17
»Wir … Sunset Key.«
Alex trug Jessica auf den Armen und hatte das Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Er schrie in das völlig durchnässte Gerät. »Hab nichts verstanden, Gallagher.«
»Wir können nicht … Sunset Key … du … nach Key West.«
Sie konnten auf der Insel nicht landen. So eine Scheiße. Er musste Jessica nach Key West bringen. Bei dem Regen würde er noch zehn Minuten bis zum Steg brauchen und dann fünfzehn Minuten mit dem Boot zum Pier auf Key West.
In einer halben Stunden konnte eine Menge passieren. Jazz konnte tot sein, ehe er zurück war.
Dans Stimme verlor sich immer wieder, während er unverständliche Anweisungen von sich gab. Alex presste das Handy mit der Schulter noch näher ans Ohr, aber die schlechte Verbindung, der Hubschrauberlärm und der erbarmungslose Regen machten es unmöglich, etwas zu verstehen.
»Hab nichts verstanden, Gallagher. Noch einmal.«
Es piepte, und dann brach die Verbindung endgültig ab.
Jessica stöhnte, ihr Kopf rollte hin und her, ihre Augen waren halb geschlossen. Alex hatte den Umhang über sie gelegt, aber Gesicht und Nacken waren immer noch schutzlos dem Regen ausgesetzt.
Sie verlor immer wieder kurz das Bewusstsein, war noch völlig benebelt. Dem Mistkerl Parrish war es wahrscheinlich scheißegal gewesen, ob die Drogen sie umbrachten. Bestimmte Dosierungen konnten das Gehirn lahmlegen oder sogar einen Herzstillstand hervorrufen. Man musste Jessica so schnell wie möglich den Magen auspumpen.
Wenn es nicht so dringend gewesen wäre, hätte er sie verstecken können, um nach Jazz zu suchen.
Alex klappte das Handy zu und steckte es zwischen die Zähne.
»Halt durch, Jessica!«, knurrte er. Aber es spielte keine Rolle, was er sagte, sie nahm es sowieso nicht wahr. »Jazz zuliebe.«
Im Regen sah er nur wenig, suchte nach irgendeinem Anzeichen von Leben. Autos waren auf der Insel nicht erlaubt und alle Golfmobile offensichtlich in Garagen eingeschlossen.
Er hatte sogar überlegt, bei einem der Häuser zu klopfen, falls er an einer der Sicherheitsanlagen vorbeigekommen wäre, aber es hätte zu lange gedauert, ihre Lage zu erklären, und Jessica hätte ihr Leben verlieren oder wenigstens einen erheblichen Gehirnschaden davontragen können.
Dan hatte richtig erkannt, dass die Insel ein einziger Dschungel aus Blättern und privaten Anwesen war und nur am Strand genügend Platz gewesen wäre, um mit einem Hubschrauber zu landen. Das wäre Parrish sicher nicht entgangen. Außerdem hingen die Wolken sehr tief, in dieser Suppe war jedes Manöver gefährlich.
Alex nahm das Handy wieder aus dem Mund und klemmte es zwischen Schulter und Ohr. »Gallagher! Womit fliegt ihr?«
»Bell zwo-null-sechs, Leihgabe … Sender…«
Die Verbindung wurde wieder schlechter, Alex rannte über die regenfeuchten Holzplanken. Die Hosenbeine klebten am Körper, doch in seinem Kopf nahm eine Idee Gestalt an. Das Handy glitt fast von seiner Schulter, und Jessica rutschte beinahe aus seinen Armen. »Sie muss schnellstens medizinisch versorgt werden.«
»Das hier ist ein Nachrichtenheli, Romero – kein Notfallhubschrauber.«
»Die Zeit reicht nicht, um sie erst nach Key West zu bringen«, sagte Alex. »Kommt her und holt sie ab, bevor sie in meinen Armen stirbt!«
»Wo bist du?«
»Auf dem Anleger.«
Alex wartete, während Dan und Max die Sache besprachen. Er wusste genau, welche Überlegungen sie anstellten. Der Hubschrauber eines Nachrichtensenders verfügte bestimmt nicht über eine Winde, aber wenn Roper die Maschine nahe genug heranbringen und für ein paar Augenblicke an Ort und Stelle halten konnte, hatte Alex die Möglichkeit Jessica an Dan zu übergeben.
Das war im Grunde ein Routinemanöver … wenn das Wetter mitspielte.
»In fünf Minuten bin ich auf dem Meer«, schrie Alex ins Handy. Damit wäre die Übergabe für ihn eine haarige Angelegenheit, aber Max hätte es wesentlich leichter.
»Max muss nur nahe genug an einen Boston Whaler ohne Aufbau heran. Dann schnappst du sie dir. Ganz einfache Kiste.«
Er hörte nur ein Rauschen. Dann meldete sich Dan wieder. »Sind unterwegs. Schaff die Klientin aufs Meer … sie aufnehmen … uns umbringen.«
»Roger! Verstanden!« Aber es würde niemand sterben – nicht während er im Dienst war. Er sah ein paar Kreuzschiffe auf Reede, verabredete sich mit Dan etwa einen Kilometer rechts davon und klappte das Handy zu.
Dann stieg er ins Boot, legte Jessica auf die Bank im Bug und löste die Leinen.
Als er den Schlüssel umdrehte und Gas gab, spuckte der Motor und setzte wieder aus. Alex knirschte mit den Zähnen. Komm schon! Am Heck hing nur ein schwacher Mercury. Wenn der jetzt ausfiel, waren sie im Arsch.
Doch beim zweiten Versuch sprang der Motor stotternd an, und Alex legte den Rückwärtsgang ein. Der Regen und die Bewegungen des Bootes weckten Jessica, sie zog den Regenumhang fester um sich, ihre Zähne klapperten.
Sobald er vom Steg frei war, hielt Alex hart steuerbord. »Festhalten!«, schrie er gegen den ohrenbetäubenden Lärm an. Jessica riss erschrocken die Augen auf und griff nach der Reling. Alex schob den Gashebel nach vorn, und der Bug hob sich aus dem Wasser, aber Jessica ließ die Reling nicht los. Der Regen lief Alex über das Gesicht, mit einer Hand steuerte er, und mit der anderen wischte er sich immer wieder über die Augen. Jessica hing mit hochgezogenen Schultern an der Reling.
Tut mir leid, Süße. Es wird noch härter, aber bald ist das Schlimmste überstanden.
Das kleine Boot wurde von den Wellen hin und her geworfen, kämpfte sich durch die sonst so ruhige Bucht. Alex konnte nichts weiter tun, als konzentriert geradeaus zu steuern. Er konnte und durfte nicht daran denken, was Jazz vielleicht gerade in diesem Moment zustieß.
Nach nicht einmal zehn Minuten hörte er in der Ferne den Bell Jet Ranger. Er nahm den Gang raus und ging zum Bug, um Max ein Zeichen zu geben. Immer noch hing eine dichte Wolkendecke über ihnen, und der Wind drückte das Boot nach Steuerbord. Die Bedingungen waren nicht ideal, aber Max würde es schaffen.
Max musste es schaffen.
Als der Hubschrauber durch die Wolken brach, kniete Alex sich neben Jessica, die schon wieder das Bewusstsein verloren hatte.
»Jessica?«
Ihre Lider flatterten, und sie versuchte, den Kopf zu heben. Er musste sie auf die Übergabe vorbereiten.
»Sind Sie schon einmal in einem Hubschrauber geflogen?« Dumme Frage, sie war schließlich eine Journalistin. »Da kommt nämlich einer, um sie abzuholen.«
»Lassen Sie mich nicht allein …«
»Ich muss zu Jazz.«
»Jazz …« Sie kniff die Augen zusammen. »Ist sie da?«
»Sie hat sie gefunden.« Er legte die Hand über dem rutschigen Umhang auf ihre Schulter. »Sie hat nicht eher Ruhe gegeben, bis wir sie aufgespürt hatten.«
Der Hauch eines Lächelns zeigte sich auf ihren Lippen.
Es wurde noch stürmischer, als der Hubschrauber näher kam. Das Motorengeräusch und das Pfeifen der Rotorblätter machten eine weitere Unterhaltung unmöglich. Alex drehte den Kopf, zog Jessica hoch und zeigte auf den Hubschrauber. »Da ist Ihre Mitfahrgelegenheit.«
Der starke Sog der Rotorblätter brachte das Boot ins Schlingern, sie fielen zu Boden. Aufspritzendes Wasser machte Alex fast blind, aber er richtete sich auf und brachte Jessica in die richtige Position für die Übernahme.
Max stellte die Nase des Hubschraubers an der Steuerbordseite in den Wind. Dan schob die Tür auf und kniete sich hin, dann streckte er den Arm aus und lehnte sich weit über die Kufen.
Alex drückte Jessica an den Rand des Bootes. »Heben Sie die Arme, damit er sie hochziehen kann.«
»Alles in Ordnung, Schätzchen«, rief Dan. »Nur keine Angst.«
Doch Jessica sah Alex an. »Passen Sie gut auf sie auf«, bat sie ihn heiser. »Ich liebe sie.«
Seine Hand lag schwer auf ihrer Schulter. Ich ebenfalls. »Ihr wird nichts geschehen. Versprochen.«
Dans starke Hände griffen nach Jessicas ausgestreckten Armen. Das Boot wurde von einer Welle hochgehoben, und Dan zog Jessica in den Hubschrauber.
Alex wartete nicht, bis sich die Seitentür des Helikopters geschlossen hatte. Er stellte sich ans Steuer, schob den Gashebel nach vorn und raste zurück nach Sunset Key.
Alle Farbe wich aus dem Gesicht der Moderatorin, als sie auf die Beretta starrte, dann sah sie ihm in die Augen. Der silberblaue Blick war leer, als würde sie ihn nicht wiedererkennen. Vielleicht war das auch wirklich der Fall, nach dem, was Parrish mit ihr angestellt hatte. Ob ihr wirklich klar war, dass sie nur noch wenige Minuten zu leben hatte? Falls ja, verbarg sie ihre Panik jedenfalls gut.
Natürlich. Sie war ein Profi. Sah die Waffe so ungerührt an wie eine Kamera. Er wies mit der Hand zur Treppe. »Wir gehen nach unten.«
Sie bewegte sich nicht von der Stelle. »Warum tun Sie das?«
»Gerade noch habe ich gedacht, was für ein kluges Köpfchen Sie sind, Jessica.« Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Spielen Sie jetzt nicht die Dumme. Sie haben mir doch in unseren heimlichen Gesprächen deutlich gezeigt, wie klug Sie sind.«
Sie fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen und atmete tief ein. »Miles.« Sie sagte es langsam und rieb sich mit der Hand die Schläfe. »Tut mir leid, diese Drogen haben mein Gedächtnis ausgelöscht.«
Was sich gut im Autopsiebericht machen würde. »Nach unten, Jessica.« Er sah die andere Frau an, sie hatte sich in der Ecke zusammengekauert. »Kimball Parrish erwartet uns schon.« In einer Blutlache.
Er zog die zitternde Frau am Ärmel ihres Sweatshirts hoch und schubste sie zur Treppe. »Los jetzt!«
Dann packte er die Moderatorin am Arm, holte sie aus dem Bad und drückte ihr den Pistolenlauf in den Rücken. Er hatte nicht viel Zeit, bald würden Lucys Männer auftauchen, oder Romero und Jessicas Schwester hätten endgültig genug vom Warten. Um ein Blutbad zu inszenieren, sollte es aber reichen. Das Ganze würde in den Medien wie eine Bombe einschlagen, alle Zutaten für einen Knüller waren beisammen: Berühmtheiten, Mord und Selbstmord – Eifersucht und Pornografie, Sex und Gewalt.
Zusätzliche Werbeeinnahmen durch die höheren Einschaltquoten waren allerdings nur ein angenehmer Nebeneffekt des Ganzen.
Er warf der Moderatorin einen Seitenblick zu, während sie zum provisorischen Studio von Parrish hinuntergingen. Der einzige Hinweis darauf, dass sie eine Pistole im Rücken hatte, waren die flache Atmung und der angespannte Mund.
Für den Sender war es wirklich jammerschade, diese coole, talentierte Frau zu verlieren.
Aber mit einem hatte Kimball Parrish recht gehabt: Ihr Ehrgeiz war ihr zum Verhängnis geworden. Sie hätte den Mund halten sollen, als sie die Verbindung zwischen Adroit und Climax Film entdeckt hatte – hätte die Informationen einfach unter den Tisch fallen lassen sollen, die sie aus allen möglichen Ecken zusammengetragen hatte. Aber hinter diesem perfekten Kameragesicht verbarg sich eine journalistische Spürnase, deshalb hatte er sie auch ermutigt weiterzumachen. Wenn die schmutzige Seite von Adroit ans Licht gekommen wäre, hätte ihm das Parrish endlich vom Hals geschafft.
Das wäre eine elegantere Lösung gewesen als das, wozu er nun gezwungen war. Es war alles anders gekommen als geplant, aber er war flexibel; sein Erfolg beruhte auf der Fähigkeit, im laufenden Prozess neue Wege einzuschlagen.
Als sie am Fuß der Treppe angekommen waren, befahl er Denise, die Tür zur unteren Wohnung zu öffnen. Beim Anblick von Parrishs Leiche schrie sie leise auf.
»Klappe!«, sagte er zu der Frau, die schluchzte und sich krümmte.
Die Moderatorin sah den Toten an, sie war noch eine Spur blasser geworden. »Warum haben Sie das getan?« Ihre Stimme zitterte, aber ihre Augen sprühten Feuer.
»Keine Fragen.« Er sah die beiden Frauen an. »Seid still, sonst blüht euch das Gleiche!«
Denise holte hörbar Atem, hielt sich die Hand vor den Bauch und ließ sich auf die Knie fallen. »Bitte, töten Sie mich nicht! Bitte nicht! Und sie auch nicht! Sie ist noch nicht mal –« Die Frau brach ab und starrte die Moderatorin an. »Sie hat doch nichts Falsches getan«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Beeilen wir uns«, sagte er. »Jessica.« Er richtete die Pistole auf sie. »Stellen Sie sich da rüber, genau gegenüber von Parrish.«
Sie bewegte sich nicht.
Er zielte mit der Beretta auf ihr Gesicht. »Los doch!«
»Erst will ich wissen, warum.«
»Weil Sie Ihre Position einnehmen müssen, genau wie im Studio«, sagte er.
Noch immer machte sie keinerlei Anstalten, sich zu bewegen. »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
Miles legte den Kopf schief und sah ihr in die Augen. »Ich musste den ursprünglichen Plan ein wenig abändern. Eigentlich schade, denn er war wirklich brillant. Ich war begeistert, als Sie mit einer versteckten Kamera im Studio in Hialeah unterwegs waren. Hätte Ihnen womöglich auch den Job bei Metro-Net verschafft, auf den Sie so scharf waren, und Kimball Parrish hätte Yellowstone keine Bauchschmerzen mehr bereitet. Aber er hat herausgefunden, was Sie gemacht haben, und wollte Sie auf eigene Faust loswerden.«
»Und hat sich ein Alibi verschafft, indem er einen Bodyguard anheuerte.«
Miles nickte. »Das war sehr schlau. Er hat sogar mich um eine Empfehlung gebeten. Und ich habe ihn zu Lucy Sharpe geschickt.«
Sie riss die Augen auf. »Ist Miss Sharpe auch darin verwickelt?«
»Lieber Gott, nein!« Er lachte. »Sie hatte nur den Auftrag, jemanden in Parrishs Nähe einzuschleusen, um ihn zu beobachten.« Er hatte einen Maulwurf gebraucht, niemand eignete sich besser für diese Aufgabe als eine ehemalige CIA-Agentin. Ohne die Kontakte seiner Frau wäre er allerdings nie zu Lucy vorgedrungen. Valerie war für einen Mann in seiner Position äußerst nützlich. »Aber Kimball hat alles verdorben mit seinem Plan, Ihre Karriere zu zerstören, indem er aus Ihnen einen Pornostar machte.«
Sie wich seinem Blick nicht aus. »Aber warum mussten Sie ihn töten, Miles? Warum hat es nicht ausgereicht, ihn bloßzustellen?«
»Weil es ihm eigentlich darum ging, die Verbreitung von Climax-Filmen zu verhindern.« Er grinste. »Climax Film ist meine Firma. Die Verbindung mit Adroit hat mir sehr gefallen. Sorgte dafür, dass meine Frau immer genügend Juwelen und Jachten zur Verfügung hatte.«
»Aber Sie sind doch schon reich. Das Geld aus den Pornofilmen haben Sie doch gar nicht nötig.«
Selbst in seinen eigenen Ohren klang sein Lachen hohl. »Man kann sich nie genügend absichern, Jessica.« Es hätte ihn nicht gekratzt, wenn bekannt geworden wäre, dass Yellowstone mit Climax Film in Verbindung stand. Aktienbesitzer waren nicht dumm, sie wollten Geld verdienen, und der Export billiger Pornofilme verschaffte Gewinne. Aber Parrish hatte das Geschäft beenden wollen und Miles damit direkt in die Brieftasche gegriffen.
Er lauschte auf den Regen. Sehr gut, er ließ nach. Noch bevor der Hubschrauber in Sicht kam, konnte er mit dem Rennboot verschwinden. Sein eigener Helikopter, der auf dem Dach des Biltmore bereitgestanden hatte, war schneller, hatte ihn lange vor den Bodyguards nach Key West gebracht und wartete jetzt auf dem Dach des Hilton Hotels, um ihn zu Valerie zurückzubringen. Seine Frau würde schwören, er sei den ganzen Tag in Miami gewesen, falls er je ein Alibi brauchte.
»Parrish muss dort liegen bleiben wegen der Blutspuren«, sagte er mehr zu sich selbst. »Und Sie müssen sich dort hinstellen. Los doch!« Er zeigte mit der Pistole auf einen Schreibtisch, den Parrish für seinen dummen kleinen Film aufgestellt hatte. »Machen Sie schon!«, schnauzte er sie an.
Sie ging zwei Schritte. »Was ist mit Denise?«
»Sie werden sie umbringen, weil sie reingeplatzt ist.«
Der Moderatorin fiel fast der Kiefer runter. »Nein, das werde ich nicht.«
»Wie Sie wollen.« Er zuckte die Achseln. »Dann werde ich es eben tun.« Er richtete die Pistole auf Denise und hörte, wie jemand nach Luft schnappte. »Aber erst muss sie in der richtigen Position sein.« Er sah sich in dem kleinen Wohnzimmer um. »Alle gerichtsmedizinischen Ergebnisse müssen genau stimmen.«
»Werden sie aber nicht.«
Die Sicherheit, mit der sie das sagte, ärgerte ihn. »Oh doch, denn ich habe das alles genau durchdacht. Nehmen Sie jetzt endlich Ihren Platz ein – sonst bringe ich Sie auf der Stelle um und zerre Ihre Leiche später in die richtige Position.«
»Es wird nicht funktionieren. Die Untersuchungen werden Sie nach fünf Minuten entlarven.«
Wut blitzte in ihm auf. »Warum denn das, Jessica?«
»Weil ich gar nicht Jessica bin.«
Er starrte sie sprachlos an.
Ihr Lächeln wirkte etwas verkrampft. Sie hob das Kinn und zeigte auf ihre Haut. »Sehen Sie? Kein Muttermal. Ich bin Jazz. Jessica ist schon längst fort, Miles. Und sie ist immer noch im Besitz der Story.« Sie kreuzte die Arme über der Brust und sah auf die Leiche. »Die gerade noch viel interessanter geworden ist.«
Er runzelte die Stirn. Sagte sie die Wahrheit? Sie sah doch genau wie Jessica aus. Welche der beiden war sie?
»Wenn Sie wirklich Jazz sind, wo steckt dann der Bodyguard?«
»Er hat Jessica weggebracht.«
Kalte Wut erfasste ihn, während er krampfhaft überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben. Würde die Sache mit dem Doppelmord und anschließendem Selbstmord noch funktionieren, wenn sie Jazz war? Jessica könnte ihn damit in Verbindung bringen, selbst wenn ihm die Flucht gelang.
Die kleine Schlampe hier dachte, sie hielte alle Trümpfe in ihren Händen. Aber nach den vertraulichen Gesprächen, die er in den letzten Wochen mit ihrer Schwester geführt hatte, wusste er, dass es nur eine Sache gab, die stärker als Jessicas Ehrgeiz war: die Liebe zu ihrer Schwester Jazz.
Er richtete die Pistole auf Denise und schoss. Sie krümmte sich und kippte nach vorn. Jessica – Jazz – stürmte auf ihn los und griff unter ihr Kleid, aber er zielte mit der Beretta schon wieder auf sie.
»Keine Bewegung!«, sagte er drohend. »Ein Zentimeter weiter, und Sie sind genauso tot wie die beiden.«
Sie streckte die Arme zur Seite.
»Was haben Sie denn da drin … Jazz?« Er griff in ihren Ausschnitt und riss das Kleid mit einem Ruck von oben nach unten auf, sah die kleine Glock im Slip. Er lachte leise, als er die Pistole herauszog. »Perfekt.«
Miles trat ein paar Schritte zurück, jetzt hatte er ihre eigene Waffe auf sie gerichtet. Er wischte seine Fingerabdrücke von der Beretta, die Gott sei Dank nicht registriert war, und legte sie neben Denise’ Hand. »Mord und Selbstmord. Sie ertrug dieses Leben einfach nicht mehr.« Er sah zu Parrish. »Und diesen Heuchler auch nicht.«
Jazz’ Augen wurden zu silbernen Schlitzen. »Jessica wird sofort wissen, was los ist, Miles. Sie werden nie damit durchkommen.«
»Wir werden ein wenig Boot fahren, Jazz.« Er wies mit dem Kopf auf die Tür, in der Hand immer noch die Waffe, die sie zum Glück dabeigehabt hatte. »Wenn Jessica glaubt, dass das Leben ihrer Zwillingsschwester auf dem Spiel steht, wird sie die Story schnellstens begraben.«
Andernfalls würde er Jazz ein Grab schaufeln.
Alex überzeugte den Eigentümer des kleinen Ladens davon, ihm ein Golfmobil zu leihen, und raste dann in weniger als fünf Minuten zum Haus. Hinter einer dicken Zwergpalme beobachtete er das Haus und lauschte. Nichts war zu hören, nichts bewegte sich. Es war geradezu unheimlich still.
Alex schlich näher, und sein Herz setzte fast aus, als er ein leises Stöhnen hörte. Das dumpfe Motorengeräusch eines PS-starken Rennbootmotors übertönte das Stöhnen, wurde dann aber leiser und entfernte sich. Wieder hörte Alex das Stöhnen. Es klang wie ein verwundetes Tier … oder eine Frau.
Jazz.
Er zog seine Waffe, nahm sie in beide Hände und schlich lautlos zur unteren Wohnung. Wieder stöhnte jemand vor Schmerzen. Alex trat die Tür auf.
Es roch nach Blut, ihm wurde eiskalt. Kimball Parrish lag in einer Blutlache, die toten Augen starrten ihn an. Auf der anderen Seite lag Denise, hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt. Mit zwei langen Schritten war er bei ihr, sie lebte noch.
Als er sich neben sie kniete, sah er die Beretta auf dem Boden.
Jazz hatte hier auf niemanden geschossen.
Er legte die Hand auf Denise’ Schulter, die Kugel hatte sie im Bauch getroffen. Ihre Augen glänzten unnatürlich, sie war nicht ganz bei sich.
Wo war Jazz? Das Einzige, was er hörte, war das Rennboot, das sich offenbar schnell entfernte.
Erst jetzt nahm er es richtig wahr. Fluchend sprang er auf, rannte nach draußen und suchte die Wasseroberfläche ab. Rannte sie vor ihm weg … oder war sie auf dem Weg zu ihm? Verdammt, sie blieb nie, wo sie war.
Mit großen Schritten stürmte er die Außentreppe hoch, um einen besseren Blick zu haben. Ein schnittiges Rennboot mit roten und schwarzen Seitenstreifen raste an der Küste entlang, und auf einmal fühlte er sich, als habe er Blei in den Knochen. Jazz war auf dem Boot, aber sie war nicht allein. Und der Geschwindigkeit nach zu urteilen, war es kein Vergnügungsausflug.
Alex rannte nach unten in die Wohnung, ließ sich neben Denise nieder und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Sie öffnete die Augen und verdrehte sie nach oben, als verlöre sie das Bewusstsein.
Ein paar Sekunden späten hatte er Dan am Handy. »Wir brauchen einen Arzt im Strandhaus von Parrish. Und die Polizei. Rasch.«
»Roger! Bleib, wo du bist!«
»Kann ich nicht.« Aber durfte er Denise allein lassen? Er schob ihr T-Shirt hoch. Sie war schwer verletzt, würde aber durchkommen. »Sie sollten sich beeilen. Ich habe hier eine Frau, die angeschossen worden ist.«
»Jazz?«
»Nein. Kommt mit dem Helikopter zurück, sobald Ihr Jessica im Krankenhaus abgeliefert habt. Fliegt nach Südwesten zum Golf. Haltet Ausschau nach einem schwarz-roten Flitzer.«
Alex zog Denise’ T-Shirt wieder herunter und presste den Stoff auf die Wunde, ihre Augenlider flatterten und gingen auf. »Halten Sie durch!«, sagte er. »Denken Sie an Ihren Sohn!«
Sie nickte schwach, und er stand auf.
Das Fischerboot konnte es nicht mit einem Rennboot aufnehmen, dessen zwei Motoren sich pfeilschnell durchs Wasser fraßen. Aber vielleicht konnte es derjenige, der mit Jazz im Boot saß, auch nicht mit ihr aufnehmen. Hoffentlich.