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Und wohin jetzt?«, fragte Cooper.
»Was ist denn mit Ihnen los? Sind Ihnen die Käsebrote nicht bekommen?«
»Mir geht es gut. Also, wohin jetzt?«
»Thorpe Farm«, sagte Fry mit einem Blick auf die Landkarte.
»Das ist eine von den Kleinfarmen. Am Ende der Straße liegt noch eine. Bents Farm. Die dürfen wir auch nicht vergessen.«
Cooper musste warten, bis zwei Frauen an dem Toyota vorbeigeritten waren. Die Bewegungen der Pferde waren langsam und elegant, das Fell ihrer muskulösen Hinterteile glänzte. Die Reiterinnen grüßten mit einem Kopfnicken und sahen interessiert in den Wagen hinein, als ob Autofahrer in Moorhay eine Seltenheit wären. Jemand kam aus dem Drover, schob einen Keil unter die Tür und stellte vor dem Pub eine Tafel auf. Aus dem kleinen Laden mit dem Postamt schallte Gelächter.
Auf der anderen Straßenseite war ein Handwerker, der auf einer Leiter stand und Musik aus einem Transistorradio hörte, damit beschäftigt, die Wand eines Hauses neu zu verfugen. Eine ältere Frau kam aus dem Cottage und wechselte ein paar Worte mit ihm, vermutlich bot sie ihm eine Tasse Tee an. Als sie den Toyota bemerkte, sagte sie noch etwas, woraufhin sich der Handwerker neugierig umdrehte. Cooper hatte die alte Dame bereits aufgesucht. Sie schien mehr über die restlichen Dorfbewohner zu wissen, als gut für sie war, aber über Laura Vernon konnte sie nichts sagen. Gar nichts.
Cooper hatte den Eindruck, dass in Moorhay wesentlich mehr Betrieb herrschte als sonst. Es war, als ob der Mord an Laura Vernon das Dorf neu belebt und seine Bewohner angesichts der Tragödie zusammengeschweißt hatte. Vielleicht hatte er ihnen aber auch nur ein neues Gesprächsthema geliefert.
Zielstrebig lenkte er den Toyota in einen tief ausgefahrenen Feldweg, der von Bäumen überschattet war. Das Gras zwischen den beiden Fahrspuren war so hoch, dass es den Unterboden des Wagens berührte. Die Bäume waren hauptsächlich Buchen, gemischt mit ein paar riesigen Rosskastanien, die ein dichtes Laubdach bildeten. Im Herbst war der Weg wahrscheinlich eine Attraktion für die Dorfkinder, die mit Stöcken und Steinen versuchten, die Kastanien herunterzuholen.
»Und wer wohnt hier draußen?«, fragte Fry. »Wahrscheinlich Ihre alte Tante Alice, hm? Bestimmt ist es jemand, der Sie willkommen heißt, als ob Sie der verlorene Sohn persönlich wären. Irgendein Cousin zweiten Grades. Stammen Ihre Eltern eigentlich aus großen Familien? Inzucht schädigt nämlich das Gehirn.«
»Ich kenne diese Höfe nicht«, sagte Cooper.
Gleich nach der ersten Biegung konnten sie nur noch im Schneckentempo fahren, um die Stoßdämpfer zu schonen. Schon jetzt kam es ihnen so vor, als ob sie das Dorf kilometerweit hinter sich gelassen hätten. Die Bäume standen dicht wie eine Mauer und verstellten ihnen den Blick auf die Häuser. Der Wald, durch den sie fuhren, war sehr alt, und er wurde, wie Cooper erkannte, nicht so gepflegt, wie es für seine gesunde Entwicklung nötig gewesen wäre. Viele tote Äste und Zweige, die von den letzten Winterorkanen heruntergerissen worden waren, lagen noch halb vermodert unter den Buchen, die der Sturm verschont hatte. Sie waren mit Flechten und weißen Pilzen bedeckt; das Farnkraut stand brusthoch. Teile der Mauer, die den Wald vom Feldweg trennte, waren eingestürzt, und ein Drahtzaun, der die Lücken provisorisch schließen sollte, erfüllte diese Aufgabe schon längst nicht mehr. Ein prachtvoller Fasan, der am Waldrand entlang lief, blieb überrascht stehen, als er den Wagen sah, einen Fuß in der Luft, die Krallen steif und unbeweglich. Sein Gefieder schillerte so lebhaft in grünen, roten und goldenen Farben, dass Cooper am liebsten angehalten und die Hand nach ihm ausgestreckt hätte. Doch da lief der Vogel auch schon wieder los, im Zickzackkurs zurück ins Unterholz, den Schwanz waagerecht nach hinten gestreckt.
Beim Anblick des Fasans musste Cooper plötzlich an Wilderer denken, doch als er sich zu Fry umdrehte, um ihr den Gedanken mitzuteilen, der ihm plötzlich gekommen war, sah er, dass sie den Vogel nicht einmal bemerkt hatte.
»Es gibt keinen Wegweiser«, jammerte sie und starrte finster aus dem Fenster, als ob der Automobilclub sie im Stich gelassen hätte.
»Die braucht man hier nicht«, sagte Cooper. »In Moorhay weiß bestimmt jeder, wie man die Thorpe und die Bents Farm findet.« Er beschloss, die Idee, die ihm beim Anblick des Fasans gekommen war, noch eine Weile für sich zu behalten.
Bald wichen die Bäume zurück und gaben den Blick auf einen Berghang frei. Hier wuchs fast nur noch struppiges Gras. Die Landschaft war von Mauern und Elektrozäunen durchzogen. Etwa hundert Schritt den Hang hinauf stand ein Sammelsurium von Hütten – grob zusammengezimmerte Hühnerhäuser und Schuppen, eine Reihe Schweineställe aus Leichtbausteinen. Im hintersten Winkel einer Weide rotteten zwei alte Eisenbahnwaggons vor sich hin, und eine ehemalige Nissenhütte der Armee mit einem gewölbten Wellblechdach nahm die gesamte Breite eines Feldes ein.
Ein stechender Geruch drang durch die geöffneten Wagenfenster, nach Lehm, schmutzigem Stroh und den Ausdünstungen unterschiedlichster Tiere. Außerdem musste ganz in der Nähe ein Misthaufen sein. Es wimmelte von Geflügel – auf den Feldern, auf dem Weg, auf den Dächern der Hütten. Es gab rote Hennen und gefleckte graue Hennen, verschiedene Arten von Enten und ein Dutzend weißer Gänse, die sofort auf den Wagen zugewatschelt kamen und den Eindringlingen mit lautem Geschrei drohten. Sie veranstalteten einen solchen Lärm, dass zwischen den Hütten ein paar Hunde zu bellen anfingen, und als Cooper vor einem Gatter hielt, das den Weg versperrte, meckerte in einem Schuppen eine Ziege.
Er wartete darauf, dass Fry ausstieg und das Gatter öffnete, wie es auf dem Land für einen Beifahrer üblich war. Aber das musste sie anscheinend erst noch lernen.
»Würden Sie das Gatter bitte aufmachen?«, fragte er.
»Sind die nicht gefährlich?«
»Wer, die Gänse? Sie müssen ihnen nur zeigen, dass Sie keine Angst vor ihnen haben.«
»Herzlichen Dank.«
Fry kämpfte mit dem Holztor, das mit einem Stück Schnur an den Pfosten gebunden war und auf der anderen Seite nur noch in der obersten Angel hing. Aber schließlich konnte der Wagen durchfahren.
»Sind Sie sicher, dass hier oben überhaupt jemand wohnt?«, fragte Fry. »Wo ist das Bauernhaus?«
»Diese Höfe heißen zwar Farmen, aber eigentlich sind es nur Überbleibsel aus der Zeit, als noch jeder Arbeiter ein eigenes Stück Land mit einer Kuh und einem Schwein hatte. Grundstücke, die noch nicht von den großen Farmern geschluckt oder von Immobiliengesellschaften für Neubausiedlungen aufgekauft worden sind. Irgendwo gibt es hier sicher ein Cottage. Und bei dem Radau weiß man auch bestimmt schon, dass wir da sind.«
Cooper hielt hinter der Nissenhütte an. Daneben stand eine baufällige Garage, in der ein weißer japanischer Pick-up-Truck abgestellt war. Eine von dichtem Brombeergestrüpp überwucherte Mauer verlief bis zu einer Reihe niedriger Steingebäude, die so aussahen, als wüchsen sie direkt aus dem Berg.
»Kommen Sie allein zurecht?«, fragte er. »Ich fahre inzwischen zur Bents Farm und hole Sie auf dem Rückweg wieder ab.«
»In Ordnung.«
Fry stieg aus und warf einen verzweifelten Blick auf die Gänse.
»Kümmern Sie sich nicht um die Viecher. Und denken Sie daran: Sie haben keine Angst vor ihnen«, sagte Cooper noch, dann rumpelte der Toyota davon.
Fry atmete tief durch und marschierte los, gefolgt von der gesamten Schar fauchender, schreiender Gänse, die mit ihren langen Schnäbeln nach ihren Fußknöcheln schnappten. Eine von ihnen richtete sich hoch auf und schlug wütend mit den Flügeln.
Fry konzentrierte sich auf die vor ihr liegenden Gebäude. Sie sahen heruntergekommen und reparaturbedürftig aus. Dachpfannen fehlten. Die gewölbte, halb eingesunkene Giebelwand eines Nebengebäudes hätte gut in ein Gemälde von Salvador Dali gepasst.
Erst nach ein paar Schritten bemerkte sie, dass sie einen unebenen gepflasterten Weg unter den Füßen hatte, dessen Steinplatten von Löwenzahn und Disteln fast völlig überwuchert waren. Aus einem zerbrochenen Rohr, das aus einer Mauer ragte, rann Wasser den Weg hinunter. Die Pfützen, die sich auf der staubigen Erde gebildet hatten, waren rot, als wäre das Wasser durch rostiges Eisen gelaufen.
Fry fluchte laut, als sie über die Kante einer eingesunkenen Steinplatte stolperte. Hinter ihr marschierten die Gänse, die umso lauter und wütender schrien, je weniger sie beachtet wurden. Es war eine seltsame Prozession, die sich den Gebäuden näherte.
»Sie sind nicht gerade in geheimer Mission unterwegs, hm?«, sagte eine Stimme.
Auf der anderen Seite der Mauer, auf einer ehemaligen Koppel, die in einen großen Gemüsegarten umfunktioniert worden war, stand ein alter Mann, der sich auf eine Mistgabel stützte. Sein rotkariertes Arbeitshemd war am Hals offen, sodass seine drahtigen grauen Brusthaare hervorquollen, die Ärmel waren über die kräftigen Arme hochgekrempelt. Seine uralte Hose, die wohl irgendwann einmal braun gewesen war, hielt an der Taille kaum noch zusammen und hing ihm bedenklich tief im Schritt. Die Hosenbeine hatte er in seine schwarzen Gummistiefel gestopft. Sein Gesicht war gerötet, und auf der Kopfhaut hatte er unregelmäßige kahle Stellen, die von der Sonne rosa verbrannt waren.
An dem einen Ende der Koppel stand eine kleine Hütte mit einem einseitig abgeschrägten Dach, wie eine alte Außentoilette, daneben ein Werkzeugschuppen. Auf einem Holzstuhl vor der Tür saß ein zweiter alter Mann. Er hatte einen Spazierstock zwischen den Knien, der mit der Spitze in die Erde gerammt war. Die Manschetten hatte er über seine langen, schmalen Handgelenke hochgeschlagen. In der einen Hand hielt er ein scharfes Messer, mit dem er Kohlköpfe putzte.
»Wohnen die Herren hier?«, fragte Fry.
»Herren, hm?«, sagte der Mann mit der Mistgabel. »Bist du ein Herr, Sam?«
Der hagere Mann lachte und schwenkte das Messer, sodass es in der Sonne aufblitzte, die Klinge klebrig vom Saft der Kohlstrünke.
»Sind Sie der Besitzer, Sir?«, fragte Fry den ersten alten Mann mit erhobener Stimme, um sich bei dem Gezeter der Gänse verständlich zu machen.
»Momentchen«, sagte er. »Lassen Sie mich mal eben die Alarmanlage abschalten.«
Mit einer kräftigen Armbewegung stieß er die Mistgabel tief in die Erde und ging zur Mauer. Dann hob er zwei Klumpen Unkraut auf, an deren Wurzeln getrocknete Erde hing, und schleuderte sie laut brüllend nach den Gänsen.
Für Fry klang sein Geschrei wie ein ländlicher Dialekt, der vom Altskandinavischen der Wikinger hätte abstammen können, aber wahrscheinlich war es nur Gebrüll. Die Gänse hatten ihn auf jeden Fall verstanden; sie drehten sich um und watschelten davon, den Weg hinunter, um den nächsten Störenfried zu vertreiben. Ohne die Gänse war es ruhiger, aber noch lange nicht leise. Im Hintergrund war das Gackern und Schnattern des Geflügels, das Bellen eines Hundes und das Grunzen eines Schweins zu hören. Und ganz in der Nähe meckerte die Ziege.
»Ich heiße Wilford Cutts. Das ist mein Hof. Der da drüben sitzt, ist mein Freund Sam.«
Sam winkte noch einmal mit dem Messer und machte sich über den nächsten Strunk her. Ein einziger Schnitt genügte, dann fiel der geputzte Kohlkopf in einen Eimer.
»Sam Beeley«, rief er.
»Sind Sie von der Polizei? Sie wollen bestimmt was über das Mädel wissen«, sagte Wilford. »Das Mount-Mädchen.«
»Laura Vernon, ja.«
»Ich habe die Kleine ein paar Mal gesehen. Wollten Sie das wissen?«
»Waren Sie Samstagabend oder Sonntagmorgen in der Nähe des Baulk?«
»Ah. Das muss Ihnen Sam erzählen, was ich am Samstag gemacht habe. Das weiß ich nicht mehr.«
»Wie bitte?«
»Ich trinke gerne mal ein Gläschen Bier. Und in meinem Alter lässt einen das Gedächtnis schon nach ein, zwei Halben im Stich. Verstehen Sie? Nein, wohl eher nicht.«
»Wohin gehen Sie, wenn Sie ein Bier trinken?«
»Wohin? Hier gibt es doch nur eine Kneipe, Mädchen. Das Drover. Und Sonntags? Sonntagsmorgens bin ich immer hier. Es gibt viel zu tun. Das braucht seine Zeit.«
»Sie müssen die Tiere füttern?«
»Genau.«
»Wohnen Sie allein hier, Mr. Cutts?«
»Allein? So würde ich das nicht unbedingt nennen«, sagte er und sah zu den Gebäuden hinüber, wo, wie Fry vermutete, alle möglichen Tiere lauerten.
Plötzlich hörte sie Motorengeräusch und drehte sich um. Ein verbeulter blauer Transit quälte sich den Weg herauf. Am Gatter angekommen, stieg ein gebückter kleiner Mann aus, der eine Tweedjacke und eine Schlägermütze trug, und mühte sich mit dem schiefen Tor ab. Auch er beachtete die Gänse nicht weiter.
»Ich muss Sie kurz allein lassen«, sagte Wilford. »Ich habe einen Kunden.«
Er schlenderte los und gab dem Fahrer mit einigen Handzeichen zu verstehen, dass er hinter einem der Hühnerställe parken sollte. Die Männer nahmen ein paar Bündel Säcke aus dem Wagen und gingen in den Stall.
»Wie wär’s mit einem Schwätzchen?«, sagte Sam. »Das wäre mal eine kleine Abwechslung. Der alte Wilford kann auf die Dauer ziemlich langweilig sein.«
»Kennen Sie Mr. Cutts schon lange?«, fragte Fry.
»So lange ich mich erinnern kann. Allerdings ist mein Gedächtnis auch nicht mehr, was es einmal war. Er könnte also genauso gut ein wildfremder Mensch sein.«
Sam fing an zu lachen, seine Brust hob sich gequält und sein Gebiss klackerte. Fry erschrak. Er hatte die dünne Hand gehoben, um sich die Mütze zurechtzurücken, und war mit der Messerklinge seinen Augen gefährlich nahe gekommen.
»Meine Familie ist aus Yorkshire in die Gegend gezogen, als ich noch ein kleiner Junge war«, sagte er, nachdem er aufgehört hatte zu husten. »Wir haben drüben in Eyam gewohnt. Mein Vater hat in der Bleimine gearbeitet, und ich bin dann später in seine Fußstapfen getreten, wie das damals eben so üblich war. Wilfords Vater war ein Arbeitskollege von meinem Vater. So war das damals. Jeder kannte jeden, und man blieb unter sich. Damals sind wir nicht so viel rumgekommen wie die jungen Leute heutzutage.«
Fry ließ den Blick über das Gelände wandern. Sie konnte kaum fassen, wie morsch die Gebäude waren, wie schief und wackelig die Zäune. Sie fragte sich, ob diese Art der Tierhaltung wohl hundertprozentig legal war. Sie nahm sich vor, in den Vorschriften nachzuschlagen, wenn sie wieder auf dem Revier war.
»Dann sind Sie ja wirklich schon sehr lange befreundet«, sagte sie.
»Sechzig Jahre oder auch ein bisschen mehr. Wir haben uns schon vor dem Krieg kennen gelernt.«
»Ich nehme an, Sie meinen den Zweiten Weltkrieg.«
Sam sah sie misstrauisch an, ob sie sich über ihn lustig machen wollte, aber dann schien ihm klar zu werden, dass sie erst dreißig Jahre nach Kriegsende geboren worden war.
»Aye. Stimmt schon, seitdem hat es noch ein paar andere Kriege gegeben«, sagte er gutmütig. »Wir haben zusammen gedient. Natürlich bei den Pionieren. Die waren froh, dass sie Bergleute kriegen konnten. Die haben uns mit offenen Armen empfangen. Wir haben die Invasion in der Normandie mitgemacht und sind dann bis Kriegsende in Frankreich geblieben.« Er gluckste. »Da kommen alte Erinnerungen hoch.«
»Ach, ja?«
»Französische Torten.«
»Wie bitte?«
Der alte Mann gluckste. »Daran erinnere ich mich bis heute noch am besten. Alles andere habe ich fast vergessen, die schlimmen Sachen. Aber an die Torten in Frankreich kann ich mich noch erinnern. Wir waren natürlich ein ganzes Stück von der Front entfernt. Wir haben Brücken wieder aufgebaut und so. Die französischen Städte und Dörfer waren voller Mädchen. Und die waren mächtig froh, ein paar Tommys zu sehen, das kann ich Ihnen sagen. Wir haben uns prächtig amüsiert. Harry und ich zumindest. Wilford war natürlich dagegen.«
»Harry?«
»Harry Dickinson«, sagte Sam. »Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Da kommt Ihr Kollege.«
Fry drehte sich um. Der Toyota kam den Feldweg herunter und bog an der Nissenhütte ab. Cooper parkte hinter dem Transit und beugte sich aus dem Fenster.
»Weiter oben war keiner zu Hause«, sagte er.
»Sind Sie nicht Sergeant Coopers Junge?«, fragte Sam.
»Nicht zu fassen«, sagte Fry.
»Es tut mir Leid, Sir. Aber ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.«
»Sam Beeley.«
Plötzlich war das gellende Meckern der Ziege ganz nah.
»Sie ist wieder draußen«, sagte Sam. »Ich muss es Wilford sagen.«
»Was hat sie denn?«, fragte Fry. »Ist sie krank?«
»Brünstig«, sagte Sam trocken.
»Lassen Sie sie decken?«, fragte Cooper.
»Heute Abend. Wir fahren sie hin. In der Nähe von Bamford wohnt ein Mann, der einen Bock hat.«
Hufe klapperten, und ein braunweißer Kopf mit Hörnern tauchte kurz über dem Dach der Hütte auf, bevor die Ziege flink auf die Koppel sprang und am anderen Ende im hohen Gras verschwand.
»Mist«, sagte Sam. »Jetzt frisst sie uns den ganzen Kohl weg, bevor wir ihn ernten können.«
»Soll ich Ihnen helfen, sie wieder einzufangen?«, fragte Cooper und stieg aus dem Toyota.
»Nein, nein. Die würde uns nie an sich ranlassen. Wilford fängt sie wieder ein. Zu ihm kommt sie. Sie ist noch jung und ein bisschen wild. Er nennt sie Jenny.«
»Mr. Beeley hat mir erzählt, wie Mr. Cutts und er sich kennen gelernt haben«, sagte Fry, damit ihr das Gespräch nicht ganz entglitt. »Schon ihre Väter kannten sich, sie waren Arbeitskollegen.«
»Damals gab es natürlich genug Arbeit«, sagte Sam. »Und zwar hier in der Gegend. Im Bergwerk oder im Steinbruch konnte man immer was finden. Für die jungen Leute heutzutage ist es anders, nehme ich an. Da brauchen Sie nur Ihren Kollegen hier zu fragen.«
Fry war nicht entgangen, dass Sam sie wie selbstverständlich als Fremde eingestuft hatte, die nichts über dieses Problem wissen konnte – im Gegensatz zu Ben Cooper. Seit sie in Moorhay war, ließ man sie deutlich fühlen, dass sie nicht von hier war. Es lief völlig unbewusst ab und war auch nicht böse gemeint, aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Sie war in jedem Haus, das sie abgeklappert hatten, höflich behandelt worden, aber von der Vertrautheit, von der Herzlichkeit, die die Menschen Ben Cooper entgegenbrachten, hatte sie nichts gespürt.
»Es ist schon lange nicht mehr so, wie es früher einmal war, Mr. Beeley«, sagte Cooper.
»Da haben Sie wohl Recht, mein Junge. Da haben Sie wohl Recht. Aber wie ich schon sagte, mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste. Ich erinnere mich an den Krieg, aber danach kommt nicht mehr viel.«
Aus dem Stall, in dem Wilford mit seinem Besucher verschwunden war, kam ein ohrenbetäubendes Gackern und Kreischen, begleitet von lautem Flügelschlagen.
»Was geht denn da drin vor?«, fragte Fry.
»Der Mann mit dem Lieferwagen kauft ein paar von Wilfords Vögeln«, sagte Sam, als ob das jeder hätte merken müssen. »Wilford hat sie heute extra im Stall gelassen, die jungen Hühner. Aber sie sind ein bisschen zu munter. Es ist besser, wenn man sie am Abend transportiert – dann machen sie nicht so viel Ärger.«
»Das hört sich ja grauenhaft an.«
»Tüchtige Legehennen«, sagte Sam.
»Mr. Beeley, kannten Sie Laura Vernon?«
»Ich kenne die Familie. Zugezogene, nicht wahr? Das halbe Dorf scheint heutzutage aus Zugezogenen zu bestehen. Sie sind erst ein, zwei Jahre hier, in der Villa. Einmal waren die Eltern abends im Pub, als sie noch ganz neu im Dorf waren. Die haben vielleicht ein Gesicht gemacht. Das hätten sie wohl selbst nicht gedacht, dass sie sich mal unter das einfache Volk mischen würden. Aber einfach schnurstracks wieder rausgehen konnten sie auch nicht, also haben sie einen Gin und Tonic geschlürft, wie ein paar südenglische Stadtdeppen.«
»So weit ich weiß, sind sie aus Nottingham.«
»Aye.«
Sam scharrte mit den Füßen in der trockenen Erde. Dann sah es plötzlich so aus, als hätte er einen Krampf. Ein Fuß zuckte unkontrolliert zur Seite und stieß klappernd gegen eine Emailleschüssel, halb voll mit Wasser, das vermutlich für die Gänse bestimmt war.
»Mr. Beeley, diese Frage müssen wir jedem stellen. Ist Ihnen vielleicht zur Tatzeit in der Gegend des Baulk etwas aufgefallen?«, fragte Fry.
»Ach so, Sie wollen wissen, ob ich ein Alibi habe, hm?«
»Nein, danach hatte ich Sie nicht gefragt, Sir.«
Sam gluckste. »Es ist bloß, dass ich auf meine alten Tage nicht mehr viel hinter den Mädels herlaufe. Es sind die Beine. Ich habe sie mir mal gebrochen, in der Mine. Sie sind zwar geheilt, aber nie wieder richtig in Ordnung gekommen. Und je älter ich werde, desto mehr machen sie mir zu schaffen.«
»Waren Sie Samstagabend in der Gegend?«, fragte Fry. »Oder Sonntagmorgen?«
»Was höre ich denn da für einen Akzent heraus?«, fragte Sam, der den Kopf auf die Seite gelegt hatte und sich mit dem Messer am Ohr kratzte. »Stammen Sie womöglich aus Wales?«
»Ich komme aus dem Black Country.«
»Woher?«
»Birmingham«, raunzte Fry.
»Ach. Da bin ich noch nie gewesen. Will ich auch gar nicht hin.«
»Samstagabend, Mr. Beeley.«
»Samstagabend? Also, ich werde wohl bis gegen elf im Drover gewesen sein, zusammen mit Wilford. Es war ziemlich viel los an dem Abend. Das ist im Sommer immer so, wegen der Touristen. Übernachtungsgäste. Es waren auch viele Autos da.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich wohne nicht weit vom Pub. Viel weiter kann ich auch gar nicht mehr gehen. Und samstags trinken wir gern ein paar Bierchen. Wir müssen ja nicht fahren.«
»Es waren also Touristen im Pub. Leute, die nicht ins Dorf gehörten.«
»Gerammelt voll von Fremden, der Laden«, sagte Sam.
Wilford und der Lieferwagenbesitzer kamen aus dem Hühnerstall, mehrere volle Säcke hinter sich herziehend. Aus der Tür quoll eine Wolke dunkler Federn, die an ihren Schultern und in ihrem Haar hängen blieben. Aus den Säcken drang das gleichmäßige Klagen der gefangenen Vögel und ein gelegentliches Rascheln der Federn. Die beiden Männer waren verschwitzt und zerzaust, sie atmeten schwer. Wilford, der einen hochroten Kopf hatte, lachte ein paar Mal japsend. Der kleine Mann aus dem Lieferwagen hatte einen wilden, leicht verstörten Blick.
»Sonntagmorgen«, sagte Sam. »Tja, heutzutage stehe ich nicht mehr so früh auf. Aber so gegen halb zehn war ich angezogen, und dann hat mich mein Sohn abgeholt. Davey heißt er. Er und seine Frau laden mich sonntags immer zu sich nach Edendale ein, zum Mittagessen.«
»Sind Sie oft hier oben, um Mr. Cutts zu helfen?«, fragte Cooper.
»Eigentlich bin ich ja zu nicht mehr viel nütze. Aber irgendwie muss ich schließlich die Zeit totschlagen.«
»Hat er noch andere Helfer?«
»Ein, zwei junge Burschen, denen er ein paar Pfund zahlt, damit sie die schwere Arbeit machen. Und Harry kommt natürlich auch und packt mit an.«
»Harry Dickinson?«
»Ja, genau. Sie werden ihn sicher kennen«, sagte er, an Cooper gewandt.
Die Säcke landeten mit einem dumpfen Poltern in dem Transit, der Fahrer stieg ein und fuhr langsam den Weg zurück. Es hatte nicht den Anschein, als hätte bei der Transaktion Geld den Besitzer gewechselt.
»Kannst du mal kommen, Sam?«, rief Wilford. »Ein Huhn hat es böse erwischt. Ich glaube, es hat sich am Draht die Beine gebrochen.«
»Die Ziege ist wieder draußen, Wilford.«
»Die kann warten.«
Sam hinkte zum Hühnerstall hinüber. Wilford warf ihm ein Huhn zu, das er kopfüber an den Beinen gehalten hatte. Fry, die noch nie ein Huhn aus der Nähe gesehen hatte, war überrascht über den schmalen roten Fleischlappen, der aus seinem Schnabel hing wie eine Schlangenzunge. Der Vogel hatte sich eingekotet, die weichen Federn um seinen After waren gelb verfärbt. Fry schluckte und schwor sich, nie wieder ein Ei zu essen.
»Sam hat ein Händchen für so was«, sagte Wilford munter. »Dabei sieht er gar nicht so aus, als ob er sehr viel Kraft in den Handgelenken hätte, was? Es kommt eben auf die Technik an.«
»Es ist bloß Übung und ein bisschen Begabung«, sagte Sam und packte das Huhn fester. Er klemmte es unter seinen Arm, faltete ihm die Flügel zusammen und presste es an sich. Dann schloss er die Finger seiner rechten Hand um den mageren Hals des Vogels und drückte ihm den Daumen fest in die Kehle. Plötzlich machte er eine drehende, reißende Bewegung. Es knackte leise, und der Blick des Huhns brach. Es schlug noch ein paar Mal verzweifelt mit den Flügeln, im Todeskampf fast stärker als Sam Beeley, ein Gestöber aus Schwungfedern entlud sich auf dessen Hose und Stiefel. Der Vogel strampelte, hob den Schwanz und setzte noch einen letzten gelben Strahl ab. Dann wurden seine Krallen schlaff, sie hingen nach unten und zeigten mit trauriger Endgültigkeit auf die Erde.
»Sie haben es getötet«, sagte Fry erstaunt.
Die beiden alten Männer lachten, und sie war verblüfft, dass auch Cooper schmunzelte.
»Man nennt das ›ihnen den Gnadentod geben*«, sagte Sam. »Wenn man es richtig macht – und schnell –, spüren sie gar nichts.«
»Das ist widerlich«, sagte Fry. »Das ist ekelhaft.«
»Schade.« Sam hielt ihr den leblosen Vogel hin. »Dann werden Sie es wohl nicht mitnehmen wollen, um es sich heute Abend zu braten.«
Fry wich zurück, als dem Huhn ein dünner Faden Speichel aus dem Schnabel lief und in den Staub tropfte. Die schuppigen Beine in Sams knochigen Fingern sahen kalt und reptilienartig aus.
»Nein?«
»Macht nichts. Dann nehme ich es für Connie mit«, sagte Wilford.
Cooper und Fry stiegen wieder in den Wagen. Fry kurbelte ihr Fenster hoch, damit der muffige Geruch trockenen Hühnerkots, der aus der Stalltür kam, nicht in den Wagen gelangen konnte.
Die beiden alten Männer sahen ihnen zu, wie sie wendeten, und Sam winkte ihnen fröhlich nach.
Als sie das Ende des Feldweges erreichten, kam ihnen ein weiterer Lieferwagen entgegen.