12

Ein kühler Wassertropfen rann zwischen ihren nackten Brüsten herab und brachte Jazz wieder zu Bewusstsein.

»Dein Telefon hat geklingelt.« Alex lag auf dem Handtuch neben ihr, schöpfte mit der Hand Wasser aus dem Pool und ließ es auf sie tropfen. »Willst du nachsehen, ob jemand eine Nachricht hinterlassen hat?«

Warum konnten sie nicht einfach unter dem Sternenhimmel liegen bleiben und in den angenehmen Empfindungen schwelgen? Warum konnten sie nicht ineinander verschlungen eine Weile schlafen, um für die nächste Runde Kraft zu sammeln.

»Ich bin eingeschlafen.« Sie drehte sich zu ihm um. Er lag auf der Seite, den Kopf auf einem Arm aufgestützt, das nasse Haar fiel über seinen Bizeps. Wie eine Maya-Gottheit sah er aus, ein aus Stein gemeißelter Herrscher über die Welt.

»Du schläfst gerne«, stellte er fest und ließ noch mehr Wasser auf sie tropfen.

»Und wie. Schlafen ist göttlich. Ich sehne mich nach stundenlangem, ungestörtem Schlaf.«

»Ich sehne mich nach stundenlangem, ungestörtem Sex«, sagte er lachend. »Da sehe ich in der Zukunft ein Problem auf dich zukommen. Du willst schlafen, und ich will …« Er beugte sich vor und fuhr mit der Zunge über ihre Brustwarze, die sich sofort aufrichtete. »… dich.«

Sie schloss die Augen, wusste nicht, ob das prickelnde Gefühl seiner talentierten Zunge zuzuschreiben war und dem Gedanken an eine gemeinsame Zukunft. »Hör auf, mich zu quälen, und hol mir mein Handy!«

»Quälen?« Er schob die Hand zwischen ihre Beine. »Ich soll dich quälen?«

»Du sollst mein Handy holen.« Das war gelogen. Er sollte mit seiner Hand weitermachen. Und mit seinem Mund. Mit allem … wieder und wieder. »Vielleicht war das Jessica.«

Wie aufs Stichwort erklang erneut die Melodie ihres Handys. Ohne ein weiteres Wort stand er auf, um es zu holen. Jazz rollte sich auf den Bauch und sah zu, wie er im Mondlicht über die Terrasse ging. Nein, einen solchen Gott hatten die Mayas sicher nie gehabt.

Als die Melodie zum dritten Mal ertönte, reichte Alex ihr das Handy; sie war noch so von seinem Anblick gebannt, dass sie nicht auf das Display achtete. »Hallo?«

»Ich weiß, wer Sie sind.«

Die Männerstimme jagte Jazz einen Schauer über die Haut, sie kniete sich hin, nahm das Handy vom Ohr und sah auf die Nummer. Jessicas Büro. Sie hielt das Handy wieder ans Ohr. »Mit wem spreche ich?«

»Oliver Jergen.«

Sie war etwas erleichtert. Ollie. »Ich wollte es Ihnen morgen sagen.«

Er schnaubte, offensichtlich glaubte er ihr kein Wort.

»Ich muss meine Schwester finden, Ollie. Sie ist verschwunden.«

Alex beobachtete sie genau, aber sie konzentrierte sich nur auf das, was Ollie sagte. »Sie müssen nur mit Miles Yoder reden«, sagte er. »Er weiß über jeden ihrer Schritte Bescheid.«

Schon wieder Miles Yoder. »Habe ich versucht. Ohne Erfolg. Wie sind Sie darauf gekommen, wer ich bin?«

»Ich habe das Foto gefunden, das Sie im Schreibtisch versteckt haben.« Er seufzte leise. »Sie redet ununterbrochen von Ihnen. Nie hätte sie das Bild vom Schreibtisch genommen. Sie ist so stolz auf ihre Zwillingsschwester.«

Überraschung, Dankbarkeit und Schuldgefühle mischten sich in ihrer Brust. Jessica war stolz auf ihre Schwester? »Ich sollte ein oder zwei Wochen für sie einspringen«, sagte sie und rückte auf dem Handtuch ein wenig zur Seite, damit Alex sich neben sie setzen konnte. Ihre Lippen formten lautlos Ollie, Alex nickte und hörte weiter zu.

»Na, Sie waren ja eine große Hilfe!« Sie hörte eine untergründige Drohung heraus.

»Ich will nichts weiter, als meine Schwester finden«, sagte sie.

»Sie hat mir nichts davon erzählt, dass Sie kommen würden.« Nun zeigte er offen seinen Ärger. »Aber sie hat mir alles über Miles Yoder erzählt. Da weiß ich Bescheid.«

»Ich aber nicht«, gab sie rasch zu. »Ich weiß nicht einmal, wie ich an ihn rankomme.«

»Miles Yoder ist Milliardär und Menschenfreund.«

»Er sitzt im Aufsichtsrat von Yellowstone«, konterte sie. »Aber warum weiß er so viel über Jessica? Was ist das für eine Beziehung?«

Er lachte tief in der Kehle. »Beziehung? Da hat Ihnen Ihre Schwester offensichtlich etwas verschwiegen, Jasmine. Oder darf ich Sie Jazz nennen?«

Sie spürte Ekel aufsteigen. »Ich glaube nicht, dass sie mich belügen wollte. Wir hatten nur einfach nicht genug Zeit, die Dinge im Einzelnen zu besprechen. Und hier in Miami habe ich sie nicht mehr angetroffen.«

Ollie lachte leise. »Das war doch der Sinn der Sache, nicht wahr? Darum sind Sie doch überhaupt eingesprungen.«

Sie mochte diesen allwissenden, herablassenden Tonfall nicht. »Wissen Sie, wo sie stecken könnte?«

»Ich habe meine Vermutungen.«

Der Scheißkerl. »Wissen Sie, in welcher Verbindung meine Schwester zu Denise Rutledge steht?«

Er ließ sie ein paar Sekunden schmoren, bevor er antwortete. »Sie ist die Quelle für die Story. Jessie hat sich mehrmals mit ihr getroffen.« Jessie. Ihre Schwester hasste diesen Namen.

»Worum ging es denn?« Jazz ließ nicht locker. »Um die Rechte von Pornodarstellern?«

»Mein Gott, Jazz, Sie sind ja so naiv!«

Sie musste schlucken und sah Alex an. »Ollie, offensichtlich wissen Sie eine Menge über die ganze Situation und auch über diese Story. Ich würde gerne mit Ihnen persönlich darüber sprechen. Sagen Sie mir, wo und wann.«

Alex runzelte die Stirn, Jazz nahm seine Hand und schüttelte leicht den Kopf, um ihm zu sagen, er solle sich keine Sorgen machen und um Himmels willen nicht versuchen, sie aufzuhalten. Er zog ihre Hand an seinen Mund und küsste ihre Fingerspitzen.

Eine Geste, die gleichzeitig Schutz und Verbundenheit demonstrierte und ihr damit das Herz brach.

»Wir könnten uns noch heute Nacht treffen«, sagte Ollie.

»Jetzt gleich?«

Alex setzte eine finstere Miene auf und schüttelte den Kopf. Nun gut, vielleicht doch nicht so viel Verbundenheit. Sie warf ihm einen bittenden Blick zu. Das ist wichtig, formten ihre Lippen.

Sein Blick wurde eine Spur weicher. Sie hob ihre verschränkten Hände und strich mit dem Handrücken über seine Bartstoppeln.

»Geht in Ordnung«, teilte sie Ollie mit und sah Alex in die Augen. »Aber ich bringe den Bodyguard mit.«

»Ist mir vollkommen egal, wen Sie mitbringen, solange Jessicas Liebhaber nichts davon erfährt.«

Ihr Liebhaber?

»Wir treffen uns in zwei Stunden am Crandon Park auf Key Biscayne«, schlug er vor, bevor sie fragen konnte, wen er mit Liebhaber gemeint hatte. »Dann werde ich Ihnen alles erzählen, was ich weiß.«

In zwei Stunden. Das wäre ungefähr um drei. Sie sah auf Alex’ blanke Brust, seinen Bauch, seine offensichtlich interessierte Männlichkeit. Das Letzte, was sie wollte, war, jetzt zu gehen.

»Wissen Sie, wo das ist«, fragte Ollie, als sie nicht antwortete. »Jessies Lieblingsstrand.«

Schon wieder Jessie. »Ich werde schon hinfinden. Crandon Park, und wo genau?«

Alex schloss angeekelt die Augen, als er den Namen hörte.

»Am nördlichen Ende, an der zweiten Palme hinter dem Parkplatz«, sagte Ollie.

»Crandon Park, am nördlichen Ende des Strands, in zwei Stunden.« Alex sah sie einfach nur an, sie hielten sich immer noch an den Händen. »Bis dann also.«

Ollie unterbrach die Verbindung, ohne sich zu verabschieden.

»Ich bin nicht sicher, ob er wirklich weiß, wo Jessica ist, aber er hat eine Vermutung«, sagte sie und wappnete sich für die unvermeidliche Auseinandersetzung. »Er könnte mich zu Yoder führen und damit zu Jessica.«

Alex drückte ihre Hand. »So viel habe ich auch mitbekommen.«

»Wie weit weg ist Key Biscayne?«

»Etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten von hier.«

Sie sah ihn forschend an. »Wir haben zwei Stunden. Was willst du in dieser Zeit tun?«

»Dir beibringen, wie man mit meiner zweiten Pistole umgeht. Hast du schon einmal mit einer sechsundzwanziger Glock geschossen?«

»Ja«, sagte sie. »Damit habe ich schießen gelernt.« Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Du wirst doch mitkommen, oder etwa nicht?«

Er lächelte. »Machst du Scherze?«

Erleichterung schnürte ihr die Kehle zu. »Sehr gut. Dann zieh dich an und hol deine Knarren. Ich möchte vor ihm da sein und mich ein wenig umsehen.«

Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Du redest wie ein Bullet Catcher.«

Sie ließ sich von ihm in seine Arme ziehen. »Scheint nicht der schlechteste Job zu sein.«

»Ist es auch nicht.« Er legte den Arm um ihre Taille, küsste sie auf den Scheitel und drückte sie an sich. »Wenn man davon absieht, dass es verboten ist, sich mit Klienten einzulassen.«

Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn ungläubig an. »Kein Sex während der Arbeit?«

»Nicht mit der zu schützenden Person. Unter keinen Umständen.«

Aber er hatte doch gerade…? »Ich dachte, du würdest jedes Risiko vermeiden. Wenn Lucy das mit uns nun herausfindet?«

»Dann bin ich erledigt.«

»Tatsächlich?« Das musste ein Scherz sein. Hatte er seinen Job aufs Spiel gesetzt, um mit ihr zu schlafen? »Warum hast du das gemacht? Ging es darum, Regeln zu brechen? Eine weitere Eroberung zu machen? Oder was war es?«

»Ich wollte dich mehr als … meinen Job.«

Ihr Herz zog sich erneut zusammen. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Bild der armen Verwandten in einem kubanischen Fischerdorf auf. »Das ist Unsinn. Du dachtest, du könntest beides haben.«

»Ich will beides.«

»Kriegst du immer, was du willst?«

»Immer.« Er legte einen Finger unter ihr Kinn und zog ihren Kopf näher heran. »Aber ich mache mir keine Illusionen, Jazz. Bisher habe ich nur deinen Körper bekommen.«

Mehr würde sie einem Mann wie Alex Romero auch nie geben. Einer wie er würde erst Ruhe geben, wenn er sie vollkommen unter Kontrolle hatte. »Mehr bekommst du auch nicht. Nimm ihn oder lass es bleiben!«

»Ich nehme ihn.« Er beugte den Kopf und küsste sie genießerisch, sie spürte, wie er wieder steif wurde. »Ich nehme alles, was du mir gibst, jederzeit, an jedem Ort und so oft wie möglich.«

Die weiche Bettdecke über Jessicas nacktem Körper wurde mit einem Mal weggezogen, jegliche Wärme und Sicherheit verflog. Mit einem Schrei, der ihr fremd vorkam, fuhr sie hoch und blinzelte in die ungewohnte Helligkeit.

Eine blonde Frau stand an ihrem Bett, sie trug Jeans und ein marineblaues Sweatshirt. »Müssen Sie pinkeln«, fragte sie und verzog ihr ansonsten einigermaßen hübsches Gesicht zu einer Grimasse.

Jessica starrte sie an, eine Mischung aus widerlichem Parfum und stinkenden Zigaretten stieg ihr in die Nase. »Wer sind Sie?«

Die Frau verdrehte die Augen. »Also bitte.« Sie warf ein hellbraunes Stoffbündel auf das Bett. »Sie müssen sich anziehen. Aber ich nehme an, Sie müssen erst pinkeln, hier drin gibt’s ja keine Toilette.«

Jessica sah erst das Stoffbündel und dann die unbekannte Frau an. Sie kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen die aufsteigende Panik.

Jessica Lynn Adams.

Jedes Mal, wenn sie aufgewacht war, hatte sie sich ihren Namen vorgesagt. Mehr war ihr nicht eingefallen. Immer war sie gerade in dem Moment wieder eingeschlafen, wenn etwas anderes in ihrem Kopf Gestalt annehmen wollte. Und beim nächsten Erwachen war diese Erinnerung wieder wie weggewischt. Wie ein Traum, von dem man nur wusste, dass man ihn gehabt hatte, sich aber nicht an den Inhalt erinnern konnte.

Vielleicht konnte sie diesmal lange genug wach bleiben, um sich an mehr zu erinnern. »Ja, ich würde gerne ins Bad gehen.« Sie streckte die Hand aus und berührte die Frau am Arm. »Wo bin ich?«

Die Frau riss die Augen auf. »Mannomann, das Zeug hat’s wirklich in sich. Er hatte recht, Sie erinnern sich an rein gar nichts.«

Er? Wer denn? Jessica schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nichts mehr. Bitte, sagen Sie mir, wer Sie sind. Und wer er ist.«

»Kann ich nicht, Schätzchen. Sollst ja nichts wissen.« Sie sah Jessicas nackten Körper bewundernd an. »Wusste gar nicht, dass Sie so gut bestückt sind. Sind die Möpse echt?«

Jessica bedeckte ihre Brüste mit den Händen, ihre Nackenhaare richteten sich auf. Echt? »Ich glaube schon.«

Das brachte ihr ein Schnauben ein. »Sie glauben. Na, ich werd’s sicher merken, was meinen Sie?« Die Frau beugte sich vor, als sie Jessicas entsetzten Blick sah. »Keine Angst, Süße!« Sie klang ehrlich freundlich. »Ist viel leichter mit ’nem Mädchen. Wir tun uns nicht weh. Und ich bin vollkommen sauber. Versprochen.«

Jessica drehte sich der Magen um. »Wovon … wovon reden Sie?«

Die braunen Augen der Frau blickten noch ein wenig mitfühlender. »Hast es noch nie mit ’ner Schnalle getrieben, was?«

Hatte sie? Oder eher nicht? Ein Schrei steckte in ihrer Kehle fest. Warum konnte sie sich bloß an nichts erinnern? »Nein.« Der Gedanke an Sex mit einer Frau hatte absolut nichts Anziehendes für sie.

Die Frau zuckte die Achseln. »Ist ehrlich kein großes Ding. Und echt wahr, Schnallen, die es einander besorgen, verkaufen sich wie heiße Semmeln. Die Kerle können von dem Scheiß gar nicht genug kriegen.« Sie streckte die Hand aus und gab Jessica einen leichten Schubs. »Stehen Sie auf. Ich zeige Ihnen das Klo.«

Jessica schluckte die bittere Galle herunter, die in ihr aufstieg. Sie stand auf und sah an sich hinunter. »Ich muss etwas anziehen«, sagte sie und sah zum Kleiderbündel auf dem Bett.

Das Bündel entpuppte sich als ein Etuikleid, das Jessica vage bekannt vorkam. »Das sollen Sie im Film tragen. Am Anfang der Szene, auf dem Moderatorensessel. Später treiben Sie’s mit der Wettertussi.« Sie lächelte. »Mit mir.« Sie reichte Jessica das Kleid. »Schadet wahrscheinlich nicht, es jetzt schon anzuziehen. Ist aber nicht nötig, bei dem Dreh gibt’s keine Crew.«

Jessica zog das Etuikleid über; sie zitterte und hatte so viel Angst wie noch nie in ihrem Leben. Als sie auf den Flur traten, sah sie am anderen Ende einen Lichtschimmer, doch die Frau öffnete die erste Tür rechts.

Jessica trat in das kleine Bad, schloss die Tür von innen und sah in den Spiegel über dem Waschbecken.

Jazz.

Sie runzelte die Stirn. Warum dachte sie bei ihrem Spiegelbild an Jazz?

Sie stützte sich auf dem Becken auf und beugte sich näher an den Spiegel. Das Gesicht und die grauen Augen kamen ihr bekannt vor. Mit der Hand fuhr sie über eine Wange, glitt mit den Fingern zum Kinn und legte sie auf den dunklen Schönheitsfleck.

Jazz hat kein Muttermal.

Jessica schloss die Augen. Da war etwas, sie musste nur danach suchen und sich erinnern. Musste sich anstrengen.

Sie hatte eine Zwillingsschwester namens Jazz, die kein Muttermal hatte. Ihr eigener Name war Jessica Lynn Adams … sie war Moderatorin.

Fast hätte sie laut aufgelacht, sosehr freute sie sich über diese Erinnerungen. Sie öffnete die Augen und starrte forschend auf das Gesicht im Spiegel, ignorierte die dunklen Ringe unter den Augen, die fahle Gesichtsfarbe und die verfilzten Haare. Konzentrierte sich nur auf ihre Augen und versuchte, sich an etwas zu erinnern. An irgendetwas. Etwas, das kürzlich geschehen war.

Steaks. Sie hatte ein Filetsteak in der Hand gehabt, hatte … Marinade angerührt. Für … irgendjemanden.

»Ist sie da drin?«

Die Stimme eines Mannes ließ sie zusammenfahren. Sie machte ihr Angst.

Die Frau sagte etwas Bestätigendes. »In ein paar Minuten ist sie so weit«, sagte sie. »Sie braucht nur noch ein wenig Make-up.«

»Jetzt geht es nicht. Es ist etwas dazwischengekommen.«

»Mitten in der Nacht?«

»Die Tageszeit spielt dabei keine Rolle«, sagte er mit strenger Stimme.

Dieser Mann hatte etwas Gemeines an sich. Jessica legte die Hände vor das Gesicht, um sich nur auf das Zuhören zu konzentrieren, suchte verzweifelt nach einem Bild im Kopf … oder nach einem Namen.

»Ich muss mich mit jemandem treffen«, sagte der Mann. »Schick sie noch ein wenig schlafen. Kriegst du das hin?«

Lieber Gott, nein! Kein Schlaf mehr. Nie mehr traumlos und voller Ängste dahintreiben. Beim Erwachen fühlte sie sich jedes Mal so vollkommen verloren.

»Ich will nicht die ganze gottverdammte Woche hier rumhängen«, sagte die Frau. »Will nur den Job machen, mein Geld kriegen und dann verschwinden, Scheiße noch mal!«

»Schick sie schlafen«, sagte der Mann. Seine Stimme war leise, fordernd und kam ihr so frustrierend bekannt vor. »Hiermit.«

In Jessicas Kopf blitzte das Bild einer Nadel auf, instinktiv sah sie auf den blauen Fleck auf ihrem Oberschenkel, der inzwischen eine gelblich-braune Färbung angenommen hatte. Sie konnte die Übelkeit nicht mehr unterdrücken und erbrach sich in die Toilette, ihre Knie gaben nach, sie sank zu Boden. Wieder und wieder würgte sie, verlor vollkommen das Gefühl für Zeit und Raum.

Dann öffnete sich die Tür.

Im Spiegel sah sie das Gesicht der Frau. Es erinnerte sie an etwas, aber sie bekam es nicht zu fassen.

»Bitte!«, krächzte sie und wischte sich die Spucke vom Kinn. »Ich mache alles, was sie wollen. Ich kann Ihnen mehr zahlen als er. Ich kann alles für Sie tun. Bitte!« Sie schluchzte, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Bitte …«

Die Frau schüttelte langsam und zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht recht, Jess. Das haben Sie mir schon einmal versprochen.«

Hatte sie das? Jessica sah sich die Frau genau an, suchte krampfhaft nach der verschütteten Erinnerung. »Wer sind Sie?«

»Man nennt mich Desirée.«

Des – »Denise!« Fast hätte sie den Namen laut herausgeschrien, als sich der Nebel endlich verzog. »Ich erinnere mich!«

Denise lachte. »Wird aber auch Zeit, Schnuckelchen.«

Jetzt fiel Jessica noch etwas anderes ein. Es gab etwas, das Denise sich mehr als alles andere wünschte.

»Wenn Sie mir helfen«, flüsterte Jessica, »werde ich Sie zu Ihrem Sohn bringen.«

Jegliche Härte schwand aus Denise’ Gesicht. »Das können Sie nicht«, sagte sie leise und ging in die Hocke. »Oder etwa doch?«

»Ich kann.« Jessica sah zur offenen Tür. Hörte ihnen jemand zu? »Und ich verspreche Ihnen, Denise, ich werde es tun. Nur, bitte, betäuben Sie mich nicht wieder.«

»Wie wollen Sie das anstellen?«

Jessica hatte keine blasse Ahnung. »Vertrauen Sie mir! Wenn Sie mir helfen, hole ich ihn zurück. Heute, morgen. Jetzt gleich.«

Denise griff hinter sich und zog die Tür zu. Dann flüsterte sie: »Wenn er das rauskriegt, bringt er uns beide um.«

In diesem Augenblick fiel Jessica mit Übelkeit erregender Klarheit ein, wer er war. Ein Mann, dem sie vertraut hatte. An den sie geglaubt hatte. Und der ganz sicher fähig war, einen Mord zu begehen.

»Dann darf er es eben nicht rauskriegen.«

Die Geländelimousine rumpelte über den verlassenen Rickenbacker Causeway, und Alex warf einen verstohlenen Seitenblick auf seine Beifahrerin. Sie trug wieder die Army-Hose, ein Tanktop und die Stiefel, die sie schon den ganzen Tag angehabt hatte. Jazz-Klamotten. Sie sah gut darin aus. Noch besser allerdings ohne sie.

Die sexuelle Befriedigung machte seinen Körper ganz schwer, doch die Erleichterung würde nicht lange anhalten, das wusste er. Er hatte noch nicht einmal annähernd genug von ihr.

Das Ganze ging ihm viel zu sehr unter die Haut. Genau das Gegenteil hatte er erhofft, als er dem brennenden Bedürfnis nachgegeben hatte, in sie einzudringen.

Er hatte getan, was er wollte, sagte er sich. Hatte Lucy betrogen, seine Lust gestillt und die Anziehungskraft zwischen Jazz und sich auf ihre elementare Grundlage reduziert: reine körperliche Gier nach Befriedigung.

Gleichzeitig hatte er aber auch bewiesen, dass im Gegensatz zu dem, was Lucy glaubte, Sex keineswegs die Konzentration auf seine Aufgabe behinderte, Reaktionen verzögerte oder seine Fähigkeit klar zu denken beeinträchtigte.

Oder machte er sich nur etwas vor? Immerhin war er gerade auf dem Weg zu einer nächtlichen Unterredung mit einem Typen, den er vom ersten Tag an als abgedreht eingestuft hatte, zusammen mit seiner Klientin – noch dazu mit einer Kanone –, und dachte an nichts anderes, als nach Hause zurückzukehren und sich die Kleider vom Leib zu reißen.

Carajo! Lucy hatte doch recht gehabt.

»Und wenn Ollie der Stalker ist?« Jazz’ Frage holte ihn zurück in die Gegenwart.

»Habe ich mir auch schon überlegt«, gab er zu. »Ich glaube, er weiß mehr über Denise Rutledge, als er zugibt.«

»Er hat sich auf Miles Yoder eingeschossen«, sagte sie, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Er hat ihn immer wieder erwähnt. Und gemeint, meine Schwester hätte mir etwas verschwiegen.«

Alex sah sie mitfühlend an. »Sie wäre nicht die erste Frau auf der Welt, die sich mit einem verheirateten Mann einlässt.«

»Und das von einem Mann, der mit der Frau eines Klienten geschlafen hat.«

Er atmete tief ein und wieder aus. »Vor dem heutigen Abend habe ich weder mit einer Klientin noch mit der Frau eines Klienten geschlafen.«

»Und was ist dann heute passiert?«

»Was heute geschehen ist …«, … hatte seine höchsten Erwartungen übertroffen! »… wird noch öfter geschehen.«

Sie stöhnte kaum hörbar. »Du hältst dich wohl für verdammt unwiderstehlich.«

»Du dich vielleicht nicht?« Er grinste sie an. »Lass uns nicht weiter drüber reden, einverstanden?«

»Warum nicht?«

Er trat auf die Bremse. »Weil wir uns gerade auf einem Damm befinden und auf dem Weg sind, uns mächtig viel Ärger einzuhandeln. Sonst würde ich nämlich an die Seite fahren und dir zeigen, wie unwiderstehlich ich bin.« Genau das würde er tun und beweisen, dass alles stimmte, was Lucy über mangelnde Konzentration und Behinderungen bei seiner Aufgabe gesagt hatte.

Sie fuhren schweigend weiter.

»Ist das Key Biscayne?«, fragte sie schließlich.

»Nein, Virginia Key. Key Biscayne ist erst die nächste Insel.«

Sie fuhren am dunklen Eingang des Meerwasseraquariums vorbei den Damm entlang nach Key Biscayne. Dichte Bäume standen am Rand und verdeckten den Mond. Auf dem Crandon Boulevard sah man keine Menschenseele.

»Ich werde die Klimaanlage ausstellen und die Fenster öffnen, damit wir alles mitbekommen. Keinen Mucks mehr«, sagte Alex.

Jazz schnalzte mit der Zunge. »Alex, wir treffen einen sonderbaren Typen, der mit meiner Schwester in einem Nachrichtensender arbeitet. Keinen Mafia-Boss.«

»Aber warum will sich dieser Typ mitten in der Nacht in einem verlassenen Park mit uns treffen, der vor allem als Drogenumschlagplatz bekannt ist?« Sie näherten sich dem Parkplatz, und er sah sich nach anderen Fahrzeugen um. Nichts.

Er bog ein, seinem geübten Blick fielen sofort die schlecht einsehbaren Stellen, die fehlende Beleuchtung und die möglichen Fluchtpunkte auf. Etwas weiter unten gab es eine weitere Einfahrt, aber an diesem Ende des Parks nur die eine, durch die sie gekommen waren. Überall sonst versperrten hohe Hibiskussträucher die Durchfahrt, zwischen denen der Escalade sicher nicht hindurchpasste.

Alex parkte den Wagen an einer dunklen Stelle nahe den Sträuchern; so konnten sie jeden sehen, der auf den Parkplatz fuhr, ehe man sie überhaupt bemerkte. Er stellte Motor und Scheinwerfer aus und ließ das Fenster auf der Fahrerseite halb unten.

Feuchte, salzige Luft legte sich auf seinen Nacken und kroch in die Nase. Er holte die Pistole raus und legte sie in seinen Schoß.

Ausnahmsweise war Jazz vollkommen still. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah durch die Windschutzscheibe. Rechts von ihnen spiegelte sich der Mond in der Brandung. Grillen und Zikaden zirpten, weiter hörten sie nichts, nur die eigenen Atemzüge.

Diese Sache hier verstieß gegen alle Prinzipien des Personenschutzes: Konfrontationen vermeiden, den Klienten von der Schusslinie fernhalten und niemals in eine gefährliche Situation bringen.

Ach, und sich nicht ablenken lassen.

»Weißt du, was für einen Wagen Ollie fährt?«, fragte Jazz.

»Einen weißen Saturn. Ich habe ihn neulich vorm Sender –« Er schwieg, als sich auf der Hauptstraße Scheinwerfer näherten. »Vielleicht nur jemand auf der Durchfahrt.«

Doch der Wagen wurde langsamer und fuhr auf den Parkplatz. Ein silbergrauer Mercedes 600, registrierte Alex sofort. »Das ist nicht Ollies Wagen«, sagte er.

Jazz holte ebenfalls ihre Pistole raus. »Ist nicht seine Preisklasse«, stimmte sie zu.

Er sah kurz zur Seite, ihr Gesicht war angespannt, ihr Blick konzentriert, und ihr Atem ging ruhig. Der Mercedes fuhr langsam über den Parkplatz.

Vielleicht ein Dealer? Der Ware verkaufen oder abholen wollte?

Plötzlich machte der Wagen eine scharfe Wendung, als hätte der Fahrer etwas im Dunkeln entdeckt. Die bläulichen Halogenlampen erfassten sie, und sie saßen wie Tiere in der Falle. Alex fluchte und duckte sich, drückte Jazz mit der Hand auch nach unten. Die Scheinwerfer leuchteten weiter in ihre Richtung, und der Wagen kam näher.

Alex richtete sich auf und blinzelte ins grelle Licht. Wer zum Teufel kam da?

Er griff nach seiner Pistole und schaltete die Scheinwerfer ein, was aber keinerlei Effekt zu haben schien; der Mercedes verringerte seine Geschwindigkeit nicht und hielt schnurgerade auf sie zu.

Alex drehte den Schlüssel um, trat aufs Gas und schlug das Lenkrad ein, um auszuweichen. Das Fenster auf der Fahrerseite des Mercedes fuhr langsam herunter.

»Bleib unten!«, schrie Alex Jazz zu und richtete die Pistole auf den anderen Wagen.

»Halt!«, schrie Jazz und drehte sich um, als die Fahrzeuge aneinander vorbeifuhren. »Bleib stehen! Er winkt uns zu.«

»Jessica!« Trotz der Motoren hörte man deutlich die Stimme eines Mannes. »Sind Sie das?«

Alex trat auf die Bremse und legte den Rückwärtsgang ein, der Fahrer des Mercedes tat das Gleiche. Eine Sekunde später standen sie Seite an Seite. Auge in Auge.

Kunde und Bodyguard.

»Was um alles in der Welt geht hier vor, Romero?« Kimball Parrishs dunkelblaue Augen hatten die Farbe von Gewitterwolken. »Was wollen Sie mitten in der Nacht mit ihr in diesem gottverlassenen Drogen-Drecksloch? Sie sollten sie doch beschützen.«

Alex starrte ihn einfach nur an, ignorierte das Gefühl nahenden Unheils. Was zum Teufel hatte Parrish hier verloren?

»Oliver hat mich angerufen, er hat Sie auf die Probe gestellt«, erklärte Parrish voller Verachtung. »Und Sie haben versagt.«

Jazz beugte sich über Alex zum Fenster. »Mr Parrish –«

Parrish legte den Vorwärtsgang ein und schüttelte den Kopf. »Verschwinden Sie von hier! Wir unterhalten uns morgen.« Er fuhr vom Parkplatz und entfernte sich schnell in Richtung Miami.

»Ollie hat mich reingelegt.« Jazz ließ sich zurück auf den Sitz fallen, die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Aber warum?«

»Keine Ahnung.« Alex fuhr in Richtung Ausfahrt. »Aber wir werden bestimmt nicht warten, um es rauszufinden.«

»Alex!« Sie griff nach seinem Arm. »Nur einen Moment. Vielleicht taucht er doch noch auf. Warten wir wenigstens bis der Zeitpunkt für das Treffen vorbei ist.«

Er bog auf den Boulevard ein und beschleunigte den Wagen. »Du kannst morgen mit ihm reden. Wir bleiben keine Minute länger hier. Ich habe heute Nacht schon genug Scheiße gebaut.«

»Hör zu, ich werde Parrish alles erklären. Du wirst deinen Job nicht verlieren. Offensichtlich hat Ollie ihn nicht in alle Details eingeweiht, er führt irgendwas im Schilde. Die ganze Sache stinkt doch.«

Weit hinter ihnen leuchteten plötzlich Scheinwerfer auf, der Wagen musste ungefähr auf Höhe der anderen Einfahrt des Parkplatzes sein. Hatte er doch etwas übersehen?

»Himmel!«, murmelte er, als das Fahrzeug mit jeder Sekunde näher kam. »Das Arschloch muss über hundertsechzig Sachen fahren.«

»Was?« Sie drehte sich um. »Lieber Gott, Alex!«

»Halt dich fest!«

Keine halbe Minute später hörten sie das Motorengeräusch des heranrasenden Wagens. Als er noch etwa hundert Meter entfernt war, zog Alex den Geländewagen auf den Seitenstreifen, und kurz darauf schoss ein weißer Blitz vorbei.

Weiß?

»Das ist Ollie!«, sagte sie in genau dem Moment, als er begriff, dass gerade ein weißer Saturn an ihnen vorbeigerast war. »Fahr los, Alex!«

Er trat aufs Gas. Der Escalade beschleunigte in null Komma nichts auf hundertdreißig und hatte den Saturn am Ende von Key Biscayne fast eingeholt. Aber der Kleinwagen raste den Damm viel schneller entlang, als einem solchen Fahrzeug normalerweise zuzutrauen war.

Er geriet vor ihnen ins Schlingern, Jazz sog scharf die Luft ein und hielt sich am Armaturenbrett fest; Eisengitter klapperten unter ihren Reifen, und der Fahrtwind zischte durchs offene Fenster.

Der kleine Saturn schwankte nach links und dann nach rechts, wurde ein wenig langsamer.

»Wir haben ihn«, sagte Jazz triumphierend, als sie auf fünfzig Meter herangekommen waren.

Der weiße Wagen fuhr in Schlangenlinien auf dem Fußgängerweg der Brücke. Dann brach er plötzlich durch die Leitplanke und stürzte in die schwarze Finsternis.

Jazz schrie vor Schreck auf, Alex bremste so abrupt, dass der Escalade hinten wegrutschte. Vor ihnen lag die dunkle Biscayne Bay, sie sahen nur noch, wie das weiße Dach des Wagens im Wasser versank.

Das Blut rauschte so stark in seinem Kopf, dass Alex fast sein Handy überhört hätte. Er hielt es ans Ohr und sah Jazz an, aus deren Gesicht alles Blut gewichen war.

»Als ich dich bat, den Kunden zu beeindrucken, habe ich etwas anderes im Sinn gehabt.« Lucy klang völlig ruhig. »Würdest du mir bitte sagen, was zum Teufel bei euch los ist, Alex?«

»Ich weiß es nicht, Lucy«, sagte er ganz ehrlich und starrte auf die aufgerissene Leitplanke und die Luftblasen im Wasser. »Vielleicht solltest du besser Kimball Parrish fragen.«

»Dazu werde ich keine Gelegenheit mehr haben, Alex. Er hat den Auftrag gekündigt. Und ich kündige dir.«