19
Fry schaltete so lange mit der Fernbedienung von einem Kanal zum anderen, bis sie eine Nachrichtensendung fand. Sie sah einen Beitrag über einen Sexskandal, in den ein Minister verwickelt war, hörte vom Abbruch der Gespräche in Nordirland und verfolgte die Berichterstattung über einen nicht enden wollenden Krieg in einem afrikanischen Land, einen unbegreiflichen Stammeskonflikt, der bereits Tausende von Menschenleben gefordert hatte. Alles wie gehabt.
Sie lag ausgestreckt auf dem Bett und knabberte einen der Kekse, die sie, in Zellophan verpackt und mit den besten Empfehlungen des Hotels versehen, auf dem Nachttisch in ihrem Zimmer gefunden hatte. Sie war aus den Schuhen geschlüpft, hatte ihre verschwitzten Sachen ausgezogen und sich den schwarzen Kimono übergeworfen. Leider hatte sie nicht genug Zeit gehabt, sich in einem Laden in Skipton noch mit Pralinen einzudecken.
Plötzlich flimmerten die Wälder um Moorhay über den Bildschirm. Offenbar befand sich die Kamera auf der Raven’s Side, wo der Vogelbeobachter Gary Edwards gestanden hatte. Sie war auf die Stelle gerichtet, wo Laura Vernon aufgefunden worden war, doch außer der Polizeiabsperrung war nichts zu sehen. Nachdem ein Reporter mit einem Mikrofon den Stand der Ermittlungen in wenigen Sätzen zusammengefasst hatte, wurde zum Revier in Edendale überblendet, gefolgt von einer Einstellung, die einen überfüllten Raum mit Scheinwerfern und Mikrofonen zeigte. An einem Tisch saßen DCI Tailby, der Pressesprecher der Polizei und Graham und Charlotte Vernon. In einer Ecke des Bildschirms wurde das Foto von Laura eingeblendet, das Fry inzwischen so gut kannte. Gleich würde der Aufruf der Eltern gesendet werden, der am Morgen aufgezeichnet worden war.
Der Bericht über den Fall Vernon dauerte mehrere Minuten. Um bei den Medien auf echtes Interesse zu stoßen, musste ein Mord heutzutage schon ein Kind oder einen Teenager betreffen, das war Fry klar. Ansonsten höchstens noch eine junge Mutter. Aber es kam offenbar auch darauf an, in welchem Landesteil das Verbrechen geschehen war. Es schien die englische Mittelschicht ganz besonders zu erschüttern, wenn ein Mord gewissermaßen im eigenen Vorgarten geschah, in der ländlichen Idylle des Peak District. Wenn Laura Vernon in London oder Birmingham auf einem Abbruchgrundstück im Slum gestorben wäre, hätten sich die Medien nicht so auf den Fall gestürzt. Aber über den Mord im reizvollen, verschlafenen Moorhay berichtete die Boulevardpresse nun schon seit einer ganze Woche in großer Aufmachung. Wo Diane Fry herkam, hätten die Zeitungen jeden Tag mit einer Mordmeldung aufwarten können. Manche Fälle erregten allerdings so gut wie gar kein Aufsehen, nicht einmal im näheren Umkreis. Ganz zu schweigen von anderen Verbrechen, über die es sich offenbar kaum zu schreiben lohnte. Vergewaltigung zum Beispiel.
Nach einigen einleitenden Worten von Tailby redete nur noch Graham Vernon. Fry wusste, dass die Kollegen in Edendale den Aufruf immer wieder abspielen würden, um die Vernons genau zu beobachten und nach Widersprüchen zwischen ihren Äußerungen vor laufender Kamera und ihren Einlassungen bei der Polizei zu suchen.
Es war in solchen Fällen durchaus üblich, die Angehörigen zu ermutigen, sich mit einem Hilfeaufruf an die Öffentlichkeit zu wenden. Angesichts der Tatsache, dass ihnen Millionen von Menschen am Bildschirm zuhörten, standen sie enorm unter Druck, mehr als in jedem Vernehmungszimmer.
Aber Vernon wirkte sehr souverän. Mit ruhiger Stimme bat er darum, dass sich jeder, der Laura am Tatabend gesehen hatte oder irgendwelche Informationen über ihren Tod geben konnte, bei der Polizei melden und eine Aussage machen sollte. Er rief die Zuschauer auf, sich zu überlegen, ob ihnen am Verhalten ihrer Ehemänner, Söhne oder Freunde etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Jede Information, ganz gleich wie unbedeutend sie auch erscheinen mochte, konnte der Polizei unter Umständen weiterhelfen. Er klang so, als ob Tailby den Text persönlich mit ihm einstudiert hätte.
Als Vernon zuletzt von Laura sprach, schlug er einen sanfteren, persönlicheren Ton an. Er nannte sie »unser kleines Mädchen« und beschrieb sie als aufgeweckten, intelligenten Teenager, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte und brutal aus ihrer Mitte gerissen worden war. Er erzählte, wie gut sie in der Schule gewesen war und schilderte ihre Liebe zur Musik und ihre Leidenschaft für Pferde. Er erzählte den Millionen Fernsehzuschauern, dass Laura an diesem Tag an einem Reitturnier hätte teilnehmen sollen. Doch nun wartete ihr Pferd Paddy vergeblich auf sie. Als Schauspieler war er nur zweitklassig. Aber vielleicht konnte er mit der Tragödie nicht anders umgehen.
Schließlich wurde das Mikrofon an Charlotte Vernon weitergegeben. Sie hatte weit aufgerissene, trockene Augen, und Fry fragte sich, ob sie wohl noch immer unter Medikamenteneinfluss stand. Sie machte nicht viele Worte, aber wenigstens klang sie aufrichtig.
»Wir bitten Sie alle: Helfen Sie der Polizei, den Schuldigen zu finden.« Sie starrte direkt in die Kamera, schmal und von Trauer gezeichnet, während ihr Mann ihr tröstend den Arm um die Schultern legte. Das war das Bild, das die Zeitungen morgen bringen würden.
Auf die Nachrichtensendung folgte der Wetterbericht – noch mehr Sonne, keine Wolken bis zum Abend. Fry dachte an die letzten Stunden, an die frustrierende, zeitaufwändige Befragung der Wandergruppe. Sie hatten einen Studenten nach dem anderen aus dem Zelt geholt und in dem kleinen Büro des Campingplatzes bei Malham vernommen. Keiner von ihnen hatte irgendetwas gesehen, was sich in Frys Augen auch sehr leicht durch zwei Kollegen aus Nord-Yorkshire hätte abklären lassen.
Sie hätte zu gern gewusst, wer auf die glorreiche Idee gekommen war, sie und Hitchens hier herauf in die Pampa zu schicken, wobei es sich nicht vermeiden ließ, dass sie in diesem Hotel in Skipton übernachteten. Irgendjemand war überzeugt gewesen, dass die Wanderer etwas Wichtiges gesehen hatten – oder zumindest hatte dieser Jemand das behauptet. Und warum musste es unbedingt ein Detective Inspector sein, der eigentlich eines der Ermittlungsteams hätte leiten sollen? Ein Sergeant oder zwei Detective Constables hätten völlig ausgereicht.
Aber natürlich, die Idee musste von Paul Hitchens stammen. Sie hatte ihn in der Bar gelassen, wo er mit Bier und Whisky den Kurzurlaub vom Büro feierte. Er hatte ein saures Gesicht gemacht, als sie sich nach nur einem Glas Weißwein verabschiedet hatte, weil sie angeblich müde war. Ein nächtliches Saufgelage in einem Pub in Yorkshire war einfach nicht ihr Stil.
Inzwischen gingen die Ermittlungen in Edendale wahrscheinlich ohne sie in die entscheidende Phase. Sie fragte sich, was Ben Cooper wohl gerade machte. Sicher schäumte er von genialen Ideen und grandiosen Eingebungen nur so über. Genau wie gestern Abend. Es gab bestimmt nichts Dümmeres, als im Dunkeln durch den Wald zu stapfen, um einen Verdächtigen aus seinem Versteck zu holen, ohne Verstärkung anzufordern oder zumindest die Zentrale wissen zu lassen, wo man war. Wenn das alles war, was einem Instinkt und Intuition einbrachten, dann konnte sie getrost darauf verzichten. Sie konnte den Augenblick nicht vergessen, als sie gesehen hatte, dass Lee Sherratt ein Gewehr in der Hand hielt. Da hatte ihr Instinkt die Regie übernommen. Aber es war eine andere Art von Instinkt gewesen, eine körperliche Reaktion, ein notwendiger Verteidigungsmechanismus, den sie über Monate hinweg perfektioniert hatte.
Doch in diesem Moment geschah es nicht zur Selbstverteidigung, sondern aus panischer Angst um Ben Cooper. Es war die pure Angst gewesen, die sie zu dem zweiten, unnötigen Schlag veranlasst hatte. Nachdem sie Sherratt entwaffnet hatte, hätte sie ihn mühelos festnehmen können. Aber sie hatte noch einmal zugeschlagen, aus Angst und aus Wut. Ihr alter Lehrer wäre entsetzt gewesen. So etwas war ein Zeichen von Disziplinlosigkeit.
Fry überlegte, ob sie sich bei Cooper wohl ausreichend für ihre Bemerkungen über seinen Vater entschuldigt hatte. Hinterher war er ihr reserviert und verstimmt vorgekommen. Womöglich war das Abenteuer im Wald seine Art gewesen, ihr etwas zu beweisen. War sie dann nicht zum Teil mitverantwortlich dafür? Sie seufzte und dachte nicht länger darüber nach. Die Menschen waren zu kompliziert, wenn sie sich von Gefühlen leiten ließen. Warum konnten nicht einfach alle nur ihre Arbeit machen?
Ein alter Film fing an. Eine romantische Komödie aus den Fünfzigerjahren mit James Stewart. Sie schaltete den Fernseher aus und legte sich zurück aufs Bett. Eine Zeit lang lauschte sie den Schritten und den anderen leisen Geräuschen im Hotelkorridor. Sie fragte sich, ob Paul Hitchens in ihr Zimmer kommen würde.
»Sie schlafen. Tief und fest.«
Ben Cooper hatte gerade seinen Nichten gute Nacht gesagt. Matt und Kate sahen fern, auf dem Sofa aneinander geschmiegt, ein Bild häuslicher Zufriedenheit. Das Leben musste schließlich weitergehen.
Trotzdem war der Anblick für Cooper kein Trost, im Gegenteil. Seit Montag brachte er es kaum noch über sich, die Treppe des Farmhauses zu benutzen, weil er immer daran denken musste, was er dort gesehen hatte.
Sein Bruder Matt und er waren eine Stunde im Krankenhaus gewesen, obwohl ihre Mutter noch schlief. Man hatte sie vorgewarnt, dass sie mindestens zwei Tage lang unter starken Beruhigungsmitteln stehen würde. Sie würde frühestens morgen wach und ansprechbar sein. Trotzdem wollten die beiden Brüder an ihrem Bett sitzen, in ihr Gesicht sehen und sich mit leiser Stimme über ihre Hoffnungen und Ängste für die Zukunft unterhalten.
Matt erzählte, im Haus hätte das Telefon zwei Tage lang ununterbrochen geklingelt, weil ständig irgendwelche Verwandten anriefen, um zu fragen, wie es Isabel ging, und um ihre Hilfe anzubieten. Die Coopers waren eine große, eng miteinander verbundene Familie, die sich besonders in Krisenzeiten bewährte. So war es auch vor zwei Jahren gewesen, als sie die Brüder und ihre Schwester Claire nach dem gewaltsamen Tod des Vaters nicht allein gelassen hatte.
Der Tod des Vaters war ein plötzlicher schwerer Schlag gewesen. Die Krankheit der Mutter war eine langsame, quälende Tortur. Coopers Gedanken schweiften ab. Er versuchte sich an die Zeit zu erinnern, als sie noch alle zusammen gewesen waren. Es war erst zwei Jahre her, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. So etwas nannte man veränderte Umstände.
Er verstand nicht, warum ihn die Gegenwart seiner Familie diesmal nicht tröstete. Das starke Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugte einen Erwartungsdruck, dem er sich nicht länger gewachsen fühlte. Sie alle hielten ihn für einen klugen, beliebten Polizisten und zweifelten keinen Augenblick daran, dass er Karriere machen würde. Es war eine Bürde, die er nicht mehr tragen konnte.
Plötzlich kam es ihm so vor, als ob alles in seinem Leben schief ging, eine Sache nach der anderen. Es war, als ob er den Boden unter den Füßen verlor, als ob alle seine Hoffnungen nach und nach niedergetrampelt wurden. Warum musste die Krise seiner Mutter mit dem Dienstantritt von Diane Fry zusammenfallen?
Er wurde den Gedanken nicht los, dass die beiden Ereignisse etwas miteinander zu tun hatten. Sie waren ein Gemeinschaftsangriff auf sein privates und berufliches Leben, und er wusste nicht, wie er die Wirkung, die sie auf seine Gefühle, Stimmungen und sein Urteilsvermögen hatten, verkraften sollte.
Er musste zugeben, dass es ein Fehler gewesen war, bei der Festnahme von Lee Sherratt die Vorschriften zu umgehen. Fast wäre es zu einer Katastrophe gekommen – obwohl er sich einredete, dass er die Sache anders angepackt hätte, wenn Fry nicht dabei gewesen wäre. Und dann musste er plötzlich an Helen Milner denken; seit er sie am Montag nach so vielen Jahren bei seinem ersten Besuch im Dial Cottage wieder gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Seitdem hatte er in ruhigeren Momenten darüber spekuliert, ob er in ihr nicht vielleicht den Menschen finden könnte, mit dem ihn so viel verband, dass sich ein gemeinsames Leben darauf aufbauen ließ, jemand, der nicht zur Familie gehörte. Im Geiste hatte er sie seiner Mutter vorgestellt und gewusst, dass sie seine Wahl gutheißen würde. Es war eines der beiden Dinge, die sie sich am sehnlichsten wünschte – dass Ben die richtige Frau kennen lernen und heiraten würde und dass er zum Sergeant befördert wurde, genau wie sein Vater. Erst an diesem Morgen hatte er die Gelegenheit gehabt, ihre alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Aber er hatte sie ungenutzt verstreichen lassen, und warum? Wegen seiner Arbeit.
Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte der Tag auch noch mit dem Komposthaufen-Fiasko auf der Thorpe Farm geendet. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie auf der Dienststelle über ihn geredet wurde. In wenigen Stunden würde sich jeder Polizist in der Dienststelle E und womöglich in ganz Derbyshire das Maul über ihn zerreißen. Der Berg, den er erklimmen musste, um sich des Andenkens seines Vaters würdig zu erweisen, wurde höher und höher. In diesem Augenblick sah er für ihn wie der Mount Everest aus.
»Du hast gerade den Aufruf der Vernons verpasst«, sagte Matt.
»Ja? Und wie war es?«
»Unecht«, sagte Kate.
Cooper nickte. Er ließ sich in einen Sessel sinken und starrte den Fernseher an, ohne ihn zu sehen. Er hatte den Kopf voller Sorgen und Ängste. Wie sollte er sich überwinden, morgen wieder zur Arbeit zu gehen? Wie sollte er am Nachmittag den Besuch im Krankenhaus bewältigen, für den er sich frei genommen hatte, den Besuch, bei dem seine Mutter nicht mehr unter Beruhigungsmitteln stehen würde? Es dauerte einige Sekunden, bis er merkte, dass Kate mit ihm redete.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Alles in Ordnung, Ben?«
»Ja, alles bestens.«
»Ich wollte fragen, ob du heute Abend hier bleibst. Dann mache ich dir später noch etwas zu essen.«
Er konnte nicht zugeben, dass er es im Farmhaus einfach nicht aushielt. Ständig wurde er von dem Zwang getrieben, nach oben zu gehen und die Tür zum Zimmer seiner Mutter aufzumachen, obwohl er wusste, dass sie nicht da war. Es war wie ein Drang, die schlimmsten Augenblicke noch einmal zu durchleben, als ob er Buße tun müsste.
»Ah, nein. Ich wollte vielleicht noch ein Bier trinken gehen. Hast du Lust mitzukommen, Matt?«
Ihm entging nicht, dass Kate rasch den Arm seines Bruders drückte, wodurch sie deutlich zum Ausdruck brachte, was sie von seinem Vorschlag hielt.
»Nein, danke, Ben. Heute nicht. Ich muss morgen früh raus, weil ich auf der Südweide Kaninchen schießen will. Vielleicht morgen Abend, hm?«
»Gut.«
Cooper stieg in seinen Wagen und fuhr automatisch in Richtung Edendale, wo es eine Hand voll Pubs gab, in denen er hin und wieder verkehrte. Aber als er den Stadtrand erreichte und die vertrauten Umrisse der steinernen Giebel und der Schieferdächer im Dämmerlicht vor sich sah, überlegte er es sich anders. Er bog in eine Seitenstraße ab und fuhr über den Hügel nach Moorhay.
Das Dorf sah friedlich aus. Es waren keine Touristen und keine Polizisten zu sehen, nur die grünen Mülltonnen standen in einer Reihe am Straßenrand. Die Bewohner hatten die Türen hinter sich zugezogen, mancher von ihnen sicher mit einem eigenen Geheimnis, das er hütete.
Einige Schritte vor dem Dial Cottage hielt Cooper an. Er blieb eine Weile im Auto sitzen und beobachtete die Tür. Vielleicht täuschten ihn die Abenddämmerung, der Stress des vergangenen Tages oder seine heimlichen Hoffnungen. Aber er bildete sich ein, Helen Milner aus dem Cottage kommen zu sehen, genau wie am Morgen – ein warmes, lebendiges Leuchten vor dem dunklen Eingang. Er erinnerte sich an die Enttäuschung, die über ihr Gesicht gehuscht war, als sie begriff, dass er nicht zu ihr wollte. Er erinnerte sich an Gwen Dickinsons Worte: »Sie redet viel von Ihnen.« Konnte das wahr sein? Hatte Helen an ihn gedacht, so wie er an sie?
Cooper wiederholte die letzten Sätze, die zwischen ihnen gefallen waren: »Dann bist du also nicht immer Polizist?«, hatte sie gefragt. »Und was bist du für ein Mensch, wenn du einfach nur Ben Cooper bist?« – »Hättest du nicht Lust, das herauszufinden?« Und schließlich hatte sie gesagt: »Vielleicht.«
Er wendete ihre Worte hin und her, prüfte ihre Stimme auf verborgene Untertöne und versuchte, sich ganz genau an ihren Gesichtsausdruck und ihre Kopfhaltung zu erinnern, als sie sich schließlich von ihm abgewandt hatte. Der Tag würde kommen, versprach er sich. Der Tag würde mit Sicherheit kommen, an dem er kein Polizist war. Aber jetzt war es noch nicht so weit.
Er ließ den Toyota an und fuhr die letzten hundert Meter über das Kopfsteinpflaster bis vor den Drover. Für einen Mittwochabend herrschte in dem Wirtshaus viel Betrieb. Doch in ihrer angestammten Ecke saßen die drei alten Männer – Harry Dickinson, Wilford Cutts und Sam Beeley. Sie reckten die Köpfe nach ihm, als er hereinkam, und folgten ihm mit den Blicken bis zur Theke. Während er bestellte, machte einer von ihnen eine Bemerkung, die bei den anderen keckerndes Gelächter hervorrief. Er biss die Zähne zusammen, das Blut schoss ihm in die Wangen, aber er beherrschte sich. Er würde sich nicht von ihnen provozieren lassen.
Der Wirt, Kenny Lee, versuchte Konversation zu machen, aber als Cooper nicht darauf einging, wandte er sich gekränkt ab. Nachdem Cooper sein Bier bezahlt hatte, ging er zu dem Tisch in der Ecke hinüber. Die drei alten Männer sahen ihm entgegen, der Blick erwartungsvoll, aber den Mund fest zusammengepresst. Harry stand auf.
»Suchen Sie mich?«
»Eigentlich nicht. Ich wollte nur ein Bier trinken.«
Harry machte ein enttäuschtes Gesicht und nahm wieder Platz. Während Cooper sich einen abgewetzten Hocker an den Tisch zog, sich darauf niederließ und einen kräftigen Schluck Bier trank, ließen ihn die Männer nicht aus den Augen.
»Ein gutes Bier«, sagte er. »Das dachte ich mir schon. Aber als ich im Dienst war, konnte ich es nicht probieren.«
Die alten Männer nickten bedächtig. Hustend bot Sam ihm eine Zigarette an, die Cooper höflich ablehnte.
»Nicht viele Touristen hier, heute Abend, was?«
»Es ist Mittwoch«, sagte Sam.
Er spürte die unausgesprochenen Botschaften, die zwischen den drei Männern hin und her gingen. Dazu genügte ihnen ein kurzer Blick, ein knochiges Fingerklopfen auf dem Tisch. Sie waren wie eine eingespielte Gruppe Pokerspieler, die sich daran machten, einen Fremden bis auf das Hemd auszunehmen. Aber Cooper interessierte sich nicht dafür, was sie ihm nicht sagen wollten. Heute Abend nicht.
Er hüllte sich in Schweigen und baute darauf, dass die alten Männer früher oder später etwas sagen würden. Normalerweise saßen sie vermutlich stundenlang zusammen, ohne ein unnötiges Wort zu verlieren. Aber er war Gast an ihrem Tisch, und sie waren die Gastgeber. Er verließ sich auf ihre Höflichkeit.
»Na, wie kommen Sie voran?«, fragte Wilford schließlich.
»Womit?«
»Das wissen Sie doch, mein Junge. Mit dem Mord.«
»Überhaupt nicht«, sagte Cooper und hob sein Glas.
»Bitte?«
»Aber Sie haben doch Verdächtige«, sagte Sam. »Die können Sie verhören. Grelles Scheinwerferlicht, die Nummer mit dem netten Bullen und dem bösen Bullen. Bis sie klein beigeben.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Das können wir uns heutzutage nicht mehr erlauben. Es liegt an den neuen Vorschriften. Verdächtige haben auch Rechte.«
»Rechte?«
»Wenn wir nicht genügend Beweise haben, um Anklage zu erheben, müssen wir sie laufen lassen.«
»Und? Haben Sie keine Beweise?«, fragte Wilford.
»Nicht genug. Längst nicht genug.«
»Das ist schade.«
»Das ist sehr entmutigend. Manchmal würde man am liebsten die Brocken hinschmeißen.«
Harry hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt. Er beobachtete Cooper genau, seine Lippen, sein Gesicht, als ob er hinter seine Worte blicken wollte.
»Das war nicht unsere Schuld, die Sache mit den Schweinen.«
»Nein. Ich weiß.«
»Haben Sie Ärger gekriegt?«, fragte Wilford.
Cooper zuckte mit den Schultern. »In der nächsten Zeit werde ich unter den Kollegen wohl nicht sehr beliebt sein.«
»Das war nicht unsere Schuld«, echote Sam.
»Wir hatten es Ihnen ja gesagt. Blut und Knochen.«
»Das verrottet auch auf dem Misthaufen, so lange es nicht zu groß ist. Sonst muss man den Abdecker dafür bezahlen, dass er das Zeug mitnimmt.«
»Und wozu soll man dem Abdecker Geld in den Rachen schmeißen, wenn man es auch auf natürliche Weise beseitigen kann?«, sagte Sam.
»Wahrscheinlich waren sie auch noch nicht schlachtreif«, sagte Cooper.
»Nein, nein. Längst nicht schlachtreif. Die hätte man nicht verkaufen können.«
»Aber es ist schon eine komische Sache mit den Schweinen«, sagte Wilford. »Ihre Haut ähnelt unserer sehr.«
»Ihre Kollegen haben sich auf jeden Fall mächtig gegruselt«, sagte Sam lächelnd.
»Sie dachten ja auch zuerst, sie hätten ein paar Leichen gefunden«, sagte Cooper.
»Meine Herren, war die Ärztin sauer.«
»Die Pathologin. Es war falsch, sie zu holen.«
»Solche Ausdrücke habe ich im Leben noch nicht gehört«, sagte Wilford.
»Jedenfalls nicht von einem Arzt.«
»Und schon gar nicht von einer Ärztin.«
»Wussten Sie eigentlich, dass sie auch Sonnenbrand kriegen können?«, fragte Wilford. »Die Schweine, meine ich. Man darf sie nicht in der sengenden Sonne lassen. Die beiden waren im Stall gewesen, im Schatten. Darum war ihre Haut so sauber.«
»Und so weiß.«
»Aye. Es waren ja auch Middle Whites. Manche Leute schwören auf die alten Rassen, aber die Whites wachsen besser.«
Cooper schloss die Augen. Er spürte, dass ihm das Gespräch entglitt. Absurderweise musste er daran denken, wie er als Junge versucht hatte, in den Bächen um Edendale Fische zu fangen. Er wusste, wo sie waren, in welchen dunklen Ecken sie sich verbargen, und er konnte sie im Wasser fast mit den Händen greifen, aber dann brauchten sie bloß ein paar Mal zu zappeln, und schon waren sie ihm wieder entschlüpft, jedes Mal. Plötzlich überkam ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit, und er fragte sich, was er sich von diesem Besuch heute Abend überhaupt versprochen hatte. Er war hier völlig fehl am Platze. Nur wusste er im Moment leider auch nicht, wo er besser hingepasst hätte.
Er leerte sein Glas und stand auf.
»Wollen Sie schon gehen?«, fragte Sam. »Haben Sie etwas gegen unsere Gesellschaft?«
»Ich vergeude nur meine Zeit«, sagte Cooper und ging zur Tür.
Der Himmel war noch hell, und es war ein warmer Abend. Cooper blieb einen Augenblick stehen, atmete die abgestandene Luft ein und sah zur Silhouette der Raven’s Side hinauf, die das Dorf überragte. Dabei erinnerte er sich, dass es doch einen Ort gab, wo er hingehörte, wo er schon immer hingehört hatte.
Die Tür des Wirtshauses stand offen, um die Hitze hin auszulassen, und er hörte niemanden kommen. Doch dann drang eine Stimme an sein Ohr, die er wieder erkannte.
»Wenn Sie die richtigen Fragen stellen, bekommen Sie auch die richtigen Antworten.«
»Ach ja? Da bin ich mir nicht so sicher, Mr. Dickinson. Im Moment kommt mir alles ziemlich sinnlos vor.«
Harry sah ihn verständnisvoll an. »Haben Sie die Nase voll?«
»Das können Sie laut sagen.«
»Sie haben sicher den schwarzen Hund, mein Junge.«
»Was?«
»Das haben wir früher immer zu den jungen Leuten gesagt, wenn sie geschmollt haben oder jähzornig wurden. ›Du hast den schwarzen Hund im Nacken‹, hieß es dann. Und ich glaube, das gilt auch für Sie.«
Schmollte er? Das hatte schon lange niemand mehr zu ihm gesagt. Er war schließlich kein launischer Jugendlicher mehr.
»Ja, den Spruch kenne ich. Danke.«
»Keine Ursache, mein Junge.«
Seit ihm der alte Mann den Ausdruck erklärt hatte, erinnerte sich Cooper tatsächlich daran. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie seine Mutter ihm wieder einmal vorwarf, er hätte den schwarzen Hund. Es war eine dieser rätselhaften Formulierungen, die man als Kind nur halb begriff. Der schwarze Hund. Wörter mit einem unheimlichen Klang, die seine Phantasie anregten. Er hatte das Gefühl, dass sich der junge Ben Cooper dabei eine riesige, Angst einflößende Bestie vorgestellt hatte, die mit blutunterlaufenen Augen und triefenden Lefzen aus dem Moor auftauchte. In diese Erinnerung mischten sich auch die Geschichten, die ihm seine Großmutter Cooper vom legendären Black Shuck und dem Barguest erzählt hatte, Riesenhunden mit glühenden Augen, die unglückseligen Reisenden nachts auf der Straße auflauerten und sie geradewegs in die Hölle verschleppten.
»Du hast den schwarzen Hund im Nacken«, so hatte es immer geheißen. Kein sehr schönes Bild. Nachdem es sich erst einmal in seinem Kopf festgesetzt hatte, wurde er es nicht mehr los. Es tauchte in seinen Albträumen auf und riss ihn mit schnappenden Kiefern und wilden Augen aus dem Schlaf. Als Kind hätte er alles getan, um sich von dem schwarzen Hund zu befreien. Normalerweise half ihm seine Mutter dabei. Sie konnte ihn immer aufheitern und seine Trübsinnigkeit vertreiben.
Heute allerdings, wo sich ihre Rollen vertauscht hatten, war er nicht im Stande, seiner Mutter zu helfen, sich von dem riesigen schwarzen Hund zu befreien, der sie quälte.
Harry musterte ihn scharf, das lange Schweigen kam ihm verdächtig vor. Cooper schüttelte sich und starrte seinerseits den alten Mann an.
»Ich muss los, Mr. Dickinson. Vielleicht sieht man sich.«
»Ganz bestimmt, mein Junge.«
Wenige Minuten später saß Cooper auf der Raven’s Side und sah über das im Dämmerlicht liegende Tal nach Win Low hinüber.
Er mochte die Namen der Berge in diesem Teil des Peak District, in denen noch ein Anklang an die Zeit der dänischen Eroberer mitschwang, die Derbyshire mehrere Jahrzehnte lang besetzt gehalten hatten. In der Schule hatte er gelernt, dass der Rabe – Raven – das Symbol Odins war, des höchsten Wikingergottes. Und die Dänen waren nicht die Einzigen gewesen, die den Bergen übernatürliche Kräfte zuschrieben.
Auf der gegenüberliegenden Talseite fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf die Witches und malten blutrote Streifen auf ihre westlichen Hänge, sodass die Spitzen fast melodramatisch wie in einem Relief hervorgehoben wurden. Sie sahen wirklich beinahe wie Hexen aus, die sich jeden Augenblick auf ihren Besenstielen in die Luft schwingen konnten. Kein Wunder, dass die Bewohner des Tals sie in früherer Zeit gefürchtet hatten. Die Felsen strahlten etwas Düsteres, Böses aus und wirkten noch an den sonnigsten Tagen schwarz und bedrohlich. Es war verständlich, dass abergläubische Dorfbewohner sie für alles erdenkliche Missgeschick und Unheil verantwortlich machten.
Cooper saß unweit der Stelle, wo Gary Edwards am Abend des Mordes an Laura Vernon gestanden haben musste. Der Blick reichte zu den Gärten der Cottages in Moorhay in der einen Richtung bis zum Dach der Alten Mühle in Quith Holes in der anderen, über die ausgedehnten Wälder bis hinunter zu der kurvenreichen Straße im Tal. Der Bach war von hier aus nicht zu sehen, und am Fundort der Leiche standen die Bäume dicht an dicht.
Das letzte Abendlicht auf den dunkleren Teilen des Waldes verzerrte die Schatten und löschte die Farben aus, bis alles Grün und Braun zu einem dunklen, stellenweise violett getupften Gewirr verschmolzen war. Das Licht fiel fast senkrecht vom Berg hinunter, flachte die Perspektive ab und reduzierte die Wälder auf eine zweidimensionale Landschaft, in der Farbe keine Bedeutung mehr hatte.
Cooper sah noch einmal zum Gipfel von Win Low und den Witches hinüber. Es gab dort drüben einen alten Saumpfad, unterhalb des Schattens, den die zerklüfteten Felsen warfen. Doch nur ein mutiger Reisender hätte es gewagt, diesen Weg in der Nacht zu beschreiten. Nur allzu leicht konnte man der Einbildung erliegen, dass auf dem dunklen Grat die schwarzen Hunde aus der Legende auf der Lauer lagen, zum Sprung bereit.
Und wenn man die schwarzen Höllenhunde erst im Nacken hatte, wurde man sie nie wieder los.