21. Kapitel
Veronika strich vorsichtig über das vergilbte Papier. Es war eine Abschrift der fünfhundert Jahre alten Aufzeichnungen eines deutschen Mannes namens Adalbert, der Mönch und Werwolf zugleich gewesen war. Wie oft hatte sie die Worte schon gelesen? Sie wusste es nicht.
Es war natürlich nur ein Zufall, dass der Text in Deutsch, in ihrer Muttersprache, verfasst war, doch manchmal kam es ihr so vor, als hätte Adalbert seine Erinnerungen nur für sie niedergeschrieben. Und hatte er das im Grunde nicht auch?
Erneut glitten ihre Augen über die Zeilen, so begierig wie beim ersten Mal, als könnte sie ihr Geheimnis lüften, wenn sie sie nur oft genug las.
Es betrug sich am Dreykoenigsfest im Jar 955 unseres Herrn, auf der Via Francigena, dem heyligen Pilgerweg nach Rom ueber di Alpen.
Wir erreychten das Kloster der frommen Weyb von Antremont am Fuß des Bergpaßes, den di Leut seit alter Zeyt den Penninus nennen.
Di Wolk hingen ganz schwarz und schwer ueber dem Berg, so gedachten meyne zwey Moenchbrueder und ich hir zu rasten.
Zu Hauf standen di Schwestern beysamm, uns zu begrueßen.
Di Oberin gab uns Obdach in eyner Scheun. Wir waren zufriden, eyn trocken Bett aus Stro zu haben, da Blitz und Donner und Gottes Gewalt aufs Land niderfur.
Spaet des Nachts weckte uns ein Schrey, der uns durch Seel unt Menschengebeyn ging. Di Oberin schickte nach Marius, meynem Bruder, der besaß die Weysheyt eynes Medicus. Doch auch Bruder Gotzin und ich warden von Neugir gepackt, unt so eylten wir alle drey ins Dormitorium. Dort versammelten sich die Brautweyb Christi um das Lager irer Schwester, di sich in Kraempfen wandt.
Si war jung, doch weyßer als der Tod war ir Antlitz, unt ire Augen traten weyt aus den Hoelen. Agnes war ir Name. Di Oberin sagte: Seyt Agnes eyn Magdelein ist, kommt der Herr ueber si, und si spricht mit Seyner Zunge.
Wir schickten di Weyber hinaus, nur di Oberin blib. Marius liß Agnes zur Ader, unt Gotzin gab ir de letzte Oelung. De Oberin war vor Forcht um das Weyb erstarrt. So stark beutelte Seyne Kraft Agnes, daß wir forchten iren Todt.
Wir saßen an irem Lager, bis ire Kraempfe nachlißen. Agnes schloß di Augen und tat eynen tifen Atemzug. Wir dankten Gott mit eynem Pater Noster for ire Errettung. Da fur si empor und packte Bruder Gotzin.
Von eynem Wulf schri si so laut wie nur unser Herrgott am Kreutze selbst. Unser Herzen gefroren vor Forcht. Woher wußt das Weyb um unsere zweyte Gestalt?
Brueder, forcht Euch nit, sprach si aber und redet vom Wulf als iren Freund. Ire Stimme war so leyse, daß nur wir Wariwulf si verstanden. Der Herr ruft mich zu sich, sagte das Weyb. Unt er ist meyne Gnade. Ir aber werdet nach Sueden reysen, um fremden Herren dort zu dinen. Hoert, was er sagt, hoert meyne Wort. Ire Stimme war weyse und ir Antlitz so liblich wie eyn Engel.
Das ist, was Agnes sprach:
Das Magdelein wird von hoher Geburt seyn und eyn rotes Mal tragen, an dem ir es erkennt. Si wird unberuehrt seyn unt von zwey Gestalten wi eyn Wariwulf. Si hat eyn Willen, der selbst den Aeltesten nit gehorchen muß. Nur eyn Mann mit koeniglich Blut darf iren Leyb besteygen. Dann wird si eyn Kind gebaern, das wird zwey Seelen haben. Eyn Kind wirds seyn, das di Welt unt alle Mensch aus der Verdammnis retten kann.
Agnes zitterte wi im Fiber unt ire Finger borten sich in Gotzins Arm. Dann schri si laut unt sank zurueck. Ir Atem war erloschen. Nur ir Leyb blib zurueck, damit ire Schwestern sich darum sorgten.
In jener Nacht schlufen wir nit. Wir beschlossen, zu beschreyben was Agnes sagte, for alle Brueder des Wariwulf. De Rudel in ferner Zeyt koennen vileycht erkennen, wann das Magdelein kommt, das Agnes prophezeyt. Denn di Wahrheyt irer Heyligen Prophezeyung beschwoeren wir mit Gewißheyt. Agnes war eyne warhafte Braut Christi, di unsere Wulfsherzen erkannt hat.
Nachdem Veronika die Worte Adalberts das erste Mal gelesen hatte, hätte sie das Papier am liebsten in tausend Fetzen gerissen. Stattdessen hatte sie es mit zitternden Fingern zur Seite gelegt und war in Tränen ausgebrochen. Es waren Tränen der Verzweiflung, denn sie konnte nun kaum mehr daran zweifeln, dass die Prophezeiung echt war. Gott hatte zu jenen drei Wolfspilgern gesprochen, und die Weissagung wartete seither auf ihre Erfüllung. Und nun traf alles, was Agnes über die auserwählte Frau gesagt hatte, auf Veronika zu. Konnte sie es wirklich wagen, sich gegen Gott zu stellen, der ihr diesen Weg zugedacht hatte? Doch bald war ihre Wut mit geballter Kraft zurückgekehrt. Sie wollte dieses Kind nicht. Gábor hatte sie betrogen und belogen, er sah nur ein Werkzeug für den Bund in ihr. Und Viktor verhielt sich nicht besser als er. Niemals würde sie dem Bund nachgeben und ihren Körper feilbieten, als sei er eine Ware!
Es war allerdings schwer, Viktors Kraft etwas entgegenzusetzen. Sie dachte an jenen Tag zurück, als sie den Ältesten das erste Mal getroffen hatte. Drei Monate waren seitdem vergangen, doch ihr kam es vor, als wären es nur wenige Wochen gewesen. Vielleicht, weil sich seitdem die Tage so eintönig aneinanderreihten wie die Holzperlen eines Rosenkranzes.
»Ich werde die Prophezeiung niemals erfüllen«, hatte sie hervorgestoßen, obwohl sie aus Angst vor Viktor geschlottert hatte. Es waren ihre ersten Worte zu ihm, sie war erst vor wenigen Augenblicken bei den Höhlen des Sfântul Munte, des Berges, in dem Viktor lebte, angekommen.
Er musterte sie wortlos.
Sie dachte, dass er tatsächlich wie ein Mönch wirkte, ein alter Eremit, der gottgefällig und bescheiden lebte. Nur ein Hanfstrick hielt die braune Kutte um seine mageren Hüften zusammen. Seine Füße waren nackt, als spürte er niemals die Kälte des Bodens.
Sie fand jedoch, dass seine Hände sein wahres Wesen verrieten. Sie erschienen ihr viel größer, als es seinem schmalen Körper angemessen war. Knotige Gelenke ließen die Finger wie Äste im Wind aussehen. Sie waren uralt, diese Hände, genauso alt wie ihr Besitzer. Trotz ihrer sparsamen Bewegungen täuschten sie keinen Augenblick über die Kraft hinweg, die sich in ihnen verbarg. Sie spürte seine Stärke körperlich wie einen Eissturm, spürte, wie ihre Wölfin den Kopf einzog und sie zwingen wollte, sich vor ihm zu verbeugen. Wenn es nach ihr ging, würde sie dem Ältesten wohl nur auf diese unterwürfige Weise begegnen. Widersprich ihm nicht, er ist der Leitwolf.
Es kostete Veronika alle Kraft, sich gegen ihre Wölfin durchzusetzen. Er sollte sie von der Prophezeiung freisprechen, und das würde er nicht tun, wenn sie Schwäche zeigte. Obwohl ihr der Schweiß über den Rücken rann, hielt sie Viktors Blick stand.
Irgendwann schüttelte er den Kopf. »Du bist zu aufgewühlt«, sagte er, und sein Tonfall war weder anklagend noch böse. »Du wirst klarer sehen, wenn du deine Vergangenheit hinter dir lässt.«
Ihre Vergangenheit? Wut stieg in ihr auf und vertrieb alle Angst. Fast hätte sie gelacht. Hatte sie nicht bereits alles hinter sich gelassen? Ihre Familie? Ihre Menschlichkeit? Ihr Rudel? »Ich sehe bereits klar«, zischte sie. »Ihr werdet mich niemals überzeugen.«
Er sah sie weiter an, dann blinzelte er, und sie vermeinte in seinen blauen Augen zu lesen, dass er amüsiert war. Er nahm sie nicht ernst! Wütend war sie davongestapft, bis sie ein kleines Plateau erreichte. Dort überlegte sie, was sie jetzt tun sollte.
Als Viktor einige Zeit später zu ihr kam, hatte sie noch keine Antwort gefunden. Ohne viele Worte bot er ihr eine eigene kleine Höhlenkammer an, in der sie wohnen sollte, und da sie nicht wusste, wo sie sonst hingehen sollte, fügte sie sich seinem Wunsch. Am nächsten Morgen hatte sie neben ihrem Bettlager ein Bündel alter Dokumente vorgefunden. Viktor musste in der Nacht hereingeschlichen sein, so geräuschlos, dass sie nicht aufgewacht war. Dieser Gedanke hatte ihr ganz und gar nicht gefallen – und dabei war es nur der erste Beweis seiner unheimlichen Kräfte gewesen.
In den nächsten Wochen las sie sich durch die Schriften, beharrlich und voller Neugier. Pergamente aus Tierhaut fand sie darunter, die aus Zeiten stammten, in denen es noch kein Papier gab, vergilbte Schriften, bedeckt mit der Geheimschrift der Wölfe. Sie enthielten Mutmaßungen und Notizen späterer Werwölfe, die sich allesamt um die Prophezeiung drehten. Manches konnte sie kaum entziffern, und doch hatte sie sich hindurchgearbeitet, vieles mehrfach gelesen, begierig hoffend, auf etwas zu stoßen, das ihre Weigerung bekräftigte. Bisher hatte sie sich jedoch vergeblich bemüht.
Veronika seufzte und richtete sich auf. Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Die Kerze flackerte und tauchte die Felswände in einen gelblichen Schein. Quarzadern glitzerten darin wie Edelsteine. Draußen war tiefste Nacht, doch hier in den Höhlen gab es weder Sterne noch Sonne, und so waren es die Menschen, die mit ihren kargen Hilfsmitteln bestimmten, wann sie Licht oder Dunkelheit brauchten.
Sie gähnte, doch sie war sich sicher, dass sie heute Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Unschlüssig sah sie sich um, sah das Strohlager, die Truhe, in der ihre wenigen Habseligkeiten schlummerten, und den grob behauenen Tisch, an dem sie saß. Vorsichtig nahm sie die Kerze, die bis auf einen kleinen Stumpen heruntergebrannt war. Sie duckte sich und schritt hinaus in den niedrigen Gang, der ihren Höhlenraum mit den anderen verband. Obwohl sie sich tief im Fels befand, war die Luft trocken und angenehm. Nach zwei Biegungen spürte sie einen kühlen Windhauch und wenig später erreichte sie auch schon die Felsöffnung. Sie ließ die Kerze in einer Wandmulde zurück und kletterte durch das enge Loch hinaus.
Über ihr breitete sich der Sternenhimmel so jäh aus, dass ihr fast schwindlig wurde. Sie setzte sich auf einen Stein und sah nach oben, sog die Weite in sich ein, bis ihr Herz ein wenig leichter wurde.
Vor ihr fiel der Berg sachte ab. Heidekraut bedeckte die von Felsen durchlöcherte Wiese, dazwischen krümmten sich verkrüppelte Kiefern, die sich an den Hang drückten, als würden sie vor der Witterung Schutz suchen. Unten im Tal breitete sich der Wald schwarz und grau aus. Sachte wippten seine Wipfel im Wind. Felsen reckten sich wie die grobschlächtigen Köpfe riesiger Trolle zwischen den Nadelbäumen hervor. Erhaben und einsam wirkte die Landschaft, und nicht einmal das leise Gemurmel von Stimmen und die glimmende Feuerstelle, von der Veronika nur die in der Luft wirbelnden Funken sehen konnte, konnten diesen Eindruck trüben.
In den Höhlen des Berges schliefen fast zwei Dutzend Roma. Sfântul Munte nannten sie diesen Ort, heiliger Berg. Veronika war sich nicht sicher, ob der Berg tatsächlich heilig war, aber er war ganz sicher einsam.
Einst war die ganze Gegend, die sich Dobrudscha nannte und einen Tagesritt vom Schwarzen Meer entfernt lag, von Bauern und Hirten besiedelt gewesen, als das Land noch zum Fürstentum Walachei gehörte. Doch vor vielen Jahren hatten es die Türken erobert. Sie hatten die Bauern umgebracht oder vertrieben. Seither war dieses karge Gebirge ein Rückzugsort geworden für jene, die nicht gesehen werden wollten. Der Sfântul Munte lag hinter zwei finsteren Talschluchten und so abgelegen, dass außer Viktor und den Roma wohl keiner mehr den Weg hierher kannte. Veronika hatte nur dank Paulo hierhergefunden, und der war vor wenigen Wochen wieder fortgeritten.
Sie öffnete das Band, das ihre Haare zusammenhielt, und durchkämmte die Locken mit ihren Fingern. Die Sommermonate hatten ihr Haar so ausgebleicht, dass manche hellblonde Strähne fast weiß wirkte. Ihre Haut hatte hingegen einen honigfarbenen Ton angenommen. Wie anders sie aussah als noch vor einem Jahr! Nachdenklich blickte sie an sich herunter. Ihre Kleidung hatte die lange Reise hierher nicht überstanden und nun trug sie die farbenfrohe Kleidung der Roma. Doch innerlich fühlte sie sich immer noch fremd. Roma tauchten plötzlich auf oder verschwanden über Nacht, manchmal redeten sie mit Viktor, manchmal nicht. Das alles schien einem geheimen Muster zu folgen, das Veronika aber nicht erkennen konnte. Auch die Romasprache war für sie weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln, und sie fühlte sich keinem der Roma nah genug, um die vielen Fragen zu stellen, die ihr im Kopf herumschwirrten. Sie vermisste Solana und hoffte inbrünstig, dass sie ebenfalls hier eintreffen würde. Die anderen Roma begegneten ihr zwar stets freundlich, doch ehrfürchtig zurückhaltend. Sie hatte sich fast schon gewaltsam wehren müssen, um von ihnen nicht wie eine Königin bedient zu werden. Selbst die Kinder schienen nie zu vergessen, wer sie war, und statt mit ihrem Namen wurde sie nur Wolfsfrau gerufen. Sie achteten sie kaum weniger als Viktor, den sie wie einen Heiligen verehrten. Ihn nannten sie Domnul Lupilor, Herr der Wölfe, und sie glaubten, dass er Zauberkräfte habe.
Veronika verstand ihre Ehrfurcht. Sie hatte erlebt, wie Viktor untrüglich wusste, wann neue Roma eintrafen, und auch von Veronikas Ankunft war er nicht überrascht gewesen. Er schien durch Wände sehen zu können, und seine Augen, blau und hart wie Wintereis, vermittelten ihr ein Gefühl, als bohrten sie sich tiefer in ihre Seele, als sie selbst hineinblicken konnte.
Manchmal erschien er ihr mehr Wolf als Mensch, besonders, wenn sie ihn nachts in den Wäldern heulen hörte. Er tauchte jedoch stets auf geisterhafte Weise wieder auf, wenn sich neue Ereignisse ankündigten. Sie selbst vermied es, sich zu verwandeln, wenn sie ihn draußen in den Wäldern wähnte. Sie wollte nicht mit Viktor gemeinsam jagen gehen. Die Wölfin duckte sich vor ihm und würde ihm in allem folgen. Ihre menschliche Seite war es, die ihm widerstand. Doch wenn sie sich ihm bei der Jagd in ihrer wölfischen Gestalt auslieferte, würde ihm dann auch ihre menschliche Seite verfallen? Sie fürchtete nichts mehr als das. Seit ihrer ersten Verwandlung hatte sie nicht mehr so im Widerstreit mit sich selbst gelegen.
»Veronika.«
Sie legte eine Hand vor den Mund, um ihren Schrecken nicht laut werden zu lassen. Die Stimme kam aus dem Höhleneingang hinter ihr.
»Komm zu mir«, rief Viktor, und sie hörte den Befehlston darin.
Als ob er wüsste, dass sie gerade an ihn gedacht hatte. Was wollte er von ihr? Eilig raffte sie ihren Rock und erhob sich. Schwarz gähnte ihr die Höhle entgegen. Ihre Kerze war inzwischen erloschen. Vorsichtig tastete sie sich im Dunkeln in Richtung von Viktors Höhle vor. Tief ging es in den Fels hinein. Sie strich mit ihrer Hand die Wände entlang, bis sie schließlich Licht sah.
In Viktors Kammer spendeten zwei Fackeln flackerndes Licht. Schatten wanderten über die zerfurchten Wände und schienen mit monströs verkrümmten Armen und Fingern nach ihr zu greifen. Doch dafür hatte sie kaum Augen. Jedes Mal, wenn sie hier war, war sie aufs Neue beeindruckt. Dies war nicht einfach eine Höhle. Sie sah ein Wunder der Natur, so erhaben und weitläufig wie das Innere einer Kathedrale. Säulen aus Tropfsteinen glänzten, als wären sie aus Marmor. Majestätisch schwangen sie sich in die Höhe, bis sie hoch oben in den flackernden Schatten der Höhlendecke verschwanden. In fragilen Mustern überzogen Quarzadern die Wände, eingerahmt von den steinernen Pfeilern.
Viktor saß regungslos auf seiner Bettstatt, einem Sack aus Stroh, der in dieser Kathedrale deplaziert wirkte. Sogar der Älteste in seiner einfachen Kutte erschien unscheinbar neben den riesigen Felswundern. Als er sich erhob, strafte er diesen Eindruck jedoch sofort Lügen. So sparsam seine Bewegungen waren, so selbstsicher wirkten sie. Wie ein König, der durch seinen Palast schritt, bewegte er sich auf Veronika zu. Seine Dominanz umhüllte sie wie ein kalter Mantel, unter dem das Atmen schwerfiel.
Er trat so dicht vor sie, dass sie die Falten seines Gesichts mit dem Finger hätte nachzeichnen können. Sie rang nach Luft, kämpfte dagegen an, vor ihm zurückzuweichen. Seine blauen Augen prüften sie und schienen direkt bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.
»Setz dich«, befahl er und trat einen Schritt zurück. Endlich konnte sie wieder freier atmen. Er zeigte zur Felswand, wo der Stein eine Bank formte. Davor stand ein einfacher Holztisch. Während Viktor zwei Tonbecher mit Wein füllte, ließ sie sich dort nieder.
Seine Augen glommen im Fackellicht. Etwas stand darin, doch sie wusste nicht was. War es Spott? Unwillkürlich zog sie die Schultern ein. Seit sie hier war, wartete sie auf eine Zurechtweisung, da sie sich der Prophezeiung verweigerte. Warum hatte er sie sonst heute Nacht hergerufen? Doch stattdessen schien er sie zu studieren. Als sei sie ein seltsames Insekt, zu interessant, um es gehen zu lassen, und doch zu unbedeutend, um seine Beweggründe für relevant zu halten.
»Du lernst viel«, sagte er plötzlich.
Sie blinzelte. »Wie meint Ihr das?«
»Du lernst, allein zu sein«, sagte er. »Das ist der erste Schritt.«
»Manchmal fühle ich mich einsam«, gab sie zu. »Aber was soll ich dabei lernen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Gleiche. Alleinsein kann es erst geben, wenn du aufgehört hast, einsam zu sein.«
Hilflos hob sie die Schultern. Sie war sich nicht sicher, ob sie verstand, was er meinte. »Und was ist der zweite Schritt?«
Er seufzte, als wäre sie schwer von Begriff. »Du wirst lernen, deine Gedanken von deinen Gefühlen zu trennen«, sagte er. »Das hilft dir, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
»Ihr meint, meine Gefühle verschleiern mir den Verstand?«
Er nickte.
Sie senkte den Kopf und knetete den Wollstoff ihres Rocks. Sie wollte nicht schon wieder wütend werden. Natürlich sprach er von ihrer Weigerung, die Prophezeiung zu erfüllen. Er redete wie ein Philosoph, doch eigentlich ging es nur darum, sie von ihrem Irrtum zu überzeugen. Ihre Finger bohrten sich so fest in die bunte Wolle des Rocks, dass sie ein Loch hineinriss. Erschrocken legte sie ihre Hand darüber.
»Ich möchte dir erzählen, wie ich hierherkam«, sagte Viktor als Nächstes. Er setzte sich ihr gegenüber. Überrascht starrte sie ihn an. Sein zerfurchtes Gesicht ließ jedoch keine Regung erkennen.
»Ich lebte in einem einsamen Kloster am Ufer des Dnjestr, weit im Norden von hier. Eines Nachts fielen Tiere in unsere Mauern ein. Wilde Hunde, dachten wir erst, doch sie waren blutrünstiger und stärker als jedes natürliche Wesen, und ein Teufel in Menschengestalt führte sie an. Ich war der Jüngste unter den Mönchen, und zusammen mit der Bibel, die ich dem Abt aus der Klosterbibliothek bringen sollte, rettete dies wohl mein Leben. Während die Wölfe unter meinen Brüdern wüteten, zwang mich der Mann, ihn zu begleiten. Er brauchte jemanden, der lesen und schreiben konnte, und da ich ein Buch in der Hand hielt, wählte er mich aus. Er biss mich.« Viktor nahm einen Schluck von seinem Wein.
Veronika nutzte die Pause, um einzuwerfen: »Aber der Wolfsbund verbietet es doch, Menschen anzufallen!«
»Vom Wolfsbund hatte dieses Rudel aus verdorbenen Söldnern und Nomaden noch nie etwas gehört.« Viktor schnaubte. Seine Augen wurden dunkler. »Sie verschleppten mich in den Osten, wo sie sich mit Überfällen und gelegentlichen Aufträgen für einen mongolischen Khan durchschlugen. Ich hatte gerade gelernt, unter ihnen zu überleben, als Gott die nächste Prüfung für mich ersann. Eines Nachts verlieh er mir die Kräfte eines Ältesten. Ich wusste, der Rudelführer würde mich töten, wenn er davon erführe, und selbst mit den neuen Kräften konnte ich kaum hoffen, ihn zu besiegen. Also floh ich. Viele Tage folgten sie meiner Spur, doch letztendlich war ich schneller.«
»Was ist aus diesem Rudel geworden?«, fragte Veronika nach. Gábor hatte ihr einst gesagt, es gäbe keine Werwölfe außerhalb des Bundes. Hatte er gelogen?
»Sie sind weiter nach Norden gezogen«, sagte Viktor. »Auch als wir viele Jahre später in gutem Willen Botschafter schickten, lehnten sie jede Annährung an den Wolfsbund ab. Vor etwa zwölf Jahren schickte der Bund das letzte Mal eine Gruppe Werwölfe zu ihnen. Sie sollten sie vom Bund überzeugen oder endgültig auslöschen. Doch sie waren verschwunden. Zuletzt soll sie ein junger Werwolf angeführt haben, den sie aufgrund seines dunkelgrauen Fells den Schattenwolf nannten.«
Schattenwolf. Unwillkürlich fröstelte Veronika bei diesem Namen.
»Die Gerüchte, die über ihn verbreitet wurden, sprechen dafür, dass er verrückt war wie ein Derwisch«, sagte Viktor. »Wahrscheinlich hat er sein eigenes Rudel ausgerottet.«
Veronika wollte eine weitere Frage stellen, doch er hob abwehrend die Hand. Anscheinend wollte er erst seine Geschichte zu Ende erzählen.
»Als ich dem Rudel entkommen war, wanderte ich als Bettelmönch durch die Lande«, fuhr er fort. »Am Ufer des Schwarzen Meeres entlang kam ich immer weiter nach Süden. Es war nicht weit von hier, als ich das erste Mal das Elend sah, das die Türken anrichteten. Verwüstete Dörfer und Leichen auf den Straßen.« Er knirschte mit den Zähnen, bevor er einmal tief durchatmete. »Doch in den schwelenden Ruinen eines Dorfes stieß ich auf einen Trupp walachischer Ritter, die die Türken verfolgten. Ihr Anführer hieß Mircea. Er bat mich, für sie zu beten. Das war im Jahr 1380.«
Veronika schloss die Augen, um nachzurechnen. Sie staunte. Fast achtzig Jahre war das her.
»Mircea war der Sohn des Woiwoden Radu, des Herrschers über die Walachei«, erklärte Viktor. »Ich trat als Priester in seine Dienste und traf schließlich auch auf andere Werwölfe. Sie führten mich in den Bund ein, dem ich mich frohen Mutes anschloss. Und da Mircea ein wahrhaft guter Mann war, klärte ich ihn bald über meine wahre Natur und den Wolfsbund auf und vertiefte mein Dienstversprechen zu einem lebenslangen Schwur. Ich gründete ein Rudel, das allein den Idealen des Bundes diente. Im Jahr 1386 bestieg Mircea nach dem Tod seines Vaters den walachischen Thron. Ich blieb sein engster Berater und Freund. Er war ein begabter Herrscher, und er erkannte bald, was seine Lebensaufgabe war: Der Kampf gegen das Osmanische Reich. Er schloss Bündnisse mit anderen Fürsten des Abendlands. So konnten wir die Türken zurücktreiben, Jahr für Jahr. Mirceas Ansehen in der Welt wuchs. Er sorgte dafür, dass die Ungarn, die Polen und die Franken sicher vor den Türken leben konnten.« Er hielt inne. Unwillkürlich beugte sich Veronika näher zu ihm, als könne sie ihn damit zwingen weiterzureden.
»Eines Tages kam einer der anderen Werwolfältesten zu mir. Er war alt, älter als ich heute bin, und er lebte mit seinem Rudel in Böhmen. Wie ich war er einst ein Mönch gewesen. Ihm oblag es, die alten Geschichten der Werwölfe zu hüten. Er wollte mir dieses Amt übergeben. Von ihm erfuhr ich erstmals von der Prophezeiung der heiligen Agnes.«
Veronika runzelte die Stirn. Sie hatte doch gewusst, dass Viktor früher oder später darauf zu sprechen kommen würde.
»Ich leistete ihm den Schwur, die Prophezeiung weiter zu hüten«, fuhr Viktor fort. »Viele Generationen von Werwölfen hatten dieses Amt vor mir ausgeübt. Manche hatten nach der Frau gesucht, doch keiner hatte sie gefunden. Das erzählte mir der Alte, und er übergab mir die Dokumente. Drei Wochen später hörte ich durch einen Boten, dass er gestorben war. Sein Nachfolger wurde Pavel von Breunen.«
Veronika hob die Augenbrauen. Ob Pavel verärgert gewesen war, dass er nicht nach seinem Ältesten der neue Hüter der Prophezeiung wurde?
Viktor atmete tief durch. Seine Miene verdüsterte sich. Im gleichen Augenblick zischte eine der Fackeln und erlosch. Die Schatten an den Wänden streckten ihre Arme nach ihnen aus.
»Mircea erzählte ich nichts von der Prophezeiung, und dies war gut so. Denn es gab einen in seiner Familie, der Mirceas gute Werke verdarb. Wer weiß, was geschehen würde, wenn dessen Nachkomme heute von der Prophezeiung wüsste.« Er lehnte sich zurück und sein Gesicht verschmolz mit den Schatten, als sei er ein Teil von ihnen. Veronika fröstelte.
»Vlad, Mirceas zweiter Sohn, war ein unehelicher Bastard.« Seine Stimme klang dunkel wie eine Drohung. »Als er noch ein Kind war, ertappte ich ihn dabei, wie er Tiere quälte. Später belog er seine Lehrer und misshandelte seine Halbbrüder. So entschloss ich mich, Mircea zu warnen. Er ignorierte meine Warnungen zuerst, denn er konnte nicht glauben, dass seinem Samen solche Bosheit entsprang. Fast hätten wir uns darüber entzweit. Vlad spürte, dass ich ihn ablehnte und tat alles, um mir zu gefallen. Dafür verachtete ich ihn. Ich unterschätzte ihn auch, und das war mein Fehler. Mircea schickte ihn schließlich an den fernen Hof des deutschen Kaisers Sigismund, und ich vergaß ihn. Als Mircea nach vielen Jahren starb, hatte ich die mittleren Jahre schon überschritten. Sein Sohn Alexandru, Vlads älterer Halbbruder, wurde der neue Fürst. Ich blieb an seiner Seite. Obwohl ihm die Entschlossenheit seines Vaters fehlte, regierte Alexandru gerecht und schätzte meinen Rat. Vlad war inzwischen in den engsten Kreis des deutschen Kaisers aufgestiegen. Er wurde ein Mitglied des neu gegründeten kaiserlichen Drachenordens. Von da an nannte er sich Vlad Dracul – Vlad, der Drache.«
Veronika riss die Augen auf. Von Dracul und seinem Verrat an der Christenheit hatte sie bereits als Kind gehört.
»Der Drachenorden bestand aus Rittern des Hochadels. Er hatte sich dem hehren Ziel verschrieben, das Christentum zu verteidigen.« Viktor schnaubte verächtlich. »Im kaiserlichen Wien war es leicht, Reden zu schwingen und Orden zu gründen, während Alexandru und ich Jahr für Jahr die Grenzen verteidigten. Vlad Dracul hatte uns jedoch nicht vergessen. Bedächtig mahlten die Mühlen seiner Intrigen, und er überzeugte Kaiser Sigismund allmählich von Alexandrus Schwäche. 1436 kam es zum Verrat. Falsche Boten brachten die Nachricht nach Wien, dass Alexandru einen Vertrag mit den Türken geschlossen hatte. Sigismund befahl Dracul, Truppen zusammenzustellen und die Walachei zurückzuerobern. Als wir davon erfuhren, war es bereits zu spät. In nur einer Nacht überrannte Dracul uns. Er tötete seinen Halbbruder und setzte mich gefangen.«
Atemlos lauschte Veronika Viktors Worten. »Und dann?«, flüsterte sie, ehe sie sich zügeln konnte.
»Vlad Dracul krönte sich zum neuen Fürst, dann kam er zu mir.« Er schüttelte den Kopf. »Er dachte tatsächlich, dass ich ihm nun dienen würde. Ich lag in Fesseln, doch ich lachte ihn aus. Er versuchte es mit Schmeicheleien und mit Gewalt, aber ich weigerte mich.« Seine Augen blickten grimmig in die Ferne. »Während ich noch im Kerker saß, tötete er die meisten Männer meines Rudels. Drei blieben übrig, und ihnen gelang es, mich zu befreien. Ich wollte den Kampf gegen die Türken jedoch nicht aufgeben. Ich musste einen neuen Dienstherrn finden, einen fähigen Mann, der sich christlichen Werten verschrieben hatte. Am Hof des Kaisers fand ich ihn, einen ebenso tapferen Streiter, wie Mircea es gewesen war: Johann Hunyadi.«
Veronika nickte. Davon wusste sie bereits aus Gábors Erzählungen. Viktor musste damals schon alt gewesen sein.
»Graf Hunyadi, der Vlad Dracul aus den Jahren an Sigismunds Hof kannte, traute ihm ebenso wenig wie ich. Und unser Misstrauen bestätigte sich. In den Schlachten, die wir gegen die Türken schlugen, erwiesen sich Draculs Männer stets als die Wankelmütigsten. Zur Verteidigungsschlacht um Semendria tauchten sie gar nicht erst auf.«
Vom Kampf um die serbische Stadt Semendria hatte Veronika schon gehört. Sie runzelte die Stirn. Hatte Gábor ihr davon erzählt?
»Semendria fiel.« Viktor schüttelte traurig den Kopf. »Durch eine List war es den Türken gelungen, ein Tor zu öffnen und in die Stadt einzudringen. Unsere Männer starben wie die Fliegen. Ich verlor die letzten drei Werwölfe meines Rudels.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, und er sah plötzlich aus wie der Greis, der er tatsächlich war. »Meine Wölfe waren tot, die Türken stark wie nie zuvor. Ich war bereits alt, sollte ich noch einmal von vorne beginnen? Ich verließ Hunyadi und zog mich in die Wälder zurück, um Gott zu fragen, welche Aufgabe er noch für mich hatte. Es dauerte nicht lange, bis er mir seine Antwort schickte. Auf meiner Wanderung stieß ich auf einen jungen Türken, halb verhungert und panisch. Er war aus Semendria geflohen, und für ein Stück Brot erzählte er mir seine Geschichte. Einst war er ein ungarischer Bauernjunge gewesen. Die Janitscharen hatten ihn als Kind in den Dienst gepresst, und jetzt wusste er nicht mehr, wohin er gehörte.«
»Gábor«, flüsterte Veronika. Ihr Herz zog sich zusammen.
Viktor nickte. »Gott hatte ihn mir geschickt, damit ich mehr über die Türken lernen konnte. Ich biss den Jungen und nahm ihn als meinen Schüler auf. In einer Waldhütte am Fuße der Karpaten verbrachten wir ein Jahr, in dem ich ihm alles beibrachte, was ich wusste. In der Zwischenzeit schickte ich meine Boten aus, um etwas über seine genaue Herkunft zu erfahren …« Seine Stimme verebbte.
Veronika starrte ihn an. »Und?«, fragte sie nach.
Doch er runzelte die Stirn. »Das ist nicht wichtig.«
Sie wollte ihm widersprechen, doch sie sah den Ärger, der seine Miene zerfurchte. So als hätte er aus Versehen zu viel erzählt. Sie dachte an die wenigen Dinge, die sie bisher von Gábors Vergangenheit wusste. Hatte es während der Belagerung von Belgrad nicht Gerüchte gegeben, dass der entkommene Spion etwas über Gábors unbekannten Vater herausgefunden hatte? Sie musterte Viktor. Was wusste er? Doch er ignorierte ihre Blicke, hatte bereits wieder begonnen zu sprechen. Vielleicht konnte sie ihn später danach fragen. Sie umschloss ihren Weinbecher fester und konzentrierte sich wieder auf seine Worte.
»Danach nahm Graf Hunyadi ihn in seinen Dienst und schlug ihn bald zum Ritter. Einige Jahre blieb ich bei ihnen, und in jener Zeit verwandelte ich Michael Szilagyi. Er war bei einem Reitunfall tödlich verletzt worden, und sein Schwager Hunyadi bat mich, sein Leben durch den Wolfskuss zu retten.«
Die Fackeln knisterten leise. Veronika dachte an Gábor und Michael, beide im selben Rudel und doch so verschieden.
»Als Gábor und Michael ihre Stellung an Hunyadis Hof gefunden hatten und Michael bereits sein eigenes kleines Rudel zu gründen begann, zog ich mich wieder in die Karpaten zurück. Mein Dienst war erfüllt. Ein Jahr später zogen Gábor und Michael mit Graf Hunyadi in die Schlacht um Warna. 1444 war es, und Vlad Dracul zeigte endlich sein wahres Gesicht.« Viktor grollte, fast meinte Veronika zu sehen, wie seine Zähne zu Wolfsfängen wuchsen.
»Er lief zu den Türken über und wurde zum Verräter an der Christenheit. Wir verloren die Schlacht. Doch damit nicht genug: Dracul nahm Hunyadi gefangen und ergriff auch einen von Michaels Werwölfen. Er folterte ihn, bis der ihm mein Versteck verriet. Gábor kam, um mich zu warnen, und so floh ich erneut vor Draculs Schergen.« Viktor schwieg für einen Moment, dann sah er Veronika direkt an. »Die überwältigende Macht der Türken, Verräter in den eigenen Reihen … die Christenheit schien dem Untergang geweiht. Damals wurde mir eines klar: Es war Zeit für die Prophezeiung. Nur sie konnte uns noch retten.«
Veronika schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts.
»Gábor war jung und skeptisch, doch er leistete mir den Schwur, nach der prophezeiten Frau zu suchen«, fuhr Viktor fort. »Diese Aufgabe war die Bürde, die er über die folgenden Jahre zu tragen hatte.«
Jetzt konnte Veronika nicht mehr an sich halten. »Eine Bürde? Er hat unschuldige Frauen umgebracht!«
»Er hat dich gefunden. Und meine Geschichte ist noch nicht zu Ende.« Seine Kraft fegte wie ein kalter Windstoß über sie hinweg. Sie senkte den Kopf.
»Michael und Gábor konnten Graf Hunyadi aus Draculs Kerker befreien. Hunyadi stellte eine neue Truppe zusammen und kehrte in die Walachei zurück. Als er Dracul tötete, dankte ihm das ganze Reich dafür.« Er kniff die Augen zusammen. »Doch diese Atempause ist vorbei. Hunyadi ist tot, und Ungarn hat einen allzu schwachen König. Draculs verdorbene Saat hat sein Erbe angetreten, sein Sohn Drăculea. Nach dem, was mir meine Kundschafter berichten, ist er noch schlimmer als sein Vater.« Er ballte seine Hand zur Faust, und Veronika sah, wie die Adern an seinem Arm hervortraten. »Seine Kindheit hat er als Geisel am Hof des Sultans verbracht. Nach dem Tod seines Vaters ging er ins Exil. Keiner dachte mehr an ihn, doch letztes Jahr hat er unsere Schwäche nach Hunyadis Tod ausgenutzt und ist in die Walachei zurückgekehrt. Er ermordete den Fürsten und hat so den Thron auf die gleiche Weise erobert wie sein Vater.«
Veronika nickte beklommen. Über Graf Drăculea und seine Barbareien kursierten finstere Gerüchte. Es hieß, dass er grausame Foltermethoden bei den Türken gelernt hatte, die er jetzt bei seinen Gefangenen anwendete. »Weiß Drăculea über die Werwölfe Bescheid?«, fragte sie.
Viktor nickte.
»Und hasst er uns so wie sein Vater?« Ihre Stimme bebte.
Viktor musterte sie. Er schien überrascht von ihrer Furcht zu sein. »Ja«, sagte er schlicht. »Doch er kennt uns zu wenig, um wirklich gefährlich zu sein. Schlimmer ist seine Skrupellosigkeit. Er sagt zwar, dass er die Türken hasst, nur glaube ich nicht daran. Wenn es Drăculea Vorteile bringt, wird er nicht zögern, sich mit den Türken zu verbünden.«
»Jemand muss ihn daran hindern«, flüsterte Veronika. »Jemand muss ihn töten.«
Viktor verengte die Augen zu blauen Schlitzen. »Ich hätte nicht wenig Lust dazu. Doch die Gesetze unseres Bundes sprechen dagegen.«
»Warum?«, fragte Veronika.
»Wir ermorden keine Fürsten, weil wir mit ihrer Politik nicht einverstanden sind.« Die Wut in Viktors Augen sprach allerdings eine andere Sprache. »Fängt der Bund einmal damit an, wird er das Morden nicht mehr beenden können, bis er selbst die Menschen regiert. Vor Hunderten Jahren hat sich der Bund deshalb gegen einen solchen Weg entschieden.«
»Und wenn Drăculea uns Werwölfe angreift?«
»Dann haben wir tatsächlich einen Grund, ihn zu töten«, erwiderte Viktor grimmig.
Veronika holte tief Atem. Sie wollte endlich etwas loswerden, was ihr schon seit langem auf der Seele brannte. »Ihr tut Euch leicht, große Worte zu schwingen«, stieß sie hervor. »Aber Ihr habt Euch hierher in die Einsamkeit zurückgezogen. Euer Rudel muss dort draußen ohne Euch zurechtkommen.«
Angespannt zog sie die Schultern an, wartete auf seine Reaktion. Sein Gesicht regte sich nicht. Doch wieder spürte Veronika seine Kraft wie einen kalten Wind auf ihrer Haut.
»Es ist dreist, mir das vorzuwerfen.« Er klang gereizt. »Du verhältst dich doch ebenso.«
»Ich?« Sie riss empört die Augen auf. »Ich bin nicht einmal ein Mitglied des Bundes!«
»Doch du bist ein Werwolf wie ich«, fuhr er sie an. Seine Augen blitzten eisig. »Ich bin alt, und ich habe viele Männer sterben sehen. Ich habe mein Schicksal fast erfüllt und bin vielleicht müde geworden, doch nicht müde genug, um zu schlafen, wenn die Welt meine Hilfe braucht.«
»Ich schlafe nicht«, rief Veronika erbost. »Und die Welt braucht meine Hilfe nicht, nur Ihr und der Bund!« Ihre Wölfin duckte sich. Doch sie wollte sich nicht mehr zur Demut zwingen lassen. »Ihr wollt mich benutzen wie eine Zuchtstute, und dabei interessiert es Euch nicht einmal, was ich darüber denke.«
»Was du denkst, ist tatsächlich nicht wichtig.« Er zuckte die Schultern. Seine Wut schien schon wieder verraucht zu sein, als sei es Veronika nicht wert, sich aufzuregen. »Du kannst dein Schicksal ablehnen, aber du wirst nichts daran ändern.«
»Doch!« Ihre Stimme wurde schrill, und sie merkte selbst, wie unsicher sie klang. »Ich habe einen freien Willen.«
Er schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Du weißt nichts über den freien Willen. Du weißt nur, was du nicht willst.«
Seine Worte waren wie Nadeln, die durch ihre Haut stachen. Endlich gab sie dem Drängen ihrer Wölfin nach. Sie fuhr wimmernd herum und floh aus Viktors Kammer, ohne sich noch einmal umzudrehen.