9
Mit einem Schlag erlangte Jessica das Bewusstsein. Eben noch hatte sie so tief geschlafen wie noch nie zuvor, und im nächsten Augenblick war sie hellwach. Sie öffnete die Augen, schloss sie aber gleich wieder.
Eine Welle von Verwirrung erfasste sie, Angst schoss in ihr hoch.
Wo war sie?
Sie runzelte die Stirn und blinzelte, ließ ihren Augen Zeit, sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und sah auf eine leere Wand. Die Bewegung brachte ihr Erleichterung, und sie suchte in ihrem Kopf nach dem Grund dafür.
Natürlich – sie war wie gelähmt gewesen. Aber jetzt konnte sie zumindest den Kopf bewegen.
Sie wackelte mit den Zehen. Mit den Fingern. Beugte das rechte Knie. Muskeln waren etwas Herrliches – und sie funktionierten.
Sie hielt den Atem an und drehte den Kopf auf die andere Seite. Schmale Lichtstreifen tanzten vor ihren Augen, fielen durch Lamellen vor einem Fenster. Dann richtete sie den Blick auf das Fußende des Bettes. Matte Farben, zarte Stoffe, sauber.
Das gefiel ihr.
Sie versuchte zu schlucken, doch ihr Hals war so trocken, dass es wehtat. Sie hob den Kopf und schob sich auf dem Kissen hoch. Hob die dicke Decke und sah sich ihren Körper an; es verschlug ihr den Atem – sie war vollkommen nackt.
Sie schloss die Augen, und ein Schauder durchfuhr ihren Körper.
Sie hatte geschlafen. War gelähmt aufgewacht. Und … hatte ihren Namen nicht mehr gewusst. Panik breitete sich heiß in ihrer Magengegend aus.
Jessica Lynn Adams. Ich heiße Jessica Lynn Adams. Geboren am 18. April 1976. Sie ratterte es herunter wie Name, Dienstgrad und Kennzeichen. Ein verlässliches, sicheres Stück Wissen, an dem sie sich festhalten konnte.
Jessica Adams. Journalistin. Moderatorin. In Miami.
Miami … Sie drückte sich mit den Ellbogen noch ein wenig höher und sah sich um. War sie noch in Miami? War sie irgendwo anders? Hatte sie hier die Nacht verbracht? Mit einem Mann?
Ein Blick auf das Kopfkissen neben ihr zeigte ihr, dass sie allein geschlafen hatte. Aber dennoch war sie nackt und lag in einem fremden Bett. Instinktiv fuhr sie mit der Hand zwischen ihre Beine. Weder feucht noch empfindlich. Sie hatte keinen Sex gehabt.
Aber warum lag sie dann ohne Kleider in einem Bett? Und wie war sie überhaupt hierhergekommen?
War sie gefahren? Ja. Sie hatte in ihrem Wagen gesessen. Ihrem funkelnagelneuen, wunderschönen Wagen. Sie hatte immer noch den Geruch der Ledersitze in der Nase, die ersten Töne der Mozart-CD im Ohr. Sie hatte den Zündschlüssel umgedreht … und war … zur Arbeit gefahren. Tatsächlich?
Sie war auf jeden Fall unterwegs gewesen. Am Abend. Sie kniff die Augen zusammen, aber sie konnte sich nicht erinnern.
War sie in einem Krankenhaus? Was war passiert? Ein Autounfall? Ein Überfall auf dem Parkplatz?
Um Gottes willen, warum war ihr Kopf bloß so vollkommen leer?
Sie versuchte, sich richtig aufzusetzen, aber ihr wurde übel. Jessica legte die Hände auf den Magen, sicherlich würde sie sich gleich übergeben müssen. Ihre Zunge hob sich, und sie würgte, aber nichts kam heraus. Sie konnte nicht aufhören zu würgen und ihre Beine begannen zu zittern. Noch nie zuvor war ihr dermaßen schlecht gewesen.
Jessica robbte an die Bettkante. Hier stand ein Nachttisch, auf dem nichts lag, gegenüber ein einsamer Stuhl. Die Tür des kleinen Zimmers hatte einen Messingdrücker. Nichts kam ihr bekannt vor. Sie stand mit wackligen Beinen auf und sah an sich hinunter. Ihr Bauch war eingefallen, auf ihrem linken Oberschenkel schimmerte ein violett-grüner Fleck. Wie lange war sie denn schon hier?
Eiskalte Angst zog ihr Herz zusammen.
»Wo bin ich?«, flüsterte sie heiser. Es gelang ihr, den Schritt zum Fenster zu gehen, mit zwei Fingern die Lamellen auseinanderzuschieben und hinauszusehen.
Weißes Mondlicht spiegelte sich in schwarzem Wasser. Eine Welle rollte heran, die Gischt glitzerte im Mondschein, bevor sie sich am Strand brach. Jessica hörte das leise Rauschen des Ozeans, die Wellen wogten hin und her.
Dieses Geräusch hatte sie im Schlaf gehört. Und auch der Ausblick kam ihr irgendwie bekannt vor. Aber sie war nicht zu Hause, ihre Wohnung lag im siebenunddreißigsten Stock. Die Erinnerung daran fühlte sich gut an.
Als der nächste Brecher heranrauschte, stiegen Schmerz und Übelkeit so heftig in ihr auf, dass sie sich würgend auf das Bett warf. Diesmal kamen ihr die Tränen, und kalte Schauer jagten über ihren Körper.
Sie brauchte Hilfe. Wirklich und wahrhaftig, sie brauchte Hilfe.
Jazz.
Der Name hallte in ihrem Kopf wider. Wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre, hätte sie ihn laut herausgeschrien. Jazz! Jazz würde ihr helfen. Sie hatte es versprochen.
Obwohl ihr Magen fürchterlich wehtat, zwang sich Jessica aufzustehen. Sie musste ihre Kleider finden. Ein Telefon. Antworten.
Die Entschlossenheit tat ihr gut, ebenso gut wie das Wissen, wer sie war. Sie musste etwas tun – niemand konnte Jessica Adams aufhalten, wenn sie etwas wollte. Stolpernd ging sie zur Tür und legte die Hand auf den Knauf, aber er ließ sich nicht drehen. Sie schleppte sich zum Fenster, schob die Jalousie hoch und zog am Metallgriff. Ebenfalls abgeschlossen.
Da draußen lag der lange, einsame Strand. Sie schlug mit der Faust schwach auf das Fensterglas und wimmerte leise.
Panik stieg in ihr auf, aber sie kämpfte dagegen an. Ließ sich auf die Knie fallen und öffnete den Nachttisch. Der schönste Anblick ihres Lebens erwartete sie: eine Handtasche aus pinkfarbenem Leder. Deutlich hatte sie das Bild vor Augen, wie sie die Chaneltasche bei Bloomingdale gekauft hatte – wie leichtsinnig sie sich dabei vorgekommen war.
Sie griff nach der Tasche wie eine Verhungernde nach Essbarem. Dort drin war ihr Handy. Sie konnte die Polizei anrufen. Oder Jazz. Oder … auf der Arbeit. Genau, sie würde Ollie anrufen. Ollie war immer für sie da.
Doch der Blick in das Seidenfutter der Tasche versetzte ihr einen herben Schlag. Sie wühlte darin herum, warf den Kosmetikbeutel, die Plastikbox mit den Tampons, einen Kamm und den Spiegel heraus. Wo war die Geldbörse?
Wo war das Handy?
Zitternd rollte sie sich auf dem Boden zusammen und tat das Einzige, wozu ihr müder und schmerzender Körper noch fähig war.
Sie weinte.
Bis eine sanfte Berührung an der Schulter sie auffahren ließ. Das Schluchzen blieb in ihrer Kehle stecken, sie schnappte nach Luft, etwas Metallenes glitzerte im Mondlicht.
»Es ist noch zu früh, Jessie.« Diese Stimme. Sie hatte vorher nie bemerkt, wie … bedrohlich sie klang.
Jessica versuchte auszuweichen, aber ein Stich in ihren Oberschenkel hielt sie auf. Sie sah, wie die Nadel sich in den hässlichen blauen Fleck schob. Einen Augenblick lang war ihr alles klar.
Dann fiel ihr Jazz ein. Um Gottes willen. Spielte sie gerade ihre Rolle? Wenn er es nun herausfand … wenn er wusste, wer sie war…
Und wieder wurde es dunkel, und die Welt versank in Stille.
Alex roch den amerikanischen Kaffee schon an der Tür von 3701. Nach einem Zehn-Kilometer-Lauf am Strand war eine Tasse Chock Full O’Nuts das Letzte, was er wollte, aber er hatte nicht gewagt, kurz für einen Colada und Pastellitos einzukehren, denn er wollte fertig geduscht und angezogen sein, wenn Jazz aufstand. Bei ihr musste man auf alles gefasst sein.
Und da war sie auch schon, saß angezogen um sieben Uhr morgens am Küchentresen vor ihrem aufgeklappten Laptop, neben sich auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Telefonbuch. Der fade Kaffeeduft kam aus einer Krups-Kaffeemaschine.
Wenn sie nicht vollkommen ungeschminkt gewesen wäre und das enge T-Shirt getragen hätte, in dem sie am ersten Tag aufgetaucht war, hätte er geglaubt, Jessica sei auf mysteriöse Weise wieder erschienen.
»Du solltest die Kette vorlegen, wenn ich weg bin«, sagte er beim Eintreten.
Sie sah nicht auf, ihre Finger bewegten sich flink auf der Tastatur. »Ich habe nicht in dein Bett gesehen. Dachte, du würdest noch schlafen.«
»Und ich dachte, ich könnte noch laufen und Frühstück holen, bevor du dich überhaupt rührst.«
»Falsch gedacht.«
»Was hast du dir vorgenommen?« Er stellte sich hinter sie, roch das Zitronenshampoo und sah das Logo einer Datenbank auf dem Bildschirm. »Das Telefonbuch von Yellowstone?«
Sie klappte den Bildschirm herunter und drehte sich auf dem Barhocker um; ihre Augen und ihr Mund befanden sich auf gleicher Höhe wie sein bloßer Oberkörper. Sie war ihm so nah, dass er einzelne Wimpern unterscheiden konnte und jede Pore der elfenbeinfarbenen Haut ihres frisch gewaschenen Gesichts. Als Jazz war sie viel hübscher als in ihrer Rolle als Jessica. Das professionelle Make-up für die Kamera war bei ihr unnötig – sie strahlte eine Sinnlichkeit aus, die weit attraktiver war als die glitzernde Fernsehästhetik.
Er schob diese Gedanken weg. Ihn würde kein dreistes Weib mit einem drallen Körper zur Strecke bringen. Er würde nicht alles nur aus Lust und Laune aufs Spiel setzen. Er bestimmte selbst, wie die Dinge liefen, hatte einen Auftrag zu erledigen und trug Verantwortung – nicht nur für einen, sondern für viele.
Sie sah auf, nachdem sie seinen Brustkorb mit genau der gleichen Intensität betrachtet hatte wie er ihr Gesicht. »Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen.«
»Keine Geschäfte«, antwortete er, ohne sich zu bewegen. »Ich verhandle nicht, bei mir gibt es weder Konzessionen noch Extraabsprachen.«
Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du denn sonst im Angebot, Alex Romero?«
»Fang nicht so an«, drohte er leise. »Du kannst nicht gewinnen.«
Sie drehte sich wieder um und klappte den Bildschirm hoch. »Ich wollte nur einen Kompromiss vorschlagen, damit wir uns gegenseitig helfen können.«
Seufzend griff er nach einer Tasse. Amerikanischer Kaffee war für ihn schon genug Kompromiss. »Wie könntest du mir denn helfen?«
»Ich könnte … kooperieren.«
Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, weil es ihr offensichtlich so schwerfiel, dieses Wort auszusprechen. »Das heißt?«
»Ich werde dir erlauben, mich zu … beschützen.« Das war noch schwerer gewesen.
»Dir ist deine Unabhängigkeit wirklich sehr wichtig, nicht wahr?« Er lehnte sich an den Tresen und wappnete sich für den ersten Schluck.
Sie zuckte die Achseln, sah kurz seinen nackten Oberkörper an und dann wieder auf den Bildschirm. Ein weiterer Vorteil ihres ungeschminkten Gesichts war, dass er sehen konnte, wie ihre Wangen sich rosa färbten.
»Ich bin nicht gerne bedürftig.«
»Bedürftig?« Er verschluckte sich fast an dem Spülwasser-Kaffee. »Du?«
»Vielleicht ist das nicht ganz das richtige Wort.« Sie rutschte unruhig auf dem Barhocker herum. »Aber ich scheine andauernd … Unterstützung zu brauchen.«
Sprachen sie gerade von ein und derselben Frau? »Wie kommt’s?«
»Egal. Immer –«
»Nichts ist egal«, unterbrach er sie. »Ich will wissen, womit ich es hier zu tun habe. Und ganz ehrlich, wenn du etwas brauchst, dann höchstens, dass man dir nicht im Weg steht.«
Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich werte das als Kompliment.«
»Wie du willst. Jedenfalls stimmt es.«
»War nicht immer so.«
Er stellte die Tasse ab. »Fällt mir schwer, das zu glauben.«
Sie seufzte. »Vor etwa einem Jahr habe ich mit dem Fernsehjob aufgehört. Hab dir ja schon erzählt, dass ich an den Spielchen im Sender gescheitert bin. Danach bin ich … in einen neuen Beruf eingestiegen. Quasi.«
»Quasi?«
»Eigentlich habe ich meinem Freund geholfen, seine Detektei aufzubauen.«
Aus irgendeinem verrückten Grund schlug sein Herz schneller. Sie hatte einen Freund. Er wartete auf die Fortsetzung.
»Im Grunde hat es nicht erst mit Elliot angefangen. Ich sollte dir alles erzählen, damit du verstehst, warum es für mich so wichtig ist, Jessica zu finden und ihr zu helfen.«
»Rede weiter.« Er nahm noch einen Schluck der trüben Brühe.
»Jessica war immer schon – wie soll ich sagen? Schau dich doch um.« Sie wies mit der Hand auf die Vorzeigewohnung. »Ihr Leben ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Nichts ist für sie eine wirkliche Herausforderung, nichts wirft sie aus der Bahn, nichts stellt sich ihr in den Weg. Sie weiß gar nicht, wie ein Misserfolg überhaupt aussieht.«
»Beneidest du sie darum?«
»Um Gottes willen, nein!« So vehement, wie sie das sagte, konnte es nur die reine Wahrheit sein. »Ich bewundere sie dafür, was sie erreicht hat. Das macht sie aus, und glaube mir, sie ist einfach … außergewöhnlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine wirklich und wahrhaftig außergewöhnlich.«
»Du wiederholst dich.«
»In unserer Kindheit und Jugend war ich völlig abhängig von ihr. Ich konnte mich immer auf sie verlassen. Sie hat in der Schule mitgeschrieben, hatte das Geld, stellte sicher, dass wir rechtzeitig zu Hause waren, schrieb uns auf dem College ein, sorgte für die Abschlüsse und tat Jobs auf, sie tat … was immer getan werden musste. Ich habe genommen. Sie hat gegeben.«
»Ich bin sicher, dass du etwas zur Party beigetragen hast.«
»Ganz genau.« Jazz lachte leise. »Ich war für die Partyseite zuständig. Brachte Freude, Spaß und ab und zu ein Abenteuer ein. Jessica ist eher konservativ, immer extrem kontrolliert. In unserer Jugend haben wir uns gut ergänzt. Ich machte ein wenig Action, und sie passte auf, dass ich nicht zu weit ging. Aber …« Ihr Lächeln verschwand. »Wir wurden erwachsen. Und fanden heraus, dass unsere Vorstellungen vom Leben genauso unterschiedlich waren wie unsere Persönlichkeiten.«
»Habt ihr euch zerstritten?« Er konnte sich gut vorstellen, dass eine so zielstrebige Frau wie Jessica nicht gerade begeistert davon war, wenn ihre Lebensplanung durch eine weniger ehrgeizige Schwester behindert wurde.
»Im Grunde nicht«, sagte Jazz. »Aber sie hielt nicht besonders viel von meiner Entscheidung. Konnte nicht verstehen, warum ich die schlecht bezahlte Arbeit als Privatdetektivin dem Glamour des Fernsehens vorzog. Und als ich dann mit Elliot zusammenzog …«
Sie lebte mit diesem Kerl zusammen? Er schüttete den Kaffee in den Ausguss, um zu verbergen, was diese Bemerkung in ihm auslöste.
»Sie dachte, er sei der Falsche für mich. Zu kontrollierend und dominant. Aber ich habe von ihm das Handwerk gelernt, und ich fand Gefallen an der Arbeit, obwohl ich im ersten Jahr weder eine Lizenz hatte noch Geld dafür bekam.«
Vergangenheit. Sie sprach in der Vergangenheit. »Was ist passiert?«
»Ich bin mit dem Kopf gegen meine ganz persönliche Wand geknallt.«
Sie sagte das so ernst, dass er sich wieder umdrehte.
»Mir ist aufgegangen, dass ich mein ganzes bisheriges Leben immer von jemandem abhängig gewesen war: zuerst von meinen Eltern, dann von Jessica, und als ich schließlich ganz allein in Fresno saß, habe ich mich an Elliot gehängt, damit er sich um mich kümmerte. Neunundzwanzig Jahre lang hatte ich nicht eine einzige autonome Entscheidung getroffen.« Sie kreuzte die Arme über der Brust. »Das musste sich ändern. Ich beschloss, unabhängig zu werden. Deshalb ist es auch so wichtig für mich, dass es endlich einmal andersherum ist und Jessica meine Hilfe braucht.«
»Was ist aus dem Kümmerer Elliot geworden?« Obwohl es natürlich keine Rolle spielte.
Sie zuckte die Achseln. »Er mochte mein altes Ich lieber.«
Schrecklich, wie erleichtert er darüber war. Warum scherte es ihn überhaupt, ob sie einen Freund hatte oder nicht? Lucys Regeln hielten ihn doch sowieso von ihrem Bett fern. Er würde sich weiterhin fernhalten, ganz egal, wie stark sein Körper auf sie reagierte. Nachdem er sich – in größtenteils schlaflosen Nächten – endlich sein Verlangen eingestanden hatte, konnte er es auch überwinden. »Und weiter?«
»Ich zog nach San Francisco, besorgte mir eine Lizenz als Privatdetektivin, spürte einen verschwundenen Jugendlichen auf, erwischte eine Frau beim Seitensprung und kam nach Miami, weil Jessica mich brauchte.«
»Und ihr zu Gefallen in ihre Rolle zu schlüpfen – passt in dein grundsätzliches Vorhaben, du selbst zu sein?« Das sollte ihr Leben verändern? Ihm kam es dumm und kindisch vor.
»Es ist mehr als ein Gefallen. Ich … beweise etwas.«
»Was denn, Jazz?« Er konnte nicht widerstehen, musste auf der Sache herumreiten, die wahrscheinlich ihr wunder Punkt war. »Dass du genauso gut bist wie sie?«
Ihre Augen wurden grau wie Zinnschalen, sie sprang vom Hocker und ging zur Kaffeemaschine. »Nein. Dass ich gut genug bin, um ihre Schwester zu sein. So gut wie sie – kann ich niemals werden.«
Sie goss sich ein, und er schaute dabei auf ihren Hintern in eng anliegenden Jeans. Ihm wurde heiß, eine inzwischen sehr vertraute Empfindung.
»Dumme Risiken einzugehen, beweist gar nichts. Ist nicht mein Ding.« Deshalb wandte er seine Aufmerksamkeit jetzt auch etwas anderem zu als dieser Jeans.
»Meins schon. Darum geht es ja bei meinem Vorschlag.«
Er tat verwirrt. »Hab vollkommen vergessen, dass es um ein Geschäft geht. Ich dachte, wir sind bei Oprah Winfrey und beichten innere Konflikte.«
»Sehr witzig. Das habe ich nun von meiner Ehrlichkeit.«
»Tut mir leid, dass ich deine Probleme auf die leichte Schulter genommen habe, Jazz.« Er lächelte träge. »Warum sagst du mir nicht, was du vorschlägst, dann kann ich unter der Dusche darüber nachdenken.« Denn wenn er auch nur eine Minute länger bei ihr, den scharfen Klamotten und dem Zitronenduft in dieser Küche blieb, würde sein eigener Konflikt mehr als deutlich zutage treten.
»Du darfst mich beschützen und den Bodyguard spielen, wenn ich überall dorthin gehen kann, wo eine mögliche Spur zu Jessica führt. Und ich werde weiterhin in ihrer Rolle bleiben.«
»Ich wollte von Anfang an nach ihr suchen. Natürlich werde ich tun …«
»Werden wir tun.«
»… was notwendig ist, um sie zu finden.« Er sprach weiter, ohne sich um ihren Einwurf zu kümmern. »Aber ich bin nicht der Ansicht, dass es hilfreich ist, wenn du dich weiter für sie ausgibst.«
»Warum nicht?«
»Falls sie sich aus irgendeinem Grund bedeckt hält, hat sie so keinen Grund mit dir in Kontakt zu treten. Und falls nicht, falls sie verletzt ist oder ihr noch Schlimmeres zugestoßen ist, gibt es auf diese Weise keine Vermisstenanzeige, kein Verbrechen und keine Leiche.«
Der Mund blieb ihr offen stehen. »Leiche? Meinst du der notgeile Fan hat sie getötet?«
»Das wäre der schlimmste Fall. Aber daran muss man eben auch denken.«
»Na wunderbar!«
»Die Realität ist selten wunderbar«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Und um ihre bloße Haut zu berühren. »Nun zu meinem Vorschlag, Jazz: Wir werden noch achtundvierzig Stunden nach ihr suchen. Werden aber allen sagen, wer du wirklich bist. Wenn wir Jessica bis Montagabend nicht gefunden haben, gehen wir zur Polizei und erzählen die ganze Geschichte.«
Das war zwar ausdrücklich gegen den Wunsch Lucys, aber es half nichts. Seine Chefin war so geblendet von dem Bedürfnis, auf ihren Klienten Eindruck zu machen, dass sie völlig verkannte, in welcher Gefahr Jessica Adams möglicherweise schwebte. Er musste alles in seiner Macht Stehende tun, um Jessica zu helfen, nur so konnte man einen Klienten beeindrucken. Nicht durch irgendwelche Spielchen mit einem Stellvertreter, während ihm sein Instinkt sagte, dass die richtige Klientin in Schwierigkeiten war.
»Schön. Wir fangen bei dem Aufnahmestudio in Hialeah an, wo sie die Pornos machen.« Sie löste sich aus seinem Griff. »Aber eines noch: Wir sagen niemandem beim Fernsehsender etwas. Keiner von Jessicas Kollegen erfährt ein Wort.« Er schüttelte den Kopf. »Entscheide dich. Mitmachen oder abhauen?«
Er lachte auf. »Ganz egal auf welche Art, du willst wohl immer das Sagen haben?« Beide wussten, wie effektiv sie dabei schon gewesen war. »Keine Chance.«
Er wollte ins Bad gehen, aber sie hielt ihn am Arm zurück. »Es ist mir bitterernst, Alex. Keiner aus dem Sender darf etwas erfahren.«
Oh Gott, Ultimaten, Verhandlungen und Risiken. Die Frau trieb ihn noch zum Wahnsinn. Er machte seine Arme los und warf den Kopf zurück. »Schön, geht in Ordnung.«
Sie ließ die Schultern erleichtert sinken. »Danke! Als Gegenleistung verspreche ich dir, nicht mehr … nicht mehr…«
»Was?« Er sah auf ihre Brüste, sein Mund war plötzlich ganz trocken. »Keine weiteren Fußmassagen?«
Ein leichte Röte breitete sich vom Brustansatz bis zum Hals aus, ihre Schlagader pulsierte heftig. »Tut mir leid. Das war unfair, hinterhältig und gar nicht nett.«
»Unfair und hinterhältig stimmt.« Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Aber trotzdem ziemlich nett.«
Sie verzog das Gesicht. »Ich werde es nicht wieder tun.«
»Du kannst es jederzeit wieder versuchen«, sagte er und beugte sich vor, spürte die Hitze zwischen ihnen. »Aber beim nächsten Mal werde ich wissen, was du im Schilde führst.«
»Und was wirst du dann tun.«
»Etwas, womit du bestimmt nicht rechnest, querida.«
Er hätte schwören können, dass ihre Augen erwartungsvoll aufleuchteten und sich ihre Lippen gerade weit genug für einen Kuss öffneten. Kurz schweifte sein Blick zu den sich unter dem Top abzeichnenden Brustwarzen.
Es fehlten nur wenige Zentimeter, und sie würden seine bloße Haut berühren. Er musste sich nur ein wenig vorbeugen, mit seinem Oberkörper ihre Brüste streifen – das Baumwolltop wäre in Sekunden Geschichte. Und er könnte seine Hände und seinen Mund wieder auf ihre Haut legen.
»Was wirst du dann tun, Alex?« Er spürte die Anspannung in der erneut gestellten Frage.
Jede Zelle in seinem Körper kannte nur ein Bedürfnis, er wollte in sie eindringen, sich mit ihr vereinen.
»Gar nichts«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
Das Glitzern in ihren Augen verschwand, und er ging unter die eiskalte Dusche.