30
Einige Tage später verließ Diane Fry ihre Wohnung und stieg in ihren schwarzen Peugeot. Bald hatte sie Edendale hinter sich gelassen. Sie fuhr nach Süden in Richtung des Kalksteinplateaus und kam an Durham Edge und Camphill vorbei, wo es einen Privatflugplatz gab. Sie sah, wie die Segelflugzeuge in die Luft schnellten, in der aus den Tälern aufsteigenden Thermik an Höhe gewannen und in der warmen Luft über den Hügelkuppen seitlich abdrifteten. Ihr war so leicht zu Mute, als würde sie ebenfalls abheben und über das Land hinweggleiten, das sie allmählich als ihre Heimat betrachtete. Sicher hatte man von dort oben eine phantastische Aussicht, doch so gut sie auch sein mochte, Fry konnte darauf verzichten. Auch hier unten sah sie ihre Zukunft deutlich abgesteckt vor sich liegen. Alles lief bestens.
Nachdem sie die Bridge End Farm gefunden hatte, fuhr sie langsam den holprigen Feldweg hinunter und parkte auf dem Hof. Ben Cooper stand im Schatten einer Scheune an einem Gatter. Er unterhielt sich mit einem Mann, der etwas älter und kräftiger war als er und der die gleiche Haarfarbe und das gleiche jungenhaft offene Gesicht hatte. Das musste Matt sein, der Bruder, der die Farm betrieb. Die beiden Männer verglichen ihre Gewehre, einen Hund zu ihren Füßen.
Fry nahm die Kassette aus dem Handschuhfach und steckte sie in die Jackentasche. »Ancient Heart« von Tanita Tikaram. Er hatte sich danach erkundigt und ihr gesagt, dass ihm die Musik gefiel. Vielleicht ließen sich bei ihm mit ihrer Hilfe ein paar verschüttete Erinnerungen an die Oberfläche holen.
Als sie ausstieg, drehte Cooper sich um. Er sah sie entgeistert an.
»Diane – ist etwas passiert?«
»Nein, Ben. Ich wollte dich bloß besuchen.«
»Ach so.« Er wurde nervös und warf einen Blick auf seinen Bruder. »Das ist übrigens Matt. Matt – Diane Fry. Eine Kollegin.«
»Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Matt und sah seinen Bruder mit einem merkwürdigen Lächeln von der Seite an. »Leider habe ich keine Zeit für ein Schwätzchen. Es gibt viel zu tun. Bis dann, Ben.«
»Unsere Mutter ist wieder zu Hause«, sagte Cooper, als ob damit alles erklärt wäre. Aber Fry verstand kein Wort. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass seine Mutter fort gewesen war.
Sie standen vor der Scheune und sahen sich an. Obwohl Fry sich vorher genau überlegt hatte, was sie sagen wollte, kamen ihr die Worte nun nicht über die Lippen. Plötzlich war sie voller Zweifel. Es hatte irgendwie nicht ganz richtig geklungen, wie er sie seinem Bruder als »eine Kollegin« vorgestellt hatte. Es war schließlich Cooper, der das unbehagliche Schweigen brach.
»Wie war deine Besprechung mit dem Superintendenten?«, fragte er. »Hat er dir auf die Schulter geklopft?«
Sie holte tief Luft und hielt sich an der Kassette in ihrer Tasche wie an einem Glücksbringer fest. »Er hat mich gefragt, ob ich mich nicht für die Stelle als Sergeant bewerben will, wenn nächsten Monat die Auswahlgespräche stattfinden«, antwortete sie. »Ich dachte, das sage ich dir lieber selbst.«
Bevor sie seine Miene deuten konnte, hatte Cooper sich abgewandt, um die Schrotflinte in den Landrover zu legen und in einem Stahlkasten zu verschließen. Sie konnte zwar sein Gesicht nicht sehen, aber sie merkte, wie sich seine Schultern verspannten.
Auf dem Feld hinter der Scheune sprang stotternd ein Traktor an. Das plötzliche Geräusch scheuchte eine Schar Saatkrähen auf, die sich hoch in die Luft schraubten und über Camphill ihre Kreise zogen.
»Ich freue mich sehr für dich«, sagte Cooper, der ihr immer noch den Rücken zuwandte. »Ich bin überzeugt, du wirst einen erstklassigen Detective Sergeant abgeben, Diane. Du hast immer alles unter Kontrolle. Du tust immer das Richtige. Du wirst schnell weiterkommen. Du wirst die Karriereleiter raufschießen«, er knallte die Tür des Landrovers zu, »als ob du eine Rakete im Arsch hättest.«
Fry zuckte zusammen. Sie hatte ihn fast nie fluchen hören. Nur ein einziges Mal hatte er in diesem Ton mit ihr gesprochen, in der Gaststube des Unicorn, als er betrunken und vor Wut außer sich gewesen war. An dem Abend hatte er sie ein Aas genannt, aber sie hatte seine Ausfälligkeit auf das Bier geschoben.
Sie spürte, dass ihr das Gespräch unaufhaltsam entglitt. So hatte sie sich ihren Besuch nicht vorgestellt. Sie überlegte verzweifelt, was sie sagen sollte, und deutete schließlich mit dem Kopf auf den Hund.
»Und? Hat sie es gut verkraftet?«
»Connie? Ja, sie ist ein Prachtkerl. Treu wie Gold.«
»Sie ist sicher ein guter Kamerad.«
Cooper tätschelte dem Border-Collie, der bewundernd zu ihm aufsah, den Kopf. »Connie ist mehr als ein Kamerad«, sagte er betont. »Sie ist eine Freundin.«
Fry drehte sich um, sie hatte ein Geräusch gehört. Ein zweiter Wagen hielt vor dem Bauernhaus, einer, der ihr bekannt vorkam. Die Tür ging auf, und eine Frau stieg aus, doch sie kam nicht auf Ben zu, sondern blieb zögernd neben dem Auto stehen. Es war Helen Milner. Fry fröstelte, ihr wurde eiskalt, während ihr gleichzeitig das Blut in den Hals schoss. Sie wusste, dass sie sich zum Narren gemacht hatte.
»Tja, sieht so aus, als ob deine andere Freundin zu Besuch gekommen ist, Ben. Du solltest sie lieber nicht warten lassen.«
Ihr spöttischer Ton ließ Cooper wütend herumfahren, doch dann erinnerte er sich daran, was der Superintendent über Gefühlsausbrüche gesagt hatte, und er riss sich zusammen. Er machte ein paar Schritte auf Helens Auto zu, bevor er noch einmal stehen blieb und zu Fry zurücksah. Er hatte sich wieder beruhigt, und seine Worte waren mit Bedacht gewählt.
»Du wirst das vielleicht nicht verstehen. Aber jeder Mensch braucht manchmal einen Freund, Diane.«
Damit drehte er sich um und ließ sie im Schatten der Scheune stehen. Fry merkte, dass sie die Kassette in ihrer Tasche so fest umklammert hielt, dass sich die scharfen Ecken in ihre Handflächen drückten und ihr vor Schmerzen die Tränen in die Augen stiegen. Sie erwiderte etwas, aber so leise, dass Cooper es unmöglich hören konnte.
»Wem sagst du das, Ben?«, sagte sie. Und sie sah ihm hinterher.
Ein Turmfalke stand reglos in der Luft. Den warmen Aufwind unter den Flügeln, spähte er nach Beutetieren, die sich auf den Berghängen zwischen den Kalksteinfelsen versteckten. Die meisten tiefer gelegenen Felder in diesem Tal wurden als Mähwiesen und Weideland verwendet. Aber in Richtung Great Hucklow gab es auf halber Höhe des Berges noch eine Wiese mit Wildblumen, Margariten und Majoran, die bunt aus dem eintönigen Grün der Weiden hervorleuchtete.
Kurz bevor sie die Wiese erreichten, bat Ben Cooper Helen, in eine Einfahrt zu fahren und anzuhalten. Sie sah ihn verwundert an und fragte sich, was ihn wohl plötzlich störte. Aber sie schaltete den Motor aus und kurbelte das Fenster herunter. Eine Zeit lang beobachteten sie ein Segelflugzeug, das unhörbar über das Tal glitt und mit den Flügeln die Sonne grüßte, bevor es über Durham Edge verschwand.
Sie waren auf dem Weg zum Light House, wo sie zusammen zu Mittag essen wollten, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre. Aber für Cooper war es mehr als das. Er hatte das Gefühl, sehr bald aus der Dunkelheit in eine andere Welt zu treten, und diesen Augenblick wollte er ganz bewusst genießen und voll auskosten. Als Helen sich aus dem Autofenster lehnte, um das Flugzeug mit den Augen zu verfolgen, fing ihr Haar das Sonnenlicht ein und verwandelte es in einen flüchtigen, kupferfarbenen Schleier, den er sich ewig hätte ansehen können.
Aber schließlich wanderte sein Blick doch wieder hinunter in das Tal, zur Bridge End Farm, die halb im Schatten des Berges vor einer Kulisse aus Bergulmen lag. Er konnte die Fenster erkennen, hinter denen der kühle, dunkle Raum lag, in dem seine Mutter im Bett lag und sich mit Hilfe von Medikamenten vor einer fremden, veränderten Welt in Träume flüchtete. Hinter dem Haus konnte er den Traktor seines Bruders sehen, dessen Scheibenegge eine Staubwolke hinter sich herzog. Und er konnte Diane Frys schwarzen Peugeot sehen, der sich den Feldweg hinauf zur Straße quälte, vor jedem Schlagloch zögernd, als hätte er Angst, hineinzufallen. Das Gesicht der Fahrerin war hinter der spiegelnden Windschutzscheibe nicht zu erkennen.
Dann hallte ein Hundebellen den Berg herauf. Auf dem Hof der Farm lag der Border-Collie, der Wilford Cutts gehört hatte, geduldig neben dem Gatter. Der Hund drehte den Kopf in den Schatten und beobachtete, wie sich der Peugeot entfernte. Sein drahtiges Fell wirkte einen Augenblick lang weicher und blasser, sodass seine Silhouette vor dem staubigen Untergrund verschwamm. Doch dann bewegte sich der Collie und sah den Berg hinauf, als spürte er Coopers Anwesenheit. Die weißen Flecken in seinem Gesicht und auf seinen Flanken schimmerten und leuchteten, als sie das helle Sonnenlicht auffingen, das die Kalksteinmauern reflektierten.
Für Ben Cooper war alles vollkommen klar. Er konnte nichts mehr falsch machen, nicht in diesem Licht und nicht in diesem Augenblick seines Lebens.