25
Der alte Mann saß kerzengerade auf dem Plastikstuhl im Vernehmungszimmer und starrte DCITailby und DC Fry würdevoll an, als wüsste er als einziger Anwesender, wie man sich richtig benahm.
»Vernehmungsbeginn 14:30 Uhr, Freitag, den 27. August. Anwesend sind Detective Chief Inspector Tailby …«
»Detective Constable Fry …«
Tailby nickte Harry zu. »Würden Sie sich bitte für die Aufnahme identifizieren, Sir?«
»Ich heiße Harry Dickinson.«
»Sie haben das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen, Mr. Dickinson. Haben Sie einen eigenen, oder sollen wir Ihnen einen Pflichtverteidiger
stellen?«
»Ich brauche keinen.«
»Sind Sie sicher?«
Harry ignorierte die Frage. Tonband hin oder her, schien er zu sagen, es gab Zeiten, wo jedes Wort zu viel gewesen wäre.
»Sind Verpflegung und Ruhezeiten ausreichend?«, fragte Tailby förmlich. »Hat man Ihnen Gelegenheit gegeben, einen Telefonanruf zu
tätigen?«
»Wo ist mein Hund?«
»Er wird versorgt, Mr. Dickinson«, sagte Fry.
»Sie ist eine Sie, kein Er«, sagte er mit unverhohlener Verachtung.
Tailby warf ihm einen zornigen Blick zu. »Wir müssen Ihnen noch weitere Fragen stellen, Mr. Dickinson.«
Harry starrte ihn stoisch an. Obwohl er noch immer den Wachspapieroverall trug, erweckte er fast den Eindruck, einen Anzug zu tragen. Die Turnschuhe, die man ihm gegeben hatte, sahen beinahe so aus, als ob sie über Nacht geputzt worden wären.
»Dann fragen Sie«, sagte er.
Harrys Vernehmung dauerte mit Unterbrechungen den ganzen Tag. Man sorgte dafür, dass er zu den gewohnten Zeiten zu essen bekam und sich zwischen den Sitzungen ausruhen konnte. Immer wieder wurde er gefragt, ob er einen Anwalt wollte.
Nach dem Polizeigesetz waren die Beamten dazu verpflichtet zu gewährleisten, dass er die ihm gestellten Fragen verstand, dass er weder depressiv noch erschöpft war oder unter dem Einfluss irgendwelcher bewusstseinsverändernder Substanzen stand, dass er ausreichend verpflegt wurde und die Toilette benutzen durfte.
Wechselnde Teams lösten sich bei der Befragung ab, um Zielrichtung und Art der Fragen immer wieder ändern und Harrys Aussage so vielleicht erschüttern zu können. Die abgelösten Beamten hörten in der Zwischenzeit die öden Aufnahmen über Kopfhörer ab und hielten die Aussagen im Vernehmungsprotokoll fest. Zwischen den Sitzungen analysierten sie die Ergebnisse und überlegten sich das weitere Vorgehen. Außerdem hatten auch die Beamten – nach einer Stunde mit Harry Dickinson – eine Pause bitter nötig.
»Natürlich können auch alte Männer sich mal geil fühlen, das verstehen wir, Harry. Der Geschlechtstrieb verschwindet schließlich nicht ganz. Stimmt’s, Harry? Nicht wie manche Leute denken. Die jungen Dinger erregen Sie immer noch, stimmt’s?«
DI Hitchens beugte sich weit über den Tisch und sah Harry forschend an. Er suchte nach einem Sprung in der starren Maske. Um irgendeine Reaktion zu provozieren, bohrte und stocherte er weiter.
»Es ist bloß kein schöner Gedanke, dass der eigene Großvater immer
noch hinter den jungen Dingern her ist, genau wie früher. Deshalb tut man lieber so, als ob so was nicht vorkommt. Kehren wir es unter den Teppich, und reden wir nicht davon. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Aber wir wissen es besser. Nicht wahr, Harry?«
Harry schwieg, eingehüllt in seine Lebenserfahrung, und sah Hitchens an, als ob er einen Einfaltspinsel vor sich hätte.
»Weil es manchmal zu weit geht. Weil Sie sich manchmal nicht beherrschen können. Habe ich Recht, Harry?«
Der alte Mann zog verächtlich eine Augenbraue hoch. Was seine Selbstbeherrschung anging, konnte er noch manchem Jüngeren etwas vormachen.
Alle Beamten, die an den Vernehmungen teilnahmen, waren in Befragungstechnik ausgebildet. Der Schlüssel zum Erfolg waren offene Fragen wie wer, warum, wann, wo und wie, mit denen man sich an das Ziel herantastete. Auf die Antworten folgte das gezielte Nachfassen. Die Theorie besagte, dass es umso unmöglicher wurde, eine erfundene Geschichte aufrechtzuerhalten, je länger und genauer man ihr auf den Grund ging.
Und was Entscheidungsfragen anging, also Fragen, die sich mit einem einzigen Wort beantworten ließen, so waren sie für jemanden wie Harry ein gefundenes Fressen.
»Uns liegt die Aussage eines Mr. Gary Edwards vor, eines Vogelbeobachters, der in der Nähe des Fundortes von Laura Vernons Leiche eine Person gesehen hat, auf die Ihre Beschreibung passt. Eine Person, die von einem Hund begleitet wurde. Waren Sie das, Mr. Dickinson?«
Diane Fry sah Harry erwartungsvoll an. Er wirkte von Minute zu Minute entspannter und ruhiger, als ob es ihn nicht das Geringste anginge, was in dem klaustrophobischen Vernehmungsraum passierte. Ironischerweise schien ihm der Stress, unter dem die Beamten litten, nichts anhaben zu können. Sie wussten, dass sie ihm bald eine weitere Pause gönnen mussten, ohne dass sie auch nur einen einzigen Schritt weitergekommen wären.
»Helles Kerlchen, dieser Vogelfreund, hm? Hat er mich so genau gesehen, dass er Ihnen zum Beispiel sagen konnte, was für eine Farbe meine Augen haben?«
»Mr. Edwards hat einen alten Mann gesehen.«
»Sehen wir etwa alle gleich aus?«, sagte Harry und grinste unverschämt.
»Unsinnige und dumme Bemerkungen werden ignoriert«, hieß es im Lehrbuch. Aber die Vernehmungsbeamten stürzten sich auf jede Bemerkung, die Harry fallen ließ, ganz gleich, wie unsinnig oder dumm sie auch war. Sie waren froh über jede Reaktion, die nicht nur aus einem versteinerten, verächtlichen Blick bestand.
Harry gab sich ganz wie ein Mann, der eine ungeheuerliche Zumutung geduldig über sich ergehen ließ. Obwohl er keine Emotionen zeigte, ließ er die Beamten wortlos spüren, dass sie sich ihn für immer zum Feind gemacht hatten.
»Ist das die Taktik, die Sie bei Ihrer Frau anwenden, Harry? Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß? Frauen glauben immer gleich das Schlechteste, ganz egal, was man ihnen erzählt. Deshalb ist es besser, man erzählt ihnen gar nichts. Ist es nicht so? Und am glücklichsten sind sie sowieso, wenn man sie glauben lässt, was sie wollen. Habe ich nicht Recht, Harry?«
Das einzige, was Harry fehlte, war seine Pfeife, aber er würde ihnen nicht die Freude machen, ihm das Rauchen zu verbieten. Er blickte leicht abwesend von Hitchens zu Fry, fast so, als ob er sich fragte, was sie in seinem Zimmer verloren hatten.
»Oder weiß Gwen sogar Bescheid, was Sie treiben? Vielleicht würde sie es uns gern erzählen. Wir haben sie nämlich hier, Harry. Sie ist in einem anderen Vernehmungsraum. Was sagen Sie dazu?«
»Wer füttert meinen Hund?«, fragte Harry.
Ben Cooper bearbeitete die Routinefälle, die über Nacht hereingekommen waren. Ihm dröhnte der Kopf, als ob jemand einen Presslufthammer durch sein Gehirn trieb. Sein Mund war trocken, er hatte einen ekelhaften Geschmack auf der Zunge, und sein ganzer Körper tat ihm weh. Er hatte DS Rennie gesagt, dass die Wunde am Kopf von einem Unfall auf der Farm herrührte.
Dann hatte er eine halbe Stunde lang einen Schafschänderwitz nach dem anderen über sich ergehen lassen müssen, während ihm speiübel war und sich ihm fast der Magen umgedreht hätte.
Als er am Morgen aufgewacht war, hatte er keine Ahnung gehabt, wo er sich befand. Ein fremdes Bett in einer fremden Wohnung und keine Erinnerung daran, wie er hergekommen war. Die einzigen Anhaltspunkte, die er hatte, waren ein teuflischer Kater und sein zerschlagener, mit Schrammen übersäter Körper, doch auch die halfen ihm nicht viel weiter.
Aufschluss gab ihm erst ein alter Briefumschlag auf dem Nachttisch, auf den eine Nachricht gekritzelt war. »Musste ins Büro. Schlage vor, du meldest dich krank. Was immer du tust, verschon mich damit.« In seinem Zustand dauerte es mehrere Minuten, bis er darauf kam, um wen es sich bei diesem »DF« handelte, der die Nachricht unterschrieben hatte.
Allmählich meldeten sich dann auch ein paar graue, bruchstückhafte Erinnerungen zurück. Er erinnerte sich an den Besuch im Dojo und an das Telefongespräch mit Helen Milner. Plötzlich wusste er auch wieder, wie Diane Fry ihn fertig gemacht und erniedrigt hatte. Es lag klar auf der Hand, dass sie seine Chancen bei Helen mit voller Absicht sabotiert hatte und ihn vor seinen Freunden im Dojo blamieren wollte. Sonst hätte sie ihm nicht verschwiegen, dass sie den vierten Dan und den schwarzen Gürtel hatte, als er angegeben und sie zum Kampf herausgefordert hatte. Als er merkte, dass sie ihn ins offene Messer laufen lassen wollte, war er wutentbrannt aus dem Studio gestürmt.
Undeutlich erinnerte er sich an den Pub hinter dem Busbahnhof. Es war das dritte Lokal, das er aufgesucht hatte. Er wusste auch noch, dass dort irgendetwas geschehen war. Doch danach ließ ihn sein Gedächtnis völlig im Stich. War es um Schweine gegangen? Doch, schon möglich. Das erklärte aber noch lange nicht, wie er in Diane Frys Bett gelandet war und woher seine Verletzungen stammten. Ob sie ihn zusammengeschlagen hatte? Zuzutrauen wäre es ihr. Sie hatte ihn ja auch sonst nach Strich und Faden fertig gemacht.
Auch als Cooper sich schließlich ins Büro geschleppt hatte, kehrten die Erinnerungen nicht zurück. Das einzige, woran er denken konnte, waren seine schwarzen Hunde – die Katastrophen, die ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatten, eine nach der anderen.
Plötzlich fiel ihm seine Mutter ein, die im Krankenhaus lag. Er stöhnte. Wie hatte er sie bloß vergessen können? Wie hatte er sich eine solche Dummheit leisten können? Er dachte an das Gespräch mit Superintendent Jepson und fluchte heftig. Das war garantiert auch Diane Frys Werk – sie hatte sich an DI Hitchens rangemacht und ihn becirct. Wahrscheinlich, als sie über Nacht zusammen in Yorkshire gewesen waren. Sehr gemütlich. Damit konnte er natürlich nicht konkurrieren.
Cooper schämte sich, dass er seine Mutter angelogen hatte. Er war verzweifelt, dass Helen Milner ihn abgewiesen hatte. Kein Mensch hatte etwas für ihn übrig. Und jetzt hatte er sich letzte Nacht auch noch mindestens zum Narren gemacht und sinnlos betrunken. Gott weiß, was er sich sonst noch alles geleistet hatte. Genauso gut konnte er nach Hause gehen und sich in die Jauchegrube stürzen. Er hatte nur noch knurrende schwarze Hunde im Kopf. Schwarze Hunde und Schweine.
Unter den neu hereingekommenen Straftaten war auch ein Bericht über drei Jugendliche, die bei einer nächtlichen Prügelei in Edendale leichtere Verletzungen davongetragen hatten. Alles deutete auf eine Meinungsverschiedenheit unter Betrunkenen hin. Die Jugendlichen selbst hatten sich nicht zur Sache geäußert und waren nach Hause geschickt worden. Es gab dringendere Fälle – eine Reihe von Einbrüchen und Autodiebstählen, sowie einen Überfall auf eine Sparkasse.
Außerdem hatte DS Rennie ihn über eine Vergewaltigung in Moorhay informiert, bei der man Harry Dickinson als Tatverdächtigen festgenommen hatte. Er schüttelte den Kopf und kramte in seiner Schreibtischschublade erfolglos nach einem Schmerzmittel. Heute Morgen ging aber auch alles schief. Einfach alles.
Im Laufe des Vormittags tauchte Diane Fry im Kripo-Büro auf. Weil Cooper nicht wusste, was er zu ihr sagen sollte, hielt er den Blick lieber gesenkt. Was sagte man auch zu einer Frau, in deren Bett man aufgewacht war, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was sich in den davor liegenden Stunden abgespielt hatte? Es gab nur einen Ausweg, er musste sie zuerst etwas sagen lassen – wenn sie wollte.
Aber sie ließ ihn erst einmal mehrere Minuten schmoren. Sie blätterte in ihren Unterlagen, machte sich ein paar Notizen und telefonierte. Schließlich kam sie zu ihm herüber. Er sah noch immer nicht hoch und hoffte inständig, dass sie ihn zuerst ansprechen würde.
»Du siehst beschissen aus.«
»Danke, so fühle ich mich auch.«
Fry ging weiter. Cooper blieb benommen sitzen, bis sie mit einer Hand voll Berichten zurückkam.
»Willst du eine Kopfschmerztablette?«
»Es geht schon.«
»Hauptsache, du kotzt nicht auf den Tisch. Ich kann den Gestank nicht ausstehen.«
»Es geht schon. Wirklich.«
»Okay.«
Obwohl Cooper nicht auf der Höhe war, merkte er doch, dass Fry, die wie eine rachsüchtige Matrone hinter ihm stand, zögerte. Schuldgefühle strahlte sie nicht aus, nur eine leise Wut, gepaart mit unwilliger Besorgnis. Cooper versuchte, die Abläufe der vergangenen Nacht zu rekonstruieren. In seiner Erinnerung klafften immer noch riesige Lücken, und die Sache mit den Schweinen wollte nirgendwo hineinpassen, aber plötzlich wusste er, dass er etwas Schlimmes angerichtet hatte, etwas absolut Schwachsinniges. Was erwartete sie also von ihm? Dass er sich entschuldigte? Aber wie sollte man sich für etwas entschuldigen, woran man sich nicht erinnern konnte?
»Danke jedenfalls«, sagte er matt. »Danke, Diane – wofür auch immer.«
Sie seufzte laut, legte die Berichte weg und hockte sich auf seinen Schreibtisch. Cooper zuckte zusammen.
»Ich weiß nicht, ob du in der Verfassung bist, darüber zu reden. Aber wusstest du, dass wir Harry Dickinson festgenommen haben?«
»Ja.« Cooper sah hoch. Sie musterte ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Spott. Immerhin ein kleiner Fortschritt. »Was hat er gesagt?«
Sie schnaubte verächtlich. »So gut wie gar nichts. Er macht sich mehr Gedanken um seinen blöden Köter als um sich selbst.«
»Und wo ist das Mädchen, das er überfallen haben soll?«
»Bei der Opferbetreuung. Sie wird gerade befragt.«
»Glauben Mr. Tailby und Mr. Hitchens, dass sie Harry Dickinson zu einem Geständnis bewegen können?«
Fry machte ein nachdenkliches Gesicht, zog sich einen Stuhl heran und hockte sich neben Cooper. Abwesend schob sie seine Akten beiseite, um auf dem Schreibtisch etwas Platz zum Aufstützen zu bekommen.
»Irgendwie ist es eine komische Sache. Die Kollegen, die ihn festgenommen haben, hatten den Eindruck, als ob er schon auf sie gewartet hätte. ›Das ging ja schnell, mehr hat er nicht gesagt. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er überhaupt nicht richtig begreift, worauf wir hinauswollen. Als ob wir ihm von Anfang an die falschen Fragen gestellt haben und er nicht versteht, warum.«
»Ein Gefühl, Diane?«
»Ja. Na und?«
»Nur so.«
Cooper begann, mit dem Kugelschreiber etwas auf einen Zettel zu kritzeln. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich allmählich. Das hier war besser als eine Kopfschmerztablette, um die Gedanken ins Rollen zu bringen.
»Was machst du da, Ben?«
»Ich glaube, du könntest Recht damit haben, dass ihr ihm die falschen Fragen gestellt habt. Sieh dir das mal an. Es muss eine Verbindung geben.«
Er hatte eine Skizze aufs Papier geworfen. Sie zeigte verschiedene Mitglieder der Familien Vernon und Milner, die durch Linien miteinander verbunden waren. Harry Dickinson war mit Laura Vernon durch das Finden ihrer Leiche verbunden, sein Schwiegersohn Andrew mit Graham Vernon durch die Firma und Helen Milner wiederum mit Graham durch den Zwischenfall auf der Party. Eingezeichnet war auch Helens Cousin Simeon, der Lauras Freund gewesen war und Harry und den anderen alten Männern auf der Farm geholfen hatte. Und zuletzt tauchte wieder Harry auf, mit einer geschlängelten Linie zu Graham Vernon, die das geplante Treffen zwischen den beiden repräsentierte, dessen Zweck unbekannt war.
Fry deutete auf Harrys Namen.
»Genau genommen hat er nicht …«
»… die Leiche gefunden, ich weiß. Nur den Turnschuh.«
»Und das war eigentlich auch nicht er, sondern sein Hund.«
»Aber hinter dem beabsichtigten Treffen mit Vernon, von dem er uns erzählt hat, steht ein dickes Fragezeichen. Was wollte er von ihm? Außerdem hat ihn der Vogelfreund gesehen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Harry Dickinson hat irgendetwas mit der Sache zu tun. So viel steht fest.«
»Das fühlst du?«
»Nein. Das weiß ich.«
Er sah Fry vorsichtig an. Seit sie den Fall Vernon besprachen, schien sich die Spannung zwischen ihnen wie durch ein Wunder verflüchtigt zu haben. Sie hatte jemanden gebraucht, mit dem sie reden konnte, und sie war zu ihm gekommen, obwohl in ihrem Blick noch so etwas wie Verachtung lag. Was auch immer zwischen ihnen vorgefallen war, vielleicht konnte sie es irgendwann vergeben oder zumindest ignorieren, damit sie sich wieder um ihre Arbeit kümmern konnten. Vielleicht würde ihm sogar eines Tages wieder einfallen, was passiert war.
»Okay. Nehmen wir mal an, dass Harry Dickinson irgendwie mit drinsteckt. Dann wäre es doch möglich, dass er jemanden deckt.«
»Auf keinen Fall Graham Vernon.«
»Die beiden können sich auf den Tod nicht ausstehen.«
»Also muss es jemand aus der Familie sein«, sagte Cooper.
»Ja, eine Familie hält zusammen. Wenn es gegen Fremde geht, schließt man die Reihen.«
»Dazu sind Familien da.«
»Vielleicht deckt er Simeon Holmes, seinen Großneffen.«
»Der Familie zuliebe würde Harry versuchen, ihn zu schützen.«
»Familienbande. Ein starkes Motiv.«
»Aber Simeon behauptet, mit dreißig anderen Motorradfahrern in Matlock Bath gewesen zu sein, fast fünfzig Kilometer entfernt«, sagte Cooper. »Habt ihr das Alibi knacken können?«
»Hast du mal versucht, als Polizist aus dreißig Motorradfahrern etwas über einen Kumpel herauszuholen?«
Ihm dröhnte der Kopf. Ein paar Minuten lang hatte er die Schmerzen fast vergessen gehabt.
»Da wäre übrigens noch etwas, Diane. Ich finde, du solltest noch einmal mit Gary Edwards sprechen, dem Vogelbeobachter.«
»Mit dem? Warum?«
»Irgendetwas stimmt nicht an seiner Aussage.«
»Da hast du Recht. Dave Rennie hat sie aufgenommen. Mr. Tailby hat selbst gesagt, dass sie nichts taugt. Rennie hat Edwards nie auf die genaue Zeit festgenagelt.«
»Hat in der Zwischenzeit noch einmal jemand bei ihm nachgehakt?«
Fry runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht. Es war bestimmt geplant, aber nachdem wir Sherratt festgenommen hatten, wurde es wahrscheinlich in der Priorität heruntergestuft.«
»Und dann ist es irgendwo im System versandet.«
»Und nachdem sie angefangen haben, die Leute von der Ermittlung abzuziehen …«
»Ja, mich zum Beispiel. Rede doch selbst noch einmal mit ihm, Diane, ja? Machst du das?«
»Du meinst, er kann Harry eindeutig identifizieren? Seine Beschreibung ist doch viel zu vage.«
»Dann musst du ihn ein bisschen bearbeiten. Er weiß etwas, ganz bestimmt. Du musst es machen.«
Fry schwieg, nur ihr Atem war zu hören. »Wer glaubst du eigentlich, wer du bist, Ben?«
Cooper hob erstaunt den Kopf. Eine Zeit lang hatte er seine Sorgen vergessen und überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass er mehr als einen Grund hatte, Diane Fry zu hassen. Doch ihr wütender Blick und ihr aggressiver Ton ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Gefühl der Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Ich bin nur vorbeigekommen, um dich auf dem Laufenden zu halten, weil ich dachte, dass es dich interessieren würde. Aber Tatsache ist, du arbeitest nicht mehr an diesem Fall. Du hast genug andere Dinge zu tun. Ich brauche mir von dir keine Anweisungen geben zu lassen. Wer glaubst du eigentlich, wer du bist?«
Cooper wurde ebenfalls wütend. Noch nie hatte er sich so über einen Menschen ärgern müssen wie über Diane Fry. Wie schaffte sie es bloß, ihn so zu provozieren, dass er Dinge zu ihr sagte, die er im Traum nicht zu irgendeinem anderen Menschen gesagt hätte?
»Im Moment habe ich keine Ahnung, wer ich bin. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich niemand bin. Als ob ich nur eine Rolle einstudiere, in der meine Familie mich sehen möchte. Bis ich genau wie mein Vater bin.«
»Ach ja? Na, wenigstens hast du eine Familie«, sagte sie.
»Was soll denn das jetzt wieder heißen?«
»Nichts. Es spielt keine Rolle.« Sie stand plötzlich auf und sah sich angeekelt das Durcheinander auf seinem Schreibtisch an.
»Dann willst du mich also hängen lassen?«, fragte er.
Sie antwortete nicht und wechselte das Thema. »Ich habe noch eine Neuigkeit für dich. Lee Sherratt ist auf Kaution draußen.«
»Was?«
»Er behauptet, dass er nie die Absicht hatte, das Gewehr zu benutzen. Er sagt, du hättest ihn erschreckt, und er hätte es gerade zufällig in der Hand gehabt. Er hätte es gereinigt. Es war sowieso nur ein Luftgewehr. Dafür braucht man noch nicht mal einen Waffenschein. Okay, er gibt zu, dass er gewildert hat, aber was kostet ihn das schon? Ein paar Pfund Strafe?«
Fry wollte gehen, zurück zu den Vernehmungsräumen und einer weiteren Sitzung mit Harry Dickinson.
»Und was ist mit Laura Vernon?«, fragte Cooper.
»Was soll mit ihr sein? Wir können Sherratt in Bezug auf Laura Vernon nichts nachweisen. Mr. Tailby hat sein Möglichstes getan.«
»Macht er sich keine großen Hoffnungen?«
»Wir haben keine Beweise. Sicher, das Sperma in dem gebrauchten Kondom stammt von ihm – aber wir haben Charlotte Vernons Aussage, dass sie mehr als einmal Sex mit ihm hatte. Es wäre auch durchaus möglich, dass Sherratt derjenige war, der an dem fraglichen Abend um 18:15 Uhr noch mit Laura gesprochen hat. Ich bin sogar felsenfest überzeugt davon. Aber wenn er es nicht zugibt? Beweisen können wir es ihm nicht. Und das weiß Sherratt ganz genau.«
»Aber wir haben doch noch die Bissspuren. Hat man ihm zu Vergleichszwecken einen Gebissabdruck abgenommen?«
»Sinnlos. Das zahnmedizinische Gutachten aus Sheffield ist da. Mr. Tailby ist wütend, dass sie uns auf dieses Ergebnis so lange haben warten lassen.«
»Was für ein Ergebnis?«
»Ben – der Biss hat die falsche Form. Nicht nur, dass er nicht von Lee Sherratt stammt, er ist noch nicht einmal menschlich.«
»Was meinen Sie, was jetzt aus Ihrem Hund wird, Mr. Dickinson?«
»Was soll das heißen?«
Diane Fry reckte angriffslustig das Kinn vor. »Wenn Ihr Hund Laura Vernon angegriffen und gebissen hat, könnten wir das als schwere Ordnungswidrigkeit im Sinne des Kampfhundegesetzes werten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das Gericht könnte veranlassen, dass Ihr Hund eingeschläfert wird«, sagte sie.
»Da müssen sie vorher mich einschläfern.«
»Aber es ist tatsächlich nicht auszuschließen«, sagte Hitchens, der Harrys Reaktion gespannt verfolgt hatte. »Wenn Ihr Hund für den Angriff verantwortlich war, der zu Laura Vernons Tod geführt hat, wäre es sogar mehr als wahrscheinlich. Wie ist noch einmal der genaue Wortlaut, Diane?«
»Das Gesetz spricht von ›unbeaufsichtigten Hunden, die Privatpersonen verletzen‹.«
»Sie können doch gar nicht wissen, dass es Hundezähne sind«, sagte Harry.
»Und ob wir das wissen können. Für solche Fragen haben wir heutzutage Experten, Harry. Experten mit sehr aufwändigen Instrumenten. Wie zum Beispiel Computertomographen und elektronischen Bildverstärkern. Damit können die Fachleute so etwas erkennen.«
»Aye?«
»Wollen Sie hören, was einer dieser Experten zu sagen hat? Ich habe das Gutachten hier.« Hitchens zog den Bericht des Odontologen hervor. Geflissentlich übersprang er den Absatz, in dem ausgeführt wurde, dass die teuren Geräte nur deshalb zum Einsatz gekommen waren, weil die Bissspuren nicht tief genug waren, um sie mit den üblichen Methoden auszuwerten. »Da hätten wir es ja. Der Gutachter schreibt: ›Es wird festgehalten, dass der menschliche Biss durch eine einzigartig ovale Form des Abdrucks gekennzeichnet ist, in deren Mitte sich fast immer ein ›Saugfleck‹ abzeichnet. Die meisten Menschenbisse weisen Abdrücke von mehreren der sechs oberen oder unteren Schneidezähne auf, gelegentlich auch von beiden Zahnreihen. Im Gegensatz zum runderen Menschenbiss haben Hundebisse eine eckige Form, wie ein Karo. Mit Hilfe der elektronischen Bildverstärkung lässt sich unter dem Mikroskop eindeutig das Verletzungsmuster eines Hundebisses erkennen‹.«
Hitchens blickte auf. »Mit anderen Worten, es war ein Hundebiss, Harry. Laura Vernon wurde von einem Hund gebissen. Wir meinen, dass es Ihr Hund war.«
Harry starrte ins Leere. Die Beamten warteten ab. Instinktiv erkannten sie, dass es besser war zu schweigen.
»Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich die Kleine getötet habe und dass sie erst hinterher gebissen wurde? Würde das etwas nützen?«
Fry staunte. Konnte es wirklich so einfach sein? Nachdem der alte Mann sie so lange auf Granit hatte beißen lassen? DI Hitchens reagierte zurückhaltender. Er hatte schon zu oft Aussagen gehört, die in der gespannten Atmosphäre des Vernehmungszimmers wie Geständnisse klangen und sich dann im kalten Licht des Gerichtssaals nicht halten ließen. Und Harrys Bemerkung war noch nicht einmal eine Aussage gewesen, sondern eine Frage.
»Sie müssen uns erst überzeugen, Harry. Wollen Sie uns jetzt erzählen, was wirklich passiert ist?«
Aber Fry unterbrach ihn. Sie hatte eine Frage, die nicht warten konnte.
»Würden Sie sich wirklich für einen Hund opfern?«
Harry sah sie ruhig an. Der Schmerz in seinen Augen sprach Bände. Seine harte Schale hatte einen Riss bekommen. Er konnte seine Gefühle nicht mehr zurückhalten. Sie brachen mit Macht hervor und ließen sich auch durch eisernen Stolz nicht länger eindämmen.
»Sie würden das nicht verstehen«, sagte er. »Das sieht doch ein Blinder, dass Sie keinen Funken Liebe im Leib haben.«