10
Die windige, kahle Hochebene, die sich schier endlos in alle Richtungen erstreckte, verursachte Jimmy Chains ausgesprochen schlechte Laune und machte ihn nervös und reizbar. Mit finsterer Miene starrte er nach draußen, während er darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam. »Hey, Boss, ich bin's«, sagte er ohne große Begeisterung, als Hector Sanchez sich endlich meldete. »Ich bin in Grotesque, Wyoming, wie Sie es mir gesagt haben.«
»Arabesque«, korrigierte Hector.
Chains zuckte mit den Schultern, vergessend, dass Sanchez ihn in seiner Telefonzelle nicht sehen konnte. »Auch egal. Das hier ist jedenfalls eins der hässlichsten Käffer, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Außer vieleicht am Meer, und das ist ja wenigstens noch blau, bin ich noch nie an einem Ort wie dem hier gewesen, wo man sich irgendwo hinstellen kann und nichts außer Landschaft sieht.« Er schüttelte sich unwillkürlich. »Richtig unheimlich, Boss, hier gibt's echt nur Gestrüpp. Ich will wieder nach Miami.«
Sanchez ignorierte sein Gejammer. »Hast du Kaylee gefunden?«
»Äh, nein. Bis jetzt ist bloß ein Bus hier durchgefahren, und da war sie nicht drin.« Jimmys Blick fiel auf sein Spiegelbild in der Scheibe vor ihm, und er kramte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und fing an, seine Ketten zu polieren. Seine Laune hob sich etwas, als sie zu funkeln begannen. »Heiliger Strohsack, ist das staubig hier«, beschwerte er sich. »Man könnte meinen, dass dieser Wind nie aufhört.«
»Bleib bei der Sache«, tönte ihm Hectors ungeduldige Stimme ins Ohr. »Hast du dich schon umgesehen, damit du die Situation im Griff hast, wenn Kaylee ankommt?«
»Ja. Da gibt's so ein Kühlhaus hinter dem Motel, wo ich den Kopfgeldjäger hinverfrachten kann, während ich Kaylee aus der Stadt schaffe. Danach stehen mir dann ungefähr eine Million Quadratkilometer zur Verfügung, auf denen ich mir einen Fleck aussuchen kann, wo ich ihre Leiche verbuddel.« Er betrachtete mit gerunzelter Stirn sein Spiegelbild. »Sind Sie wirklich sicher, dass ich sie umlegen soll, Boss? Reicht es nicht, wenn ich ihr ein bisschen Angst einjage? Ich hab sie immer irgendwie gern -«
»Das habe ich dir doch schon ein paarmal erklärt«, unterbrach Hector ihn in dem scharfen Ton, den seine Stimme immer bekam, wenn er die Geduld zu verlieren begann, und Chains nahm automatisch Haltung an. »Ich sag's dir jetzt noch einmal, und gib dieses Mal gefälligst Acht, weil ich es nämlich nicht mehr wiederhole. Hast du verstanden?«
Chains nickte, darauf bedacht, dass ihm kein Wort von Hector entging.
»Jimmy? Hast du verstanden?«
»Ja, Boss.«
Langsam und jedes einzelne Wort betonend sagte Hector: »Kaylee weiß, dass ich dir Geld gegeben habe, damit du dich um Alice kümmerst. Und das heißt, dass wir in der Scheiße stecken, Jimmy, und zwar tief. Das Einzige, was uns jetzt noch helfen kann, ist, zu verhindern, dass Kaylee eine Aussage macht.«
»Ach, so was würde sie doch nie im Leben tun.«
»Würdest du deine Freiheit darauf verwetten?«
Jimmy Chains runzelte die Stirn und dachte darüber nach. Schließlich sagte er: »Nee, lieber nicht«, weil der Boss für gewöhnlich Recht hatte; er war ein echt kluger Mann.
»Siehst du, das dachte ich mir. Ich wusste, dass du zu intelligent dafür bist.«
Mit geschwellter Brust vernahm Jimmy diese Worte, und er strahlte über das ganze Gesicht. Hectors nächste Frage machte seine Hochstimmung jedoch gleich wieder zunichte.
»Hast du deine schicken Seidenanzüge im Koffer gelassen und dir ein paar Westernklamotten zugelegt, wie ich es dir gesagt habe?«
Chains betrachtete angewidert sein kariertes Baumwollhemd und die steifen neuen dunkelblauen Jeans. Scheiße, das Hemd war noch nicht einmal ordentlich gebügelt; die Falten an den kurzen Ärmeln verrieten, wo es zusammengelegt gewesen war. Er fuhr mit dem Finger zärtlich über das einzige Stück, das ihm an seinem Outfit gefiel: das aus glänzendem Silber und Türkisen bestehende Hutband an seinem neuen breitkrempigen Stetson. »Ja, hab ich«, sagte er missmutig. »Ich seh genauso aus wie einer von den bescheuerten Einheimischen. Mir ist hier noch niemand begegnet, der gewusst hätte, wie man sich anständig anzieht.«
»Es muss sein, Chains. Du darfst nicht auffallen, das verstehst du doch.«
»Schon klar.« Er entdeckte einen Staubfleck auf der Spitze seines Krokodillederschuhs, hob den Fuß und rieb den Schuh am Hosenbein blank. Anschließend bewunderte er einen Augenblick lang den in neuem Glanz erstrahlenden Schuh und das dezente Muster seiner Seidensocken. Einigermaßen mit seinem Aussehen versöhnt, hob er wieder den Kopf.
Und blickte direkt in ein Paar sanfter brauner Augen, die ihn aus wenigen Zentimetern Entfernung von der anderen Seite der staubigen Scheibe aus anstarrten.
»Heilige Scheiße!« Er stieß mit den Rücken gegen die Tür, als er automatisch zurückwich, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diese Kreatur zu bringen, die draußen vor der Telefonzelle stand und ihn anglotzte.
»Chains?«, Hectors Stimme quäkte aus dem Telefonhörer, der Jimmy aus der Hand geglitten war und an seiner silbernen Nabelschnur hin- und herbaumelte, nachdem er laut scheppernd auf die Metallablage geknallt war. »Chains! Was zum Teufel ist denn da los?«
»Puh!« Jimmy Chains stieß heftig die Luft aus und versuchte sich wieder zu fassen. Er angelte nach dem Hörer. »Hier steht ein Pferd.«
Argwöhnisch musterte er das braun-weiß gescheckte Tier. Es hatte erschrocken den Kopf zurückgeworfen, als Jimmy sich so plötzlich bewegt hatte und dabei mit Getöse den Telefonhörer fallen ließ, aber jetzt machte es einen langen Hals und schob sein Gesicht erneut nah an die Scheibe. »Meine Fresse, ist das Vieh riesig.« Jimmy zwang sich, den Mund zu einer Art Lächeln zu verziehen, und sagte leise und beruhigend: »Bist ein hübsches Mädchen. Braves Pferd. Und jetzt geh schön heim.« Dann fiel sein Blick auf die Zügel, die um einen Pfosten neben der Telefonzelle geschlungen waren. »Oh Mann, irgend so ein Arsch hat das Vieh hier direkt neben mir festgebunden!«
»Könntest du den bescheuerten Gaul vielleicht mal für eine Minute vergessen?«
»Das sagt sich so leicht, Boss. Zwischen mir und diesem Pferd ist nämlich nur eine ganz dünne Glasscheibe, und es steht direkt davor.« Chains zwang sich dazu, den Blick von dem kräftigen braun-weißen Schecken abzuwenden und stattdessen über die endlose Ebene schweifen zu lassen, die sich vor ihm erstreckte. »Oh Mann, die haben nicht bloß keine Palmen hier, die haben überhaupt keine Bäume. Alles ist total braun. Ich fress auf der Stelle meinen neuen Hut, wenn's irgendwo in diesem beknackten Staat auch nur ein Gebäude gibt, das mehr als zwei Stockwerke hat. Und da soll man keine Depressionen kriegen.«
»Okay, jetzt will ich dir mal was sagen«, erklärte Hector schroff, und Chains fragte sich, welche Laus dem Boss wohl über die Leber gelaufen war - schließlich war es ja nicht er, der in diesem gottverlassenen Kaff festsaß. »Du erledigst den Job, den du dort zu erledigen hast«, fuhr Hector im Befehlston fort, »und wenn das geschehen ist, holen wir dich so schnell wie möglich nach Hause.«
»Heim ins Paradies«, sagte Chains versonnen. »Ich kann's kaum erwarten, wieder anständige Klamotten anzuziehen, und die einzigen Pferde, die ich dort zu Gesicht bekommen, sind die, denen ich auf der Rennbahn in Hialeah in sicherer Entfernung von der Tribüne aus zusehe.«
»Richtig. Du musst nichts weiter tun, als unser kleines Problem mit Kaylee aus der Welt zu schaffen. Danach kannst du dich sofort ins nächste Flugzeug nach Miami setzen.«
Jimmy Chains lächelte vor sich hin, als er sich vorstellte, wie das sein würde. Nach Hause. Tagsüber ein strahlend blauer Himmel und tiefgrüne Palmen, die sich dann am Abend als dunkle Silhouetten gegen den von der untergehenden Sonne blutrot gefärbten Himmel abhoben. Neonlichter und pastellfarben gestrichene Häuser. Männer, die wussten, wie man sich schick anzog, und kubanische Mädchen mit blendend weißen Zähnen, die bunte Sommerkleider trugen und zeigten, was sie hatten. Die Vorstellung, nach Hause in sein geliebtes Miami zurückzukehren, erfüllte ihn mit neuem Selbstvertrauen. »Ist geritzt, Boss«, versicherte er Hector. »Sie können ruhig schon mal den Flug buchen, der Job ist so gut wie erledigt.«
Hector Sanchez legte langsam den Hörer zurück auf die Gabel und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er rieb sich die schmerzenden Schläfen. »So gut wie erledigt«, murmelte er vor sich hin.
Wenn er daran dachte, dass Jimmy Chains ganz allein auf sich gestellt war, ohne jemanden, der auf ihn aufpasste, und schlimmer noch - Gott möge ihnen beistehen - offenbar gerade an einem Anfall von Größenwahn litt, bekam er eine Gänsehaut. So gut wie erledigt. Die Worte hallten bedrohlich in seinem Kopf nach.
So gut wie erledigt, sicher doch. Jimmys Wort in Gottes Ohr.
Sonst steckten sie beide wirklich bis zum Hals in der Scheiße.
Zum dritten Mal in weniger als einer halben Stunde drückte Bobby das Gaspedal bis zum Bodenblech durch und überholte einen Autofahrer, der gemächlich durch die Rocky Mountains kurvte. Das Wort, das er dabei zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpresste, ließ keinen Zweifel daran, was er von ihm hielt.
Kaylee, die bisher gelangweilt aus dem Fenster gesehen und die vorbeifliegende Landschaft betrachtet hatte, drehte sich zu ihm hin und sah ihn nachdenklich an. »Weißt du, bevor ich mit dir zu diesem kleinen Ausflug aufgebrochen bin«, erklärte sie freundlich, »hätte ich nicht gedacht, dass so viele amerikanische Autofahrer den Schaltknüppel mit ihrem Schwengel verwechseln.«
Bobby warf ihr einen raschen Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Straße. Er ärgerte sich zwar über seine Wutausbrüche, die aus irgendeinem Grund umso häufiger aufzutreten schienen, je länger er sich in Kaylees Gesellschaft befand, aber sie taten ihm nicht wirklich Leid. »Ist doch wahr, Baby, ich frage mich, wie all diese Wichs..., äh, Anfänger ihren Führerschein gemacht haben - vielleicht auf einem Traktor? Auf einem Highway fährt man einfach nicht achtzig. Das hat schon einige Leute das Leben gekostet.«
Kaylee zog eine Augenbraue hoch. »Und was wäre die Alternative? Tod durch Schlaganfall? Falls du dir einbildest, dass es besser ist, auf diese Art zu sterben, als bei einer Massenkarambolage mit Traktorfahrern, die du im Geiste schon vor dir zu sehen scheinst, dann kann ich dir nur eins sagen ... tot ist tot.«
»Kaylee, Süße, man muss nur dann Angst haben, dass einen der Schlag treffen könnte, wenn man seinem Ärger nicht Luft macht. Ich versuche nur, dieses Risiko zu verringern, um mir meine Gesundheit zu erhalten.«
»Ich bitte dich, du erwartest doch nicht im Ernst von mir, dass ich mir diesen Schwachsinn anhöre, oder? Um dir deine Gesundheit zu erhalten, du meine Güte. Demnächst wirst du noch anfangen, beim Überholen obszöne Gesten zu machen, und mir dann erklären, das sei eine ärztlich empfohlene Maßnahme zur Senkung des Blutdrucks.«
Er grinste sie breit an, und Kaylees Herz machte unwillkürlich einen kleinen Sprung. Sie beobachtete ihn eine Zeit lang unter gesenkten Wimpern und versuchte dabei die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren, die ununterbrochen rief: Oh Mann, er sieht klasse aus! Schau dir nur die Hände an! Und dieses Lächeln erst! Das machte es nämlich noch schwieriger, die Kein-Sex-bis-wir-Catherine-gefunden-haben-Regel einzuhalten, die sie sich auferlegt hatte. Wie war sie eigentlich darauf gekommen? Na ja, das war jetzt auch egal, zu dem Zeitpunkt hatte sie es jedenfalls für eine gute Idee gehalten. Und bei Gott, sie würde sie nicht brechen und den ersten Schritt machen, auch wenn es sie eine gehörige Portion Willenskraft kostete. Sie musste es tun. Sonst würde sie nicht nur ihren eigenen Vorsätzen untreu werden, wie die auch immer ursprünglich ausgesehen haben mochten, sie würde außerdem wie eine wankelmütige Idiotin dastehen.
Am geschicktesten wäre es natürlich, wenn sie Bobby dazu bringen könnte, die Regel zu brechen. Das wäre wirklich die optimale Lösung, weil sie dann die Vorteile genießen könnte, ohne so etwas Unangenehmes wie Verantwortung auf sich nehmen zu müssen. Das dürfte doch eigentlich nicht so schwer sein. Schließlich war es allgemein bekannt, dass Männer dazu neigten, mit dem Schwanz zu denken, und Bobby war gewiss keine Ausnahme. Im Lauf der Jahre hatte sie einige Methoden entwickelt, mit denen sie Männer dazu brachte, auf Knien vor ihr herumzurutschen, und wenn sie eine oder zwei davon bei Bobby anwandte, ohne dass ihm das bewusst wurde, würde er es früher oder später nicht mehr aushalten, sie auf das nächstbeste Bett oder irgendeine andere Unterlage werfen und es ihr besorgen.
Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr schon ganz heiß. Das war etwas, das Bobby wirklich ausgesprochen gut beherrschte.
Andererseits hatte sie nie viel von Frauen gehalten, die zu allen möglichen Tricks griffen, um das zu bekommen, was sie wollten. Hinzu kam, dass Bobby im Umgang mit Frauen etwas von einem Kavalier alter Schule an sich hatte - die Vorstellung, dass er sich dazu hinreißen lassen könnte, auch nur die geringste Gewalt anzuwenden, um sie ins Bett zu kriegen, war deshalb so abwegig, dass sie es sich gleich aus dem Kopf schlagen konnte.
Bobby war eher der Typ des Verführers. So lange sie ihn kannte, hatte sie nie erlebt, dass er sich einer Frau gegenüber anders als höflich und charmant verhalten hätte, und das galt selbst für die ein oder zwei wirklich grässlichen Frauen, die er aus dem Club hatte werfen müssen. Der Tag musste erst noch kommen, an dem er seine Manieren vergaß und grob wurde.
Na ja, wenn man von ihr einmal absah. Sie drehte sich auf ihrem Sitz herum, um ihn besser betrachten zu können, und dachte darüber nach, warum das so war. Geistesabwesend starrte sie auf sein markantes Profil und versuchte eine Antwort auf diese Frage zu finden.
»Was ist?«, knurrte er plötzlich, und Kaylee fuhr erschrocken zusammen. Sie griff sich mit einer Hand an die Brust, um ihr rasendes Herz zu beruhigen.
»Mein Gott, Bobby, du hast mich zu Tode erschreckt! Und was meinst du damit - was ist?«
»Warum starrst du mich die ganze Zeit so an?«
»Habe ich das getan? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
Bobby wartete ein paar Sekunden, und als er merkte, dass sie nicht die Absicht hatte, mehr dazu zu sagen, blaffte er: »Also?«
Kaylee sah ihn verwirrt an. »Also was?«
»Warum hast du mich angestarrt?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich es nicht bewusst getan habe. Ich habe nur über dich und die Frauen nachgedacht.«
Er sah sie an, und in seinen Augen lag plötzlich ein wachsamer Ausdruck. »Über mich und die Frauen«, wiederholte er, bemüht, seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben. »Hast du dabei an eine, äh, bestimmte Frau gedacht?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe nur darüber nachgedacht, wie du dich Frauen gegenüber verhältst.«
»Und?«
Kaylee bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln, offensichtlich rechnete er mit einem Vorwurf. Warum war er bloß so misstrauisch? »Charmant«, sagte sie ruhig. »Höflich. Rücksichtsvoll.« Sie hielt überrascht inne und starrte ihn mit offenem Mund an. »Ich glaube es nicht, Bobbv LaBon, du wirst ja rot!«
»Quatsch.« Er nahm kurz die Augen von der Straße und warf ihr einen unwilligen Blick zu, und die Röte auf seinen Wangen bewirkte, dass seine blauen Augen noch intensiver leuchteten als sonst.
Sie beschloss, ausnahmsweise einmal großzügig zu sein und nicht weiter darauf herumzureiten. »Na gut, wenn du darauf bestehst, dann eben nicht.« Sie kaute eine Weile auf einem Stückchen Nagelhaut herum und zwang sich dann, die Hand in den Schoß zu legen. »Kannst du dich an diese Frau erinnern, die du im letzten Winter aus dem Tropicana werfen musstest? Die ständig versucht hat, auf die Bühne zu klettern, weil sie mittanzen wollte?«
»Ja, klar kann ich mich erinnern. Sie hat mir das ganze Gesicht zerkratzt, bevor ich es endlich geschafft habe, sie an die Luft zu setzen.«
»Ich habe mich oft gefragt, warum du ihr nicht gleich beim ersten Mal, als sie es versucht hat, eine runtergehauen hast.«
Einen Moment lang starrte er sie mit aufrichtigem Entsetzen an. »Einer Frau?«
»Bobby, sie war betrunken und ist völlig ausgerastet! Die Kratzer in deinem Gesicht waren eine Woche lang entzündet, weil sie so dreckige Fingernägel hatte. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hättest du ihr sofort einen Kinnhaken verpasst, der sie zu Boden geschickt hätte.«
»Worauf willst du hinaus, Baby? Natürlich lasse ich mir von einem Kerl so etwas nicht gefallen. Irgendwie macht ein kleines Handgemenge ab und an ja auch Spaß - man kann auf diese Weise wunderbar seine Aggressionen loswerden.« Mit diesen Worten wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu, allerdings nicht, ohne ihr vorher noch einen letzten missbilligenden Blick zuzuwerfen. »Aber ich gehöre nicht zu den Männern, die Frauen schlagen - das tut man einfach nicht, ganz gleich, ob sie es verdient haben oder nicht.«
»Du hast immerhin mit einer Pistole auf mich gezielt.«
»Aber ich hätte sie niemals benutzt! Damit wollte ich dich nur dazu bringen, meine Fragen zu beantworten, als ich dich noch für deine Schwester hielt.«
»Wo wir gerade davon reden«, sagte Kaylee und machte plötzlich ein verärgertes Gesicht. »Da habe ich noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Was sollte denn dieses Gerede über Catherines - das heißt meine - Beine?«
»Hä?«
»Jetzt stell dich bloß nicht dumm, Bobby. Als ich versucht habe, dir zu beweisen, dass ich Cat bin, hast du sehr intensiv meine Beine betrachtet, und wir wissen beide verdammt gut, dass du sie zu diesem Zeitpunkt für Cats Beine gehalten hast. Und du hast sie als hübsch bezeichnet.« Sie sprach das Wort mit dem gleichen anzüglichen Unterton aus, wie er es getan hatte.
»Was, du bist doch nicht etwa eifersüchtig wegen eines kleinen Kompli...?«
»Wer soll denn hier eifersüchtig sein?«
»Ich dachte.« Bobby grinste. »Aber hübsch sind sie wirklich.« Er warf einen Blick auf ihre langen schlanken Beine, die durch den kurzen Rock und die hochhackigen Schuhe noch länger wirkten, und seine Augen wurden für einen winzigen Moment ganz dunkel. »Sehr hübsch sogar. Ich habe ihr - dir - also nur die Wahrheit gesagt.«
»Du hast mit ihr geflirtet!«
»Wenn ich überhaupt mit jemandem geflirtet habe, Baby - und das soll nicht heißen, dass ich das tatsächlich getan habe dann warst es du.«
»Aber klar doch, Bobby. Zu dumm, dass du zu dem Zeitpunkt noch nicht gewusst hast, dass ich es bin. Du bist davon ausgegangen, dass ich mich aus dem Staub gemacht habe, und du konntest nicht mal warten, bis die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, bevor du angefangen hast, meine Schwester anzumachen.«
»Ich habe sie nicht angemacht! Ich habe nur ihre - verdammt noch mal, deine-Beine bewundert!« Er nahm eine Hand vom Lenkrad und rieb sich die Stirn. »Deine, ihre, ihre, deine - mein Gott, allmählich schwirrt mir der Kopf. Sie waren hübsch, und genau das habe ich gesagt. Also bitte, du kannst mich ja erschießen deswegen. Ich dachte, Frauen hören so was gern.«
Kaylee schnaubte. »Offensichtlich hast du nicht ganz so viel Ahnung von Frauen, wie du glaubst. Sicher, manche hören das gern. Vielleicht sogar die meisten. Aber gesetzt den Fall, ich wäre wirklich Cat gewesen, dann würdest du jetzt nicht hier neben mir sitzen.«
»Wie, sie mag keine Komplimente?«
»Sie mag es jedenfalls nicht, wenn jemand Wildfremdes in ihr Haus platzt und dann ihre Beine anglotzt, so viel steht fest.«
»Ach ja? Und was hätte sie deiner Meinung nach dagegen unternommen? Hand an mich gelegt? Klingt so, als hättet ihr mehr gemeinsam, als du mich bisher glauben gemacht hast.«
»Du mit deiner schmutzigen Phantasie! Das wünschst du dir wohl, dass sie Hand an dich gelegt hätte. Vergiss es! Sie hätte dich dermaßen zur Schnecke gemacht, dass dir Hören und Sehen vergangen wäre und du nur noch wie ein Idiot gestammelt hättest.«
Bobby sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Na, dann kann ich ja von Glück sagen, dass du es warst, die im Haus war, und nicht Catherine, oder? Zwillingsschwestern, so unterschiedlich wie Tag und Nacht, und ich habe die sonnige von beiden abgekriegt.« Seine Miene verfinsterte sich. » Zumindest war das so, bevor du beschlossen hast, mir einen Tritt in die Eier zu verpassen.«
»Mein armer Liebling. Meinst du, es hilft, wenn ich ein bisschen puste?«
»Oh ja«, stöhnte er.
Die Atmosphäre im Wagen schien plötzlich zu knistern, und für einige Zeit sagte keiner von beiden ein Wort. Dann holte Kaylee tief Luft, stieß sie langsam wieder aus und griff nach der Straßenkarte. »Wie hieß doch gleich noch mal die Stadt, in der wir Catherine deinem Freund Scott zufolge abpassen könnten?«
»Arabesque.«
»Ich würde gern wissen, ob es dort eine Möglichkeit gibt, mir die Nägel maniküren zu lassen. Cat hat mein ganzes Zeug mitgenommen, und meine Nägel bräuchten dringend ein bisschen Pflege. Sie sehen einfach furchtbar aus.« Sie fuhr mit dem Finger auf der Straßenkarte die Strecke entlang. Als sie bei der Stadt ankam, von der gerade die Rede war, runzelte sie die Stirn. »Das ist ja ein winziges Nest.«
»Na ja, ich nehme mal an, es reicht, wenn es dort ein Café gibt, in dem die Leute aus den Bussen was zum Essen kriegen.«
»Mein Gott, sieh dir das mal an«, sagte sie und starrte auf die Karte, die ausgebreitet auf ihrem Schoß lag. »In diesem Staat gibt's insgesamt nur eins, zwei, drei, vier Städte, die man als solche bezeichnen kann. Es würde mich wirklich interessieren, was die Leute hier unternehmen, wenn sie mal ein bisschen Spaß haben wollen.«
Eine Weile fuhren sie schweigend dahin. Schließlich sah Bobby sie von der Seite an. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, was wir eigentlich machen, wenn wir deine Schwester eingeholt haben, Baby?«
Kaylee sah ihn verständnislos an. »Natürlich. Sie retten.«
»Okay. Und wie?«
Sie blinzelte verwirrt.
»Es ist nicht damit getan, sie zu finden, Kaylee. Sie befindet sich im Gewahrsam eines Kopfgeldjägers, der sie nach Miami zurückbringen will, und der wird sie uns ganz bestimmt nicht einfach ohne jeden Widerstand ausliefern. Der Kerl ist vermutlich bis an die Zähne bewaffnet.«
»Du hast doch auch eine Pistole.«
»Ja, aber er ist wahrscheinlich gewillt, seine zu benutzen.«
Kaylee machte mit ihren Schultern kleine kreisende Bewegungen und dachte nach. »Dann überraschen wir ihn eben.«
»Okay, gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass uns das gelingt. Wenn er dich sieht, dämmert ihm vielleicht sogar, dass er den falschen Zwilling erwischt hat.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad und legte sie ihr knapp oberhalb des Knies auf den Oberschenkel. Dabei wandte er die Augen gerade lange genug von der Straße, um ihr einen durchdringenden Blick zuzuwerfen. »Aber wie kommst du auf die Idee, dass er klein beigeben wird? Wir reden hier über einen Mann, der sich mit so etwas seinen Lebensunterhalt verdient, und ich schätze mal, wir können davon ausgehen, dass er es uns nicht leicht machen wird.«
»Na gut, dann fesseln wir ihn eben und sehen zu, dass wir so weit wie möglich weg sind, bevor er sich befreien kann. Ich weiß es doch auch nicht, Bobby!«, rief sie frustriert. »Cat ist die Klügere von uns beiden -«
Sein Griff an ihrem Oberschenkel wurde fester. »Könntest du damit endlich mal aufhören!«, fuhr er sie an.
»Was? Womit soll ich aufhören?« Sie schlug mit beiden Händen auf seinen Arm ein, und dann versuchte sie, seine Hand wegzuschieben. »Bobby, du tust mir weh!«
»Hör auf, dauernd so zu tun, als ob du dumm wärst«, sagte er ärgerlich, aber immerhin nahm er seine Hand von ihrem Bein und umklammerte stattdessen das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er bedachte Kaylee mit einem wütenden Blick. »Bloß weil du nicht auf ein bescheuertes College gegangen bist wie deine tolle Schwester, heißt das noch lange nicht, dass du nicht genauso klug bist wie sie.«
»Aber ich bin es nicht.« Er funkelte sie zornig an, und sie streckte eine Hand aus und streichelte ihm mit den Fingerspitzen beschwichtigend über den Oberschenkel. »Das ist die Wahrheit, Bobby. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich blöd bin. Das nicht. Aber Catherine hat einfach mehr Grips. Musste sie ja auch haben. Die meiste Zeit ist mir das egal, es sei denn, ich bin mal wieder in Schwierigkeiten und weiß nicht, wie ich ohne ihre Hilfe wieder rauskommen soll. Ich war immer geselliger als sie und schließe viel schneller Freundschaften. Ja, verdammt, ich weiß, dass ich unterhaltsamer bin als sie. Aber Cat ist einfach klüger oder zumindest denkt sie schneller. Daran ist nun mal nicht zu rütteln, genauso wenig wie daran, dass ich rote Haare habe oder einen außergewöhnlich schönen Busen.« Sie sah auf ihre Finger, die geometrische Muster auf seinen muskulösen Oberschenkel zeichneten.
Bobbys Augen wanderten kurz über ihren außergewöhnlich schönen Busen. »Vielleicht hat es eher etwas damit zu tun, dass du deinen Verstand zu wenig einsetzt.«
»Was?«
»Na ja, wahrscheinlich ist es das Gleiche wie mit irgendeinem Muskel - wenn du ihn nicht gebrauchst, verkümmert er. Du musstest dir nie etwas einfallen lassen, um deine Probleme zu lösen, weil immer deine Schwester da war, die das Denken für dich übernommen hat. Aber wenn wir das hier durchziehen wollen, Baby, dann sollten wir uns besser ein paar Gedanken darüber machen, was genau wir tun werden, wenn wir Catherine und den Kopfgeldjäger eingeholt haben.«
»Können wir sie nicht einfach irgendwie wissen lassen, dass ich in der Nähe bin und ihr helfen will, und es ihr überlassen, sich einen Plan auszudenken?«
»Nein. Wir werden die ganze Sache entweder auf der Stelle abblasen und uns in keinerlei Schwierigkeiten bringen, wofür ich stark plädieren würde, oder wir lassen uns was einfallen und ziehen es dann durch.«
Sie sollte sich auf ihren eigenen Verstand verlassen? Allein die Vorstellung erschreckte Kaylee zutiefst. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und war nahe daran, Bobbys Drängen nachzugeben und das Ganze sein zu lassen. Doch dann atmete sie einmal tief durch und sagte: »In Ordnung. Wir ziehen es durch.«
»Verdammt.« Er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.«