4. Kapitel

Belgrad, August 1455

Gábor eilte durch das dunkle Labyrinth der Burg. Seine Schritte hallten durch die leeren Gänge. Hinter ihm schlug mit dumpfem Knallen eine Tür zu, und vor den schmalen Fenstern, die zu den Pferdeställen zeigten, begann ein Hund zu bellen. Ansonsten war es still. Die Tore waren geschlossen und die Stadt ruhte, vom Rauschen der Flüsse sanft in den Schlaf gewiegt.

Er hatte Veronika in einer der Kemenaten im Hauptturm der Festung untergebracht, wo zwei Bedienstete bereits auf sie gewartet hatten. Sie würde diese kleine Kammerflucht ganz für sich alleine haben, denn die Adelsdamen, die in den beheizten Frauenstuben wohnten, konnte man an einer Hand abzählen. Unter den Ungarn war das Leben auf der Festung eine militärisch organisierte Gesellschaft von Soldaten geworden. Einst war es anders gewesen. Vor dreißig Jahren hatte der frühere serbische König Stefan Lazarević die Burg zu einer Residenz ausgebaut, deren verschwenderisch eingerichtete Räume ihresgleichen suchten. Seine Gäste tranken aus goldenen Kelchen und lauschten Gedichten, die oft vom König höchstselbst verfasst worden waren. Händler und Handwerker verschiedenster Nationalitäten wurden von dem Reichtum angelockt und ließen sich in der Stadt nieder. Stefan berief zahlreiche Gelehrte der griechischen Kirche an seinen Hof, baute eine Bibliothek und eine Kathedrale, finanzierte Klöster und den Ausbau des Donauhafens, der zu einem Zentrum des Handels zwischen Ost und West wurde. Doch so schnell, wie die Stadt erblüht war, verlor sie ihren Glanz auch wieder, als Stefan starb. Sein Nachfolger Brankovic übergab Belgrad an den ungarischen König, um seine zahlreichen Schulden zu begleichen. Die wachsende Gefahr durch die Türken lähmte den Handel, und die orthodoxen Gelehrten wurden von den katholischen Ungarn nicht gefördert. Graf Johann Hunyadi übernahm schließlich die Aufsicht über Belgrad, und unter ihm wurde die Stadt zu einem Bollwerk gegen den Osten. Die goldenen Kelche wurden erst in bare Münze und dann in Waffengerät getauscht, und bei den Mahlzeiten im großen Saal dienten inzwischen Knappen als Bedienstete. Musik und Poesie wichen Diskussionen über Taktik, Nebengebäude wurden in Kasernen umgewandelt, und Hunyadis Ritter lebten nun in den Räumen, die einst dem serbischen Hochadel vorbehalten waren.

Ob sich Veronika in dieser militärischen Umgebung wohl fühlen würde? Gábor konnte es nur hoffen. Bis jetzt schien sie sich in ihre neue Rolle zu fügen, wenn auch mit spürbarem Widerwillen. In den letzten Tagen ihres Ritts war sie recht schweigsam gewesen. Sie war klug genug, um ihre Gedanken vor ihm zu verbergen, und das beunruhigte ihn. Es passte nicht zu ihrem aufgeweckten Charakter, so still zu sein. Hatte er sie zu hart angefasst? Nein. Er schüttelte den Kopf. Es brauchte eine feste Hand, um ihr die Veränderung in ihrem Leben unwiderruflich einzuprägen. Wenn er zu freundlich zu ihr war, würde sie niemals ihre alten Bindungen aufgeben. Selbst wenn sie der Wolfsgemeinschaft irgendwann nicht mehr so abweisend gegenüberstand, ein Rest trügerischer Hoffnung würde ihr bleiben, dass sie immer noch dieselbe wie vorher war.

Du musst dein altes Leben hinter dir lassen, hatte Viktor damals zu Gábor gesagt. Du bist jetzt ein anderes Wesen, neu geboren im Blut des Wolfs.

Ihm war das einst nicht schwergefallen. Es hatte kaum etwas in seinem alten Leben gegeben, das es wert war, zu bewahren, und vieles, bei dem er froh war, es zu vergessen. Veronika schien es allerdings anders zu gehen. Er hoffte, dass sie trotzdem irgendwann ihre neue Natur akzeptieren konnte. Als Wölfin hatte sie ihn sofort als ihren Artgenossen erkannt. In ihrer menschlichen Gestalt fürchtete sie ihn jedoch, das zeigten ihre Blicke deutlich. Erfreut darüber war er nicht. Doch Angst wurde bei dem Mädchen schnell zu Wut, und Wut war heilsam, das war seine Ansicht. Ihr Zorn würde sie stärken und verhindern, dass sie in Selbstmitleid versank, in Trauer und Hilflosigkeit. Wenn die Wut irgendwann verging, würde sie sich nicht aus Schwäche für den Bund entscheiden, sondern aus dem Verständnis ihrer Natur.

Denn sie war es. Sie war die Prophezeite der heiligen Agnes, dessen war er sich sicher. Sie trug das rote Mal, und wichtiger noch, sie hatte als einzige Frau den Biss überlebt.

Er hielt inne und lauschte dem Echo seiner verhallenden Schritte. Er konnte noch gar nicht recht begreifen, dass die Suche zu Ende war. Sie war eine Bürde gewesen, über all die Jahre hinweg, die er mit niemandem teilen konnte. Selbst Miklos wusste nichts von der Prophezeiung, ahnte nicht, dass sein Lehrer, zu dem er aufschaute, unschuldige Frauen ermordet hatte. Gábor strich sich über die Stirn und blickte aus einer Fensterluke hinab aufs nächtliche Belgrad. Die Dächer waren schwarz, doch im Tal glitzerten die beiden Flüsse, die Save und die Donau. Am Hafen erhob sich der sechseckige Mlinarica-Turm, und um die Stadt herum schimmerten die weißen Mauern im Mondlicht. Sie hatten Belgrad ihren Namen gegeben, und sie schützten verlässlich die schlafenden Menschen. So wie er nun das Mädchen schützen musste, das durch göttliche Fügung in seine Hände gelangt war. Gábor wandte sich von der Luke ab und ging weiter durch die dunklen Gänge.

Welche Schuld er auch auf sich geladen hatte, nun musste er nach vorne schauen. Denn er hatte sie gefunden, die Frau, die all dem Leid und den Kämpfen ein Ende bereiten konnte. Und er wusste bisher viel zu wenig über sie, um ihr Verhalten einschätzen zu können. Er seufzte. Der Kampf gegen die Türken an Hunyadis Seite erschien ihm einfacher, als sie zu verstehen. Etwas an diesem Mädchen irritierte ihn. Es war ihr Duft. Sie roch wie ein Menschenweib, doch darunter schwang stets der Geruch ihrer Wölfin, dunkel und ungezähmt, verlockender als der Duft jeder Blume. Niemals zuvor hatte es einen weiblichen Werwolf gegeben. Das würde nicht nur ihn aufwühlen, sondern auch die anderen männlichen Werwölfe. Und einen von ihnen wohl ganz besonders.

Er öffnete die Tür zum Westturm. Schwarz gähnte ihm der Treppenaufgang entgegen. Ohne zu zögern, ging er hinauf, sich ganz auf Tast- und Geruchssinn verlassend. Michael war dort oben, sein Geruch hing wie eine dunkle Wolke in der Luft.

»Willkommen zurück, Gábor.« Michael öffnete ihm die Tür zur Wachstube. Der quadratische Raum war leer bis auf einen Strohsack, eine Truhe und einen schmalen Tisch, auf dem eine Karaffe und Weinbecher standen. Zwei Hängelampen, gefüllt mit Rindertalg und zu Kordeln gedrehten Leinendochten, qualmten vor sich hin. An den bloßen Mauerwänden hingen Armbrüste und gekreuzte Lanzen.

Michael Szilagyi, Hauptmann der Festung von Belgrad und einer der stärksten Werwölfe, die Gábor kannte, bedachte den Neuankömmling mit einem Lächeln, das unregelmäßige Zähne freigab. Er war glatt rasiert und trug das blonde Haar so kurz geschoren wie ein Landsknecht. Gábor verdächtigte ihn insgeheim, dass er diese Frisur aus Eitelkeit wählte, war sein Haar in den letzten Jahren doch zunehmend schütter geworden. Er musterte seinen Wolfsbruder aufmerksam. Es war ihm in letzter Zeit gut ergangen. Sein dunkelrotes Wams war aus feinstem Tuch und wies kunstvoll gestickte Ziernähte auf. Auch der pelzbesetzte Umhang kündete von Reichtum und seinem hohen Adelsstand. Die Schneider brauchten Stoff für zwei Männer, um Michael einzukleiden, denn unter dem Samt verbarg sich ein wahrer Koloss, ein Kerl, vor dessen Muskelkraft selbst ein wilder Hengst scheute. Gábor musste sich seiner eigenen Körpergröße nicht schämen, doch Michael überragte ihn noch um mehr als eine Handbreit.

»Ich habe gehört, du hast jemanden mitgebracht«, sagte der Riese. Sein Grinsen zeigte, dass er bereits genau informiert worden war.

Gábor nickte. Er war nicht überrascht. »Ich habe die Auserwählte gefunden.«

»Meinen Glückwunsch. Dann hat deine unselige Suche endlich ein Ende.« Michael drückte ihm einen Zinnbecher in die Hand. »Wurde auch Zeit. Man konnte kaum mehr mit ansehen, wie dich Viktors Auftrag gequält hat in den letzten, lass mich überlegen …«, er zog die Augenbrauen hoch, »zehn Jahren?«

Gábor schenkte sich Wein ein. Michael machte sich stets ein Vergnügen daraus, Leute durch klug kalkulierte, aber despektierlich formulierte Äußerungen zu verärgern. Aus ihm sprach die Arroganz des Hochadels, der vor wenigen Dingen wirklich Respekt hegte. Darin unterschied er sich von seinem Schwager Johann Hunyadi, der sich aus eigener Kraft vom armen Landadligen zum wichtigsten Feldherrn Europas hochgearbeitet hatte. Die Heirat mit Michaels Schwester hatte ihm dennoch nicht den Zugang zur ränkesüchtigen Welt des Hochadels geöffnet. Für Grafen wie Ulrich Cilli, die an Luxus gewöhnt waren und ihre Macht auf die Undurchlässigkeit der Ständegesellschaft bauten, war Graf Hunyadi eine Bedrohung. Das Gerücht, dass die Hunyadis wie eine primitive Meute in ihrer Burg in Temeschburg hausten, war noch das harmloseste, das in diesen Kreisen über sie im Umlauf war. Doch trotz der Verachtung des Adels, oder vielleicht genau deswegen, war Hunyadi beliebt beim einfachen Volk. Er hatte sich seine Sporen in ehrlichen Kämpfen verdient, nicht in den Intrigenschmieden der Hochgeborenen. Außerdem hatte Hunyadi ein gutes Herz. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte der Bruder seiner Frau nach einem Reitunfall auf dem Sterbebett gelegen. Hunyadi hatte seinen Freund Viktor angefleht, ihn durch den Wolfskuss zu retten. So war Michael zum Werwolf und Mitglied des Bundes geworden.

Gábor und Michael hatten außer dem Wolfsblut und ihrem Lehrer kaum etwas gemeinsam. Gábor zog die Einsamkeit den meisten Gesellschaften vor. Der einzige Begleiter, den er seit ein paar Jahren an seiner Seite duldete, war Miklos, sein vernarbter, Kirchen hassender Schüler. Michaels Band zur Welt der Menschen war dagegen viel enger geknüpft. Er nahm sich zahlreiche Geliebte. Stets begleitete ihn eine Gefolgschaft von Rittern und Kriegsknechten, die ihm nicht nur aufgrund ihres Dienstvertrags verpflichtet waren. Die Menschen spürten seine Wildheit und seine Kraft, die kaum gezügelt unter der Oberfläche lauerte, und sie bewunderten ihn dafür – und kaum einer konnte seinem frechen Charme widerstehen. Die drei ergebensten Männer hatte er mit Viktors Erlaubnis zum Stand der Werwölfe erhoben. Gábor argwöhnte, dass diese drei sich weniger den Zielen des Bundes verpflichtet fühlten als ihrem Herrn. Er war der Führer ihres Rudels und sie waren seine persönliche Einsatztruppe, bereit, ihre Leben für ihn zu geben. Dies war ein Grund, warum Gábor Michael niemals vollständig vertraute. Ihm war zu viel am eigenen Ruhm gelegen. Wenn sie sich nicht zu häufig begegneten, kamen sie jedoch gut miteinander aus. Von Michaels Sprüchen ließ er sich jedenfalls selten aus der Ruhe bringen.

»Ich wusste nicht, dass ich dir solche Sorgen bereitet habe«, erwiderte er trocken.

Michael lachte jenes grollende Lachen, mit dem er diejenigen, die er genarrt hatte, oft noch wütender machte. »Ich konnte kaum mehr schlafen, alter Freund. Und jetzt hast du dir ausgerechnet die behütete Nichte von Cilli gegriffen.« Er nahm einen großen Schluck von seinem Wein. »Allerdings frage ich mich schon, warum du Miklos auf einen Priester gehetzt hast? Früher war dein Vorgehen unauffälliger.«

Gábor verstimmte die Kritik mehr, als er sich anmerken ließ. »So war es nicht geplant. Ich glaubte, dass er seinen Groll auf die Kirche inzwischen besser unter Kontrolle hätte. Du kennst seine Vergangenheit. Dass er das Mädchen gebissen hat, war jedoch das Beste, das uns passieren konnte.«

»Ja, bemerkenswert, dass sie überlebt hat«, warf Michael ein. »Wie erklären sich die Leute in Buda ihr Verschwinden? Du hast dir hoffentlich was einfallen lassen.«

»Sie lag im Fieber, nachdem ein wilder Hund sie angefallen hatte. Bald wurde sie von Tollwut gepackt.« Gábor nahm nun auch einen tiefen Schluck aus seinem Weinbecher. »Wahnsinn und Schmerzen trieben sie in die Arme des Teufels, so dass sie in die Donau ging und dort ihrem Leben ein Ende setzte.«

»Das arme Ding.« Michael grinste. »Was sagt Cilli dazu? Sie gehörte schließlich zu seinem Gefolge.«

Gábor lächelte. Michaels zwangloses Verhör störte ihn nicht. »Er knirscht mit den Zähnen. Ihr Tod wird ihn aber nicht lange beschäftigen. Sie war mittellos, das Kind seines verarmten Halbbruders, und war ihm nur insoweit von Nutzen, dass sie die Gefährtin seiner Tochter war. Er hoffte wohl, sie irgendwann mit einem seiner Ritter verheiraten zu können, und hielt sie bis dahin in seiner Grafschaft unter Verschluss. Graf Hunyadi weilt noch bei ihm am Hof des Königs, er wird ihn schon besänftigen.«

»Glaubst du? Wenn einer es schafft, Cillis Laune noch tiefer sinken zu lassen, dann mein Schwager.« Michael grinste noch breiter. »Was weiß das Mädchen bis jetzt?«

»Sie weiß nur, dass sie als tot gilt und nicht zurückkann.« Gábor wurde ernst. »Sie darf nichts von der Prophezeiung erfahren.« Er sah Michael streng in die blauen Augen. »Auch von dir nicht. Erst muss sie lernen, ihre neuen Kräfte zu beherrschen. Wenn sie dann dem Bund und uns vertraut, sehen wir weiter.«

»Deine Entscheidung«, erwiderte Michael und zuckte betont gleichgültig die Schultern. »Solange sie nicht von Cillis Spitzeln entdeckt wird.«

»Du erkennst seine Spitzel so gut wie ich. Wenn einer hier auftaucht, werden wir ihn nicht aus den Augen lassen«, erwiderte Gábor. Er hatte bereits darüber nachgedacht. »Es ist jedoch mehr als unwahrscheinlich, dass einer von ihnen das Mädchen erkennt, so abgeschottet, wie sie in der Steiermark unter der Obhut der Gräfin Cilli gelebt hat. In den österreichischen Gestaden gibt es, wie du weißt, viele blonde Frauen, und ich gebe sie als die Tochter eines verstorbenen Kampfgefährten aus Kärnten aus. Sie wird nicht weiter auffallen.«

»Blond ist sie also, dein neues Mündel.« Michael schnalzte mit der Zunge. »Wie ist sie sonst so?«

Gábor überlegte. »Sie hat Angst, aber darüber hinaus scheint sie recht klug zu sein. Ich denke, dass sie bald lernen wird, mit ihrer neuen Rolle umzugehen.«

»Nein, du braver Mönch«, lachte Michael. »Ich meinte natürlich, wie sieht sie aus?«

»Ihr Aussehen?« Gábor stutzte, was Michaels Lachen noch lauter erschallen ließ. Er amüsierte sich jedoch aus den falschen Gründen. Gábor war sich durchaus im Klaren darüber gewesen, worum es seinem lüsternen Gegenüber ging. Was ihn zögern ließ, war die Tatsache, dass ihm Veronikas Äußeres deutlicher vor Augen stand, als er zugeben mochte.

»Sie ist eine Schönheit«, sagte er schließlich.

Michaels Lachen wich Erstaunen. »Wenn du sie so nennst, bin ich begierig, sie kennenzulernen.«

»Finger weg von ihr. Sie steht unter meiner Verantwortung, vergiss das nicht. Und sie ist für Höheres bestimmt als für dein Bett.«

»Schon gut.« Michael hob beschwichtigend die Hände. In seinen Augen blitzte jedoch der Schalk. »Ich werde sie nicht anrühren. Trink noch einen Schluck Wein, du bist ja ganz außer dir. Ich lass dir etwas zum Essen bringen. Erzähl mir, wann mein Schwager wieder hier auftauchen will, um etwas gegen die Mohammedaner zu unternehmen.« Seine Miene wurde unvermittelt dunkel. »Novo Brdo haben sie schon, und bald werden sie auch an Belgrads Türschwelle kratzen.«

 

Mehrere Tage vergingen, in denen Gábor hauptsächlich im Auftrag des Grafen Hunyadi in der Stadt unterwegs war. Vom Sieg über Novo Brdo angestachelt, trieben zahlreiche türkische Truppen im Südwesten Serbiens ihr Unwesen, ohne dass die Besatzungen der serbischen Grenzfestungen viel gegen sie ausrichten konnten. Immerhin hatten Michaels Boten inzwischen bestätigt, dass sich der Sultan und der Hauptteil des Heeres bereits wieder auf dem Rückweg Richtung Konstantinopel befanden. Doch es wäre leichtsinnig gewesen, dies als etwas anderes als eine Atempause zu betrachten. Belgrad musste sich gegen den Feind rüsten, bevor er wieder in Sicht kam. Daher hatte Gábor neue Pläne für eine Verstärkung der Festungsmauern mitgebracht, die er Michael bei einem Treffen der Stadtoberen offiziell übergab.

Er selbst kümmerte sich in den Tagen nach seiner Ankunft um den Fortgang der Waffenlieferungen. Er prüfte die Lager innerhalb der Festung und die Ausrüstung der Wachen an den Stadttoren, traf sich mit dem Hauptmann der Belgrader Stadtmiliz und ließ sich vom Zeugmeister der Festung die Schwarzpulvervorräte und Kisten mit Brandpfeilen zeigen, die in Hunyadis Auftrag gehortet wurden. Er begutachtete die Arbeit der deutschen Kanonengießer, die seit einigen Wochen in der Stadt weilten, um für teure Gulden fünf dieser Feuergeschütze herzustellen.

Und dann kam am Mittag des fünften Tages, Wochen früher als erwartet, ein Bote mit Hunyadis neuer Order: Gábor sollte zurück nach Buda reiten, wo der Graf ihn bei Verhandlungen am Königshof an seiner Seite wollte. Der greise Kalixt III., der vor wenigen Monaten in Rom zum Papst gewählt worden war, hatte in einem Schreiben an den ungarischen König zu einem neuen Kreuzzug gegen das Osmanische Reich aufgerufen. Er wurde unterstützt von den Venezianern. Die Republik Venedig war neben den Serben wohl vom Fall Novo Brdos am empfindlichsten getroffen worden, denn die Bergstadt mit ihren Gold- und Silbergruben hatte vielen venezianischen Kaufleuten als Stützpunkt gedient. Während Graf Hunyadi einen neuen Kreuzzug für unabdingbar hielt, um die Türkengefahr zu bannen, wehrten sich jedoch der ungarische König Ladislaus und sein Regent Cilli gegen diesen Vorschlag. Denn so ein Feldzug kostete Geld und Männer, und beides wollten sie nur ungern hergeben.

Gábor las dies alles in Hunyadis Brief und wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte, dem Befehl Folge zu leisten. Sein Dienstherr würde kein Verständnis haben, dass sein wichtigster Berater ihn wegen einer jungen Wolfsfrau im Stich ließ, die in seinen Plänen bisher keine Rolle spielte.

Er verbrachte die restlichen Stunden bis zum Abend damit, seinen Aufbruch vorzubereiten, dann machte er sich auf den Weg zu Veronika. Sein feines Gehör hatte ihm bereits zugetragen, dass ihre Anwesenheit für Klatsch unter Bediensteten und Rittern sorgte. Sie alle waren neugierig auf sein Mündel, das bisher nur wenige zu Gesicht bekommen hatten. Die Geschichte, die er über sie verbreiten hatte lassen, erwies sich als so glaubwürdig wie erwartet. Keiner kannte ihren mutmaßlichen Vater, Gábors Bekannten aus Kärnten, der vor wenigen Monaten im Kampf gegen die Türken an den Ostgrenzen gefallen war und ihn angeblich gebeten hatte, sich um seine Tochter zu kümmern. Das Interesse galt weniger dem toten Fremden, der als niedriger Landadliger ohne Familie wenig Gesprächsstoff versprach, sondern Gábor, der sich des Mädchens aus Mitgefühl angenommen hatte. Zu seinem Amüsement steigerte diese selbstlose Tat sein Ansehen. Sonst war er unter Hunyadis Gefolge eher als Einzelgänger bekannt, der sich wenig um anderer Leute Schicksal scherte. Jetzt musste er nur darauf vertrauen, dass Veronika klug genug war, sich ebenfalls an die erfundene Geschichte zu halten.

So viel er bereits über sie gesprochen hatte, so wenig hatte er sie in den letzten Tagen gesehen. Nur zwei Mal hatte er sie in den Abendstunden in ihrer Kemenate besucht. Zu allen Zeiten wachte sein Schüler Miklos in der Nähe ihrer Gemächer, der ihm allerdings von keinem Fluchtversuch berichten konnte. Das Mädchen hatte unter Miklos’ Aufsicht bereits die Festung, aber noch nicht die Stadt selbst besichtigt. Bei beiden Besuchen hatte Gábor sie jedoch an einem der Turmfenster vorgefunden, wo sie mit nachdenklichem Gesicht auf die Dächer hinunterstarrte.

Auch jetzt stand sie dort. Als er den Raum betrat, fuhr sie zu ihm herum. Ihre Augen waren grau wie der bewölkte Abendhimmel. Er sah die Unruhe der Wölfin in diesem Blick, und ihr dunkler Duft hüllte ihn ein wie kühler Nebel. Es war höchste Zeit für sie, sich wieder zu verwandeln.

»Heute Abend reiten wir aus.« Er hielt es wie meist nicht für nötig, sich mit Floskeln aufzuhalten.

»Wohin?«, fragte sie aufgeschreckt. Mit fahrigen Fingern strich sie über den Leinenrock, den sie trug. Gábor musterte sie unauffällig. Das grobe Linnen stand ihr gut, denn es betonte ihre Zartheit, und der schlichte Schnitt der Ärmeltunika ließ die sanften Linien ihrer Züge klar hervortreten. Er hob ruckartig sein Kinn. Es verunsicherte ihn, wie hübsch er sie in ihrer einfachen Kleidung fand. Vermutlich wurde es Zeit, dass sie wieder den Tand und Schmuck einer Adligen erhielt. Er selbst hielt nicht viel davon, doch vielleicht würde es ihr Mädchenherz erfreuen.

»Wir reiten hinaus in die Wälder«, erwiderte er. »Es ist Zeit für Eure Verwandlung.«

Sie seufzte. »Das habe ich befürchtet«, wisperte sie.

Er verharrte. Ihre Antwort gefiel ihm nicht, zeugte sie doch davon, dass sie ihre neue Natur immer noch ablehnte. Er hatte ihr zu wenig Gelegenheit gegeben, mit ihm über all das zu sprechen, was mit ihr geschah. Damit hätte er ihr die Anfangszeit erleichtern können, dachte er mit Bedauern. Doch nun war es zu spät.

»Ich reise morgen ab«, sagte er.

Ihre Augen weiteten sich. »Wohin wollt Ihr?«

»Zurück nach Buda. Mein Dienstherr braucht mich dort.« Er räusperte sich. Er mochte es nicht, sich erklären zu müssen, und der Blick aus ihren großen grauen Augen machte ihn nervös.

»Und was wird aus mir?« Sie richtete sich auf und kreuzte die Arme vor ihrer Brust. »Ihr habt mir noch nicht erklärt, was Ihr weiterhin mit mir vorhabt.«

»Ihr bleibt hier.« Er machte eine Geste, die sowohl das Gemach als auch Belgrad mit einschloss. »Wir haben bereits über Eure neue Identität gesprochen. Ihr wisst, welche Worte Ihr wählen müsst, wenn es um Eure Herkunft geht.« Er wartete, bis sie unmerklich nickte. »Michael Szilagyi, der Burghauptmann, wird sich um all Eure Belange kümmern«, setzte er hinzu. »Ich werde Euch morgen vor meiner Abreise vorstellen. Er ist ebenfalls ein Werwolf.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Er hat mich besucht.«

Gábor biss die Zähne aufeinander. Michael hatte also nicht auf seine Erlaubnis gewartet, um sich mit ihr bekannt zu machen. Er hätte es sich denken können. Veronika schien seinen Ärger zu spüren, denn sie senkte den Blick.

»Er war sehr höflich«, sagte sie leise. »Ich konnte sein Wolfsblut riechen, deshalb ließ ich ihn herein.«

»Das war gut so.« Gábor bemühte sich um einen besänftigenden Tonfall. »Wendet Euch an ihn, wenn Ihr Fragen habt. Er wird sich um Euch auch in den Nächten Eurer Verwandlung kümmern. Ich werde ihm Geld geben, das zu Eurer Verfügung steht. Ihr könnt einen Tuchhändler bestellen und einen Schneider, der Euch neu einkleidet. Außerdem habe ich einen Lehrer für Euch ausgesucht, der Euch Ungarisch beibringen wird. Es wird Zeit, dass Ihr die Sprache Eures neuen Heimatlandes lernt.«

»Heimatland«, wiederholte sie und wandte sich ab. Auf einmal verspürte er Mitleid mit ihr. Kurz fürchtete er, dass sie weinen würde. Doch als sie sich wieder umwandte, waren ihre Augen klar. »Ihr meint das wirklich ernst?« Sie stockte. »Ihr wollt, dass ich hier wohne wie eine Dame von Stand? Das entspricht kaum einem Leben als Gefangene.«

Er schüttelte unwirsch den Kopf. Sie hielt ihn immer noch für ihren Feind. »Ihr seid keine Gefangene, sondern mein Mündel. Ich bin für Euch verantwortlich. Doch ich lasse Euch Freiheiten, vielleicht sogar mehr, als Ihr in Eurem früheren Leben hattet. Ich erwarte nur, dass Ihr klug genug seid, mein Vertrauen nicht zu missbrauchen.«

Sie blinzelte, als wäre sie überrascht über seine Worte, doch sie erwiderte nichts. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Nicht zu wissen, was sie dachte, gab ihm das Gefühl, auf rohen Eiern zu balancieren.

»Es kam auch für Euch ungelegen, nicht wahr?«, fragte sie plötzlich. »Dass Euer Schüler mich gebissen hat. Ihr habt mich nicht aus Rachgier aus meinem Leben gerissen, sondern hierhergebracht, um meine neue Natur geheim zu halten. Ihr hättet mich auch töten können.« Sie verstummte und starrte ihn an.

Ihre Frage war ihm unangenehm. Veronika ahnte nichts von ihrer Einzigartigkeit, und so sollte es vorerst auch bleiben. »Zieht Ihr etwa den Tod Eurem neuen Leben vor?«, fragte er mit harter Stimme zurück.

»Nein!« Ihr Blick bohrte sich in seinen. Das sanfte Grau ihrer Augen verdunkelte sich, und plötzlich war es die Wölfin, die ihn aus den Tiefen ihrer Seele anstarrte. »Das dachte ich anfangs«, flüsterte sie. »Dass ich lieber den Tod wählen sollte, als der Kreatur unterworfen zu sein.« Sie schluckte. Gebannt sah er sie an. Und wie ein Licht kehrte das Himmelgrau in ihre Augen zurück. »Doch ich weiß jetzt, dass ich leben will, egal was noch auf mich zukommt!«