28. Kapitel

Buda, Frühsommer 1458

Die Wochen vergingen, ohne dass Gábor Veronika wiedersah. Er wusste wohl, dass Miklos sie besuchte und hin und wieder mit ihr jagen ging. Doch sie sprachen seit jenem Abend nicht mehr über sie. Gábor spürte, dass er Miklos mit seinen Worten zwar unterworfen, aber nicht überzeugt hatte. Er versuchte, meistens erfolglos, nicht weiter darüber nachzudenken. Seine Tage waren ohnehin prall gefüllt. Mit Mathias bereitete er dessen erste große Rede vor. Der König würde seine erste Ständeversammlung eröffnen.

Als der Tag da war, zog er in feierlichem Ornat in den großen Saal der Burg ein, gefolgt von seinen Beratern und Sekretären. Gábor sah sich wachsam um, musterte wie ein Leibwächter die zahlreichen Grafen und Barone, die sich aus dem ganzen Land eingefunden hatten.

»Den hier versammelten Bannerherren und Ständen Ungarns entbieten Wir Unseren königlichen Gruß«, begann der König. Die Ersten jubelten ihm zu, und schnell fielen andere mit ein. Doch einige standen weiterhin steif und mit strengen Gesichtern da. Sie galt es zu überzeugen, und Gábor hoffte, dass Mathias’ Worte dies vermochten.

Die Versammlung tagte bis in die tiefen Nachtstunden, beriet über die Geschicke des ungarischen Staates, über Steuererhebungen und die Gefahr durch die Türken. Am nächsten Morgen ging es weiter. Eine Woche dauerten die Gespräche, doch am Ende triumphierte Mathias und setzte viele seiner Anliegen durch.

So stimmten die Stände zu, als er einen neuen Palatin ernannte, den Erzkämmerer Guti-Orszag, den er in seiner Zeit als Gefangener zu schätzen gelernt hatte. Der alte Palatin Gara, der doch so gerne König geworden wäre und nun kein einziges Amt mehr innehatte, verließ Buda daraufhin wutentbrannt.

Außerdem hatte Mathias auf das Aufstellen eines neuen Heeres gedrungen. Bisher waren die Könige stets von den Aufgeboten des Adels abhängig gewesen, doch Gábor hatte Mathias den Rat gegeben, eigene, gut ausgebildete Söldnereinheiten aufzubauen. Bereits Johann Hunyadi hatte über solche Truppen verfügt, sie allerdings von seinem eigenen Reichtum bezahlt. Jetzt wollte der König dies auf Landesebene fortführen. »Bezahlt die Soldaten gut und regelmäßig, und sie werden Euch treu dienen«, hatte Gábor seinen Vorschlag erläutert. »So gewinnt Ihr ein schlagkräftiges Heer, ohne von den großen Adelsfamilien abhängig zu sein.« Die Stände feilschten in den Verhandlungen zwar um jede Summe, die ihnen dies an zusätzlichen Steuern auferlegte, doch da sie insgeheim froh waren, ihre leibeigenen Bauern damit sicher auf den Äckern zu wissen, stimmten sie am Ende ohne große Vorbehalte zu.

»Wenn Michael wüsste, wie gut ich mich behaupte«, flüsterte Mathias einmal Gábor zu, und in seinen Augen blitzte der Schalk. »Er würde vor Ärger einen Tobsuchtsanfall bekommen.«

Mathias wuchs immer mehr in sein Amt als König hinein und die Widerstände gegen ihn schwanden – bis Michael an einem Tag im Mai zurückkehrte. Kundschafter kündigten die Ankunft seiner Truppen an, und bald verbreitete sich deren Botschaft in der ganzen Stadt: Der Regent hatte in der Walachei siegreich gekämpft. Er hatte Graf Drăculea vom Thron gestoßen, mehr noch, er führte den Barbaren sogar als Gefangenen mit sich.

Gábor hatte die Nachricht schon einige Tage früher erhalten und auch Veronika benachrichtigen lassen, damit sie sich auf die Ankunft des Hausherrn vorbereiten konnte. Ihn erfüllte es mit Unruhe, dass Michael den gestürzten Woiwoden mitbrachte. Drăculea hatte im Kampf sterben sollen. Der Anspruch Ungarns auf die Walachei war durchaus rechtmäßig, und wenn Drăculea sich diesem unterworfen hatte, gab es keinen legitimen Grund für ein offizielles Todesurteil. Denn sie wussten zwar, dass er ein Verräter war, doch Beweise gab es dafür keine. Die Aussagen von Veronika und ein paar Roma würden vor Gericht niemals ausreichen. Was bezweckte Michael? Hatte er Beweise gefunden, die eine öffentliche Verurteilung Drăculeas ermöglichten?

Es war kurz vor Pfingsten und der frühe Sommer schenkte wunderbares Wetter. Der König beschloss, seinen Regenten im Freien zu empfangen. Und so wurden auf dem freien Platz vor seiner Burg, den sein Vorgänger Ladislaus noch hatte pflastern lassen, weiße Stoffzelte aufgebaut. Die Fahnen des Reiches und das Wappen der Hunyadis wehten über den Burgzinnen im Wind. Gábor, der es wie immer ablehnte, sich wie ein Pfau herauszuputzen, stand abseits und beobachtete die Vorbereitungen. Er sah Miklos, der sich zwischen den jungen Rittern herumtrieb. Obwohl er nur selten raufte, ging er auch keinem Kampf aus dem Weg und die jungen Männer schätzten ihn für seine starken Fäuste. Sein vernarbtes Gesicht war inzwischen in der ganzen Burg bekannt. Seit er eine Magd vor einem tobenden Pferd gerettet hatte, indem er das Tier mit Knurren und Schlägen vertrieb, glaubten die Bediensteten sogar, dass er Glück brachte. Gábor war sich darüber bewusst, dass es fast schon vermessen war, Miklos noch seinen Schüler zu nennen. Er hatte ausgelernt, das hatte bereits seine Berichterstattung aus Buda während der Königswahl gezeigt. Und trotz seiner unverbrüchlichen Treue zu Gábor hatte er inzwischen eine eigene Meinung, das hatte Gábor in ihrem Gespräch über Veronika nur zu deutlich erkannt.

Unter einem Zeltdach hatte sich der König auf seinem Thronstuhl niedergelassen, der eigens hier herausgeschafft worden war. Auf seinem Haupt trug er eine Krone, und er debattierte mit dem Palatin und einem Kämmerer, die ihm zur Rechten und Linken standen. Sogar die Gräfin Hunyadi weilte heute in der Stadt. Gábor sah ihr verkniffenes Gesicht auf der anderen Seite des Platzes, wo sie den Bediensteten barsche Befehle erteilte. Veronika war zu seinem Bedauern nicht hier. Miklos hatte ihm berichtet, dass sie lieber zu Hause blieb, um Michaels Heimkehr vorzubereiten. Oder bereitete sie gar ihre eigene Abreise mit den Roma vor? Wenn es so weit war, würde er sie davon abhalten müssen.

Am Nachmittag zog schließlich Michael in vollem Prunk in den Burghof ein. Seine Rüstung glänzte im Licht der Sonne, und sein blondes Haar war straff zurückgebürstet. Um die Schultern trug er seinen grünen Umhang, und auf die Decke seines Pferdes war in prachtvollen Farben das Wappen der Szilagyis eingestickt. Hinter ihm ritt, die Hände an den Sattelknauf gefesselt, der Gefangene. Die versammelten Menschen raunten, als sie den legendären Pfähler das erste Mal zu Gesicht bekamen.

Drăculea war von recht kleinem Wuchs, doch stämmig. Strähnig hing ihm das schwarze Haar über die Schultern, und schwarz waren auch seine Augen, mit denen er sich aufmerksam umschaute. Er ritt aufrecht, und das Kinn hielt er stolz gereckt, trotz der Fesseln und des einfachen schwarzen Gewands, in das ihn Michaels Männer gesteckt hatten. Der Kontrast zwischen seiner dunklen Gestalt und Michaels heller Pracht hätte nicht deutlicher sein können. Gábor wusste, dass dies Michaels Absicht war. Der Regent stieg vom Pferd. Drăculea wurde an seinen Fesseln hinter ihm hergezerrt. Beide Männer gingen vor dem König auf die Knie. Gábor postierte sich an der Rückwand des Zeltes, um alles verfolgen zu können. Obwohl die Leute dichtgedrängt standen, machten sie ihm respektvoll Platz.

»Euer Majestät«, tönte Michael. »Hier bringe ich Euch wie befohlen den Christenverräter, damit Ihr ihn seiner gerechten Strafe zuführen könnt.«

Die Leute brachen in Hochrufe aus. Gábor knirschte mit den Zähnen. Wie befohlen, dass er nicht lachte. Michael wusste genau, dass der König keinen Gefangenen gewollt hatte. Michael schien Gábors Zorn zu spüren, denn seine Augen wanderten suchend über die Köpfe der Anwesenden. Dann fanden sich ihre Blicke, und für einen Augenblick hing ihre gegenseitige Abneigung wie eine Drohung zwischen ihnen in der Luft. Ihre Wölfe waren sich ebenbürtig, und einst waren sie Brüder gewesen, doch die beiden Menschen trennte inzwischen mehr als nur ein Königsmord.

»Habt Dank, verehrter Onkel«, sagte Mathias, und wo die Stimme seines Onkels dunkel und dröhnend war, da klang seine klar und bestimmt. Er beugte sich vor, und trotz all seines Misstrauens war sein Blick voller Neugier. »Ich bitte Euch, berichtet uns von Eurem Kampf in der Walachei.«

Michael richtete sich auf. Weitschweifig begann er zu erzählen. Gábor hörte nur mit halbem Ohr zu. Die martialische Schlacht gegen Drăculeas Truppen, die Belagerung seiner Burg in Tergowisch, und schließlich die Gefangennahme. Die Erzählung war gespickt mit Übertreibungen und Ausschmückungen, die nur dazu dienten, dem Publikum zu gefallen. Gábor spitzte erst wieder die Ohren, als Michael sagte: »Und als Beweis für den schändlichen Verrat des Grafen Vlad Drăculea bringe ich Euch diesen Brief, den meine Männer während der Belagerung abfangen konnten. Damit hoffe ich, Eurer Majestät zur Zufriedenheit gedient zu haben.«

Wieder jubelten die Leute ihm zu, während er das Dokument in Mathias’ Hände gab. Gespannt sah Gábor zu, wie das Papier diskret vom König zu seinem Sekretär wanderte. So bald wie möglich würde er dafür sorgen, dass er es zu lesen bekam.

Michael schien glänzender Laune zu sein. Schließlich war er siegreich zurückgekehrt, die Leute liebten ihn dafür, und es würde schwer sein, ihm seine Macht streitig zu machen. Doch Gábor lächelte ebenfalls. Inzwischen würde es Michael wesentlich schwerer haben, Einfluss auf die Regierung des Königs zu nehmen, als noch vor drei Monaten.

 

Als Gábor die Königsburg verließ, dunkelte es bereits. Er war auf dem Weg zum königlichen Heermeister. Der Mann hielt sich am Nordtor Szombat Kapu auf und koordinierte die Verpflegung und Unterkunft von Michaels Truppen. Es waren nur noch wenige tausend, denn die meisten Männer, gepresste Bauern und Leibeigene, waren schon einige Tagesmärsche vor Buda aus den Diensten entlassen worden, damit sie sich auf den Rückweg in ihre Heimat machen konnten. Diejenigen, die sich nun in Buda aufhielten, heimatlose Söldner zumeist, zogen feiernd durch die Straßen.

Er kannte den Heermeister noch aus den Zeiten Johann Hunyadis. Er war ein vertrauenswürdiger Mann, der sein Handwerk verstand. Deshalb wollte er sich mit ihm in Ruhe über den Ablauf des Feldzugs unterhalten, denn Michaels euphorischen Schilderungen glaubte er nicht ganz.

Er folgte einigen Gassen nach Norden, genoss die Bewegung, das Gefühl, wie sich seine Muskeln nach einem langen Tag lockerten. Zu viel saß er herum, und sein Wolf war unruhig. Morgen Nacht war Vollmond, und da würde er schon in der Abenddämmerung hinausreiten in die Wälder, das hatte er sich selbst versprochen. Seine Finger zuckten beim Gedanken an die Jagd.

Er freute sich auch auf die Einsamkeit der Wälder. Für seinen Geschmack waren heute Abend einfach zu viele Leute auf den Straßen unterwegs. Die trinkfesten Budaer Bürger nahmen die Rückkehr des Regenten als Anlass, um ein Bier mit den Truppen zu heben. Gastwirte und fliegende Händler frohlockten beim Anblick der Münzen, die den Söldnern nach siegreichem Kampf locker in der Tasche saßen. Gábor stieg über zwei besinnungslose Halbwüchsige hinweg, die bereits zu viele Krüge geleert hatten. Ein Stück weiter flohen drei angemalte Weiber fröhlich kreischend vor einem Pulk betrunkener Söldner.

Er kam an einer Herberge vorbei, wo sich die Dünste von Alkohol, Erbrochenem und Urin zu einer ekelhaften Mischung vereinten. Er atmete nur flach, als der Wind plötzlich einen neuen Geruch zu ihm herüberwehte. Es war der schwache Duft eines Wolfs. Unauffällig sog Gábor Luft durch die Nase ein. Der Mann war zu weit entfernt, um ihn zu identifizieren.

Langsam ging Gábor weiter. Das Gedränge wurde dichter. Und da war er wieder, der Geruch, wie eine schwache Fährte. Jetzt hatte er Gewissheit. Er wurde von einem Werwolf verfolgt, dem er noch nie zuvor begegnet war. Es hatte nicht viel Zweck, sich umzuschauen, denn der Mann wäre sicher wachsam und würde sofort fliehen, wenn er Gábors Verdacht erkannte. Langsam schob sich Gábor zwischen den Menschen hindurch. Er wich einem Ochsengespann aus und sprang zur Seite, um nicht vom Dreck getroffen zu werden, den die Räder aufwühlten.

Dort vorn konnte er schon das Nordtor sehen, durch das die letzten Wagen des Tages gewinkt wurden, ehe die Nachtglocke ertönte und die Tore geschlossen würden. Da war auch der Heermeister, der mit seinen Schreibern inmitten einer Gruppe von augenscheinlich nüchternen Soldaten stand. Gábor zögerte. Er konnte den fremden Werwolf nicht länger ignorieren, er musste wissen, warum er sich an seine Fersen geheftet hatte. Das Gespräch mit dem Heermeister musste warten. Er behielt einen neutralen Gesichtsausdruck bei und bog in eine der Seitengassen ab. Er würde seinen Verfolger aus dem Schutz der Menschenmenge führen, in eine einsamere Gegend, wo er ihn festnageln konnte. Erneut sog er die Luft ein, dann lächelte er geringschätzig. Der Werwolf, der ihm folgte, war nicht annähernd so dominant wie er selbst. Nach einem flüchtigen Blick über die Schulter verließ er die Gasse und betrat das Labyrinth der Hinterhöfe. Hier gab es keine Fackeln und Talglichter, nur das Licht des fast vollen Mondes prickelte auf seiner Haut.

Schweine lagen dösend neben Misthaufen, Brennholz stapelte sich zwischen alten Karren, Hühner gackerten leise. In einem Schatten kicherte ein Liebespaar, ohne ihn zu bemerken. Er umrundete Latrinengruben, schlich durch die schmalen Pforten, die die Höfe miteinander verbanden, vorbei an Brunnen, verkrüppelten Apfelbäumen und Schutt. In einigen Höfen wucherten Anbauten aus morschem Holz und gemörteltem Ziegel an den Hauswänden empor. Er hörte die Bewohner dieser kümmerlichen, fensterlosen Hütten schnarchen. Aus anderen Häusern drang Kerzenschein. Fensterläden wurden trotz der milden Luft zugeschlagen, denn das Licht des Vollmonds galt als Hort von Geistern und Dämonen, die Kinder aus ihren Betten stahlen und Eheleute zu Unzüchtigkeiten trieben.

Gábor stahl sich weiter und lauschte dabei auf die Schritte seines Verfolgers. Er grinste. Der Mann war ungeschickter, als er gedacht hatte. Obwohl mehr als ein Hof Abstand zwischen ihnen lag, waren seine Schritte deutlich zu hören.

Jäh blieb er stehen. Sein Wolf richtete sich wachsam auf. Etwas hatte sein Misstrauen geweckt. War es ein Geruch, ein Geräusch? Rasch sah er sich um. Er stand im Hinterhof einer Taverne. Das Grölen betrunkener Söldner klang aus den Fensterluken. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Das Gackern der Hühner war verstummt. Ein Hund in einem Nachbarhof jaulte auf und war dann still.

Gábor wandte sich dem Hinterausgang der Taverne zu, doch die Tür wurde aufgestoßen, ehe er dort war. Zwei Schatten kamen auf ihn zu, ein anderer trat durch die Pforte rechts von ihm. Als Letzter kam auch sein Verfolger heran, ein blasser Kerl mit der dienstbeflissenen Miene eines Mannes, der seinen Auftrag erledigt hatte.

Gábor sog die Luft ein und fluchte lautlos. Da mokierte er sich über die Dummheit eines anderen und war selbst wie ein Anfänger in die Falle getappt.

»Wen haben wir denn da.« Grinsend trat einer der Werwölfe näher.

Von seinem Verfolger abgesehen, kannte Gábor ihre groben Gesichter, ihren scharfen Geruch nach Schweiß und Mensch. Es war Michaels Rudel, das Gábor umringte.

»Was treibst du dich in unserem Revier herum?«, redete der Werwolf weiter und strich sich über den verfilzten Bart.

Gábor zog die Augenbrauen hoch. »Dieser Hinterhof ist euer Revier? Wie passend. Ich dachte mir schon, dass ihr euch zwischen Latrinengruben wohl fühlt.« Er verschränkte die Arme. Er durfte keine Schwäche, keine Angst zeigen. Sein Wolf behielt die Gegner wachsam im Blick. Einzeln waren sie ihm alle vier unterlegen. Doch als Gruppe konnten sie ihm gefährlich werden, und das wussten sie auch.

»Du hast eine Abreibung verdient, weil du unserem Rudelführer ständig auf die Nerven gehst.« Ihr Wortführer ballte die Fäuste. Seine Brüder taten es ihm nach. Immer näher rückten sie an Gábor heran. Er sah die Wölfe in ihren Augen tanzen wie schwarze Lichter.

Er fletschte die Zähne. Und da roch er es, den dunklen Geruch eines weiteren Werwolfs, schwach erst, doch schon im nächsten Moment hüllte er ihn vollständig ein. Pavel trat aus dem Hinterausgang der Taverne.

Sein Erscheinen ließ alle Wölfe erst vor Furcht erstarren und dann unterwürfig die Köpfe senken. Auch Gábor kam nicht gegen seinen Instinkt an und krümmte die Schultern. Allerdings bemühte er sich, nicht den Blick zu senken.

Pavel trug sein altes Waffenhemd und ein Schwert am Gürtel, doch das brauchte er nicht. »Da komme ich ja gerade noch rechtzeitig.« Seine Stimme schnitt so kalt durch die Luft, dass zwei der Männer aufjaulten. »Kaum ist euer Ältester tot, wollt ihr raufen wie tollwütige Hunde. Verschwindet«, zischte er, »los!«

Die Männer schlichen davon. In Wolfsgestalt hätten sie wohl ihre Schwänze eingekniffen, in ihrer Menschenform humpelten sie, tief gebückt vor Ergebenheit.

»Du bleibst.« Pavel fixierte Gábor mit stählernem Blick. »Und erklärst mir, was hier los ist. Wolltest du dich mit diesen Kindern prügeln?«

Gábor atmete erleichtert aus. Als Pavel plötzlich auftauchte, hatte er sich gefragt, ob der Älteste etwas mit diesem Hinterhalt zu tun hatte.

»Sie haben mir aufgelauert«, erwiderte er. »Michael und ich sind momentan nicht die engsten Freunde.«

Pavel schnaubte. »Unter anderem deshalb bin ich hier. Es wird Zeit, dass hier wieder Ordnung einkehrt. Ich wohne mit meinen Männern in der Taverne zum Goldenen Horn. Vor dem letzten Glockenschlag erwarte ich dich und deinen Schüler dort. Michael wird ebenfalls da sein.«

 

So spät herrschte in der Taverne kaum mehr Betrieb. Nur noch wenige ließen ihre Bierkrüge füllen, so kurz bevor die Kirchglocken ein letztes Mal schlugen und nur noch Tunichtgute auf den Straßen unterwegs waren und den Patrouillen der Nachtwächter auswichen. Gábor sah den misstrauischen Blick des Wirts, als er durch die Gaststube ging, dicht gefolgt von Miklos. Sie rochen die Fährte der anderen und folgten ihr zu einem Hinterzimmer. Pavel und ein paar seiner Männer saßen bereits, als sie eintraten, und sahen ihnen aufmerksam entgegen.

Ein Bierfass stand auf dem Tisch. Keiner schien allerdings große Lust aufs Trinken zu haben. Es lag eine Schwere in der Luft wie vor einem Gewitter, so durchdringend, dass es wahrscheinlich sogar die Menschen spürten. Bestimmt hatte der Wirt vom Goldenen Horn in den letzten Stunden ein schlechteres Geschäft gemacht als seine Konkurrenten.

Mit einem kurzen Gruß ließen Gábor und Miklos sich nieder, und da kam auch schon Michael herein. Polternd warf er die Tür hinter sich zu. Keiner sagte etwas. Michael sah stirnrunzelnd in die Runde und strömte dabei rohes Machtbewusstsein aus, das einen weniger disziplinierten Ältesten als Pavel sicher herausgefordert hätte. Immer wieder sah Michael auch zu Gábor hinüber, doch der ignorierte ihn, so gut es ging. Sein eigener Wolf ließ sich gut bändigen, da er wusste, dass ihm akut keine Gefahr drohte. Pavel war nicht hier, um zu kämpfen, sondern um zu reden.

Endlich ließ sich Michael nieder, und mit einem grollenden Atemzug brach Pavel die Stille. »Ich dachte, dass ihr euch nach Viktors Tod bei mir meldet.« Er verschränkte die Arme. »Doch ihr hattet wohl zu viel mit euren Streitereien zu tun. Also musste ich herkommen, und das gefällt mir gar nicht.«

Unwillkürlich senkten Gábor und Michael ihre Blicke.

»Ich bin in Podiebrads Auftrag auf dem Weg nach Osten«, fuhr Pavel fort. »Er hat einen Vertrag mit Stephan von Moldau geschlossen, um das Grenzdreieck zwischen Moldau, der Walachei und dem Osmanischen Reich gegen die Türken zu sichern. Immer wieder kommt es dort zu Kämpfen. Meine Männer und ich werden in Isaccea eine neue Grenzfestung errichten und für ein Jahr nach dem Rechten sehen.« Seine Stimme war sachlich und bestimmt. Er wandte sich an Michael. »Drăculea ist wahnsinnig und eine Gefahr für die Werwölfe. Ich frage mich, warum du ihn nicht gleich beseitigt hast.« Seine Habichtaugen musterten Michael.

Auch Gábor sah zu Michael hinüber, gespannt auf dessen Antwort.

Der blonde Riese zuckte etwas linkisch mit den Achseln. »Umbringen können wir ihn immer noch«, murmelte er. »Ein öffentlicher Schauprozess wird Mathias als König stärken.«

Gábor zog die Augenbrauen hoch, doch er schwieg. Michael hatte es nicht einmal für nötig befunden, den Brief, der Drăculea des Verrats überführte, auf seine Echtheit zu überprüfen. Gábor hatte dem König geraten, vor dem Prozess eine Gruppe von Schriftgelehrten damit zu betrauen.

Pavel wischte Michaels Antwort wie eine lästige Mücke weg. »Das nächste Mal fragst du mich vorher«, stellte er kühl fest. »Ihr werdet mir heute Abend den Eid leisten, um ein Teil meines Rudels zu werden.«

»Nein«, sagte Gábor.

Das Wort hing in der Luft wie eine Drohung. Knurrend sahen die Wölfe aus den Augen der Männer zu Gábor hinüber. Er richtete sich auf. Er fürchtete Pavel, doch er konnte ihn unmöglich als seinen neuen Rudelführer akzeptieren.

»Ich auch nicht.«

Völlig überrascht fuhr Gábor zu Michael herum. Der Regent saß ebenso aufrecht da wie er. Seine blauen Augen funkelten.

Keiner regte sich, bis Pavel den Kopf in den Nacken legte und in ein heiseres Bellen ausbrach. Gábors Nackenhaare sträubten sich. Er brauchte einen Augenblick, um Pavels Bellen als Lachen zu identifizieren. Die Werwölfe am Tisch entspannten sich, doch so vermessen war keiner, in Pavels Lachen einzustimmen.

»Ihr seid unverbesserlich«, rief Pavel. »Viktor ist seit Monaten tot. Kein neuer Ältester hat sich in seinem Rudel gefunden. Glaubt ihr wirklich, daran ändert sich noch etwas?«

Darum ging es Gábor nicht, doch er hielt den Mund.

Michael allerdings nickte. »Lass mir noch Zeit, bis du vom Feldzug zurück bist, Pavel«, forderte er kühn. »Wenn sich bis dahin an meiner Stellung nichts ändert, werde ich dir den Eid leisten. Doch ich denke«, sein Blick wurde höhnisch, als er zu Gábor hinüberschaute, »dass mancher noch eine Überraschung erleben wird, die ihm nicht gefällt.«

Gábor konnte nicht glauben, was er in Michaels Miene las. Er war tatsächlich so überheblich zu glauben, das Schicksal würde ihn doch noch zu Viktors Nachfolger küren. Er konnte ein Kopfschütteln kaum unterdrücken.

»Also gut.« Pavel verschränkte die Arme. Immer noch schien er belustigt zu sein. »Bis dahin habt ihr beide Zeit. Und du, Miklos«, er schaute zu dem Jungen hinüber, »ich gehe davon aus, dass deine Treue zu Gábor dich ebenfalls davon abhält, mir den Eid zu leisten?«

Miklos nickte.

Pavel schüttelte schroff den Kopf. »Was für eine Verschwendung deiner Fähigkeiten.«

Ein kurzes Schweigen trat ein, in dem Gábor hundert Gedanken durch den Kopf schossen. Weder Pavel noch Michael würde er jemals einen Eid leisten, das wusste er so sicher wie er wusste, dass auf jeden Tag eine Nacht folgte. Doch Werwölfe ohne Rudel durften innerhalb des Bundes nicht existieren. Er musste eine Lösung finden, für sich und Miklos.

»Nun denn.« Pavels Blick wurde stechend. »Bevor ich mich auf den Weg mache, muss ich dafür sorgen, dass ihr euch nicht gegenseitig die Köpfe einschlagt.« Er wandte sich an Michael. »Halte dein Rudel gefälligst im Zaum.« Er schnaubte. »Vier Mann habe ich gezählt, einen mehr als in Belgrad. Viktor mag deine Eigenmächtigkeiten geduldet haben, doch ich nicht. Keine weitere Vergrößerung deines Rudels, keine Überfälle mehr auf Gábor, hast du verstanden?«

Michael nickte grimmig. Pavel wartete keine Erwiderung ab. »Und nun zu dir.« Seine gelben Augen bohrten sich in Gábors Gesicht. »Dein Mündel ist inzwischen wieder in Buda, habe ich gehört. Sorg dafür, dass sie die Prophezeiung erfüllt. Wir haben lange genug darauf gewartet.« Als Gábor etwas erwidern wollte, hob er die Hand. »Keine Rücksichten auf die Launen eines Weibs. Nächstes Jahr werden die Böhmen Podiebrad zum König wählen. Wenn die Kleine bis dahin nicht Mathias’ Lager geteilt hat, werde ich sie mit nach Prag nehmen. Podiebrad wird nicht so zimperlich sein.«

Gábor holte tief Atem, dann nickte er. Pavel hatte recht. Er hatte sich lange genug vor der schmerzvollen Aufgabe gedrückt. Selbst Mathias hatte ihn bereits mehrmals nach Veronika gefragt.

»Vielleicht kann dir Michael helfen«, fuhr Pavel fort. Seine Stimme klang spöttisch. »Zu zweit werdet ihr das wohl hinkriegen.«

Gábor sah zu Michael hinüber, doch der schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Gábor hoffte zumindest, dass es so war. Es reichte ihm schon, dass Pavel ihm den Dolch auf die Brust setzte, er brauchte nicht auch noch Michaels Unterstützung dabei.

»Miklos.« Zu ihrer aller Überraschung wandte sich Pavel jetzt an den Jungen, der noch kein Wort gesagt hatte. »In Belgrad konnte ich sehen, wie tapfer du kämpfst.«

»Danke.« Miklos errötete vor Freude über das Kompliment.

Pavel musterte ihn. »Ich brauche noch zwei starke Hände in Isaccea. Ich will, dass du mich begleitest.«

»Ich …« Miklos zögerte und sah zu Gábor hinüber.

Gábor sah, dass Miklos unsicher war, aber auf diesen Gedanken nicht vollkommen ablehnend reagierte. Er selbst wollte den Jungen nicht gehen lassen, er traute Pavel nicht. Doch wenn ein Ältester um Begleitung bat, kam eine Ablehnung einer tödlichen Beleidigung gleich.

»Geh mit ihm«, sagte er also und nickte Miklos aufmunternd zu. »Sieh zu, dass du von Pavel etwas lernst.«

Unter dem Tisch krampfte er die Hände zusammen. Pavel wollte ihn in die Enge treiben. Mit Miklos raubte er ihm den letzten Verbündeten. Doch wenn es darüber hinausging, wenn dem Jungen etwas zustieß … bei Gott, dann würde er den Ältesten umbringen.