehen, ob sich eine Gefahr näherte. Von den dreien war Tom Athens der Stärkste, derjenige, der auf sich allein gestellt am wahrscheinlichsten überleben würde. Er war einer der Verhaltens-Experten gewesen. Die aus drei Einheiten bestehenden Teams, die Trisquads also, waren seine Idee gewesen; er hatte behauptet, die infizierten Einheiten würden in kleineren Gruppen effektiver arbeiten. Damit hatte er Recht behalten.
Dr. Thurman und Dr. Kinneson blieben regungslos - und Griffith fing einen üblen Geruch auf, der von einem der beiden ausging. Sein Blick verfinsterte sich, als er hinabsah und seinen Verdacht von Dr. Thurmans durchnässter Hose bestätigt fand.
Er hat sich vollgeschissen. Schon wieder.
Unvermittelt empfand Griffith ein fast überwältigendes Mitleid mit Thurman, doch es wurde rasch ersetzt durch Verärgerung und Ekel. Thurman war schon immer ein Idiot gewesen, zwar ein halbwegs brauchbarer Biologe, aber ebenso lächerlich engstirnig wie die anderen. Er hatte die meisten der Ga7er persönlich gezüchtet, und als sie sich nicht länger unter Kontrolle halten ließen, gab er die Schuld daran jedem außer sich selbst. Wenn es jemand verdiente, in seinen eigenen Exkrementen zu hocken, dann Louis Thurman. Es war nur zu schade, dass der gute Doktor nicht fähig war zu begreifen, was für ein abstoßendes Bild des Jammers er abgab.
Ohne mich hätte er keinen Tag überstanden.
Seufzend trat Griffith vom Tisch zurück. »Guten Morgen, Gentlemen«, sagte er.
Synchron wandten die drei Männer die Köpfe und sahen ihn an, ihre Augen so leer wie ihre Gesichter. Wie unterschiedlich sie körperlich auch sein mochten, die Schlaffheit ihrer Züge und ihre trägen, stumpfen Blicke ließen sie wie Brüder aussehen.
»Es scheint, als habe Dr. Thurman seinen Darm entleert«, sagte Griffith. »Er sitzt in Fäkalien. Das ist komisch.«
Die drei grinsten breit. Dr. Kinneson lachte sogar leise. Er war als Letzter infiziert worden, hatte deshalb noch am wenigsten unter der Gewebezersetzung gelitten. Sorgfältige Anleitung vorausgesetzt, konnte Alan immer noch als Mensch durchgehen.
Griffith zog eine Trillerpfeife aus der Tasche und legte sie vor Athens auf den Tisch. »Dr. Athens, beordern Sie die Trisquads zurück. Kümmern Sie sich um ihre Bedürfnisse und schicken Sie sie in den Kälteraum. Wenn Sie fertig sind, gehen Sie in die Cafeteria und warten dort.«
Athens stand auf und nahm die Pfeife. Dann ging er aus dem Raum und den Flur hinunter zum anderen Eingang das Dormitoriums. Die Pfeife würde die Teams deaktivieren und hereinrufen. Es gab vier Trisquads, insgesamt zwölf Soldaten. Sie durchstreiften den Wald entlang des Zaunes oder strichen um die Bunker und waren darauf abgerichtet, sich vom nordöstlichen Teil des Geländes mit dem Leuchtturm und dem Dormitorium fern zu halten. Griffith musste zugeben, dass sie ihren Zweck recht gut erfüllten. Umbrella hatte Soldaten verlangt, die gnadenlos töteten und kämpften, bis sie buchstäblich in Stücke geschossen wurden. Dazu hatte das T-Virus getaugt, und seit sie die Inkubationszeit herabgesetzt hatten, konnten sie die Wesen innerhalb von Stunden produzieren, nicht mehr in Tagen. Einmal an Waffen ausgebildet, wurden die Trisquads zu Tötungsmaschinen - angesichts der jüngsten Hitzewelle wusste Griffith jedoch nicht, wie lange sie noch aktionsfähig bleiben würden …
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Dr. Thurman, der immer noch grinste und dazu stank wie ein zu groß geratener Säugling. Er sah sogar aus wie Baby, pummelig und glatzköpfig, sein Lächeln so unschuldig und arglos wie das eines Kleinkindes.
»Dr. Thurman, gehen Sie auf Ihr Zimmer und ziehen Sie Ihre Kleidung aus. Duschen Sie und legen Sie frische Kleider an, dann begeben Sie sich in die Höhlen und füttern die Ga7er. Wenn Sie fertig sind, gehen Sie in die Cafeteria und warten dort.«
Thurman stand auf, und Griffith sah, dass der gepolsterte Stuhl nass und fleckig war.
Herrgott.
»Nehmen Sie den Stuhl mit«, seufzte Griffith. »Lassen Sie ihn in Ihrem Zimmer.«
Nachdem Thurman gegangen war, nahm Griffith gegenüber von Alan Platz. Mit einem Mal fühlte er sich müde. Der Stolz, den er vorhin noch empfunden hatte, war verschwunden, an seine Stelle eine kalte Leere getreten.
Meine Kinder. Meine Schöpfung…
Das Virus war so schön, so perfekt konstruiert, dass er geweint hatte, als er es zum ersten Mal sah. Er musste an die Monate privater Forschung denken, in denen er das T-Virus zerlegt und seine Wirkkomponenten isoliert hatte, dann die monatelange Arbeit, die in diesem ersten Mikrobild gipfelte … Während die anderen sich an ihren Kriegsspielzeugen ergötzt hatten, war ihm der wahre Weg zu einem Neuanfang klar geworden.
Und wissen sie zu schätzen, was ich erreicht habe? Weiß auch nur einer von denen, wie entscheidend das ist? Scheißt sich voll wie ein widerliches Baby - wie ein Affe. Und entwürdigt meine Arbeit, mein Leben …
Griffith schaute Alan Kinneson an, studierte das gut aussehende Gesicht und die ausdruckslosen Augen. Dr. Kinneson starrte zurück, wartete darauf, dass Griffith ihm sagte, was er zu tun habe. Früher war er Neurologe gewesen. In seinem Zimmer waren Bilder von seiner Frau und ihrem gemeinsamen Kind, ein kleiner Junge mit strahlendem, hübschem Lächeln Plötzlich erbebte Griffith’ Geist. Ein furchtbarer, reißender Sog verursachte ihm Schwindel. Tausend Stimmen schrien unverständlich durch die Risse der Realität. Eine Sekunde lang fühlte er sich, als müsste er den Verstand verlieren.
Wie viele werden kurzerhand verhungern, in Lachen aus Kot und Urin sitzen und einfach nur warten? Millionen? Milliarden?
»Was, wenn ich mich irre?«, flüsterte Griffith. »Alan, sagen Sie mir, dass ich mich nicht irre, dass ich all dies aus den richtigen Beweggründen tue …«
»Sie irren sich nicht«, sagte Dr. Kinneson ruhig. »Sie tun all dies aus den richtigen Beweggründen.«
Griffith starrte ihn an. »Sagen Sie mir, dass Ihre Frau eine Hure ist.«
»Meine Frau ist eine Hure«, sagte Dr. Kinneson. Kein Zögern. Keine Zweifel.
Griffith lächelte, und die Angst schmolz dahin.
Seht nur, was ich erreicht habe. Ein Geschenk… Meine Schöpfung ist ein Geschenk an die Welt. Eine Chance für die Menschheit, wieder zu erstarken - ein friedlicher Tod für all die Louis Thurmans, die es gibt, und das ist mehr, als sie eigentlich verdienen …
Er hatte zu hart gearbeitet, hatte sich erschöpft. Der Stress setzte ihm allmählich zu. Doch er konnte nicht zulassen, dass die Belastung seines Körpers abermals seinen Verstand beeinträchtigte. Es würde keine Tests mehr geben. Er würde den Tag stattdessen damit verbringen, alles abzuschließen und die Säuberung vorzubereiten.
Morgen bei Sonnenaufgang wollte Dr. Griffith sein Geschenk dem Wind übergeben.